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Viertes Buch

 

Viertes Buch

Erstes Kapitel.

Der barmherzige Samariter.

Initial E Ein Mannesgesicht beugt sich über Ottmar.

Eine gedämpfte, tiefe Stimme fragt teilnahmsvoll: –

»Habt Ihr Schaden gelitten, Herr? Fühlt Ihr irgendwo Schmerz?«

»Vom Scheiterhaufen?«

Es klingt, als ob eine fremde Stimme früge, hinter ihm, weit, weit ferner als die des Fremden.

»Vom Blitzschläge, meine ich ... Ein Holzsplitter hätte Euch verwunden können.«

Ein schwaches, verständnisloses Kopfschütteln.

»Kennt Ihr mich nicht, Herr?«

Dasselbe Kopfschütteln.

Das Gesicht wird vom Mondlichte gestreift und ist deutlich gegen den Hintergrund des schwarzen Himmels zu sehen.

Es hat offene, vertrauenerweckende Züge: eine breite Stirn, eine kurze Nase, ein gedrungenes Kinn mit tiefen Grübchen und kräftige, wohlgeformte Lippen. Überall solche Fältchen, Runzeln und Ritze, die von starken Gefühlen, Leidenschaften, geistigen Kämpfen und tiefster Gedankenarbeit zeugen. Das Haar, zu beiden Seiten herabhängend, ist noch dunkel, aber vom Reife des Alters gestreift.

Ein fremdes Gesicht, und doch erscheint es ihm nicht ganz unbekannt.

Er lächelt traumhaft.

»Ja doch – ich kenne Euch ... Der barmherzige Samariter.«

Er erinnert sich an ein Bild, das er einst bei einem Kardinal in Welschland sah. Italien, wie war der Himmel so blau, die Häuser so weiß ... Lange, lange her ... wie in einem anderen Leben ... Aber es war ja auch ein anderes Leben: das Erdenleben!

»Der barmherzige Samariter in der Hölle,« murmelt er. »Glaubhaft genug! Der Levit und der Priester werden wohl zum Himmel gefahren sein, wo sie hingehören!«

»Ihr seid schwer erschüttert, Herr, wie es nur natürlich ist.«

Es ist seltsam, daß ihm auch diese Stimme mit ihrem tiefen Glockenklange bekannt erscheint. Seltsam! Das Bild war doch stumm, wenn auch auf seine Weise sprechend genug, denn es war von einem der größten Meister gemalt.

»Ihr müßt ein paar Schlucke von dem Weine trinken, den ich für solche Fälle immer bei mir führe. Er wird Euch stärken, es ist guter Cyprischer Wein.«

»Und verband ihm seine Wunden und goß drein Öl und Wein' ... Aber wo ist sein Reittier?«

Der Fremde hat aus seiner Ledertasche eine Kristallflasche samt einem kleinen Silberbecher herausgenommen.

»Kommt, Herr, trinkt! Ich werde Euch stützen.«

Nur ein paar ganz kleine Schlucke kann Ottmar zu sich nehmen. Es ist aber, als ob ihn warmes Leben durchströme und in jedes Äderchen hineindringe.

»Wo bin ich?« fragt er nach kurzem Schweigen – und die Stimme ist jetzt fast seine eigene.

»Auf Langensteins Kalvarienberg, Herr.«

Ein tiefer Seufzer empfängt diese Mitteilung, als ob sie eine schwere Enttäuschung brächte.

»Ich glaubte, ich sei in der Hölle ... Langensteins Kalvarienberg – wohl kenn' ich die Stelle. Es ist schlimmer dort als in der Hölle. Ich sage dir, Mann, als ich letztes Mal dort war, da sehnte ich mich danach, in die Hölle zu fahren. Das kam mir wie eine Erlösung vor. Denn es kann dort kein Schrecknis geben, das mit dem zu vergleichen wäre, was ich hier erlitten habe – hier, wenn ich wirklich auf dem Kalvarienberge bin. Alles was jener Florentiner sah, den Vergilius dort hinunterführte, wofern Ihr sonst von ihm gehört habt – –«

»Wohl hab' ich von Messere Alighieri gehört, denn mein Vater hat ihn selbst gesehen.«

»Dein Vater – den Dante? ... Dein Vater hat einen großen Mann gesehen, einen sehr großen Mann ... Erzähle mir davon.«

»Wird Euch das nicht ermüden?«

»Gewiß nicht. Eure Stimme tut mir gut. Redet nur!«

»Trinket zuerst noch etwas von meinem Cypernwein, Herr!«

Der Fremde führt den Becher an Ottmars Lippen und stützt ihn, so daß er fast aufrecht sitzt.

