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Siebentes Kapitel

Der Weise gibt nach

»Wie fandet Ihr ihn, nachdem er diesen schönen langen Schlaf genossen hat?«

Es ist spät nachmittags, und die beiden befinden sich unten, im fünfeckigen Zimmer.

Renata sitzt am Tische und richtet die Frage an den eintretenden Gottesfreund, der die Tür behutsam und leise hinter sich schließt.

Sie führt in das Gemach Renatas.

In diesem ist jetzt Ottmar untergebracht, da keine Rede davon sein konnte, ihn oben in der Turmkammer zu belassen. Die Burg kann keinen Raum bieten, der so bequem für seine Pflege läge, wie das große Zimmer mit dem geräumigen Alkoven, der unmittelbare Verbindung mit der ›Stadtstube‹ hat, wo der Eichenschrank allerlei Arzneien beherbergt. Zur andern Seite hat man die fünfeckige Kammer, die durch eine Tür mit dem Gemach verbunden ist, für den Meister eingerichtet, da er wünscht, sich in der Nähe des Kranken aufzuhalten; der ehemalige Inhaber dieses Raumes, Vincentius, ist ja abwesend und wird vorläufig nicht zurückerwartet.

»Wie fandet Ihr ihn, nachdem er diesen schönen langen Schlaf genossen hat?«

»Der Schlaf hat Wunder gewirkt. Er muß eine sehr starke Natur haben.«

»Die hatte er von je, und seine Enthaltsamkeit wird auch das ihrige getan haben. Ein so abgehärteter Körper, glaube ich, bietet der Fieberglut keinen überflüssigen und leicht entzündbaren Nahrungsstoff.«

Der Gottesfreund rückt einen Stuhl für sich zurecht und setzt sich ihr gegenüber an den Tisch.

»Du hast ganz recht. Sein Körper ist ein harter Knochen für den Fieberdrachen. Aber seine Seele hat Feuerstoff im Überfluß und macht mir viel zu schaffen. Er hat sich schon wieder aufgeregt wegen einer Sache, bei der es mir nicht klar ist, ob es sich um einen Fieberwahn oder um Wichtigeres handelt. Er ängstigt sich wegen eines Briefes, dessen Abfassung durch die Erlebnisse der Nacht unterbrochen wurde. Es war dies ein Schreiben an den Kanzler in München, das nach Regensburg geschickt werden sollte. Er regte sich so sehr darüber auf, daß ich ihm schließlich meine Dienste anbot, damit er mir den Brief in die Feder diktiere. Ich tat es sehr gegen meinen Willen, denn ich fürchtete, daß diese Anstrengung ihm schaden konnte. Mein Versuch, ihm die Sache auszureden, reizte ihn aber dermaßen, das er fast in Verzweiflung geriet. So wählte ich das kleinere Übel; aber meine Furcht bestätigte sich nur zu sehr. Bald wurden seine Gedanken wirr, und seine ohnmächtigen Versuche, sie zu meistern, steigerten seine Körperhitze wieder beträchtlich. Mein Versprechen, die Arbeit morgen wieder aufzunehmen, wenn er sich fein still verhielte und das Fieber nachgelassen habe, beruhigte ihn etwas – immer wieder rechnete er sich selber vor, daß der Brief noch rechtzeitig ankäme, wenn er nur morgen nachmittag mit einem gut berittenen Boten nach Regensburg abginge ... wenigstens verstand ich, was er murmelte, so.

»Und gewiß richtig. Der Brief soll eben dort dem Famulus übergeben werden, um durch ihn nach München befördert zu werden.«

»Das mag sein, warum aber unser aller Sicherheit davon abhängen soll, seh' ich nicht ein, da es sich doch nur um die bevorstehende Einweihung der Dominikanerkirche in Regensburg zu handeln scheint. Darin kann ich nur Fieberwahn erblicken.«

»Wenn aber der Zweck des Schreibens nicht in dem Inhalte läge, sondern lediglich darin, seinen Famulus recht weit von hier zu entfernen?«

Mit einem überraschten Blicke sieht sie der Meister an.

