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VIII.

Meine Geschichte ist ihrem Ende nahe. Denn was soll ich mit dem Bericht über mein eigenes Leben beginnen? Weshalb sollte ich hier von dem Ringen erzählen, das unter einem neuen Himmel begann, um wieder Freude am Glück zu finden? … Bisweilen, so sehr bot ich alle Kräfte auf, schien es mir, indem ich jählings mein Ziel vergaß, als ränge ich immer noch nur nach ihr – so schwer wurde es mir, mir eine Handlung der Tugend vorzustellen, die mich Alissa nicht näher brachte. Ach, hatte ich nicht aus ihr die Erscheinungsform selber meiner Tugend gemacht? Um mich von ihr zu lösen, galt es schließlich, sich gegen meine Tugend selbst zu kehren. Und ich stürzte mich nun in die widersinnigste Ausschweifung, gab mich hin bis zu der Illusion, daß ich jedes Wollen in mir unterdrückte. Aber sich selbst überlassen, fiel mein Gedanke stets auf den Hang der Erinnerung zurück; und es vergingen dann Stunden, Tage, ohne daß ich mich da herausreißen konnte.

Dann entriß mich ein grauenhaftes Emporfahren von neuem meiner Lethargie. Ich gewann den Schwung zurück. Ich benutzte meinen Geist, um in mir zugrunde zu richten, was noch eben der Bau meines Glücks gewesen war, meine Liebe und meinen Glauben zu verwüsten. Ich mühte mich ab.

Was konnte in diesem Chaos meine Arbeit wert sein! Wie ehedem meine Liebe, so schien jetzt die Verzweiflung die einzige Stätte meiner Gedanken zu sein, und ich erkannte ihrer keinen, den mir nicht meine Langeweile dargeboten hätte. Heute, da ich diese Arbeit hasse und fühle, daß mein Wert verloren ging, zweifle ich, ob es aus Liebe geschah … nein, sondern weil ich an der Liebe gezweifelt hatte.

 

Trotzdem sah ich Alissa noch einmal wieder … Es war drei Jahre später gegen Ende des Sommers. Vor zehn Monaten hatte ich durch sie von dem Tode meines Onkels erfahren. Ein ziemlich langer Brief, den ich ihr auf der Stelle aus Palästina, wo ich damals reiste, schrieb, war ohne Antwort geblieben.

Ich weiß nicht mehr, unter welchem Vorwand ich, als ich in Le Havre war, der einmal gegebenen Richtung folgend nach Fongueusemare fuhr. Ich wußte, daß ich Alissa dort finden würde, fürchtete aber, sie werde nicht allein sein. Ich hatte mein Kommen nicht angemeldet; da es mir widerstrebte, mich wie ein gewöhnlicher Besuch einzustellen, so ging ich ungewiß dahin: sollte ich eintreten? Oder sollte ich nicht lieber wieder abreisen, ohne sie gesehen zu haben, ohne versucht zu haben, sie zu sehen? … Ja, ohne Zweifel; ich wollte nur in der Allee spazierengehen, wollte mich auf die Bank setzen, zu der auch sie vielleicht immer noch kommen würde, um sich dort zu setzen … Und ich suchte schon nach irgendeinem Zeichen, das ich zurücklassen könnte und das ihr von meinem Aufenthalt sagen würde, wenn ich wieder fort wäre … In diesen Gedanken ging ich langsamen Schritts dahin, und da ich beschlossen hatte, sie nicht mehr zu sehen, so wich die ein wenig bittere Trauer, die mir das Herz einschnürte, einer fast sanften Melancholie. Schon hatte ich die Allee erreicht, und aus Furcht, überrascht zu werden, ging ich auf einer der Niederungen an der Böschung hin, die den Meierhof begrenzte. Ich kannte einen Punkt der Böschung, von dem aus der Blick in den Garten hinabtauchen konnte; dort stieg ich hinauf; ein Gärtner, den ich nicht wieder erkannte, harkte einen Pfad und verschwand mir bald aus den Augen. Eine neue Barriere schloß den Hof. Der Hund bellte, als er mich vorübergehen hörte. Weiterhin, wo die Allee endete, wandte ich mich nach rechts, von neuem bis zur Gartenmauer hin; und eben wollte ich auf jenen Teil des Buchenwäldchens zugehen, der der verlassenen Allee parallel lag, als mich, genau vor der kleinen Pforte des Küchengartens, der unvermittelte Gedanke ergriff, von dort aus in den Garten einzudringen. Die Tür war geschlossen; immerhin setzte mir der innere Riegel nur einen ziemlich schwachen Widerstand entgegen, den ich durch einen Schulterhub zu brechen im Begriff stand … In diesem Augenblick hörte ich das Geräusch von Schritten; ich verbarg mich hinter der Mauerwendung. Ich konnte nicht sehen, wer aus dem Garten kam; aber ich hörte, ich fühlte, daß es Alissa war. Sie trat drei Schritte vor und rief, zunächst leise:

»Bist du es, Jerome?«

Mir blieb das heftig pochende Herz stehen, und da aus meiner zusammengeschnürten Kehle kein Wort hervorkommen konnte, so wiederholte sie lauter:

»Jerome, bist du es?«

Als ich sie so nach mir rufen hörte, wurde die Erregung, die an mir würgte, so heftig, daß ich in die Knie sank. Da ich immer noch keine Antwort gab, trat Alissa noch ein paar Schritte vor und machte die Wendung der Mauer mit; und plötzlich fühlte ich sie an mir – an mir, während ich mir mit meinem Arm das Gesicht verbarg, gleichsam als fürchtete ich mich davor, sie sofort zu erblicken. Einige Augenblicke blieb sie so stehen, zu mir geneigt, während ich ihre bleichen Hände mit Küssen bedeckte.

»Weshalb verbargst du dich?« fragte sie so einfach, als hätten diese drei Jahre der Trennung nur einige Tage gedauert.

»Woran hast du erkannt, daß ich es war?«

»Ich erwartete dich.«

»Du erwartetest mich?« sagte ich, so überrascht, daß ich ihre Worte nur fragend wiederholen konnte …

Und da ich auf den Knien blieb, fuhr sie fort:

»Laß uns bis zur Bank gehen. – Ja, ich wußte, daß ich dich noch einmal wiedersehen sollte. Seit drei Tagen komme ich jeden Abend hierher und rufe dich, wie ich es heute abend getan habe … Weshalb antwortetest du nicht?«

»Wenn du nicht gekommen wärst und mich überrascht hättest … so wäre ich wieder abgereist, ohne dich gesehen zu haben,« sagte ich so kühl wie möglich, indem ich mich jetzt gegen die Erregung verhärtete, die mich erst schwach gefunden hatte. – »Da ich durch Le Havre kam, wollte ich einfach einmal in der Allee spazierengehen, die Runde um den Garten machen, und ein paar Augenblicke auf der Bank der Mergelgrube ausruhen, denn ich glaubte, du kämest noch immer dorthin, um dich zu setzen; dann …«

»Sieh, was ich hier seit drei Abenden lese,« sagte sie, indem sie mich unterbrach; und sie reichte mir ein Bündel Briefe hin; ich erkannte jene, die ich ihr aus Italien geschrieben hatte. In diesem Augenblick hob ich die Augen auf sie. Sie war außerordentlich verändert; ihre Magerkeit, ihre Blässe preßten mir das Herz grauenhaft zusammen. Indem sie sich auf meinen Arm stützte und auf ihm lastete, drängte sie sich an mich, als hätte sie Angst oder als fröre sie. Sie war noch in tiefer Trauer, und ohne Zweifel steigerte die schwarze Spitze, die sie als Kopftuch umgenommen hatte und die ihr Gesicht einrahmte, ihre Blässe noch. Sie lächelte, aber sie schien nahe daran, in Ohnmacht zu sinken. Ich hielt einen Ausruf der Besorgnis zurück und quälte mich nur mit dem Gedanken, ob sie in diesem Augenblick in Fongueusemare allein war. Nein; Robert lebte bei ihr, und Juliette hatte den August mit Eduard und ihren drei Kindern dort verbracht … Wir hatten die Bank erreicht; wir setzten uns, und die Unterhaltung schleppte sich noch einige Augenblicke durch das Rund banaler Aufklärung hin. Sie erkundigte sich nach meiner Arbeit. Ich antwortete wenig bereitwillig. Ich hätte gewollt, daß sie empfände, wie wenig mich meine Arbeit noch interessierte, seit ihr Blick mir nicht mehr folgte. Ich hätte sie enttäuschen wollen, wie auch sie mich enttäuscht hatte. Ich weiß nicht, ob es mir gelang, aber sie ließ sich nichts merken. Ich meinerseits, der ich zugleich voll war von Groll und Liebe, bemühte mich, auf die trockenste Art und Weise zu ihr zu reden, und ich war ärgerlich auf mich selbst, weil die Erregung meine Stimme bisweilen erzittern ließ.