Ottmar trinkt mit Begier. Diesmal bleibt fast nichts im Becher übrig.

»Euer Griechenwein ist ein wahres Elixir. Und der Klang Eurer Stimme beruhigt die Seele ... Erzählt mir also, wo Euer Vater den Dante sah. war es in Florenz? – ich kenne Florenz.«

»Nein, Herr, es geschah in Ravenna.«

»Ravenna? Dort war ich nie.«

»Die Stadt liegt abseits, nach Osten zu. Geschäfte führten meinen Vater dorthin. Eines Tages gegen Abend ging er nach einem Pinienwald, der in geringer Entfernung außerhalb der Stadt liegt, viele Bürger waren unterwegs, um nach der Tageshitze Luft und Kühlung zu suchen. In der Nähe des Waldes sah mein Vater eine einsame Gestalt zwischen den Pinienstämmen hervorkommen und nach der Stadt zurückkehren. Es war ein hochgewachsener Mann in langem, engem Gewand. Er hielt den Blick vor sich hin auf die Erde gerichtet; von seinen Zügen erblickte man unter der Kappe nur eine Adlernase, hagere braune Wangen und ein mächtiges hervorspringendes Kinn. Die Leute wichen ehrfurchtsvoll und scheu vor ihm zur Seite, ja die Kinder verbargen sich in die Kleiderfalten ihrer Mütter, von denen mehrere sich verneigten, einige aber sich bekreuzten. Mein Vater wunderte sich, wer dieser Mann, dem man so begegnet, wohl sein möchte. Noch mehr jedoch wunderte er sich, als er ringsum flüstern hörte: ›Dort geht er, der in der Hölle gewesen ist.‹«

»Wohl mochte Euer Vater sich wundern! Ich zweifle oft, ob er wirklich in die Hölle hinuntergestiegen ist, oder ob er das alles erfunden hat. Obwohl – woher sollte er den Mut nehmen, eigenmächtig zwei Päpste in die Hölle zu versetzen? Sah er doch die Stelle, wo Bonifazius, der damals auf dem Stuhle Petri saß, leiden sollte und wo Nikolaus litt ... ›Se' tu già costì ritto, Bonifacio?‹ ... Ja, ich glaube, er muß wohl dort gewesen sein, wenn anders es durch Gnade möglich ist, in dieser Zeitlichkeit die Stätten der Verdammnis zu besuchen.«

»Wohl ist das möglich, und jeder mag das tun, wenn es auch nicht in seiner Macht steht, die Gesichte festzuhalten. Darüber sagt ein Meister: ›Derweil der Mensch dieser Zeitlichkeit angehört, mag er gar oft aus der Hölle in das Himmelreich und umgekehrt steigen, je über Tag und Nacht, wer weiß wie oft. Denn beides sind gute sichere Wege dem Menschen in dieser Zeitlichkeit, und wohl ihm, wer sie recht und gründlich kennen lernt!‹ – Wohl diesem Dante, daß er in die Hölle hinunterstieg und uns Kunde davon brachte und auch davon, wie er von dort ins Fegefeuer ging und schließlich an der Hand der Liebe sich ins Himmelreich erhob.«

»Ihr sprecht, scheint mir, von der Hölle und dem Himmel, die wir in unserer Brust tragen.«

»Wovon denn sonst? Und deshalb, mein Sohn, war es gar töricht von dir, dich nach der Hölle wie nach einer Erlösung zu sehnen. Da du doch aus deiner eigenen Hölle in dein eigenes Himmelreich hättest steigen können, ohne daß dich jemand daran hindern konnte, vermochtest du aber das nicht, wer hätte dich dann befreien können? Ja wenn selbst ein Gott dich in seinen Schoß riefe – was hülfe dir das, wenn du eine Hölle in dir trügest? Du würdest ja dann die Hölle in Gott selber hineintragen.«

»Du würdest ja die Hölle in Gott selber hineintragen.«

Tief ergriffen wiederholt Ottmar diese Worte.