»Meinst du das, Renata, dann möchtest du wohl auch imstande sein, mir den Schlüssel zu diesem Rätsel auszuhändigen. Du mußt mir genau sagen, wie es sich mit jenen Beweisen des vom Famulus verübten Verrats verhält, von denen du mir heute früh sprachst, vergiß oder übergehe nicht den geringfügigsten Umstand, denn das Kleinste kann von Wichtigkeit sein.«

Die fünfeckige Kammer bietet wenig Raum für eine Wanderung. Aber während Renata berichtet, durchmißt er den rauhen Fußboden in schräger Linie, den Blick beharrlich nach dem Rande der niedrigen Deckenwölbung gerichtet, als ob dort eine schwer zu entziffernde Inschrift stünde.

Renata schweigt.

Der Gottesfreund bleibt stehen.

»So war es denn kein Fieberwahn! Und diese angefangene Beratung – die Ausführung der kräftigen Maßregeln, die er sich ausgedacht hatte – Gefangennahme des Wirtes und des Hetzpredigers –. daraus ist nichts geworden?«

Renata schüttelt den Kopf.

»Schlimm, recht schlimm ... Die böse Folge der aufbrausenden Leidenschaft! ... So wirft sie, was der vorbeugende Verstand ausgedacht hat, über den Haufen, schwemmt es weg, als wäre es nicht dagewesen und setzt seinen eigenen Gegenstand wehrlos der Vernichtung aus!«

Er hat seine Wanderung wieder aufgenommen. Ein paarmal durchquert er den Raum, bleibt dann mit einem Ruck vor ihr stehen und ruft den Blick von der Decke zurück, um ihn fest auf ihr ruhen zu lassen: –

»Renata! Du mußt fort von hier.«

Sie sieht ihn verwundert und beunruhigt an.

»Du mußt nach Regensburg.«

»Sofort ?«

»Gleich nach Eintritt der Dunkelheit.«

»Fort – und allein?«

»Ja, das heißt mit genügender Bedeckung. Konrad und einige der Knechte – sagen wir Kunz, Hermann, Fridolin, Bruno und noch ein paar von den beherztesten und handfestesten. Dürfte ich die Sache mit Bischof Ottmar besprechen, so würde er ja seine Reisigen aufsitzen lassen. Aber er darf gerade jetzt nicht durch solche Fragen aufgeregt werden. Auch werden ja die deinigen genügen. Sollten sich schließlich einige Bauern zusammenrotten, um euch den Weg zu verlegen, was sehr unwahrscheinlich ist, so hätte das wenig zu sagen. Konrad und die Seinigen würden ja für dich den Teufel aus der Hölle jagen. O, ich habe sie durch meine heutige Predigt zu deinem Schutze gut gewappnet!«

»So sollte ich Ottmar jetzt verlassen?«

Ein mildes Lächeln huscht über die beweglichen Lippen des Meisters. Es ist das erste mal, daß Renata den Bischof einfach mit seinem Rufnamen nennt.

»Das ist das beste, was du jetzt für seine Genesung tun kanst. Wenn ich ihm morgen sage, daß du in Sicherheit bist, so wird das zu seiner Ruh und zum Schwinden des Fiebers mehr beitragen, als irgendeine Arzenei.«

»Meinst du das gewiß? Du wirst freilich wissen – oder glaubst zu wissen – daß ich in Sicherheit bin. Er aber weiß dann nur, daß ich nicht hier bin, wo er sieht und hört, was vorgeht.Was kann da der geschäftige Fieberwahn sich nicht alles ausmalen von abenteuerlichen Gefahren, die mich unterwegs umgeben, und wie sehr können solche Vorstellungen nicht seinen Zustand verschlimmern?«

Der Gottesfreund macht eine halb ungeduldige, halb verzweifelnde Bewegung.

Ihr Einwand hat Hand und Fuß, aber er sieht sehr wohl, daß ihr dieser nicht von der Furcht vor schädlicher Rückwirkung auf den Fiebernden eingegeben wird, sondern von ihrem Widerstreben, sich von dem kranken Geliebten zu trennen.

»Wenn das auch die erste Wirkung wäre, so dauert es doch nicht lange, bis die Botschaft käme, daß du in Regensburg bei deinen Verwandten gut aufgehoben bist.«

Renata wagt es nicht, seinem Blicke zu begegnen. In stummem Kampfe mit sich selber ringt sie ihre Hände im Schoße.

