Maxim Gorki
Das Leben des Klim Samgin
Maxim Gorki

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Am nächsten Morgen trafen Ljutow und Makarow zu Fuß von der Station ein, ihnen folgte ein Gefährt, solide bepackt mit Koffern, Kisten, irgendwelchen Bündeln und Paketen. Klim hatte sie kaum mit Tee bewirtet, als Doktor Ljubomudrow erschien, ein Bekannter Warawkas, hager, lang, glatzköpfig und bartlos, mit winzigen Äuglein von goldiger Tönung, die sich unter den schwarzen Büscheln seiner gerunzelten Brauen verbargen. Klim verbrachte beinahe den ganzen Tag damit, dem Doktor die Landhäuschen zu zeigen. Der Doktor überflog alles mit dem traurigen Blick eines Menschen, der sich mit einer Umgebung vertraut macht, in der er wider Willen zu leben gezwungen ist. Er biß sich die Lippen. Dicht neben den Ohren bewegten sich kleine Kugeln, und während man von einem Landhaus zum anderen schritt, murmelte er:

»So. Nun ja. S–sehr nett.«

Endlich sagte er Klim in entschiedenem Baßton:

»Also, reservieren Sie mir dieses.«

Doch nachdem er den grauen, zerdrückten Hut auf seinem Kopf zurechtgerückt hatte, fügte er hinzu:

»Oder das da.«

Klim war erschöpft von dem Doktor und der Neugier, die ihn den ganzen Tag quälte. Er hätte wissen mögen, wie das Wiedersehen Lidas mit Makarows abgelaufen war, was sie machten und wovon sie sprachen? Er beschloß sogleich zu Lida zu gehen, doch als er an seinem Sommerhaus vorüberkam, hörte er Ljutows Stimme:

»Nein, warte doch, Kostja, laß uns noch sitzenbleiben.«

Ljutow sprach in der Nähe, hinter einer dichten Birkengruppe etwas unterhalb des Pfades, auf dem Klim ging, aber er war nicht zu sehen. Anscheinend lag er, man sah Makarows Mütze und ein blaues Rauchwölkchen darüber.

»Ich habe Lust zu schimpfen, mich mit jemand zu zanken«, ertönte deutlich die Klarinettstimme Ljutows. »Mit dir, Kostja, ist das ausgeschlossen. Wie soll man sich mit einem Lyriker zanken?«

»Versuche es ruhig.«

»Nein, das werde ich unterlassen.«

»Man sagt, Fet soll böse sein. Der ist doch auch ein Lyriker.«

Klim blieb stehen. Er wünschte weder Ljutow noch Makarow zu sehen, der Weg aber senkte sich; wenn er ihm folgte, mußte er unweigerlich entdeckt werden. Den Hügel hinaufzusteigen, hatte er jedoch keine Lust, er war müde geworden, und ohnehin hätten sie das Geräusch seiner Schritte gehört. Dann hätten sie denken können, daß er ihr Gespräch belausche. Klim Samgin blieb stehen und horchte stirnrunzelnd.

»Weshalb trinkst du in ihrer Gegenwart?« fragte gleichmütig Makarow.

»Damit sie es sieht. Ich bin ein ehrlicher Junge.«

»Ein Hysteriker bist du. Und kommst nicht ohne Einbildung aus. Liebst du schon, gut, dann liebe ›ohne Grübeln, ohne Schwermut, ohne finstere Zweifelsucht‹!«

»Dazu müßte ich mir erst das Gehirn aus dem Kopf klopfen.«

»Dann laß sie in Ruhe.«

»Dazu bedarf es des Willens.«

Makarow sprach zwei Minuten lang mit gedämpfter Stimme und so schnell, daß Klim nur abgerissene Bruchstücke von Sätzen unterschied.

»Egoismus des Geschlechts . . . Täuschung . . . .«

Darauf fing wieder Ljutow an, ebenfalls leise, aber durchdringend auf der Stille zu hämmern:

»Ungemein reif und sehr interessant. Du vergißt jedoch, daß meine Wenigkeit ein Kaufmannssohn ist. Das verpflichtet mich, mit äußerster Genauigkeit zu taxieren und abzuwägen. Alina Markowna ist auch nicht jeglicher Weltklugheit beraubt. Sie sieht, daß der künftige Gefährte ihrer ersten Schritte ins Leben einem Adonis nur sehr entfernt ähnelt, ja durchaus unähnlich ist. Aber sie weiß und hat wohl erwogen, daß er der einzige Erbe der Firma ›Gebrüder Ljutow. Daunen und Federn‹ ist.«

Ljutow wurde sekundenlang von Makarows Gezwitscher unterbrochen.

»Mein Freund, du bist dumm wie Bohnenstroh«, fuhr Ljutow fort. »Ich kaufe doch nicht ein Gemälde, ich breite mein Ich vor einem Weibe aus, mit dem nicht nur mein irdischer Leib, sondern auch meine hungrige Seele sich zu verschmelzen begehrt. Und so, die wundervolle Hand dieses Weibes liebkosend, spreche ich: Werkzeug der Werkzeuge. Was heißt denn das wieder? fragt sie. Ich antworte: So weise hat ein alter Grieche die menschliche Hand benamset. Sie sollten sagt sie, lieber Ihre eigenen Worte gebrauchen, vielleicht würde es dann spaßiger sein. Denk bloß, Kostja, spaßiger! Und das ist alles! Ich stehe ratlos: bin ich denn nur zum Spaßmachen geschaffen?«

»Genug jetzt, Wladimir. Geh schlafen«, sagte laut und zornig Makarow. »Ich sagte dir schon, daß ich dieses . . . Finten nicht verstehe. Ich weiß eins: Das Weib gebärt den Mann für das Weib . . .«

»Abscheuliche Ketzerei . . .«

»Das Matriarchat . . .«

Ljutow pfiff klingend, und die Worte der Freunde wurden undeutlich.

Klim seufzte erleichtert auf. Ein Käfer war ihm in den Hemdkragen gekrochen, lief über seinen Rücken und verursachte einen unerträglichen Juckreiz. Mehrmals hatte er vorsichtig versucht, den Rücken am Stamm einer Birke zu scheuern, aber der Baum knarrte und schwankte rauschend. Er hatte vor Aufregung geschwitzt, als er sich vorstellte, daß Makarow gleich aufstehen, sich umschauen und den Horcher entdecken würde.