Das »Du« erinnert ihn an Renatas »Du« in der Laube. Und es wirkt, seltsam genug, fast ebenso. Ihn erfüllt eine große Wärme für diesen Fremden.

Plötzlich blickt er auf und betrachtet das Gesicht einige Sekunden lang aufmerksam. Dann erleuchtet ein freudiges Lächeln seine Züge: –

»Jetzt erkenn' ich Euch wieder! Ihr seid der Kaufmann aus Lengefeld.«

Der Fremde nickt.

»Ich wußte wohl, daß Ihr mich erkennen würdet, Herr.«

»Aber wie kommt Ihr hier her?«

»Ihr habt mich selbst eingeladen.«

»Ich entsinne mich wohl, daß ich Euch aufforderte, während meines Aufenthaltes nach Burg Langenstein zu kommen.«

»Und der nächste Weg führt über den Kalvarienberg.«

»Ihr habt für Eure Wanderung eine seltsame Tageszeit ausgewählt.«

»Vielleicht hat mir Gott die Wahl eingegeben. Denn ich kam, wie mir scheint, zur rechten Stunde.«

»Das ist wahr – sehr wahr.«

»Und vielleicht gab er damals Euch ein, mich einzuladen, und vielleicht ließ er uns beide in jenem Wirtshaus einander begegnen gerade zu diesem Zweck und zum Zwecke anderer Dinge, die hieraus fließen mögen. Denn diese Zusammenhänge sind tief und von langer Hand vorbereitet, und vieles fügt sich im Leben wie in jenen Wahr- und Doppelträumen, von denen der alte Artemidoros in seinem Oneirokritikon berichtet und von denen die Schriften der Alten uns so manche berühmte Beispiele aufbewahrt haben.«

Ottmar nickt nachdenklich.

»Das mag wohl sein. Und am allerseltsamsten ist mir dieses: Gerade bevor Ihr kamt, hatte ich eine Art Traum ... wohl glaubte ich ganz wach zu sein, aber noch während ich es erlebte, war es mir doch, als sei es ein Traum; was es auch war, ansonst ich jetzt nicht hier sondern in der anderen Welt wäre ... Ein Traum ja, aber vielleicht doch ein Wahrtraum, wie denn die Stunde dafür die richtige war: ›Post mediam noctem, cum somnia vera‹ Nach der Mitternacht, wenn die Wahrträume einetreten., wie Horatius sagt. Ein Wahrtraum! Mein Gott! Der Gedanke läßt mich erzittern, daß es ein solcher sein könnte und daß er je in Erfüllung ginge.«

»Vertraut mir Euren Traum an, Herr, wenn Ihr nicht fürchtet, daß es Euch zu sehr erregt, da Ihr noch so erschüttert seid.«

»Ja, ich will Euch meinen Traum erzählen. Vielleicht könnt Ihr mir darüber ein tröstliches wort sagen, denn man merkt, daß Ihr Euch auch mit diesen geheimnisvollen Sachen beschäftigt habt. Wisset also, daß es mir war, als befände ich mich in Regensburg auf dem Haidplatz, wenn Ihr dort bekannt seid.«

»Ja, ich weiß, dicht am Rathaus mit dem schmucken turmbewehrten Haus, das sie der ›Herren Trinkstube‹ nennen.«

»Gerade davor war ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem ich einen Ketzer verbrennen ließ. Und der Ketzer war mein Freund, und ich liebte ihn mehr als mich selbst, und ich liebte seine Ketzerei mehr als meine Rechtgläubigkeit, was dünkt Euch wohl von einem solchen Traum?«

Mit ängstlicher Erwartung blickt Ottmar empor in das Antlitz des Kaufmanns. Aus dessen Zügen strahlt ihm ein ruhiges, vertrauenerweckendes Lächeln entgegen, und der ganze gedämpfte Glockenklang dieser seltenen Stimme ertönt in der überraschenden Antwort: –

»Mein Sohn, du kannst keinen Ketzer verbrennen lassen.«

»Ich kann nicht? Meint Ihr das?«

»Das ist meine Meinung.«

»Ihr möget recht haben. Besser, Amt und Würde niederlegen und sich selbst als Ketzer verbrennen lassen. Und in der Tat endete mein Traum auch auf diese Weise.«