Die sinkende Sonne, die seit einigen Augenblicken ein Gewölk verbarg, erschien noch einmal am Horizont, fast genau uns gegenüber, und sie goß einen unerhofften Luxus über die leeren Felder und füllte mit jähem Reichtum das enge Tal, das sich zu unsern Füßen auftat; dann verschwand sie. Wir blieben geblendet zurück, ohne ein Wort zu sagen; ich fühlte, wie mich noch diese goldige Ekstase einhüllte und durchdrang, in der mein Groll sich verflüchtigte, und ich in mir nur noch die Liebe hörte. Alissa, die geneigt und an mich gelehnt, die Wange an meiner Schulter, sitzen blieb, richtete sich auf; sie zog aus ihrer Bluse ein winziges Paket in Seidenpapier, machte Miene, es mir zu geben, hielt inne, schien unentschlossen und sagte, da ich sie überrascht ansah:

»Höre, Jerome, da habe ich mein Saphirenkreuz; seit drei Abenden bringe ich es mit, weil ich es dir seit langem geben wollte.«

»Was soll ich damit?« fragte ich ziemlich schroff.

»Du sollst es als Andenken an mich aufbewahren, für deine Tochter –«

»Welche Tochter?« rief ich aus, indem ich Alissa ansah, ohne sie zu verstehen.

»Höre mir ganz ruhig zu, ich bitte dich; nein, sieh mich nicht so an; sieh mich überhaupt nicht an; es wird mir ohnehin schon sehr schwer, mit dir zu reden; aber dies will ich dir durchaus sagen. Höre, Jerome, eines Tages wirst du dich verheiraten … Nein, antworte mir nichts; unterbrich mich nicht, ich flehe dich an. Ich möchte ganz einfach, du mögest dich entsinnen, daß ich dich sehr geliebt habe und … seit langem schon … seit drei Jahren … habe ich mir gedacht, dieses kleine Kreuz, das du liebtest, das sollte eines Tages eine Tochter von dir zur Erinnerung an mich tragen, oh, ohne daß sie wüßte, von wem … und vielleicht könntest du ihr auch … meinen Namen geben …«

Sie hielt mit erstickter Stimme inne; ich rief fast feindselig aus:

»Weshalb es ihr nicht selber geben?«

Sie versuchte noch einmal zu reden. In diesem Augenblick hob ich die Augen auf sie; ihre Lippen bebten wie die eines Kindes, das schluchzt; und doch weinte sie nicht; der außerordentliche Glanz ihres Blickes schien ihr Gesicht mit einer übermenschlichen, einer engelhaften Schönheit zu übergießen.

»Alissa, wen sollte ich denn heiraten? Du weißt doch, daß ich nur dich lieben kann …« Und indem ich sie plötzlich wahnsinnig und fast brutal mit den Armen umschlang, zerdrückte ich ihr die Lippen unter meinen Küssen; einen Augenblick hielt ich sie wie hingegeben, halb hintenüber gebeugt, gegen mich; ich sah, wie ihr Blick sich verschleierte; dann schlossen sich ihre Lider, und mit einer Stimme, deren genau abgewogenem Ton und deren Melodie für mich nie etwas gleichkommen wird:

»Habe Mitleid mit uns, mein Freund! Ach, verdirb nicht unsere Liebe!«

Vielleicht sagte sie auch noch: »Handle nicht feig!« Oder vielleicht sagte ich es mir selber, das weiß ich nicht mehr; aber plötzlich rief ich, indem ich mich vor ihr auf die Knie warf und sie fromm in meine Arme schloß:

»Wenn du mich so geliebt hast, weshalb hast du mich da stets zurückgestoßen? Hattest du irgendeinen Grund, dich so zu versagen? Sieh, ich habe erst auf Juliettes Heirat gewartet; ich begriff, daß du auch ihr Glück abwartetest; sie ist glücklich; du selbst hast es mir gesagt. Ich habe lange geglaubt, du wolltest nur bei deinem Vater weiterleben; du weißt, ich hätte dich nicht von ihm getrennt … aber jetzt sind wir beide ganz allein.«

»Oh, wir wollen uns nicht nach der Vergangenheit zurücksehnen,« murmelte sie. »Jetzt habe ich das Blatt gewendet.«

»Es ist noch immer Zeit, Alissa.«

»Nein, mein Freund, es ist nicht mehr Zeit. Es war nicht mehr Zeit seit dem Tage, da wir durch unsere Liebe füreinander Besseres erkannten als die Liebe. Dank dir, mein Freund, war mein Traum so hoch gestiegen, daß jede menschliche Zufriedenheit ihn zum Verblassen gebracht hätte. Ich habe oft darüber nachgedacht, was unser Leben miteinander geworden wäre; sobald sie nicht mehr vollkommen gewesen wäre, hätte ich unsere Liebe nicht mehr ertragen können.«

»Hattest du auch darüber nachgedacht, was unser Leben ohne einander geworden wäre?«

»Nein, niemals!«

»Jetzt aber siehst du es doch! Seit drei Jahren, seit ich ohne dich bin, irre ich schmerzlich umher …« Ich sah sie an; ich erkannte in ihrem Blick eine seltsame Unruhe. »Wenn du es erlaubt hättest, so wäre für unsere Liebe nichts zu schön gewesen.«

Der Abend sank.

»Mich friert,« sagte sie, indem sie aufstand und sich zu eng in ihren Schal einhüllte, als daß ich ihren Arm noch wieder hätte nehmen können. »Du entsinnst dich jenes Verses der Schrift, der uns beunruhigte und den wir nicht zu verstehen fürchteten: ›Sie haben nicht gefunden, was ihnen verheißen worden war, denn Gott hatte sie für etwas Besseres aufbewahrt‹.«

»Glaubst du noch immer an diese Worte?«

»Ich muß es wohl.«

Wir gingen ein paar Augenblicke nebeneinander her, ohne etwas zu sagen. Dann fuhr sie fort:

»Stellst du dir das vor, Jerome? Das Beste!« Und unvermittelt sprangen ihr die Tränen aus den Augen, während sie noch einmal wiederholte: »Das Beste!«

Wir waren von neuem zu der kleinen Pforte des Küchengartens gelangt, durch die ich sie eben hatte herauskommen sehen. Sie wandte sich zu mir:

»Lebwohl«, sagte sie. »Nein, komm nicht weiter mit. Leb wohl, mein vielgeliebter Freund. Jetzt soll … das Beste beginnen.«

Einen Augenblick sah sie mich an, indem sie mich mit ausgestreckten Armen, die Hände auf meinen Schultern, die Augen erfüllt von unsäglicher Liebe, zugleich festhielt und von sich schob …

 

Sowie die Pforte sich wieder geschlossen und ich gehört hatte, wie sie hinter sich den Riegel vorschob, fiel ich gegen diese Pforte, der wildesten Verzweiflung zur Beute, und blieb lange stehen und weinte und schluchzte in der Nacht.

Aber sie zurückhalten, die Tür einbrechen, einerlei wie eindringen in das Haus, das mir doch nicht verschlossen gewesen wäre – nein, noch heute, da ich rückwärts gehe, um diese ganze Vergangenheit noch einmal zu durchleben –, das war mir nicht möglich, und der hat mich auch bisher nicht verstanden, der mich jetzt nicht versteht. Und doch …

 

Eine unerträgliche Unruhe trieb mich, einige Tage darauf an Juliette zu schreiben. Ich sprach ihr von meinem Besuch in Fongueusemare und sagte ihr, wie sehr mich Alissas Blässe und Magerkeit beängstigten; ich flehte sie an, achtzugeben und mir Nachricht zu schicken, da ich sie von Alissa selber nicht mehr erwarten könnte.