Ljutows Klagen vernahm er mit Vergnügen. Er hatte sogar zweimal ein Lächeln nicht verbeißen können. Ihm schien, an Makarows Stelle würde er klüger gesprochen und auf Ljutows Frage: »Bin ich denn nur zum Spaßmachen da?« mit der Gegenfrage geantwortet haben: »Wozu denn sonst?«

An der Stelle, wo Makarow saß, wölkte sich immer noch blauer Rauch. Klim stieg hinunter. In einer Sandgrube schlängelten sich goldene und blaue Feuerwürmer und fraßen rotes Nadellaub und kleine Stückchen seidiger Birkenrinde.

»Was für eine Kinderei!« dachte Klim, schüttete das lebende Feuer mit Sand zu, den Sand trat er sorgsam mit den Füßen fest. Als er sich in gleicher Höhe mit Warawkas Landhaus befand, rief ihn aus einem Fenster leise Makarow an:

»Wo willst du hin?«

Die unvermeidliche Zigarette zwischen den Zähnen, ein Papier in der Hand, stand er sehr malerisch da. Er sagte:

»Die jungen Mädchen befinden sich in gereizter Stimmung. Alina fürchtet, daß sie sich erkältet hat und quäkelt. Lida ist unversöhnlich gestimmt und hat Ljutow angeschrien, weil er das »Tagebuch der Baschkirzew«Baschkirzew, Maria Konstantinowna (1860-1884), Malerin und Schriftstellerin. Ihr 1887 in französischer Sprache erschienenes »Tagebuch« ist ein unerbittlicher Spiegel des Pessimismus und der Lebensflucht, die die aristokratische russische Jugend ihrer Zeit beherrschten. nicht gebilligt hat.«

Da Klim befürchtete, daß Makarow ebenfalls zu den Mädchen gehen würde, beschloß er, sie später aufzusuchen und trat ins Zimmer. Makarow ließ sich auf einem Stuhl nieder, knöpfte den Hemdkragen auf und schüttelte heftig den Kopf. Dann legte er ein Heft dünnen Papiers auf die Fensterbank und beschwerte es mit dem Aschenbecher.

»Alle, Bruder, befinden sich in so einer bangen Erwartung«, sagte er stirnrunzelnd und wühlte sein Haar auf. »Aus der Literatur ist nicht ersichtlich, daß die Menschen vergangener Zeiten eine so sonderbare Bangigkeit verspürt hätten. Am Ende ist es gar keine Bangigkeit?«

»Ich weiß nicht«, sagte Klim, der eben diese Bangigkeit empfand. Darauf fügte er träge hinzu: »Man sagt, daß sich eine Belebung ankündigt . . .«

»In den Büchern.«

Klim schwieg eine Weile, beschäftigt, den seltsamen Flug der entfärbten Fliegen im rötlichen Strahl der Sonne zu verfolgen. Einige schienen in der Luft einen unbeweglichen Punkt zu erspähen und hielten lange Zeit zitternd über ihm, ohne sich zu getrauen, sich niederzusetzen, fielen dann fast bis zum Fußboden hinab und stiegen von neuem zu dem unsichtbaren Punkt empor. Klim zeigte mit den Augen auf das Heft:

»Was hast du da?«

»Den Programmentwurf des »Bundes der Sozialisten«. Es wird darin behauptet, daß die Dorfgemeinde unseren Bauern aufnahmefähiger für den Sozialismus mache, als es der Bauer des Westens ist. Alte Geschichte. Ljutow interessiert sich dafür.«

»Aus Langeweile?«

Makarow zuckte die Achseln.

»N-nein, er hat sein besonderes Verhältnis zur Politik. In diesem Punkt verstehe ich ihn nicht.«

»Und in allem Übrigen, außer diesem, was ist er da?«

Makarow hob die Brauen und zündete sich eine Zigarette an. Er wollte das brennende Zündholz in den Aschenbecher werfen, steckte es aber aus Versehen in ein Glas mit Milch.

»Oh, Teufel!«

Er goß die Milch aus dem Fenster, folgte dem weißen Bach mit den Augen und teilte verdrießlich mit:

»Auf die Blumen. – Habt ihr ein Klavier?«

Er hatte augenscheinlich Klims Frage vergessen oder wünschte sie nicht zu beantworten.

»Wozu brauchst du ein Klavier? Spielst du denn?« fragte trocken Samgin.

»Ja, denke dir, ich spiele!« sagte Makarow mit den zusammengepreßten Fingern krachend. »Ich begann nach dem Gehör, habe dann Stunden genommen. Das war noch damals im Gymnasium. In Moskau hat mein Lehrer mich überredet, ein Konservatorium zu besuchen. Jawohl. Talent, sagt er. Ich glaube ihm nicht. Ich habe gar keine Talente. Doch – ohne Musik erträgt man das Leben schlecht, das ist die Sache, mein Lieber«

»Das Klavier befindet sich dort, im Zimmer der Mutter«, sagte Klim. Makarow erhob sich, steckte das Heft achtlos in die Tasche und entfernte sich händereibend.

Sobald die ersten Akkorde auf dem Klavier ertönten, trat Klim auf die Veranda hinaus und verweilte dort einen Augenblick. Er schaute auf das Gelände jenseits des Flusses, welches rechts von dem schwarzen Halbkreis des Waldes, links von einem blauen Wolkenberg begrenzt wurde, hinter dem die Sonne bereits untergegangen war. Der leise Wind jagte sanft die grünlich-grauen Wellen des Korns zum Fluß. Die wohllautende Melodie eines unbekannten Liedes in Moll ertönte. Klim ging zum Landhaus der Telepnew hinüber. Ein bärtiger Bauer mit einem Holzbein trat ihm in den Weg.

»Will der Herr einen Wels fangen?«

Klim machte eine wortlose Geste der Ablehnung.

»Ein hübscher Wels – er wiegt seine zwei Pud«, rief der Bauer ihm mit mutloser Stimme nach.