Die Hand des Kaufmanns legt sich sanft auf seine Schulter: –

»Mein Sohn, du kannst auch selbst nicht als Ketzer verbrannt werden.«

»Wie? – warum denn nicht?«

»Dieweil es keine Ketzer gibt. Darum kannst du niemand als Ketzer verbrennen lassen und kannst ebensowenig selbst als Ketzer verbrannt werden.«

»Es gibt keine Ketzer!«

»Es gibt keine ... Dies Wort scheint dir sonderbar und unerhört und setzt deine Seele in Verwirrung. Und doch sage ich dir: die Zeit wird kommen, wenn auch erst Jahrhunderte vergehen müssen, aber kommen wird sie, wo dies eine selbstverständliche Alltagsrede ist.«

Schweigsam starrt Ottmar eine Weile vor sich hin und versucht die Tragweite einer solchen Vorstellung zu ermessen.

Dann schüttelt er still das Haupt: –

»So trostreich eine solche Aussicht auch nach einer Richtung hin sein mag: fast möchte ich bezweifeln, daß dies auch eine gute Zeit werden wird. Aber sage mir eins: gibt es denn keinen Unterschied zwischen Guten und Bösen?«

»Vielleicht nicht so ganz und ungeteilt, daß etwa einer gut ist und ein anderer böse. Wohl aber gibt es einen Unterschied zwischen Heiligen und Nichtheiligen. Denn Heilige gibt es, wenn auch nur selten und bei weitem nicht in solcher Anzahl, daß man damit den Kirchenkalender bevölkern könnte. Vor allem aber gibt es Edle und Unedle: Naturen, die aus der Natur hinausstreben, sich zur Vergeistigung, ja zur Vergottung emporheben, und solche, die in der zeitlichen Natur heimisch sind, und die sich immer tiefer in diese Materie verlieren. Dieser wirkliche Unterschied ist in der Welt vorhanden und beruht nicht auf Ansichten und Meinungen.«

»Dennoch gibt es Meinungen und Ansichten von den höchsten göttlichen Dingen; denn die Wahrheit kann doch nur eine sein. Wer nun die rechte Anschauung zu haben glaubt, muß der nicht die anderen in dem Maße, wie sie von der seinigen abweichen oder ihr gar widersprechen, als schädlich und ketzerisch verurteilen – wenn er auch nicht die Ketzer mit Feuer und Schwert zu verfolgen braucht, wozu wir nur allzusehr neigen?«

»Wohl gibt es solche verschiedene Anschauungen, und ich will dir erklären, wie es sich damit verhält. Hat nicht der große Apostel gesagt: ›Wir sehen jetzt durch einen Spiegel?‹ Nun, damit ist alles gesagt. Es gibt nämlich Spiegel mit trübem, angelaufenem Glas und solche, wo das Glas voll Blasen oder schief geschliffen ist, so daß das Bild in die Länge oder in die Breite gezogen wird. Viele Leute müssen sich mit schlechten Handspiegeln, ähnlich wie sie die Dorfbarbiere haben, begnügen. Dann sind aber auch die autorisierten Spiegel da: sie sind alle so geschliffen wie der oberste Rat der Gildemeister es vorgeschrieben hat, weil es für die Leute am zuträglichsten sei, gerade solche Spiegelbilder zu sehen. Nun aber merke dir folgendes: Viele Rechtgläubige sehen mit allem Fleiß in diese autorisierten Spiegel hinein, um die Wahrheit und was zum Heil ihrer Seelen dient, zu erblicken. Und alle, die da Ketzer genannt werden, tun dasselbe, indem sie in ihre Spiegel hineinsehen. Hier ist nun offenbar keine große Verschiedenheit. Denn der Unterschied liegt nicht in den Menschen, sondern in den Spiegeln. Hingegen ist ein bedeutender Abstand zwischen diesen und der großen Masse, die in gar keinen Spiegel hineinschaut, weil sie sich nur wenig daraus macht, etwas zu entdecken, da sie vollauf befriedigt ist mit dem, was ihr gerade vor der Nase liegt, wie das liebe Vieh mit seinem Futter. Möglich auch, daß sie gelegentlich in den Spiegel hineinblickt, weil sie dadurch irgendein Gut zu erreichen denkt, das sie mit bloßem Auge nicht so leicht entdecken kann. So wie ja auch die Rinder in den Weiher hinuntersehen; jedoch nicht, um den blauen Himmel und die weißen Wolken zu erblicken, die sonst ihren abwärts gewandten Augen verborgen bleiben, sondern um zu erforschen, wo sie am besten ihren Durst stillen können ... Nun siehst du, wo du die Linie zu ziehen hast, um reinlich zu scheiden; und daß diejenigen, die sie zwischen ›Rechtgläubigen‹ und ›Ketzern‹ ziehen, verkehrt geteilt haben. Und jetzt verstehst du auch, wie ich jenes wort meine: es gibt keine Ketzer.«