Weniger als zwei Monate später erhielt ich folgenden Brief:

 

» Mein lieber Jerome,

Ich muß dir eine recht traurige Nachricht geben; unsere arme Alissa ist nicht mehr … Ach! Die Befürchtungen, die dein Brief aussprach, waren nur zu begründet. Seit einigen Monaten verfiel sie, ohne geradezu krank zu sein; immerhin hatte sie meinen Bitten nachgegeben und eingewilligt, Dr. A. aus Le Havre zu empfangen, der mir schrieb, ihr fehle nichts Ernstliches. Aber drei Tage nach dem Besuch, den du ihr gemacht hast, verließ sie unvermittelt Fongueusemare. Durch einen Brief Roberts erfuhr ich von ihrer Abreise; sie schrieb mir so selten, daß mir ihre Flucht ohne ihn unbekannt geblieben wäre, denn ihr Schweigen hätte mich nicht so bald beängstigt. Ich habe Robert lebhafte Vorwürfe gemacht, weil er sie hatte reisen lassen, weil er sie nicht nach Paris begleitet hat. Solltest du glauben, daß wir von diesem Augenblick an über ihre Adresse im unklaren geblieben sind? Du kannst dir meine Angst vorstellen; unmöglich, sie zu sehen; unmöglich selbst, ihr zu schreiben. Robert war allerdings ein paar Tage darauf in Paris, aber er konnte nichts entdecken. Er ist so träg, daß wir hier an seinem Eifer zweifeln konnten. Wir mußten die Polizei benachrichtigen; wir konnten nicht in dieser grausamen Ungewißheit bleiben. Eduard brach auf und machte seine Sache so gut, daß man endlich die kleine Klinik entdeckte, in die sie sich geflüchtet hatte. Es war zu spät. Ich erhielt zugleich einen Brief des Direktors, der mir ihren Tod meldete, und eine Depesche Eduards, der sie nicht einmal hat wiedersehen können. Am letzten Tage hatte sie unsere Adresse auf ein Kuvert geschrieben, damit wir benachrichtigt würden, und in ein anderes Kuvert hatte sie die Abschrift eines Papiers gesteckt, das sie an diesem letzten Tage an unseren Notar in Le Havre schickte und das ihren letzten Willen enthielt. Ich glaube, eine Stelle dieses Briefes geht auch dich an; ich werde sie dir nächstens bekannt geben. Eduard und Robert haben der Beerdigung beiwohnen können, die vorgestern stattgefunden hat. Sie waren nicht die einzigen, die der Bahre folgten. Ein paar Kranke der Klinik legten Wert darauf, der Feier beizuwohnen und die Leiche bis zum Friedhof zu begleiten. Ich, die ich von Tag zu Tag mein fünftes Kind erwarte, habe mich unglücklicherweise nicht rühren dürfen.

Mein lieber Jerome, ich weiß, welchen tiefen Kummer dir diese Trauer machen wird, und ich schreibe dir mit zerrissenem Herzen. Ich habe mich seit zwei Tagen im Bett halten müssen und schreibe dir nur mit Mühe, aber ich wollte nicht dulden, daß dir irgendein anderer, auch Eduard oder Robert nicht, von der spräche, die ohne Zweifel wir beide als einzige gekannt haben. Jetzt, da ich eine fast alte Familienmutter bin und da viel Tränen und Asche die brennende Vergangenheit zugedeckt haben, kann ich wünschen, dich wiederzusehen. Wenn dich eines Tages deine Beschäftigungen oder dein Vergnügen nach Nimes führen sollten, so komm bis Aigues-Vives. Eduard wäre glücklich, wenn er dich kennen lernte, und wir beide könnten von Alissa reden. Leb wohl, mein lieber Jerome. Ich umarme dich recht traurig.«

 

Ein paar Tage darauf erfuhr ich, daß Alissa Fongueusemare ihrem Bruder hinterließ, jedoch verlangte, daß alle Gegenstände aus ihrem Zimmer und ein paar Möbel, die sie besonders angab, Juliette geschickt würden. Ich sollte demnächst die Papiere erhalten, die sie, mit meinem Namen versehen, versiegelt hatte. Ich erfuhr auch, daß sie gebeten hatte, man möchte ihr das kleine Saphirenkreuz um den Hals legen, das ich bei meinem letzten Besuch abgelehnt hatte, und durch Eduard hörte ich, daß es geschehen war.

Das versiegelte Paket, das der Notar mir schickte, enthielt Alissas Tagebuch. Ich schreibe hier einige Seiten daraus ab. – Ich setze sie ohne Kommentare her. Man wird sich zur Genüge vorstellen können, welche Gedanken ich mir machte, während ich sie las, und wie mein Herz erschüttert wurde: ich könnte es nur allzu unvollkommen hier andeuten.

Alissas Tagebuch

Aigues-Vives.

Vorgestern Abreise aus Le Havre; gestern Ankunft in Nimes; meine erste Reise! – Da ich keinerlei Haushalts- oder Küchensorge habe, so beginne ich in der leichten Untätigkeit, die die Folge ist, am heutigen 23. Mai 188., dem Tage, an dem ich mein fünfundzwanzigstes Jahr vollende, ein Tagebuch, ohne allzuviel Vergnügen daran zu finden, ein wenig, damit es mir Gesellschaft leiste; denn ich fühle mich, vielleicht zum erstenmal in meinem Leben, allein – auf dieser anderen, fast fremden Erde, mit der ich noch nicht Bekanntschaft geschlossen habe. Was sie mir zu sagen hat, ist ohne Zweifel dem ähnlich, was mir die Normandie erzählte und dem ich in Fongueusemare unermüdlich lauschte – denn Gott ist nirgends sich selber ungleich –, aber diese südliche Erde redet eine Sprache, die ich noch nicht gelernt habe und der ich mit Staunen zuhöre.

Den 24. Mai.

Juliette schlummert auf einer Chaiselongue in meiner Nähe – in der offenen Galerie, die den Reiz dieses italienischen Hauses ausmacht; sie liegt in einer Ebene mit dem sandbestreuten Hof, der den Garten fortsetzt … Ohne ihre Chaiselongue zu verlassen, kann Juliette sehen, wie die kleine Wiese sich hügelig abdacht bis zu dem Teich, wo sich ein Volk buntscheckiger Enten tummelt und wo zwei Schwäne segeln. Ein Bach, der, wie man sagt, in keinem Sommer versiegt, speist ihn und enteilt dann quer durch den Garten, der zum immer wilderen Wald wird, wie ihn der trockene Weideplatz und die Weinberge immer mehr einengen, um ihn schließlich ganz zu ersticken.

… Eduard Teissière hat meinen Vater gestern in den Garten, auf den Meierhof, in die Kellereien und die Weinberge geführt, während ich bei Juliette blieb – so, daß ich heute morgen sehr früh allein einen ersten Entdeckungsgang im Park machen konnte. – Viele unbekannte Pflanzen und Bäume, deren Namen ich doch gern gewußt hätte. – Von einem jeden pflücke ich einen kleinen Zweig, um sie mir beim Frühstück nennen zu lassen. – In den einen erkenne ich die immergrünen Eichen wieder, die Jerome in der Villa Borghese oder Doria-Pamphili bewunderte … So entfernte Verwandte unserer Bäume des Nordens – von so verschiedenem Ausdruck; sie schirmen fast am Ende des Parks eine enge, geheimnisvolle Lichtung und neigen sich wie Elegien über eine kleine Wiese, die den Fuß weich stützt und den Chor der Bacchanten einlädt. Ich erstaune, entsetze mich fast ein wenig darüber, daß meine Empfindung für die Natur, die in Fongueusemare so in der Tiefe christlich war, hier wider meinen Willen ein wenig mythologisch wird. Und doch war die Furcht, die mich immer mehr bedrückte, gleichsam religiös. Ich murmelte diese Worte: »Hic nemus!« Die Luft war kristallisch; es herrschte eine außerordentliche Stille. Ich dachte an Orpheus, an Armida, als sich plötzlich ein vereinzelter Vogelsang erhob, so dicht neben mir, so pathetisch, so rein, daß mir plötzlich war, als hätte die ganze Natur darauf gewartet. Mir pochte das Herz sehr stark; ich blieb einen Augenblick gegen einen Baum gelehnt stehen; dann ging ich nach Hause, ehe noch irgend jemand aufgestanden war.

Den 26. Mai.

Immer noch ohne Brief von Jerome. Wenn er mir nach Le Havre geschrieben hätte, wäre mir sein Brief nachgeschickt worden … Ich kann meine Unruhe nur diesem Heft anvertrauen; seit drei Tagen haben mich weder die gestrige Fahrt nach Les Baux, noch die Lektüre, noch das Gebet auch nur einen Augenblick ablenken können. Heute kann ich hier nichts anderes niederschreiben; die seltsame Melancholie, unter der ich seit meiner Ankunft in Aigues-Vives leide, hat vielleicht keine andere Ursache – und doch fühlte ich sie in mir selber in solcher Tiefe, daß mir bisweilen ist, als sei sie dort seit langem vorhanden gewesen und als habe die Freude, auf die ich stolz war, sie nur zugedeckt.