Alinas Stubenmädchen sagte Klim, das Fräulein befinde sich nicht wohl, und Lida sei spazieren gegangen. Klim Samgin stieg zum Fluß hinab, blickte stromauf und ab, aber Lida war nicht zu sehen. Makarow spielte etwas sehr Wildes. Klim wandte sich heimwärts und stieß abermals auf den Bauern. Der stand mitten im Weg, hielt sich an einem Fichtenzweig fest und scharrte mit seinem Holzbein im Sand, bemüht, einen Kreis zu ziehen. Er blickte gedankenvoll in Klims Gesicht, gab ihm den Weg frei und sagte leise, fast ins Ohr:

»Eine Soldatenfrau habe ich auch eine saftige!«

Als Klim auf die Veranda des Landhauses gelangt war, hatte Makarow aufgehört zu spielen, und aufgeregt hastete Ljutows schneidendes Stimmchen:

»Das Volk hat über alles nachgedacht, liebe Lida Timofejewna, sowohl über das Paradies der Unschuld wie über die Hölle der Erkenntnis.«

Im Zimmer war kein Licht, das Dunkel verzerrte Ljutows Gestalt, der es die festen Umrisse nahm. Lida, weiß gekleidet, saß am Fenster, auf dem Musselin der Gardine zeichnete sich nur ihr kraushaariger, schwarzer Kopf ab. Klim blieb auf der Schwelle hinter Ljutows Rücken stehen und vernahm:

»Als Adam, aus dem Paradiese vertrieben, sich nach dem Baum der Erkenntnis umwandte, sah er, daß Gott den Baum schon zerstört hatte: er war verdorrt. Und Satan trat zu Adam und sprach: ›Verstoßenes Kind, dir steht kein anderer Weg offen, denn der zu irdischer Qual führt.‹ Und er entführte Adam in die irdische Hölle und zeigte ihm alle Herrlichkeit und alle Greuel, so Adams Same erschaffen sollte. Über dieses Thema hat der Magyare Imre Madacz ein sehr bedeutsames Werk verfaßt. – Also so muß das verstanden werden, Lidotschka, Sie aber . . .«

»Ich meine nicht dies«, sagte Lida. »Ich glaube nicht . . . wer ist da?«

»Ich«, antwortete Klim.

»Warum erscheinst du so geheimnisvoll?«

Klim hörte in ihrer Stimme Unmut, war verletzt, ging zum Tisch und zündete die Lampe an. Blinzelnd trat der zerzauste Makarow ein, warf einen scheelen Blick auf Ljutow und sagte, während er beide Hände gegen Ljutows Schultern stemmte und ihn so in den geflochtenen Sessel hineinzwängte:

»Du kannst selbst nicht schlafen und schläferst die anderen ein?«

Lida fragte:

»Weshalb hast du die Lampe angezündet? Das Wetterleuchten blitzte so schön.«

»Das ist nicht Wetterleuchten, sondern ein Gewitter«, berichtigte Klim und schickte sich an, die Lampe wieder zu löschen, aber Lida sagte:

»Laß nur.«

Makarow wandelte leise pfeifend auf der Veranda auf und nieder, bald tauchte er auf, bald verschwand er, erhellt von dem stummen Züngeln der Blitze.

Lida erhob sich:

»Begleiten Sie mich«, wandte sie sich an Ljutow.

»Mit Wonne.«

Als sie auf die Veranda hinaustraten, erklärte Makarow:

»Ich komme auch mit.«

Aber Lida sagte:

»Nein, es ist nicht nötig.«

Makarow schlang die Hände um den Nacken, sah eine oder zwei Minuten lang zu, wie Ljutow Lida beim Gehen behilflich war, indem er die Zweige der jungen Fichten zurückbog, und sagte darauf, Klim zulächelnd:

»Hast du gehört? Nicht nötig. Häufiger als alle anderen Worte, die ihr Verhältnis zur Welt und zu den Menschen bestimmen, hört man aus ihrem Munde: ›nicht nötig‹.«

Nachdem Makarow sich eine Zigarette angezündet hatte, ließ er das Zündholz herunterbrennen, stemmte sich mit der Schulter gegen den Türpfosten und fuhr im Ton eines Arztes, der einem Kollegen eine interessante Krankengeschichte erzählt, fort:

»Wenn sie sich mit dem einen unterhält, ist sie immer darauf bedacht, daß der andere nicht hört und nicht weiß, wovon die Rede ist. Sie scheint zu fürchten, daß andernfalls die Menschen nicht aufrichtig seien, sondern einstimmig dasselbe sagen würden. Aber obwohl Widersprüche sie fesseln, liebt sie selbst nicht, sie herauszufordern. Vielleicht glaubt sie, jeder Mensch besitze ein Geheimnis, das er nur der Jungfrau Lida Warawka allein anvertrauen könne?«

Klim fand, daß Makarow recht hatte, und war empört: weshalb mußte gerade Makarow und nicht er das sagen? Und über die Brille hinweg seinen Kameraden musternd, stellte er fest, daß die Mutter wahr gesprochen hatte: Makarows Gesicht war schillernd. Wenn nicht die kindlichen, einfältigen Augen – es wäre das Gesicht eines lasterhaften Menschen. Mit spöttischem Lächeln sagte Klim:

»Und du bist doch in sie verliebt?«

»Ich sagte dir bereits – nein.«

Makarow blies so heftig auf seine Zigarette, daß aus ihrem Brand Funken stoben.

»Dabei ist sie nicht eitel. Mir scheint sogar, sie hat eine zu geringe Meinung von sich. Sie fühlt sehr gut, daß das Leben eine todernste Sache ist und nicht für harmlose Scherze taugt. Zuweilen scheint es, als lebe in ihr die Feindschaft gegen sich selbst, gegen den Menschen, der sie gestern war.«

Makarow schwieg, dann lachte er ganz leise und sagte:

»Ein Naturwissenschaftler, ein Bekannter von mir, ein sehr begabter Junge, aber ein Schwein und ein Louis – er lebt offen mit einem reichen alten Weibsbild – sagte sehr gut: ›Wir alle werden von der Vergangenheit ausgehalten.‹ Ich tadelte ihn einmal, und da tat er diesen Ausspruch. Es ist etwas Wahres daran, mein Lieber . . .«

»Ich sehe darin nichts außer Zynismus«, sagte Klim.