»Vater! ich kann ihn jetzt nicht verlassen!«

»Du kannst nicht? Nun, das entscheidet. Aber vielleicht« –

Er sagt die Worte nicht, die ihm auf den Lippen schweben: – ›vielleicht wird dies unser aller Untergang.‹

Allein der Klang seiner Stimme beunruhigt sie und sie blickt schnell auf: –

»Vielleicht – was wollt Ihr sagen?«

»Nur, daß du vielleicht auch gerade das Richtige triffst, und daß es in der Tat so am besten sein wird.«

Und er meint es auch so. Er glaubt zwar, daß eine solche Reise jetzt ohne sonderliche Gefahr unternommen werden kann. Aber könnte er sich nicht irren? Und wenn auch keine Gefahr von Menschen droht – das lauernde Gewitter kann sich unterwegs entladen, – unter einem Baume, wo sie Schutz sucht, kann der Blitz sie treffen, und müßte er sich dann nicht sagen: ›hätte ich sie nur hier in der Burg bleiben lassen!‹ Er ist, obwohl noch ein gutes Stück vom Greisenalter entfernt, doch zu alt und hat zu viel von dem Lauf der Dinge gesehen, um ungestüm auf die Durchführung seines Planes zu dringen. Im Streite mit Menschen heißt es: ›der Klügere giebt nach!‹ Im Kampfe mit den Schicksalsmächten muß es heißen: ›der Weise gibt nach!‹ Wo er einen geheimen Widerstand spürt, will er seine Sache nicht um jeden Preis durchsetzen. Er weiß, daß schließlich kein Menschenauge sieht, was das beste sein mag ... respice finem ... er gibt es auf.

Der Gottesfreund tut es mit einem leichten Seufzer.

Renata ergreift seine Hand.

»Und du zürnst mir nicht, Vater?«

»Dir zürnen – ! die du mit deinem sichern Gefühl sehr wohl das Richtige getroffen haben kannst, während mein suchender Verstand den Weg verfehlt haben konnte.«

Ihre Lippen öffnen sich, um eine Frage zu stellen, aber eine Handbewegung heißt sie schweigen.

Der Meister lauscht.

Mit leisen Schritten geht er zu der Tür, durch die er hereingetreten ist, und horcht.

»Ja, er spricht – er ist erwacht.«

Er drückt auf den Griff der Tür, die sich lautlos in den Angeln dreht, um ihn in das Gemach einzulassen ....

Renata sitzt allein am Tische, den Kopf in die Hände gestützt.

Vom Gemache her vernimmt sie die beiden Männerstimmen: die glockentiefe, die in ruhigen Sätzen gleichmäßig ertönt, und die höhere, unharmonische, die nur kurze Fragen oder Ausrufe dazwischenwirft. Diese gedämpften Laute umweben sie mehr und mehr mit einem wohligen Gefühle tiefen Geborgenseins, einer inneren und äußeren Ruhe, die durch das Bewußtsein erhöht wird, einer großen Gefahr entronnen zu sein: – hinauszugehen in die öde Fremde, um sich selbst in Sicherheit zu bringen! Sicherheit! – wo wäre die für sie zu finden, wenn nicht hier zwischen den beiden Männern, die sich in ihr Seelenleben geteilt haben? Wie lebhaft empfindet sie jetzt, daß sie in ihrer Gesellschaft nichts fürchten kann. Und ginge es zum Scheiterhaufen, sie fühlt es: an ihrer Seite würde sie ihm ohne Zagen entgegenschreiten, während sie, von ihnen getrennt, entfernt von dieser trauten Burg, in deren Mauern ihr ganzes Leben beschlossen ist, selbst in größtem Schutze sich eingeschüchtert wie ein verlassenes Kind fühlen würde.

»Man ist doch ein recht schwaches, mutloses Weib!« seufzt sie – und vermag dabei nicht einmal zu wünschen, daß es mit ihr anders stünde.

Eine geraume Weile hat sie so dagesessen. Das Licht, das in das Zimmer dringt, gemahnt an die stark vorgeschrittene Nachmittagsstunde. Da kommt ihr der Gedanke, in die Stadtstube zu gehen, ob vielleicht unten an der Brücke etwas zu bemerken sei, was eine ungewöhnliche Bewegung in der Stadt verriete. Der Turmwächter hat freilich nichts verlauten lassen; aber es ist gut, sich einmal auf seine eigenen Augen zu verlassen, und nirgends hat man einen besseren Blick auf den Platz unter den Kastanien vor dem goldenen Stierkopf als von der Stadtstube aus.

Hier trifft sie Gertrud an.