»Ich verstehe ... Aber was seid Ihr eigentlich für ein Kaufmann?«

»Weißt du das noch nicht?«

»Wie sollte ich das wissen?«

»Und doch hast du von Kindesbeinen an von mir gehört.«

»Wie denn?«

»Hast du nicht schon als Kind im Evangelium von jenem Kaufmann gehört, der gute Perlen suchte? ›Und da er eine köstliche Perle fand, ging er hin und verkaufte alles, was er hatte und kaufte dieselbige.‹ Dieser Kaufmann bin ich.«

»So habt Ihr Euch nur bildlich einen Kaufmann genannt?«

»Nicht doch. Ich war Kaufmann von Jugend auf, wie mein Vater es gewesen ist.«

»Jetzt aber seid Ihr's nicht länger?

»O ja. Ich bin es noch. Das Evangelium sagt auch nicht von jenem Perlenhändler, daß er von da an seinen Handel an den Nagel hängte und sich einschloß, um dazusitzen und seine köstliche Perle anzustarren. Viel eher glaube ich, daß er jetzt mit ihr Handel trieb und ihren Wert erhöhte. Denn diese Perle hat auch die köstliche Eigenschaft, daß man sie an jeden verkaufen kann, der sie zu schätzen weiß und den Preis dafür zahlen will; und dennoch hat man sie noch immer im Besitz.«

»Wenn dem so ist, dann irrte ich mich wohl kaum, als ich Euch in Lengefeld sagte, Ihr würdet gewiß in Burg Langenstein Kunden für Eure Waren finden ... Und dorthin wollen wir uns auch jetzt begeben, denn ich fühle mich nun stark genug, um aufzustehen und zu gehen.«

Eine Handreichung des Kaufmannes bringt Ottmar ziemlich leicht auf die Füße.

Mit einem Ausbruche der Verwirrung und des Entsetzens schaut er sich um.

Hinter ihm, unten am Horizonte steht der Mond, zwischen dem dunklen Erdrand und dem eben so dunklen Rand einer schweren Wolkenmasse, die den ganzen Himmel bedeckt, ist gerade noch Raum für die rote Scheibe. Grell aber matt schießt das Licht über den Gipfel des Kalvarienberges und läßt die verrenkten Glieder der beiden Schacher an ihren Kreuzen mit unheimlicher Leuchtkraft hervortreten. Dazwischen gähnt ein leerer Raum.

»Das Christuskruzifix! ... Mein Gott – wo ist das Christuskruzifix?«

Dort auf dem steinigen Boden rings umher, in Stummeln, Stücken und Splittern! Er wäre über einen solchen Balkenstumpf gestrauchelt, wenn der Kaufmann nicht seinen Arm festgehalten hätte.

Tief erschüttert, sprachlos starrt Ottmar eine Weile in den leeren Mittelraum dieses seltsamen Golgathas hinein – nach dem alten Opferhaine hin, dessen Eichen aus dem dichten Dunkel des Hintergrundes mit mystischem Bronzeglanze hervordämmern, als ob er im Begriffe stünde, aus seinem grauen Altertumsschatten hervorzutreten und diese Opferstätte in Besitz zu nehmen ...

»Ein Wunderzeichen! Ein Wunderzeichen!« murmelt Ottmar.