Das Gewitter zog herauf. Eine schwarze Wolke hüllte alles rings umher in undurchdringlichen Schatten. Der Fluß verschwand, nur an einer Stelle beleuchtete Licht aus einem Fenster des Hauses der Telepnew das tiefsatte Wasser.

Makarow glich sehr wenig jenem Jüngling in der blutgetränkten Segeltuchbluse, den Klim voll Angst durch die Straßen geführt hatte. Diese Verwandlung seines Wesens erregte sowohl Neugier als auch Verdruß.

»Du hast dich verändert, Konstantin«, sagte Samgin mißbilligend.

Makarow fragte lächelnd:

»Zum Besseren?«

»Ich weiß nicht.«

Makarow nickte und führte die Handflächen über die auseinanderstehenden Haare:

»Mir scheint, ich bin ruhiger geworden. Ich habe, weißt du, von mir den Eindruck zurückbehalten, als hätte ich damals auf ein wildes Tier Jagd gemacht und nicht auf mich geschossen, sondern auf es. Und dann habe ich auch um die Ecke geblickt.«

Nach einigem Schweigen begann er nachdenklich und leise zu erzählen:

»Als Kind fürchtete ich nichts, weder Dunkelheit noch Donner, weder Schlägereien noch den Schein nächtlicher Feuersbrünste. Wir wohnten in einer Säuferstraße, dort brannte es häufig. Aber Ecken fürchtete ich sogar am Tage. Ging ich durch die Straße und mußte um eine Ecke biegen, so schien mir immer, daß dahinter etwas auf mich lauerte, nicht Jungen, die mich verprügeln konnten, überhaupt nichts Reales, sondern etwas . . . aus dem Märchen. Vielleicht war es auch nicht Furcht, sondern allzu gierige Erwartung dessen, was anders war, als das, was ich sah und kannte. Ich, mein Lieber, habe schon mit zehn Jahren viel gekannt, beinahe alles, was man in diesem Alter nicht kennen sollte. Möglich, daß ich auf das wartete, was mir noch unbekannt war, ganz gleich: ob Schlimmeres oder Besseres, nur etwas anderes sollte es sein.«

Er sah Klim mit lachenden Augen an und seufzte tief:

»Und jetzt blicke ich ruhig um alle Ecken, weil ich weiß: auch hinter jener Ecke, die man für die allerschrecklichste hält, ist nichts.«

»Ich glaube, das Schrecklichste im Leben ist – die Lüge!« sagte Klim Samgin in unbeugsamem Ton.

»Ja. Und – die Dummheit. Nach meiner Meinung leben die Menschen sehr dumm.«

Beide verstummten.

»Ich gehe jetzt. Ich werde noch ein wenig spielen«, sagte Makarow.

Über dem Tisch, rund um die Lampe, flatterten kleine graue, unnütze Lebewesen, verbrannten sich, fielen auf das Tischtuch und bedeckten es mit ihrer Asche. Klim sperrte die Tür auf die Veranda ab, löschte das Licht und ging schlafen.

Während Klim dem Brüllen des heranziehenden Donners lauschte, verloren seine Gedanken sich im Gegenstandslosen, das sich weder in Worte noch in Bilder fügte. Er fühlte sich im Sturzbach des Unfaßlichen. In einem Sturzbach, der langsam mitten durch ihn hindurchging, aber scheinbar auch außerhalb seines Gehirns schäumte; im dumpfen Rollen des Donners, im Pochen der vereinzelten schweren Regentropfen gegen das Dach, in dem Lied von Grieg, das Makarow spielte. Nachdem die Wolke in tristem Zuge einige Dutzend schwere Tropfen herabgeworfen hatte, schwebte sie vorüber. Der Donner wurde leiser, entfernter. Leuchtend blickte der Mond ins Fenster, und sein Licht störte gleichsam ringsum alles auf, die Möbel rührten sich, die Wand schwankte. In der Mühle bellte ängstlich ein Hund. Makarow hörte auf zu spielen. Eine Tür fiel ins Schloß. Gedämpft ertönte die Stimme Ljutows. Dann verstummte alles, und in dieser erstarrten Stille fühlte Klim noch stärker den Strom eines ungestalteten Gedankens.

Das hatte keine Ähnlichkeit mit jener Schwermut, die er unlängst durchlitten hatte, es war die traumhafte, bange Empfindung eines Sturzes ins Bodenlose, an seinen gewohnten Gedanken vorüber, einem neuen ihm feindlichen entgegen. Seine Gedanken befanden sich irgendwo in seinem Innern, aber sie waren gleichfalls stumm und ohnmächtig wie Schatten. Klim Samgin fühlte dunkel, daß er sich etwas gestehen mußte, aber er war unfähig oder fürchtete sich, zu begreifen, was.

Ein Sturm brach los. Die Fichten rauschten, auf dem Dache pfiff etwas gepreßt. Das Mondlicht schoß ins Zimmer, verschwand darin, und von neuem erfüllten es die raschelnden Geräusche und das Wispern der Dunkelheit. Der Sturmwind zerstreute schnell die kurze Frühlingsnacht, der Himmel färbte sich in frostiges Grün. Klim wickelte den Kopf in die Decke, ihn durchzuckte der jähe Gedanke:

»Im Grunde bin ich impotent.«

Doch diese Ahnung verschwand, ohne ihn zu verwunden, und er begann von neuem in sich hineinzuhorchen, wo das Verwüstende, Gestaltlose mitten durch ihn hindurchströmte.

Er erhob sich früh mit der Empfindung, daß sein Kopf inwendig eingestaubt war, und dachte:

»Woher und wozu kommen mir solche Stimmungen?«

Als er allein beim Tee saß, erschienen Turobojew und Warawka, grau, in Staubmänteln. Warawka sah aus wie eine Tonne, während Turobojew auch in dem grauen, weiten Sack seine Seltsamkeit nicht einbüßte und als er das Segeltuch von den Schultern geworfen hatte, Klim noch gestraffter und betont trocken erschien. Seine kalten Augen waren in die Tiefe grünlicher Schatten gebettet, und Klim bemerkte etwas sehr Trauriges und Böses in ihrem regungslosen Blick.