Den 27. Mai.

Weshalb sollte ich mich selbst belügen? Ich freue mich über Juliettes Glück nur vermöge einer künstlichen Denkarbeit. Dieses Glück, das ich so sehr gewünscht habe, daß ich mich selbst erbot, ihm mein eigenes Glück zu opfern – ich leide darunter, wenn ich sehe, daß es so ohne Mühe erreicht wurde und so anders ist, als sie und ich, wir beide glaubten, daß es sein müßte. – Wie kompliziert das ist! Ja … ich erkenne wohl, daß ein grauenhaftes Wiedererwachen des Egoismus beleidigt ist, weil sie ihr Glück anderswo gefunden hat als in meinem Opfer – daß sie mein Opfer nicht nötig hatte, um glücklich zu werden.

Und ich frage mich jetzt, da ich fühle, welche Unruhe mir Jeromes Schweigen einflößt: war dieses Opfer wirklich in meinem Herzen vollbracht? Ich bin gleichsam gedemütigt, weil Gott es nicht mehr von mir fordert. War ich seiner denn nicht fähig?

 

Wie gefährlich diese Analyse meiner Trauer ist! Schon hänge ich an diesem Heft. Sollte die Koketterie, die ich für besiegt hielt, hier ihre Rechte zurückverlangen? Nein; dieses Tagebuch soll nicht der gefällige Spiegel sein, vor dem meine Seele sich rüstet! Nicht aus Untätigkeit, wie ich es zuerst glaubte, sondern aus Trauer schreibe ich es. Die Trauer ist ein Stand der Sünde, den ich nicht mehr kannte, den ich hasse, um den ich meine Seele minder kompliziert machen will. Dieses Heft soll mir helfen, in mir wieder das Glück zu erlangen.

Die Trauer ist eine Komplizierung. Nie habe ich mein Glück zu analysieren gesucht …

In Fongueusemare war ich auch recht einsam, noch einsamer … weshalb also empfand ich es nicht? – Und als Jerome mir aus Italien schrieb, daß er ohne mich sah, daß er ohne mich lebte, ich folgte ihm in Gedanken und machte aus seiner Freude die meine. – Ich rufe jetzt wider Willen nach ihm; ohne ihn belästigt mich alles Neue, das ich sehe … Als hätte meine Seele ihn nötig und erwartete ihn, um glücklich zu werden! –

Den 10. Juni.

Lange Unterbrechung dieses kaum begonnenen Tagebuches; Geburt der kleinen Liese; lange Nachtwachen bei Juliette; all das, was ich Jerome schreiben kann, hier zu schreiben, macht mir kein Vergnügen. Ich möchte mich bewahren vor jenem unerträglichen Fehler, der so vielen Frauen gemeinsam ist: dem Zuvielschreiben. – Dieses Heft ansehen als ein Werkzeug der Vervollkommnung.«

 

Es folgten mehrere Seiten voll Notizen, die im Laufe der Lektüre gemacht worden waren, abgeschriebene Stellen usw. … Dann von neuem aus Fongueusemare datiert:

»Den 16. Juli.

Juliette ist glücklich; sie sagt es und es sieht so aus; ich habe nicht das Recht, habe keinen Grund, daran zu zweifeln … Woher kommt bei mir jetzt in ihrer Nähe diese Empfindung der Unbefriedigung, des Unbehagens? Vielleicht daher, daß ich fühle, dieses Glück ist so praktisch, so leicht errungen, so vollkommen ›nach Maß gemacht‹, daß es scheint, als schließe es die Seele ein und ersticke sie … Und ich frage mich heute, ob es wirklich das Glück ist, was ich wünsche, oder vielmehr die Wanderung zum Glück. O Herr! Behüte mich vor einem Glück, das ich zu schnell erreichen könnte! Lehre mich, mein Glück bis zu dir aufzuschieben, zurückzustellen.«

Dann waren zahlreiche Blätter herausgerissen; ohne Zweifel berichteten sie von unserem peinlichen Wiedersehen in Le Havre. Das Tagebuch begann erst im folgenden Jahr von neuem; undatierte Blätter, die aber sicherlich im Augenblick meines Aufenthalts in Fongueusemare geschrieben waren.

 

»Bisweilen glaube ich, wenn ich ihn sprechen höre, mir beim Denken zuzusehen. Er erklärt und enthüllt mich mir selber. Wäre ich ohne ihn vorhanden? Ich bin nur bei ihm …

Bisweilen zögere ich, ob, was ich für ihn empfinde, auch wirklich das ist, was man Liebe nennt; so sehr unterscheidet sich das Bild, das man gemeinhin von der Liebe entwirft, von dem, das ich von ihr entwerfen möchte. Ich wollte, es würde nichts darüber gesagt, und ich liebte ihn, ohne zu wissen, daß ich ihn liebe. Vor allem möchte ich ihn lieben, ohne daß er es weiß.

Von allem, was ich ohne ihn sehe, bringt mir nichts mehr irgendwelche Freude. Meine ganze Tugend ist nur vorhanden, um ihm zu gefallen, und doch fühle ich, wie in seiner Nähe meine Tugend versagt.

 

Ich liebte das Studium des Klavierspiels, weil mir schien, daß ich jeden Tag einen kleinen Fortschritt darin machen konnte. Vielleicht ist das auch das Geheimnis des Vergnügens, das es mir macht, ein Buch in einer fremden Sprache zu lesen; sicherlich ziehe ich keine einzige Sprache der unseren vor, und sicherlich auch scheint es mir nicht, als ständen diejenigen unserer Schriftsteller, die ich bewundere, den Fremden in irgend etwas nach – aber die leichte Schwierigkeit in der Verfolgung des Sinns und des Gefühlswerts, der unbewußte Stolz vielleicht, sie immer leichter zu besiegen –, das fügt dem Genuß des Geistes ich weiß nicht welche Zufriedenheit der Seele hinzu, die ich nicht entbehren zu können glaube.

 

So glückselig er sei, ich kann mir keinen Zustand ohne Fortschritt wünschen. Ich stelle mir die himmlische Freude nicht wie ein Aufgehen in Gott vor, sondern wie eine unendliche, fortdauernde Annäherung … Und wenn ich nicht fürchtete, mit einem Wort zu spielen, so würde ich sagen, ich verachte eine Freude, die nicht fortschreitend wäre.

 

Heute morgen saßen wir beide auf der Bank der Allee; wir sagten nichts und hatten nicht das Bedürfnis, irgend etwas zu sagen … Plötzlich fragte er mich, ob ich an das zukünftige Leben glaubte.

»Aber Jerome,« rief ich alsbald aus, »es ist für mich etwas Besseres als eine Hoffnung: es ist eine Gewißheit …« Und unvermittelt schien es mir, als hätte sich mein ganzer Glaube in diesen Schrei ergossen.

»Ich möchte wissen,« fügte er hinzu …, und er hielt einige Augenblicke inne, um dann fortzufahren: »Würdest du ohne deinen Glauben anders handeln?«

»Wie kann ich das wissen,« erwiderte ich; und ich fügte hinzu: »Aber du selber, mein Freund, könntest dir selber zum Trotz nicht mehr anders handeln, wenn dich auch der lebhafteste Glaube beseelte. Und ich würde dich nicht lieben, wenn du anders wärst.«

Nein, Jerome, nein, nicht nach dem zukünftigen Lohn ringt unsere Tugend; nicht den Lohn sucht unsere Liebe. Der Gedanke an einen Entgelt ist für die wohlgeborene Seele verletzend. Die Tugend ist für sie auch kein Schmuck; nein, sie ist die Form ihrer Schönheit.

 

Papa geht es von neuem weniger gut; nichts Ernstes, hoffe ich, aber er hat sich doch seit drei Tagen wieder ausschließlich von Milch nähren müssen.