Das Fräulein steht am offenen Fenster, in der wilden Hoffnung, daß ihr vielgeschmähter Ritter gerade jetzt gegen Abend zurückkehren und über die Brücke reiten möchte. Angeblich freilich befindet sie sich hier, weil sie aus dem Schranke etwas Leinen zum kühlenden Umschlag für den Bischof haben will und hat das Fenster geöffnet in der angeblichen Absicht, etwas Luft zu schöpfen.

»Was mag wohl die beiden Bürgersleute dort unten so sehr erregen? Sieh, Renata! Ein Dritter tritt hinzu – das scheint ein Bauer zu sein – sie zeigen ihm etwas – wie er sich bekreuzt! ... Es scheint, daß sie oben am Kalvarienberg etwas Auffallendes entdecken.«

»Das tun sie auch,« antwortet Renata, die jetzt neben ihr steht. – »Sie sehen, daß das Kruzifix fehlt.«

»Das Kruzifix?«

»Ja, das hast du wohl noch nicht gehört?«

Gertrud schüttelt den Kopf und blickt sie sprachlos an. Ist sie schon eine Gottesfreundin, so hat sie doch immer das Kruzifx am Kalvarienberg, dies heilige Wahrzeichen der ganzen Gegend, mit inbrünstiger und etwas abergläubischer Verehrung betrachtet.

»Es wurde von dem einzigen Blitzschlag dieser Nacht zerschmettert. Der Meister erreichte den Gipfel gerade, als es geschah. Er sah auch Bischof Ottmar hinstürzen und glaubte, er wäre getroffen. Er war jedoch, Gott sei Dank, unverletzt; keiner der umherfliegenden Splitter hatte ihn verwundet.«

»Mein Gott, welche Warnung!«

»Warnung?«

»Nun ja! Daß er in sich gehe und sich bekehre.«

Sie denkt an die allgemeine Schlechtigkeit Ottmars von Winterstetten, die sich für sie in der Tötung ihres Bruders zusammendrängt, fügt aber schnell hinzu:

»Hat er doch die Sünde wider den heiligen Geist begangen, als er den Preis auf den Kopf des Meisters setzte. O, glaube mir, wenn er sich nicht schleunigst bekehrt, wird dies Fieber sein Tod werden.«

Sie blickt der Schwägerin tief in die Augen, und in dem Blicke liegt etwas Spähendes, wird der Gedanke Renata erblassen machen? Diese gibt jedoch den Blick ruhig zurück: –

»Besinnst du dich nicht auf das, was der Meister am Anfange seiner Predigt sagte? von der Dämmernatur, in die er soeben hineingeschaut habe, in welcher Licht und Finsternis rangen, wo jedoch das Licht obsiegen werde?«

»Wir müssen hoffen, daß es so wird«, murmelt Gertrud.

Dabei fühlt das Mädchen fast mit Schrecken, wie schwer ihr dieser Wunsch fällt. Denn muß sie nicht den Bischof lieben, wenn er ein Gottesfreund wird? Sie kann nicht umhin, in ihrem Herzen den bösen Gedanken zu lesen, daß Ottmar von Winterstetten sterben möchte.

»Denn«, fügt sie hinzu – und mit unbewußter Kasuistik geht die Begründung sowohl auf den geäußerten als auch auf den geheimen Wunsch – »denn wie leicht kann jetzt nicht die geringste Kleinigkeit zur Entdeckung führen! Hast du auch daran gedacht, Renata? Jeden Augenblick kann beim Bischof die Ahnung aufsteigen, wer dein Kaufmann ist.«

»Wohl hab' ich daran gedacht, Gertrud. Aber sei getrost! Diese Ahnung ist sicher schon bei ihm zur Gewißheit geworden.«

»Meinst du? Und so ruhig sagst du das!«

»Ich sage das ruhig, weil darin keine Gefahr für den Meister liegt. Im Gegenteil, es wird für uns alle der größte Segen sein.«

Gertrud schüttelt ungläubig den Kopf. ›Wie jener unselige Mann Renatas Seele in seine Gewalt bekommen hat!‹ denkt sie.

»Möcht' es nur so sein, wie du glaubst, Renata!«

Mit dieser etwas skeptisch geäußerten Hoffnung tritt sie vom Fenster zurück, sucht noch im Schranke die leinenen Stücke aus und verläßt die Stube durch die kleine in den Alkoven führende Tür. – –

Renata bleibt am offenen Fenster stehen.