Warawka schüttelte den Staub aus seinem Bart und teilte Klim mit, seine Mutter bitte ihn, schon morgen abend in die Stadt zurückzukehren.

»Sie erwartet den Besuch dieser Musiker, du kennst sie ja, nun, und . . .«

Er machte eine unbestimmte Bewegung mit seiner roten Hand. Klim dachte beinahe erbost:

»Warawka und die Mutter jagen mich anscheinend absichtlich hin und her. Sie wollen, daß ich so wenig wie möglich mit Lida zusammen bin.«

Er mußte ferner auf den Gedanken kommen, daß die Menschen, die er kannte, sich mit so verdächtiger Geschwindigkeit um ihn versammelten, wie sie nur auf der Bühne oder auf der Straße, nach einem Unfall, glaubwürdig war. In die Stadt zu fahren, hatte er keine Lust; ihn quälte die Neugier, wie Lida wohl Turobojew empfangen würde.

Warawka zog aus seiner dickbäuchigen Aktenmappe Pläne und Papiere und verbreitete sich über die Hoffnungen der liberalen Landwirte auf den neuen Zaren. Turobojew hörte ihm mit undurchdringlicher Miene zu, während er langsam Milch aus einem Glase schlürfte. In der Verandatür tauchte, mit feuchtem Haar und rotem Gesicht, Ljutow auf und zwinkerte mit seinen schielenden Augen.

»Und ich habe gebadet!«

»Etwas früh, etwas gewagt«, sagte vorwurfsvoll Warawka. »Gestatten Sie, Ihnen vorzustellen . . .«

Klim nahm wahr, daß Turobojew Ljutows Hand sehr lässig drückte, die seinige sogleich in die Tasche steckte und sich über den Tisch neigte. Seine Finger rollten nervös Brotkügelchen. Warawka schob rasch das Geschirr beiseite, faltete einen Plan auseinander und sprach, während er mit dem Stiel eines Teelöffels auf ihre grünen Flecken klopfte, von Wäldern, Sümpfen und Sandflächen. Klim stand auf und ging hinaus, da er fühlte, wie in ihm der Haß gegen diese Leute erwachte.

Auf einem Hügel im Walde wählte er sich einen Platz, von wo aus er alle Villen, das Flußufer, die Mühle, und die Straße nach dem kleinen in der Nähe der Landhäuser Warawkas gelegenen Kirchdorf Nikonowo überschauen konnte, setzte sich in den Sand unter den Birken und packte Brunetières Buch »Symbolisten und Decadente« aus. Aber die Sonne störte, und noch mehr die Notwendigkeit, zu verfolgen, was dort unten geschah.

Neben der Mühle teerte ein bärtiger Bauer in einem roten Hemd, winzig wie ein Spielzeug, den Boden eines Kahns. Die dumpfen Schläge des hölzernen Hammers zerteilten mit festem Ton die Stille. Ein ebenso winziges Bauernweib trieb, ihren Rocksaum schüttelnd, Gänse zum Fluß. Zwei Knaben mit Angelruten über der Schulter gingen am Ufer entlang – der eine gelb, der andere blau. Da kam auch Makarow, sein Handtuch schwenkend, trat er auf den Steg des Badehauses, ließ seinen nackten Fuß ins Wasser hängen, zog ihn heraus und schüttelte ihn wie ein Hund. Darauf legte er sich bäuchlings über den Steg und wusch Kopf und Gesicht, worauf er zum Landhaus zurückschlenderte. Im Gehen trocknete er seine Haare, es schien, als wickle er das Handtuch um den Kopf, um ihn abzureißen.

Von der Sonne gewärmt, von den würzigen Düften des Waldes berauscht, nickte Klim ein. Als er die Augen öffnete, stand unten Turobojew am Flußufer. Er hatte den Hut abgenommen und folgte, wie auf Drehangeln jeder Wendung Alina Telepnews, die den Weg zur Mühle einschlug. Und linker Hand, in der Ferne, auf der Straße zum Dorf, schwebte gleichsam über dem Erdboden das zierliche weiße Figürchen Lidas.

»Ob sie ihn gesehen hat? Ob sie miteinander gesprochen haben?«

Er stand auf, um zum Fluß hinabzusteigen, doch ihn hemmte das Gefühl schwerer Abneigung gegen Turobojew, gegen Ljutow, gegen Alina, die sich verkaufte, gegen Makarow und Lida, die ihr ihre Schamlosigkeit nicht vorhalten wollten oder konnten.

»Stände ich ihr so nahe wie sie . . . Übrigens hol sie alle der Teufel!«

Er ließ sich träge in den Sand sinken, der bereits stark von der Sonne erhitzt war, putzte seine Brillengläser und beobachtete dabei Turobojew, der immer noch auf demselben Fleck stand, sein Bärtchen zwischen zwei Finger preßte und sich mit seinem grauen Hut das Gesicht fächelte. Ihm näherte sich Makarow, und nun wandten sie sich beide zur Mühle.

»Im Grunde sind alle diese Gescheiten fade Menschen. Und – falsche«, zwang sich Klim zu denken, da er fühlte, daß sich seiner von neuem die Stimmung der vergangenen Nacht bemächtigte. »In der Seele jedes von ihnen, hinter ihren Worten, liegt gewiß etwas Banales, Der Unterschied zwischen ihnen und mir besteht nur darin, daß sie es verstehen, gläubig oder ungläubig zu erscheinen, während ich bis jetzt weder einen festen Glauben noch einen standhaften Unglauben besitze.«

Klim Samgin hatte nicht zum erstenmal die Vorstellung, daß von außen her eine Menge spitzer und gleichwertiger Gedanken in ihn eindrangen. Sie waren widerspruchsvoll, und es war notwendig, von ihnen diejenigen abzusondern, die ihm am besten paßten. Doch jeder Versuch, Ordnung in all das hineinzubringen, was er vernahm und las, einen Kreis von Meinungen zu schaffen, der ihm als Schild gegen den Ansturm der Gescheiten dienen und gleichzeitig seine Persönlichkeit mit hinreichender Schärfe betonen konnte, scheiterte. Er fühlte, daß sich in ihm ein langsamer Wirbel verschiedener Meinungen, Ideen und Theorien drehte, aber dieser Wirbel schwächte ihn nur, ohne ihm etwas zu geben, ohne in seine Seele, in sein Herz einzugehen. Zuweilen schreckte ihn bereits diese Empfindung seiner selbst als eines Leerraums, in dem unaufhörlich Worte und Gedanken siedeten – siedeten, ohne zu wärmen. Er fragte sich sogar:

»Ich bin doch nicht dumm?«

An diesem heißen Tage, als er im Sand saß und sah, wie Turobojew, Makarow und zwischen ihnen Alina von der Mühle zurückkehrten, durchzuckte ihn eine tröstliche Ahnung:

»Ich ängstige mich unnötig. Im Grunde ist alles sehr einfach: meine Stunde, zu glauben, ist noch nicht gekommen. Doch schon reift irgendwo tief in meiner Seele das Korn des wahren Glaubens, meines Glaubens! Er ist mir noch nicht klar, aber es ist seine geheimnisvolle Kraft, die alles Fremde von mir abwehrt und mir nicht erlaubt, es anzunehmen. Es gibt Ideen, die für mich und solche, die nicht für mich bestimmt sind. Die einen muß ich erleben, die anderen brauche ich nur zu kennen. Ich bin nur noch nicht den mir »chemisch verwandten« Ideen begegnet, Kutusow sagt sehr richtig, daß für jedes soziale Individuum ein bestimmter Kreis von Meinungen und Anschauungen existiert, die ihm chemisch verwandt sind.«

Die Erinnerung an Kutusow verwirrte Klim einigermaßen, er sah sich innerlich über einen Widerspruch stolpern, doch rasch machte er einen Bogen um ihn, indem er sich sagte:

»Hier ist eine Wirrnis, doch sie zeigt nur an, daß es gefährlich ist, sich fremder Ideen zu bedienen. Es gibt einen Korrektor, der diese Fehler anstreicht.«

Darauf kehrte Klim Samgin von neuem zu seiner Erkenntnis zurück:

»Daher erscheint es mir auch zuweilen, daß meine Gedanken im leeren Raum sieden. Auch was ich diese Nacht empfinden mußte, hängt natürlich mit dem Heranreifen meines Glaubens zusammen.«

Er lächelte zögernd, froh über seine Entdeckung, doch noch nicht ganz überzeugt von ihrem Wert. Indessen, sich vollends davon zu überzeugen, war nun nicht mehr schwierig. Nachdem er noch einige Minuten nachgedacht hatte, erhob er sich, reckte sich wollüstig, um die ermüdeten Muskeln zu lockern, und ging rüstig nach Hause.

Warawka und Ljutow saßen am Tisch, Ljutow mit dem Rücken zur Tür. Beim Eintreten hörte Klim ihn sagen:

»Die erste Geige in einer Zeitung ist nicht der politische Redakteur, sondern der Feuilletonist.«

Warawka empfing Klim übellaunig:

»Wo warst du? Man hat dich vor dem Frühstück gesucht und nicht gefunden. Und wo ist Turobojew? Mit den Mädchen? Hm . . . ja! Sei so gut Klim und schreib mir diese beiden Zettel ab.«

Ljutow sah mit scheelem, argwöhnischem Blick auf Klim, beugte sich dann über ein Blatt Papier und unterstrich etwas:

»Wahrscheinlich wird mein Onkel auf Ihre Bedingungen nicht eingehen«, sagte er.

Er nahm mit nervöser Bewegung eine Flasche vom Tisch und goß Bier in sein Glas. Drei Flaschen waren schon geleert. Klim ging fort. Während er die Papiere abschrieb, lauschte er den undeutlichen Stimmen Warawkas und Ljutows. Ihre Stimmen waren beinahe gleich hoch und kreischten manchmal auf eine so seltsame Weise, als kläfften zwei Hündchen, die man in einem Zimmer eingesperrt hatte, einander zornig an.

Turobojew, Makarow und die Mädchen erschienen erst zum Abendessen. Klim erkannte sogleich, daß Lida unfroh und nachdenklich gestimmt war, schob es aber auf ihre Müdigkeit. Makarow hatte das Aussehen eines Menschen, der soeben aufgewacht ist. Ein zerstreutes Lächeln säumte seine schön geschnittenen Lippen, aber er rauchte nach seiner Gewohnheit ohne Unterlaß. Die Zigarette qualmte in seinem Mundwinkel, und ihr Rauch zwang Makarow, das linke Auge zuzukneifen. Es war seltsam zu sehen, wie unverwandt und erstaunt Alina Turobojew ansah, während in den frostigen Augen des Aristokraten zwar eine gewisse Besorgtheit bemerkbar war, doch das gewohnte maliziöse Lächeln fehlte. Alle erschienen in dem Moment, als Klim Samgin das Schauspiel der rhetorischen Raserei Warawkas und Ljutows beobachtete.

Es lag etwas Hungriges, Wollüstiges und schließlich sogar Lächerliches in der Wut, mit der diese Menschen stritten. Es schien, als hätten sie schon lange eine Gelegenheit gesucht, einander zu begegnen, um sich ironische Ausrufe an den Kopf zu werfen, in spöttischen Grimassen zu wetteifern und einander auf jegliche Art zu beweisen, daß man den anderen nicht achte. Warawka rekelte sich salopp im Korbstuhl. Er hatte seine kurzen Beine von sich gestreckt und die Hände in den Taschen vergraben, es sah so aus, als habe er sie in seinen Bauch gebohrt. Beim Zuhören blies er seine knallroten Backen auf und kniff die Bärenäuglein zu. Wenn er sprach, wand sein ungetümer Bart sich wogend auf dem Battist seines Hemdes gleich einer monströsen Zunge, die bereit ist, alles wegzulecken.