Gestern abend war Jerome eben in sein Zimmer hinaufgestiegen; Papa, der noch mit mir wach blieb, ließ mich einige Augenblicke allein. Ich saß auf dem Kanapee; oder vielmehr, was mir sehr selten geschieht, ich hatte mich ausgestreckt, ich weiß nicht weshalb. Der Lichtschirm schützte meine Blicke und meinen Oberkörper vor dem Licht; ich blickte mechanisch auf die Spitze meiner Füße, die ein wenig unter meinem Kleid hervorsahen und an die sich ein Reflex der Lampe hing. Als Papa wieder eintrat, blieb er ein paar Augenblicke vor der Tür stehen und sah mich seltsam an, lächelnd zugleich und traurig. In unbestimmter Verwirrung stand ich auf; da winkte er mir. ›Komm, setze dich neben mich,‹ sagte er; und obgleich es schon spät war, begann er mir von meiner Mutter zu reden, was er seit ihrer Trennung noch nie getan hat. Er erzählte mir, wie er sie geheiratet hatte, wie sehr er sie liebte und was sie ihm im Anfang gewesen war.

›Papa,‹ sagte ich endlich zu ihm, ›ich flehe dich an, sag mir, warum du mir das heute abend erzählst – was dich treibt, mir das gerade heute abend zu erzählen …‹ ›Weil ich eben, als ich wieder in den Salon trat und dich sah, wie du dalagst, ausgestreckt auf dem Kanapee, einen Augenblick deine Mutter wiederzusehen glaubte …‹

Wenn ich so hartnäckig fragte, so war der Grund, daß ich an eben diesem Abend … – Jerome las stehend, gegen meinen Sessel gelehnt, über mich geneigt und über meine Schulter hinweg. Ich konnte ihn nicht sehen, fühlte aber seinen Atem und gleichsam die Wärme und das Zittern seines Körpers. Ich tat, als läse ich weiter, aber ich verstand nichts mehr; ich konnte nicht einmal mehr die Zeilen unterscheiden; eine so unheimliche Verwirrung hatte sich meiner bemächtigt, daß ich mich von meinem Stuhl erheben mußte, schnell, so lange ich es noch vermochte. Ich konnte das Zimmer auf einige Augenblicke verlassen, ohne daß ihm zum Glück irgend etwas zum Bewußtsein kam … Aber als ich ein wenig später im Salon allein war und mich auf diesem Kanapee ausgestreckt hatte, wo Papa fand, daß ich meiner Mutter ähnlich sähe, gerade da dachte ich an sie.

Ich habe sehr schlecht geschlafen heute nacht, unruhig, bedrückt, elend, besessen von der Erinnerung an die Vergangenheit, die wie ein Gewissensbiß in mir emporstieg. Herr, lehre mich das Grauen vor allem, was irgendwelchen Anschein des Bösen trägt.

 

Der arme Jerome! Und doch, wenn er wüßte, daß er bisweilen nur eine Geste zu machen brauchte, und daß ich diese Geste bisweilen erwarte …

Schon als Kind wünschte ich um seinetwegen schön zu sein. Jetzt scheint es mir, als habe ich stets nur für ihn nach der Vollkommenheit gestrebt. Und daß diese Vollkommenheit nur ohne ihn erreicht werden kann, das ist, o mein Gott, unter all deinen Lehren diejenige, die meine Seele am meisten aus der Fassung bringt.

 

Wie glücklich muß die Seele sein, für die die Tugend überginge in Liebe! Bisweilen zweifle ich, ob es eine andere Tugend gibt als die, zu lieben, soviel wie möglich zu lieben, und immer mehr … Aber an gewissen Tagen, ach! da erscheint mir die Tugend nur noch als ein Widerstand gegen die Liebe. Wie! soll ich es wagen, die natürlichste Neigung meines Herzens Tugend zu nennen? Welch ein reizvoller Sophismus! Welche dunkle Lockung! Welch eine boshafte Spiegelung des Glücks!

 

Ich las heute morgen bei La Bruyère:

›Es gibt bisweilen im Laufe des Lebens so teure Genüsse, so zarte Verbindungen, die man uns versagt, daß es natürlich ist, wenigstens zu wünschen, sie möchten erlaubt sein: ein solcher Zauber kann nur durch den übertroffen werden, daß man es versteht, aus Tugend darauf zu verzichten.‹

Weshalb erfand ich mir hier ein Verbot? Sollte mich insgeheim ein noch mächtigerer, noch süßerer Reiz als der der Liebe locken? Oh, unsere beiden Seelen zugleich kraft der Liebe über die Liebe hinausreißen zu können! …

 

Ach, ich verstehe es jetzt nur zu gut: zwischen Gott und ihm stehe als Hindernis nur ich. Wenn ihn vielleicht, wie er sagt, im Anfang nur seine Liebe für mich zu Gott lud, so hindert ihn jetzt diese Liebe; er bleibt bei mir stehen, zieht mich vor, und ich werde zum Idol, das ihn zurückhält, so daß er in der Tugend nicht mehr weiterschreitet. Einer von uns beiden muß sie erreichen; und da ich daran verzweifeln muß, in meinem feigen Herzen meine Liebe zu überwinden, so erlaube mir, mein Gott, so gib mir die Kraft, ihn zu lehren, daß er mich nicht mehr liebe; so daß ich dir um den Preis der meinen seine unendlich überlegenen Verdienste bringe … und wenn meine Seele heute schluchzt, weil sie ihn verlieren soll, geschieht es nicht, auf daß ich ihn später in dir wiederfinde? …

Sag, o mein Gott, welche Seele hat dich jemals mehr verdient? Ist er nicht zu Besserem geboren als um mich zu lieben? Und würde ich ihn so sehr lieben, wenn er bei mir stehen bleiben sollte? – Wie sehr verengt sich im Glück alles, was heroisch sein könnte! …

Sonntag.

»Darum, daß Gott etwas Besseres für uns zuvor ersehen hat.«

Ebräer.

Montag, den 3. Mai.

Das Glück mag da sein, ganz nahe, sich bieten … man braucht nur die Hand auszustrecken, um es zu fassen … Heute morgen, als ich mit ihm plauderte, habe ich das Opfer vollbracht.

Montag abend.

Er reist morgen ab …

Lieber Jerome, ich liebe dich immer noch mit unendlicher Zärtlichkeit; aber nie mehr werde ich es dir sagen können. Der Zwang, den ich meinen Augen, meinen Lippen, meiner Seele auferlege, ist so hart, daß dich verlassen, mir Befreiung und bittere Genugtuung wird.

Ich zwinge mich, vernünftig zu handeln, aber im Augenblick des Handelns entschlüpfen mir die Gründe, die mich zum Handeln trieben, oder sie scheinen mir Wahnsinn; ich glaube nicht mehr an sie …

Die Gründe, die mich treiben, ihn zu fliehen? – Ich glaube nicht mehr an sie … Und wenn ich ihn trotzdem fliehe, so fliehe ich voll Trauer und ohne zu begreifen, weshalb.

Herr! Fortschreiten bis zu dir, Jerome und ich, der eine mit dem andern, der eine durch den andern; am Leben hinschreiten wie zwei Pilger, von denen der eine bisweilen zum andern sagt: ›Stütze dich auf mich, Bruder, wenn du müde bist‹, und der andere erwidert: ›Es genügt mir, daß ich dich mir nahe fühle …‹ Aber nein, der Weg, den du uns lehrst, Herr, ist ein schmaler Weg – so schmal, daß nicht zwei nebeneinander ihn ziehen können.

Den 4. Juli.

Da habe ich dieses Heft länger als sechs Wochen nicht mehr aufgeschlagen. Als ich im letzten Monat ein paar Seiten daraus las, erkannte ich ein widersinniges, schuldiges Bemühen, gut zu schreiben … das ich ihm verdanke. Als schriebe ich auch in diesem Heft, das ich begonnen habe, damit es mir helfe, ihn zu entbehren, nur noch für ihn.

Ich habe all die Seiten zerrissen, die mir gut geschrieben schienen. (Ich weiß, was ich darunter verstehe.) Ich hätte all die zerreißen sollen, auf denen von ihm die Rede ist. Ich hätte alles zerreißen sollen … Ich konnte es nicht.

Und schon daß ich die wenigen Seiten herausgerissen habe, hat mich ein wenig stolz gemacht … Ich würde über diesen Stolz lachen, wenn mein Herz nicht so krank wäre. Wahrlich, es schien, als hätte ich da einiges Verdienst und als wäre das etwas, was ich unterdrückte!

Den 6. Juli.

Ich verbanne aus meiner Bibliothek gezwungenermaßen … Von Buch zu Buch fliehe ich ihn und finde ihn wieder. Selbst die Seite, die ich ohne ihn entdecke – ich höre noch seine Stimme, wie er sie vorliest. Ich finde nur an dem Geschmack, was ihn interessiert, und mein Denken hat so sehr die Form des Seinen angenommen, daß ich beides so wenig mehr unterscheiden kann wie zur Zeit, da ich mir darin gefiel, es zu verwirren.