Wie oft hat sie schon hier zu dieser Tagesstunde gestanden und ihren Blick hinausschweifen lassen über das Städtchen und die hügelige Gegend, worauf das Licht der sich neigenden Sonne immer wärmer und farbiger strahlt:

An dem Abend von Ottmars erster Ankunft, als der Vater sie in die Stadtstube geschickt hatte, dort einen kleinen Festtrunk aufzutragen, um das fröhliche Ereignis zu feiern, daß sein alter Freund auf Winterstetten ihm seinen Sohn schickte, damit der Junker unter seiner Leitung sich in der rechten Ritterart ausbilde, wie unruhig ahnungsvoll hatte sie da in die Ferne geblickt, wie jugendlich hatte die Wange geglüht, die von dem herben Hauch des kühlen Apriltages gefächelt wurde ....

Dann an dem Abend, nachdem Ottmar in einer Frühstunde so unerwartet verschwunden war, einige flüchtige Zeilen hinterlassend, die in Rätselsprache von einem verhängnisvollen, ihn von dannen jagenden Zwange kündeten. Es war spät im Herbst, rote Blätter der Obstbäume trieben vorüber und traurig kreischte der Wetterhahn, der Wache hielt über der verlassenen Kammer des kleinen Turmes ...

Nach ihrer Rückkehr von der Fastnachtszeit in Regensburg. Ein graues Tauwetter, der Schnee schmolz und träufelte vom Dach herunter. Die Dohlen des Burgfelsens flatterten unstet wie riesenhafte Rußflocken vorüber. Mit tränenschweren Augen sah sie undeutlich die schneegesprenkelte Häusermasse durch den zerrissenen Rauchschleier, den der Wind ungestüm hin und her zerrte ...

So manchesmal während ihres Ehelebens, besonders in dessen letzter Zeit, als Hugo drinnen im Alkoven das Bett hütete – bis zum letzten Abend, als sie das sarazenische Fläschchen aus dem Eichenschrank und dem Ebenholzschreine geholt hatte und nun zögernd hier stand ... Ein trüber Sonnenuntergang ergoß sein Licht über das Städtchen. Die Stromschnellen des vom Regen angeschwollenen Flusses schickten laut und drohend ihr Brausen her auf...

Und dann das letztemal, als sie hier die Rückkehr Konrads mit der Meldung über die Seuche erwartete, während hinter ihr Gertrud die Sachen zusammenpackte für jenen Stadtbesuch, der durch die unerwartete Ankunft Ottmars verhindert wurde.

Alles ist jetzt so ganz wie damals!

Dieselbe Glut, dieselbe Schwüle, derselbe Geruch nach Torf- und Reisigfeuer, heraufschwebend aus dem bläulichen Netz, das, aus den Rauchfäden der Schornsteine gewoben, über dem Städtchen ausgespannt ist. Links von ihm bis zu den tännichtgesäumten Höhen strecken sich die Roggenfelder, einfarbig, gleich gestrichenen Flächen. Kein Windhauch läuft über sie hin und rührt das Ährenmeer auf in silbernen Wogen. Frühzeitig weißgelb harrt das Korn unbeweglich des Schnitters. Unten glitzert das Spiegelbild des verborgenen Wirtshausschildes wie damals mit dem frechen Blinken eines Späherauges, und im Kirchturme drüben beginnt das Abendläuten, das – wie damals – an ein Sterbeglöcklein gemahnt.

... Damals – am Montag war es ... vor vier Tagen.

Nur vier Tage! Ihr erscheinen sie ein halbes Leben! Und sind nicht auch alle Hauptereignisse ihres Lebens in diesen Tagen ihr immer wieder und wieder mit allen Einzelheiten leibhaftig durch die Seele gegangen? Was enthielt nicht schon jene eine Stunde in der Gartenlaube, wo sie die Bestätigung alles dessen erhielt, wovon sie freilich immer überzeugt gewesen war, aber doch nur mit jener Überzeugung des Erratens, der es noch ein geheimes sehnsüchtiges Bedürfnis ist, sich vergewissern zu können?

Vier Tage! Was war in der Zeit nicht alles geschehen! Was wird sich ereignet haben, wenn wiederum vier Tage ins Land gegangen sein werden? – Wenn? Würden überhaupt noch vier Tage kommen? Noch drei? noch zwei? Für die Welt gewiß – für die drei Bürger, die dort unten im Schatten des Kastanienbaumes ihre Krüge leeren, für den Bauer, der über die Brücke mit seinem Planwagen fährt – – aber für sie?