»Kein Wunderzeichen, sondern ein Blitzschlag, der schon lange drohte, seltsamerweise aber der einzige blieb – wie es denn auch später nicht mehr gedonnert hat. Jener Donnerkeil fiel gerade, als ich hier die Höhe betrat. Ich sah Euch hinstürzen und befürchtete, daß Ihr von einem Holzsplitter getroffen wäret. Daß jedoch der Blitz gerade in dies Kruzifix einschlug, erscheint mir natürlich genug, da es die anderen bedeutend überragte.«

»Und doch bleibt es für mich ein Wunderzeichen. Denn das Bild, das mir diese Stelle jetzt bietet, ist gleichsam die Verwirklichung, ja das Leibhaftigwerden eines furchtbaren Gedankens, der mich, als ich dies Golgatha das letzte Mal sah, bis ins Mark erschütterte.«

»Und was für ein Gedanke war das wohl?«

»Ob vielleicht der Künstler, als er diese beiden so grauenhaft lebendig wirkenden Schächer an ihren Kreuzen schuf und dann mitten zwischen sie das leblos-steife byzantinische Christuskruzifix hinstellte – ob er damit nicht unbewußt ein wirkliches Verhältnis ausdrückte? ›Wie, wenn es sich wirklich so verhielte,‹ sagte ich zu mir selbst, ›daß es zwar Kruzifixe, Kirchensymbole gibt, aber keinen Gekreuzigten? Gekreuzigte Menschen allerdings, wie diese beiden armen Sünder, die wir hier auf ihren Marterpfählen sich krümmen sehen, aber niemals einen gekreuzigten Gottmenschen ... wie, wenn dies alles – das ganze Golgathaopfer – nur Legende und fromme Dichtung wäre?«

»Gewiß ein furchtbarer Gedanke für einen christlichen Menschen. Und doch – was würde es dir frommen, mein Sohn, wenn der Sohn Gottes ans Kreuz geschlagen worden wäre – nicht etwa vor dreizehnhundert und fünfzig Jahren, sondern noch am gestrigen Tage, und zwar nicht im fernen Palästina, sondern hier auf dem Langensteiner Golgatha, und wir stünden jetzt hier an der heiligsten Stätte der Welt, und hätten ihn – den gekreuzigten Gottessohn – mit diesen unseren Augen gesehen, mit diesen unseren Händen berührt: – ja, frage ich, was frommte es dir, wofern Christus in dir, der Sohn Gottes, der in dir um deiner Sünden willen leidet, ans Kreuz der Materie, ›des Bauholzes‹, geschlagen – wofern er sich nicht von diesem Kreuze losrisse und von denTloten auferstünde – (wie es ja mit Recht gesagt ist, daß die in dieser Welt Lebendigen die Toten sind und die in Gott Verstorbenen die Lebendigen –) auferstünde und emporstiege zum Vater, mit dem er Eins ist von Ewigkeit her?«

»Amen, ehrwürdiger Meister! Eure Worte sind dem Geiste noch kräftigerer Wein als Euer Saft der Cyperntraube dem Körper.«

»Ist Euch dieser Wein noch zu stark – –«

»Das will ich nicht gesagt haben. Aber Eure Worte erinnern mich an Meister Eckehart. Diesen habe ich immer allen Angriffen gegenüber in Ehren gehalten, vielleicht meistens aus keinem anderen Grunde, als daß er die größte Leuchte unseres Ordens ist. Nun hab' ich mich gerade den ganzen gestrigen lag hindurch mit ihm beschäftigt, und seine oft so rätselhaft befremdlichen und kühnen Sätze sprachen mich mehr denn je an. Dabei kam ich nun freilich doch zuletzt, sehr gegen meinen Willen, zu dem Schluß, daß man ihn als einen Ketzer bezeichnen muß. Indessen soll uns das nicht weiter kümmern, sintemal Ihr ja bewiesen habt, daß es keine Ketzer gibt.«

»Nun wohl, so wollen wir denn Holzkreuze Holzkreuze sein lassen und erleiden, was Holzkreuzen widerfahren kann. Wo es sich aber um unser Seelenheil und unsere Erlösung handelt, da wollen wir uns an Dinge halten – oder vielmehr, wenn nicht an Undinge so doch an Nicht-Dinge wollen wir uns halten, an denen kein Gewitter, das Jahreszeiten oder Weltgezeiten bringen können, zu rütteln vermag, geschweige denn, daß es sie zerschmettern könnte.«


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