Bisweilen mühe ich mich, schlecht zu schreiben, um dem Rhythmus seiner Sätze zu entgehen; aber gegen ihn ringen heißt immer noch mich mit ihm beschäftigen. – Ich fasse den Entschluß, eine Weile nur noch die Bibel zu lesen – (vielleicht auch die Imitatio) und in dieses Heft nur noch jeden Tag den bezeichnenden Vers meiner Lektüre einzutragen.«

 

Es folgte eine Art ›täglichen Brotes‹, wo vom ersten Juli an das Datum jeden Tages von einem Vers begleitet war. Ich schreibe hier nur diejenigen nieder, die auch irgendein Kommentar begleitete.

»Den 20. Juli.

›Verkaufe alles, was du hast, und gib es den Armen.‹ Ich verstehe, daß ich den Armen dieses Herz geben müßte, über das ich nur für Jerome verfüge. Und heißt das nicht zugleich ihn lehren, es auch so zu machen … Herr, gib mir diesen Mut.

Den 24. Juli.

Ich habe aufgehört, den ›Inneren Trost‹ zu lesen. Diese alte Sprache amüsierte mich sehr, lenkte mich aber ab, und die fast heidnische Freude, die ich dabei koste, hat nichts mit der Erbauung zu tun, die ich darin zu suchen gedachte.

Die ›Nachfolge Christi‹ wieder aufgenommen, und nicht einmal im lateinischen Text, denn ich bin zu eitel darauf, daß ich ihn verstehe. Ich freue mich, daß die Übersetzung, in der ich sie lese, nicht einmal einen Namen trägt – freilich ist sie protestantisch, aber ›allen christlichen Bekenntnissen angepaßt‹, wie der Titel sagt.

›Oh, wenn du wüßtest, welchen Frieden du dir erwerben, und welche Freude du andern geben würdest, wenn du fortschrittest in der Tugend, ich bin überzeugt, du würdest noch eifriger daran arbeiten.‹

Den 10. August.

Wenn ich nach dir schrie, mein Gott, mit der Inbrunst des Glaubens eines Kindes und der übermenschlichen Stimme der Engel …

All das, ich weiß, kommt nicht von ihm, sondern von dir. Aber weshalb stellst du überall zwischen dich und mich sein Bild?

Den 14. August.

Mehr als zwei Monate, um dieses Werk zu vollenden …

Herr, hilf mir!

Den 20. August.

Ich fühle es wohl, ich fühle es an meiner Trauer, daß das Opfer in meinem Herzen noch nicht gebracht ist. Mein Gott, gib, daß ich nur dir jene Freude verdanke, die er allein mich kennen lehrte.

Den 28. August.

Zu welcher mittelmäßigen, traurigen Tugend ich gelange! Verlange ich denn zu viel von mir? – nicht mehr darunter zu leiden!

Kraft welcher Feigheit immer Gott um seine Kraft anflehen! Jetzt ist mein ganzes Gebet eine Klage.

Den 29. August.

›Sehet die Lilien auf dem Felde …‹

Dieses so einfache Wort hat mich heute morgen in eine Trauer versenkt, aus der mich nichts herausreißen konnte. Ich bin auf die Äcker hinausgegangen, und diese Worte, die ich wider meinen Willen unaufhörlich widerholte, erfüllten mir mein Herz und meine Augen mit Tränen. Ich betrachtete die weite, leere Fläche, auf der der Knecht sich mühte, über seinen Pflug geneigt … ›Die Lilien auf dem Felde‹ … Aber Herr, wo sind sie? …

Den 16. September, 10 Uhr abends.

Ich habe ihn wiedergesehen. Er ist da, unter diesem Dach. Ich seh auf dem Grase den Lichtschein, der aus seinem Fenster fällt. Während ich diese Zeilen schreibe, wacht er; und vielleicht denkt er an mich. Er hat sich nicht verändert; er sagt es, ich fühle es. Werde ich mich ihm so zu zeigen wissen, wie ich scheinen möchte, damit seine Liebe mich verleugnet? …

Den 24. September.

Oh, eine furchtbare Unterredung, in der ich Gleichgültigkeit, Kälte spielen mußte, als mein Herz im Innern schwach wurde … Bis jetzt habe ich mich damit begnügt, ihn zu fliehen. Heute morgen habe ich glauben können, Gott würde mir die Kraft geben, zu siegen, und ich könne mich nicht ohne Feigheit unaufhörlich dem Kampf entziehen. Habe ich triumphiert? Liebt Jerome mich ein wenig weniger? … Ach, ich hoffe es und fürchte es zugleich … Ich habe ihn niemals mehr geliebt.

Und was tut es schließlich, wenn es mir nicht gelingt, mein Herz von ihm zu lösen! Es handelt sich darum, ihn zu heilen, ihn von mir zu heilen!

 

Und wenn du willst, Herr, daß ich, um ihn vor mir zu retten, mich selbst verliere, tu's! …

›Dringe ein in mein Herz und in meine Seele, um meine Leiden darin zu tragen und um in mir zu Ende zu dulden, was du noch erdulden mußt von deinem Leiden.‹

 

Wir haben über Pascal gesprochen … Was habe ich ihm sagen können? Was für schmähliche, widersinnige Reden! Wenn ich schon darunter litt, als ich sie sagte, so bereue ich sie heute abend wie eine Lästerung. Ich habe das schwere Buch der Gedanken wieder vorgenommen, und es schlug sich von selber bei dieser Stelle aus den Briefen an Fräulein von Roannez auf:

›Man fühlt sein Band nicht, wenn man freiwillig dem folgt, der einen fortzieht; aber wenn man Widerstand zu leisten beginnt und sich im Gehen zu entfernen sucht, so leidet man sehr.‹

Diese Worte rührten mich so unmittelbar, daß ich nicht die Kraft hatte, meine Lektüre fortzusetzen; aber als ich das Buch an einer anderen Stelle aufschlug, geschah es, um diese wunderbaren Zeilen zu finden, die ich noch nicht kannte und die ich abgeschrieben habe.«

 

Hier schloß das erste Heft des Tagebuchs. Ohne Zweifel wurde ein zweites Heft vernichtet; denn in den Papieren, die Alissa hinterlassen hatte, hob das Tagebuch erst drei Jahre später wieder an, nochmals in Fongueusemare – im September – das heißt, kurze Zeit vor unserem letzten Wiedersehen.

Die Sätze, die hier folgen, eröffnen dieses letzte Heft:

»Den 17. September.

Mein Gott, du weißt, daß ich ihn brauche, um dich zu lieben.

Den 20. September.

Mein Gott, gib ihn mir, damit ich dir mein Herz geben kann.

Mein Gott, laß mich ihn nur noch einmal wiedersehen!

Mein Gott, ich verspreche, dir mein Herz zu geben; gewähre mir, was meine Liebe von dir erbittet. Ich will nur dir geben, was mir vom Leben bleiben wird …

Mein Gott, vergib mir dies verächtliche Gebet, aber ich kann seinen Namen von meinen Lippen nicht fernhalten, noch auch die Schmerzen meines Herzens vergessen.

Mein Gott, ich schreie nach dir; verlaß mich nicht in meiner Not.

Den 21. September.

›Alles, um was ihr meinen Vater in meinem Namen bitten werdet …‹

Herr, in deinem Namen wage ich es nicht …

Aber wenn ich mein Gebet auch nicht mehr in Worte kleide, wirst du darum minder den fiebrischen Wunsch meines Herzen kennen?

Den 27. September.

Seit heute morgen eine große Ruhe. Fast die ganze Nacht in der Betrachtung, im Gebet verbracht. Plötzlich war mir, als umgebe mich, als stiege in mich herab eine Art leuchtenden Friedens gleich der Vorstellung, die ich mir als Kind vom Heiligen Geist machte. Ich ging sofort zu Bett, da ich fürchtete, meine Freude nur einer nervösen Überreizung zu verdanken: ich schlief ziemlich schnell ein, ohne daß mich diese Seligkeit verlassen hätte. Sie ist auch heute morgen noch ungeschmälert da. Ich habe jetzt die Gewißheit, daß er kommen wird.

Den 30. September.

Jerome, mein Freund! Du, den ich noch meinen Bruder nenne, doch den ich unendlich viel mehr liebe als einen Bruder … Wie viele Male habe ich deinen Namen in den Buchen gerufen! … Jeden Abend ging ich um die Neige des Tages hinaus durch die kleine Pforte des Küchengartens, ich steige hinab in die schon dunkle Allee … Wenn du mir plötzlich erwidertest, wenn du mir erschienest, da, hinter der Steinböschung, die mein Blick eilends umflog, oder ich sehe dich von weitem auf der Bank sitzen und mich erwarten – mein Herz würde nicht erschrecken … im Gegenteil, ich wundere mich, wenn ich dich nicht sehe.