»Erlauben Sie!« kreischte er durchdringend. »Sie haben selbst zugegeben, daß die Industrie des Landes sich im Keimzustand befindet – und trotzdem halten Sie es für möglich, ja für unvermeidlich, den Arbeitern Feindseligkeit gegen die Unternehmer einzuflößen?«

»Hähähä«, lachte Ljutow näselnd und aufreizend. »Fügen Sie noch hinzu, daß der Klassenhaß notwendig die Entwicklung der Kultur aufhält, wie dies aus dem Beispiel Europas hervorgeht . . .«

Klim machte dieses Lachen, in dem nichts Scherzhaftes lag, aus dem aber deutlich unverschämter Spott sprach, staunen. Ljutow saß mit gekrümmtem Rücken auf dem Stuhlrand und stemmte die Hände flach gegen die Knie. Klim sah, wie seine schielenden Augen zitterten, in dem Bestreben, sich auf Warawkas Gesicht einzustellen, und, da es ihnen nicht gelang, hüpften und Ljutow zwangen, den Kopf hin und her zu drehen. Klim sah ferner, daß dieser Mensch alle gegen sich aufbrachte, Lida, die Tee eingoß, ausgenommen. Makarow blickte durch die offene Verandatür, klopfte sich mit dem Löffel auf die Nägel der linken Hand und hörte offensichtlich nichts.

»Aber die Beweggründe? Ihre Beweggründe?« krähte Warawka, »Was veranlaßt Sie, die Feindschaft anzuerkennen . . .«

»Mein Name«, kreischte Ljutow. »Grimmig hasse ich die Langeweile des Lebens.«

Turobojew schnitt eine Grimasse. Alina, die es bemerkte, beugte sich zu Lida, flüsterte ihr etwas ins Ohr und versteckte ihr rot gewordenes Gesicht hinter der Schulter ihrer Freundin. Ohne sie anzusehen, stieß Lida ihre Tasse zur Seite und runzelte die Stirn.

»Wladimir Iwanowitsch«, heulte Warawka. »Sprechen wir ernsthaft oder nicht?«

»Durchaus«, rief erregt Ljutow.

»Ja, was wollen Sie eigentlich?«

»Freiheit!«

»Anarchie?«

»Wie Sie wünschen. Wenn bei uns Fürsten und Grafen hartnäckig Anarchie predigen, gestatten Sie auch einem Kaufmannssohn, gutherzig über dieses Thema zu schwatzen! Gestatten Sie dem Menschen die ganze Süßigkeit und den ganzen Schrecken – jawohl, Schrecken! – des freien Handelns auszukosten. Setzen Sie ihm keine Schranken.«

»Und dann?« fragte laut Turobojew.

Ljutow schaukelte auf dem Stuhl nach seiner Richtung hin und reckte den Arm gegen ihn aus.

»Dann wird er sich selbst, kraft seiner eigenen Freiheit, Schranken setzen. Er ist feige, der Mensch, er ist gierig. Er ist klug, weil er feige ist, gerade deshalb. Erlauben Sie es, und Sie erhalten die vortrefflichsten, zahmsten, fleißigsten Menschen, die unverzüglich sich selbst und einander bändigen und fesseln, sich dem Gotte wohltätigen und friedlichen Lebens hingeben werden.«

Warawka riß empört die Hand aus der Tasche und winkte ab:

»Verzeihen Sie, das ist nicht ernsthaft!«

»Darf man ein paar Worte sagen?« fragte Turobojew. Er wartete die Erlaubnis nicht ab, sondern begann, ohne Ljutow anzusehen:

»Wenn ich Leute streiten höre, entsteht bei mir der schmerzliche Eindruck, daß wir russischen Menschen unseres Verstandes nicht mächtig sind. Bei uns lenkt nicht der Mensch seinen Gedanken, sondern dieser knechtet jenen. Sie erinnern sich, Samgin, Kutusow nannte unsere Diskussionen eine »Parade der Paradoxien«?«

»Nun, Herr? Nun und, Herr?« kreischte Ljutow anzüglich.

»Es gibt bei uns erstaunlich viele Leute, die, nachdem sie einmal einen fremden Gedanken angenommen haben, sich gleichsam scheuen, ihn zu prüfen, von sich aus zu verbessern, vielmehr, umgekehrt, lediglich bestrebt sind, ihn auszurichten, zu überspitzen und über alle Grenzen der Logik und des Möglichen hinaus zu treiben. Überhaupt will mir scheinen, als sei das Denken für den russischen Menschen etwas Ungewohntes, ja Ängstigendes, wenn auch Verführerisches. Diese Unfähigkeit, seinen Verstand zu lenken, flößt dem einen Furcht vor ihm, Feindseligkeit gegen ihn, dem anderen sklavische Unterordnung unter die Willkür seines Spiels ein, eines Spiels, welches überaus häufig die Menschen verdirbt.«

Ljutow rieb sich die Hände und grinste höhnisch. Klim mußte daran denken, daß er am häufigsten, ja so gut wie immer gute Gedanken aus dem Munde unangenehmer Menschen zu hören bekam. Ihm gefielen die schreienden Versicherungen Ljutows über die Notwendigkeit der Freiheit, er billigte Turobojews Hinweis auf die russische Unfähigkeit, kaltblütig zu denken. Sich seinen Gedanken überlassend, überhörte er die letzten Worte Turobojews und wurde von Ljutows Schrei überrumpelt:

»Sie tadeln mit großem Hochmut!«

»Wir sind erfüllt von einer barbarischen Gier nach besonders glänzenden Gedanken, sie erinnert an die Gier der Wilden nach Glasperlen«, sagte Turobojew, er schaute Ljutow nicht an und betrachtete die Finger seiner rechten Hand. »Ich glaube, nur dadurch erklären sich solche Kuriosa wie Voltairianer unter den Gutsbesitzern, darwinistische Popensöhne, idealistische Kaufleute »erster Gilde« und Marxisten aus demselben Stande.«

»Soll das ein Stein in meinen Garten sein?« fragte Ljutow kreischend.

»Nein, ich will niemand damit treffen. Ich suche ja nicht zu überzeugen, sondern berichte«, antwortete Turobojew nach einem Blick aus dem Fenster. Klim wunderte sehr der sanfte Ton seiner Antwort. Ljutow wand sich, hüpfte auf seinem Stuhl, suchte Einwände und musterte alle Anwesenden. Da er aber feststellte, daß man Turobojew aufmerksam zuhörte, grinste er spöttisch und schwieg.