Der Gedanke erschüttert ihr Innerstes mit einem Schauer, der nicht aus Furcht geboren ist. Es ist ein unsagbares Gefühl erhabenster Feierlichkeit, das sie ergreift. Der eisige Geisterhauch des Ewigen durchfröstelt sie mitten in all dieser schwülen Glut. – –

Als sie in die fünfeckige Kammer tritt, legt der Gottesfreund die Feder von sich, mit der er gerade einige Aufzeichnungen gemacht hat, und tritt ihr mit einem aufmunternden Lächeln entgegen.

»Erheblich viel besser«, beantwortet er ihren fragenden Blick. »Nur braucht er noch viel körperliche und seelische Ruhe. Letztere würde er jetzt fast haben, wenn nicht eine sehr tiefe Unruhequelle noch immer flösse.«

»Welche meint Ihr, Herr?« fragt Renata, und errötet, weil sie es errät.

»Ich meine, was heute Nacht zwischen dir und ihm da drinnen vorgefallen ist. Das drückt zentner schwer auf sein Gemüt und lähmt seine Lebensgeister. Er wähnt sich aus deinem Herzen verbannt, durch derste Abscheu gebrandmarkt. Nun weiß ich ja, daß du dies tödliche Alpdrücken durch einen Blick, einen Händedruck von ihm wegnehmen kannst. Nicht wahr, wir wollen nicht zögern, ihm diese Wohltat zu erweisen, die für sein Befinden ein größeres Wunder wirken wird, als alle medizinischen Berühmtheiten Europas es tun könnten.«

Er geht nach der Tür, die er leise öffnet – erst ein wenig, um hineinzuspähen, dann ganz – und läßt Renata eintreten.

Als sie das tut, öffnet sich die gegenüberliegende Tapetentür des Alkovens, um die Gestalt Gertruds hinauszulassen. Ein schneller Blick zeigt Renata, daß Mutter Ursula nicht mehr anwesend ist.

Der Widerschein eines trüben Sonnenunterganges erfüllt das Gemach mit unsicherem Lichte. Gegenüber, im Schatten des Alkovens, auf den sie zuschreitet, erhebt sich ein blasses Gesicht vom Kissen des großen Eichenbettes.

Renata bleibt plötzlich in der Mitte des Zimmers stehen.

Sie muß an sich halten, um nicht einen leisen Schrei auszustoßen: – so überwältigend wirkt die Ähnlichkeit zwischen jetzt und damals. Ihr ist einen Augenblick zumute, als ob es nicht Ähnlichkeit, sondern Selbigkeit wäre – als ob in diesem Räume die Zeit um fünf Jahre zurückgeschnellt wäre.

Fast bedarf es der Anwesenheit des Kaufmanns, der hinter ihr in das Gemach tritt, um sie aus dieser Wahnvorstellung herauszureißen.

Und es ist, als ob die Nähe dieses Mannes jener lebhaften Erinnerung an ihre bitterste Stunde den schärfsten Stachel nähme. Als sie dem Alkoven zuschreitet, sagt ihr eine verheißungsvolle innere Stimme, daß gerade hier noch – und zwar recht bald – jene Erinnerung den letzten Rest ihres Stachels verlieren soll und die volle erlösende Versöhnung sich einfinden werde. Diese innere Stimme spricht mit demselben Ewigkeitsklange, wie jene Frage am Fenster der Stadtstube, welche sie so feierlich wie mächtiges Orgelgebraus durchfröstelte.

So tritt sie festen und leichten Schrittes über die Alkovenstufe, an der Ottmar gestern strauchelte.

Es zeigt sich sofort wie sehr der Meister recht hatte.

Schon ihr Eintreten und Nahen, noch mehr ihre Stimme – sind die Worte auch nur alltägliche Fragen, wie man sie an einen Leidenden richtet – am meisten aber das sanfte Streicheln ihrer Hand übt eine zauberhafte Wirkung auf Ottmar aus.

Dieselbe Hand reicht ihm bald danach den Labetrank, der seine Nachtruhe herbeiführen soll, und als er einschläft, hält er ihre Rechte noch in der seinigen.

An den Pfosten des Alkovens gelehnt, betrachtet der Kaufmann die beiden mit einem Blicke voll väterlicher Güte.


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