Den 1. Oktober.

Noch nichts. Die Sonne ging in einem unvergleichlich reinen Himmel unter. Ich warte. Ich weiß, bald werde ich auf eben dieser Bank mit ihm sitzen … Ich höre schon sein Wort. Ich höre so gern, wenn er meinen Namen ausspricht … Er wird da sein! Ich werde meine Hand in die seine legen. Ich werde meine Stirn gegen seine Schulter lehnen. Ich werde neben ihm atmen … Gestern schon hatte ich ein paar seiner Briefe mitgenommen, um sie noch einmal zu lesen; aber ich habe sie nicht angesehen, weil mich mein Denken zu sehr in Anspruch nahm. Ich hatte auch das Saphirenkreuz an mich genommen, das er liebte, und das ich in einem der vergangenen Sommer jeden Abend trug, solange ich nicht wollte, daß er abreiste.

Ich möchte ihm dieses Kreuz schenken. Seit langem schon ist dies mein Traum: er verheiratet; ich Patin seiner ersten Tochter, einer kleinen Alissa, der ich diesen Schmuck gäbe … Weshalb habe ich es nie gewagt, ihm davon zu reden?

Den 2. Oktober.

Meine Seele ist heute leicht und freudig wie ein Vogel, der sein Nest im Himmel erbaut hätte. Heute muß er kommen; ich fühle es, ich weiß es; ich möchte es allen zuschreien; ich habe das Bedürfnis, es hier niederzuschreiben. Ich kann meine Freude nicht mehr verbergen. Selbst Robert, der gewöhnlich so zerstreut ist, und so gleichgültig gegen mich, hat sie bemerkt. Seine Fragen verwirrten mich, und ich wußte nicht, was ich ihm antworten sollte. – Wie werde ich auf heute abend warten …

Ich weiß nicht, welcher durchsichtige Schleier mir sein Bild überall vergrößert zeigt und alle Strahlen der Liebe auf einen einzigen brennenden Punkt meines Herzens zusammenführt.

Oh, wie die Erwartung mich ermattet! …

Herr! Öffne vor mir auf einen Augenblick die breiten Torflügel des Glücks!

Den 3. Oktober.

Alles ist erloschen. Ach, er ist wie ein Schatten aus meinen Armen entschwunden. Er war da! Er war da! Ich fühle ihn noch. Ich rufe ihn. Meine Hände, meine Lippen suchen ihn vergebens in der Nacht …

 

Ich kann weder beten noch schlafen. Ich bin noch einmal in den finstern Garten hinausgegangen. In meinem Zimmer, im ganzen Hause fürchtete ich mich; meine Not führte mich bis zur Pforte, hinter der ich ihn verlassen habe; ich stieß diese Pforte in einer wahnsinnigen Hoffnung noch einmal auf; wenn er zurückgekommen wäre! Ich rief. Ich tastete in die Finsternis hinein. Ich kehrte um und wollte ihm schreiben. Ich kann meine Trauer nicht hinnehmen.

 

Was ist denn geschehen? Was habe ich zu ihm gesagt? Was habe ich getan? Welcher Drang, vor ihm stets meine Tugend zu übertreiben. Welchen Wert kann eine Tugend haben, die mein ganzes Herz verleugnet? Es strafte insgeheim die Worte Lügen, die Gott meine Lippen zu sagen zwang … Von allem, was mein Herz schwellte, ist nichts herausgekommen. Jerome! Jerome, mein Schmerzensfreund, bei dem mein Herz zerreißt und fern von dem ich sterbe – von allem, was ich dir noch eben sagte, höre nichts, als was ich dir von meiner Liebe erzählte.

 

Meinen Brief zerrissen; dann noch einmal geschrieben … Da bricht der Tag an; grau, von Tränen feucht, traurig wie mein Denken … Ich höre die ersten Geräusche des Meierhofs, und alles, was schlief, wird wieder lebendig … ›Stehet auf; die Stunde ist kommen …‹

Mein Brief wird nicht abgehen.

Den 5. Oktober.

Eifersüchtiger Gott, der du mich enterbt hast, bemächtige dich denn meines Herzens. Jede Wärme weicht hinfort aus ihm, und nichts wird es mehr beschäftigen. Hilf mir doch, über diesen traurigen Rest meiner selber zu triumphieren. Dieses Haus und dieser Garten ermutigen meine Liebe unerträglich. Ich will an einen Ort fliehen, wo ich nichts mehr sehe als dich.

 

Du wirst mir helfen, für deine Armen über das zu verfügen, was ich an Vermögen besaß; laß mich über Fongueusemare, das ich nicht leicht verkaufen kann, zugunsten Roberts verfügen. Ich habe wohl ein Testament geschrieben, aber ich kenne die meisten der nötigen Formalitäten nicht, und gestern konnte ich nicht lange genug mit dem Notar plaudern, denn ich fürchtete, er werde argwöhnen, welche Entscheidung ich getroffen habe, und Juliette und Robert benachrichtigen … Ich werde das in Paris beenden.

Den 10. Oktober.

Bin hier so müde angelangt, daß ich die beiden ersten Tage habe im Bett bleiben müssen. Der Arzt, den man wider meinen Willen hat kommen lassen, spricht von einer Operation, die er für nötig hält. Wozu widersprechen? Aber ich konnte ihm leicht den Glauben beibringen, daß diese Operation mich beängstigte und daß ich lieber abwarten wollte, bis ich wieder ein wenig ›zu Kräften gekommen‹ wäre.

Ich habe meinen Namen und meine Adresse verbergen können. Ich habe im Bureau des Hauses eine genügende Summe hinterlegt, damit man keine Schwierigkeiten machte, mich aufzunehmen und mich solange zu behalten, wie Gott es noch für nötig erachten wird.

Dieses Zimmer gefällt mir. Die vollkommene Sauberkeit genügt zum Schmuck der Wände. Ich war ganz erstaunt, daß ich mich fast freudig fühlte. Das kommt daher, daß ich nichts mehr vom Leben erhoffe; daher, daß ich mich jetzt mit Gott begnügen muß und daß die Liebe zu ihm nur köstlich ist, wenn sie in uns allen Raum einnimmt …

 

Ich habe kein anderes Buch mitgenommen als die Bibel; aber heute klingt in mir lauter als die Worte, die ich darin lese, dieses verlorene Schluchzen Pascals wider:

›Alles, was nicht Gott ist, kann meine Erwartung nicht erfüllen.‹

O allzu menschliche Freude, die mein unvorsichtiges Herz begehrte … Hast du mich, Herr, um diesen Schrei zu erlangen, zur Verzweiflung getrieben? …

Den 12. Oktober.

Dein Reich komme! Es komme in mir; so daß du allein über mich herrschest und herrschest über mein ganzes Ich. Ich will nicht mit dir feilschen um mein Herz.

Müde, als wäre ich sehr alt, so bewahrt meine Seele eine seltsame Kindlichkeit. Ich bin noch immer das kleine Mädchen, das ich war, das nicht einschlafen konnte, wenn nicht alles in seinem Zimmer in Ordnung war, wenn nicht die ausgezogenen Kleider sauber gefaltet am Kopfende des Bettes lagen …

So möchte ich mich rüsten zum Tode.

Den 13. Oktober.

Mein Tagebuch noch einmal gelesen, ehe ich es vernichte.

›Es ist der großen Herzen unwürdig, die Unruhe, die sie empfinden, zu verbreiten.‹ Ich glaube, bei Clotilde de Vaux habe ich dieses schöne Wort gelesen.

In dem Augenblick, als ich dieses Tagebuch ins Feuer werfen wollte, hielt mich eine Art Warnung zurück; mir war, als gehörte es schon nicht mehr mir; als habe ich kein Recht, es Jerome wegzunehmen; als habe ich es stets nur für ihn geschrieben. Meine Sorgen, meine Zweifel schienen mir heute so lächerlich, daß ich ihnen keine Bedeutung mehr beilegen, noch auch glauben kann, daß sie Jerome beunruhigen können. Mein Gott, gib, daß er zuweilen den ungeschickten Tonfall eines Herzens darin erkenne, das bis zum Wahnsinn danach verlangt, ihn auf jenen Gipfel der Tugend zu treiben, den zu erreichen ich verzweifeln mußte.