»Ich weiß nicht, ob man sich diese Gier nach Fremdem mit der Notwendigkeit organisierender Ideen für unser Land erklären soll«, sagte Turobojew und erhob sich.

Ljutow sprang gleichfalls auf:

»Und die Slawophilen? Die Volkstümler?«

»Die einen gibt es nicht mehr, die anderen sind weit entfernt von der Wirklichkeit«, antwortete, zum ersten Male lächelnd, Turobojew.

Ljutow rückte ihm auf den Leib, er kreischte:

»Aber auch Sie denken ja nicht selbständig! Ach nein! Tschaadajew . . .«

»Hat Rußland mit den Augen eines klugen und liebenden Europäers angesehen.«

»Nein, warten Sie, unterstellen Sie mir nichts . . .«

Ljutow redete auf Turobojew ein, drängte ihn auf die Veranda und schrie dort:

»Das standesmäßige Denken . . .«

»Ein anderes soll unmöglich sein . . .«

»Sonderbare Type«, murmelte Warawka, und an seinem scheelen Blick nach Alinas Seite war zu sehen, daß er Ljutow meinte.

Minutenlang schwiegen im Zimmer vier Menschen, ganz Ohr für den Streit auf der Veranda. Der fünfte, Makarow, schlief schamlos im Winkel, auf einem niedrigen Schemel. Lida und Alina saßen Schulter an Schulter, Lida senkte den Kopf, man sah ihr Gesicht nicht. Die Freundin flüsterte ihr etwas ins Ohr. Warawka, der die Augen bedeckt hielt, rauchte seine Zigarre.

»Jetzt, da wir vor einander die Wimpel unserer Originalität gehißt haben . . . Was gibt es?«

Eine dritte Stimme, heiser und weinerlich, sagte:

»Vielleicht wollen die Herrschaften einen Wels fangen? Hier lebt zu Ihrer Unterhaltung ein Wels, drei Pud schwer . . . Eine amüsante Zerstreuung . . .«

Klim trat auf die Veranda hinaus. Vor ihm stand der Bauer mit dem Holzbein, erhob sein Pelzgesicht und sagte in flehendem Ton:

»Ich würde Ihnen für fünfundzwanzig Rubel eine herrliche Jagd einrichten. Es ist ein gefährlicher Fisch. Sie könnten sich später vor Verwandten und Bekannten rühmen . . .«

Turobojew trat zur Seite. Ljutow reckte den Hals und betrachtete aufmerksam den Bauern, der breitschultrig, in einem roten Hemd ohne Gürtel, bedeckt von einer Kappe wuchernder grauer Haare, dastand. Seine einundeinhalb Beine waren mit blauen Hosen bekleidet. In der einen Hand hielt er ein Messer, in der anderen einen hölzernen Krug und schnitzte, während er sprach, mit dem Messer den schartigen Rand des Kruges glatt, wobei er mit hellen Augen zu den Herrschaften emporblickte. Sein Gesicht war nüchtern, sogar finster, seine Stimme klang hoffnungslos. Als er aufgehört hatte zu reden, zogen seine Brauen sich düster zusammen.

Ljutow eilte zu ihm hinab und sagte:

»Gehen wir.«

Er wandte sich zum Fluß. Der Bauer folgte ihm humpelnd. Im Zimmer lachte Alina.

»Wie gefällt Ihnen Ljutow?« fragte Klim Turobojew, der sich auf die Brüstung der Veranda gehockt hatte. »Originell?«

»Er gehört nicht zu den Leuten, die mir Achtung abzwingen, aber er ist – interessant«, sagte Turobojew nach einigem Überlegen leise. »Er hat sehr boshaft über Krapotkin, Bakunin und Tolstoi gesprochen und über das Recht eines Kaufmannssohns, gutherzig zu schwatzen. Das ist das Klügste, was er gesagt hat.«

Eine hinter der anderen, traten Lida und Alina auf die Veranda. Lida setzte sich auf die Stufen. Alina warf hinter der schützenden Hand einen Blick auf die emporsteigende Sonne und näherte sich lautlos, mit gleitendem Schritt, wie über eine Eisfläche, Turobojew.

»Das hätte ich nicht gedacht, daß Sie gern streiten!«

»Ist das ein Mangel?«

»Natürlich. Es taugt für Greise.«

»Unser Geschlecht weiß nichts von Jugend«, zitierte Turobojew.

»Au, Nadson«, rief Alina mit verächtlicher Grimasse. »Mir scheint, nur erfolglose, unglückliche Menschen lieben das Streiten. Die Glücklichen leben schweigsam.«

»Meinen Sie?«

»Ja. Den Unglücklichen fällt es aber schwer, zu gestehen, daß sie nicht zu leben verstehen, daher reden und schreien sie. Und immer an der Sache vorbei, nicht über sich, sondern über die Liebe zum Volk, an die niemand glaubt.«

Turobojew lachte ganz leise und weich.

»Oho! Sie sind mutig«, sagte er.

Sowohl sein milder Ton als auch sein Lachen reizten Klim. Er fragte ironisch:

»Sie nennen es mutig? Wie nennen Sie dann die Volkstümler und Revolutionäre?«

»Es sind gleichfalls mutige Leute. Besonders diejenigen, die selbstlos, aus Neugier Revolution machen.«

»Sie sprechen von den Abenteurern.«

»Wieso? Von Menschen, die sich eingeengt fühlen und die Ereignisse zu beschleunigen suchen. Cortez und Columbus waren ja auch Ausdruck des Volkswillens, Professor Mendelejew ist nicht weniger Revolutionär als Karl Marx. Neugier ist Tapferkeit. Wenn aber die Neugier sich in Leidenschaft verwandelt, dann ist sie schon – Liebe.«

Lida blickte Turobojew über die Schulter und fragte:

»Sprechen Sie aufrichtig?«

»Ja«, entgegnete er zögernd.

Klim empfand steigende Erbitterung gegen diesen Menschen. Er wünschte Einwände gegen diese Gleichsetzung von Neugier und Mut zu erheben, fand aber keine. Wie immer, wenn in seiner Gegenwart im Ton der Wahrheit Paradoxien vorgetragen wurden, beneidete er die Menschen, die das verstanden.


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