›Mein Gott, leite mich auf diesen Felsen, den ich nicht erreichen kann.‹

Den 15. Oktober.

›Freude, Freude, Freude, Freudetränen …‹

Über der menschlichen Freude und jenseits jedes Schmerzes, ja, da ahne ich jene strahlende Freude. Dieser Felsen, den ich nicht erreichen kann, ich weiß wohl, er führt den Namen: Glück … Ich verstehe wohl, daß mein ganzes Leben eitel ist, wenn es nicht im Glücke endet … Ach, und doch versprichst du es, Herr, der entsagenden und reinen Seele. ›Glücklich schon hier‹, sagte dein heiliges Wort, ›glücklich schon hier die, so im Herrn sterben.‹ Muß ich warten bis zum Tode? Hier schwankt mein Glaube. Herr! Ich rufe zu dir mit aller meiner Kraft. Ich stehe in der Nacht; ich harre des Tagesgrauens. Ich schreie nach dir bis zum Tode. Komm, stille mein Herz. Nach diesem Glück dürstet mich auf der Stelle … Oder muß ich mir einreden, ich hätte es? Und darf ich dem ungeduldigen Vogel gleich, der schon vor der Morgenröte zirpt, den Tag eher rufend als meldend, darf ich das Bleichen der Nacht nicht erwarten, ehe ich singe?

Jerome, ich möchte dich die vollkommene Freude lehren.

Den 16. Oktober.

Heute morgen hat mich ein Brechanfall gebrochen. Ich fühlte mich gleich darauf so schwach, daß ich hoffen konnte zu sterben. Aber nein, es entstand zunächst in meinem ganzen Wesen eine große Ruhe; dann bemächtigte sich meiner eine Angst, ein Schauder des Fleisches und der Seele; es war gleichsam eine jähe und enttäuschte Beleuchtung meines Lebens. Mir war, als sehe ich zum erstenmal die grauenhaft nackten Wände meines Zimmers. Mir wurde bang. Noch jetzt schreibe ich, um mich zu beruhigen. O Herr! Laß mich ohne Lästerung bis ans Ende gelangen.

Ich habe noch einmal aufstehen können. Ich bin hingekniet wie ein Kind …

Ich möchte jetzt sterben, schnell, ehe ich von neuem begriffen habe, daß ich allein bin.

 

Ich habe Juliette im vergangenen Jahre wiedergesehen. Mehr als zehn Jahre waren verflossen seit dem Briefe, ihrem letzten, in dem sie mir Alissas Tod mitgeteilt hatte. Auf einer Reise in die Provence hielt ich mich in Nîmes auf. Die Teissières bewohnen in der Avenue de Feuchères im lärmenden Zentrum der Stadt ein recht hübsches Haus. Ich hatte meine Ankunft mitgeteilt, trotzdem war ich bewegt, als ich die Schwelle überschritt.

Ein Mädchen führte mich in den Salon, wo mich Juliette gleich darauf begrüßte. Man konnte meinen, es wäre Tante Plantier; derselbe Gang, dieselben Schultern, dieselbe überströmende Herzlichkeit. Sie hatte sogleich eine Menge Fragen bereit, deren Beantwortung sie gar nicht abwartete: Nach meiner Laufbahn, meinem Leben in Paris, meinen Geschäften, meinen Beziehungen; was mich nach dem Süden führte? Warum ich nicht nach Aigues-Vives ginge, wo Eduard mich doch so gerne sehen würde? … Dann erzählte sie von allem, sprach von ihrem Mann, ihren Kindern, ihrem Bruder, von der letzten Ernte, von der Geschäftsstockung … Ich erfuhr, daß Robert Fongueusemare gekauft habe, um nun in Aigues-Vives zu wohnen; daß er jetzt Eduards Teilhaber geworden sei, was jenem erlaubte, zu reisen und sich eingehender den Geschäften zu widmen, während Robert auf den Ländereien blieb, sie meliorierte und die Anpflanzungen ausdehnte.

Indessen suchten meine Augen unruhig umher nach etwas, das mich an die Vergangenheit erinnern könnte. Unter der neuen Einrichtung des Salons entdeckte ich ein paar alte Stücke wieder; aber Juliette schien, was da von Vergangenem in mir zitterte, im Augenblick nicht zu gewahren, oder sie überging es und wollte ablenken.

Zwei zwölf- und dreizehnjährige Knaben spielten auf der Treppe; sie rief sie und zeigte sie mir. Lise, das älteste ihrer Kinder, hatte den Vater nach Aigues-Vives begleitet. Ein anderer zehnjähriger Knabe kam eben vom Spaziergang zurück; Juliette hatte mir seinerzeit die bevorstehende Geburt eben dieses Jungen zugleich mit unserem Trauerfall mitgeteilt. Die Schwangerschaft war damals nicht ohne Beschwerden vorübergegangen; Juliette hatte lange darunter gelitten; erst im vergangenen Jahre hatte sie, wie um sich zu kräftigen, einem kleinen Mädchen das Leben geschenkt; man konnte ihren Worten leicht entnehmen, daß sie es den andern Kindern vorzog.

»Mein Zimmer, wo ihr Bettchen steht, ist nebenan,« sagte sie; »du mußt sie sehen.« Und als ich ihr folgte, fuhr sie fort: »Ich habe nicht den Mut gefunden, Jerome, dir zu schreiben … Würdest du wohl gern Patenstelle bei der Kleinen übernehmen?«

»Aber natürlich, wenn es dir lieb ist,« sagte ich und beugte mich, etwas überrascht, zur Wiege nieder. »Wie heißt mein kleines Patchen?«

»Alissa …« antwortete Juliette leise. »Sie ähnelt ihr ein bißchen, findest du nicht?«

Statt einer Antwort drückte ich Juliette die Hand. Die kleine Alissa, von ihrer Mutter aufgehoben, schlug die Augen auf; ich nahm sie auf den Arm.

»Was für einen guten Familienvater du abgeben würdest!« sagte Juliette mit einem zagen Lächeln. »Worauf wartest du eigentlich … Du solltest heiraten.«

»Da muß ich erst vieles vergessen haben;« – und ich sah, wie sie rot wurde.

»Wirst du bald vergessen können?«

»Vergessen? – Nein, nie!«

»Komm,« sagte sie unvermittelt und schritt mir voran in einen viel kleineren und schon dämmerigen Raum, dessen eine Tür in ihr Zimmer ging, die andere in den Salon. »Hierher ziehe ich mich zurück, will ich einen Augenblick für mich allein sein; es ist der stillste Raum in unserem Hause; ich fühle mich hier vom Leben völlig abgeschieden.«

Vor dem Fenster des kleinen Gemachs lag nicht, wie bei den andern Zimmern, die lärmende Stadt, sondern eine Art Grasgarten.

»Setzen wir uns,« sagte sie und ließ sich in einem Lehnstuhl nieder. »Verstehe ich dich richtig, dann willst du der Erinnerung an Alissa Treue halten?«

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Weißt du, vielleicht dem Bilde von mir, das sie in sich trug … Nein, ich mache mir kein Verdienst daraus. Ich glaube, ich könnte gar nicht anders. Heiratete ich eine andere Frau, ich könnte doch nur so tun, als liebte ich sie.«

»Ach!« gab sie nur zurück, scheinbar gleichgültig, indem sie ihr Gesicht von mir abwandte, als suchte sie etwas am Boden: »Du glaubst also, man könne in seinem Herzen so lange eine hoffnungslose Liebe bewahren?«

»Ja, Juliette.«

»Und das Leben könne tagtäglich darüber hinweggehen, ohne sie zu verlöschen? …«

Der Abend stieg wie eine graue Flut. Es wurde dunkler, jedes Ding schien in diesem Schatten wieder aufzuleben und wie halblaut von vergangenen Tagen zu erzählen. Ich sah Alissas Zimmer wieder, deren Möbel Juliette alle da vereinigt hatte. Und nun wandte sie mir ihr Antlitz wieder zu, dessen Züge ich nicht mehr unterschied; waren ihre Augen geschlossen? Ich wußte es nicht. Sie erschien mir sehr schön. Und beide verharrten wir in Schweigen.

»Gehen wir!« sagte sie endlich; »man muß weiterleben …«

Sie erhob sich, tat einen Schritt vorwärts, ließ sich wie kraftlos auf den nächsten Sessel niederfallen; sie strich sich mit den Händen über das Gesicht, und mir war's, als ob sie weinte …

Eine Dienerin trat ein und brachte die Lampe.

 


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