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II.

Diese strenge Lehre fand eine gerüstete Seele, die von Natur zur Pflicht hinneigte, und die das Beispiel meines Vaters und meiner Mutter im Verein mit der puritanischen Zucht, der sie die ersten Aufschwünge meines Herzens unterworfen hatten, vollends zu dem geneigt machten, was ich »die Tugend« nennen hörte. Es war mir ebenso natürlich, mich zu zwingen, wie es anderen natürlich ist, sich gehen zu lassen; und diese Strenge, der man mich unterwarf, schmeichelte mir, statt mich abzustoßen. Ich verlangte von der Zukunft nicht so sehr das Glück wie vielmehr das unendliche Streben nach ihm; und schon verwechselte ich Glück und Tugend. Ohne Zweifel war ich als ein Kind von vierzehn Jahren noch unentschieden, biegsam; aber bald befestigte mich meine Liebe zu Alissa entschlossen in diesem Sinne. Es war eine jähe innere Erleuchtung, mit deren Hilfe ich mir meiner selbst bewußt wurde: ich erschien mir als in mich zusammengezogen, wenig aufgeblüht, als voll Erwartung, als wenig um andere bekümmert, als mittelmäßig unternehmend und als einer, der von keinen Siegen träumt außer von denen, die man über sich selbst davonträgt. Ich liebte das Studium; unter den Spielen gewann ich nur die gern, die Sammlung oder Anstrengung verlangen. Mit meinen Altersgenossen verkehrte ich wenig, und zu ihren Vergnügungen gab ich mich nur aus Liebe oder Gefälligkeit her. Immerhin schloß ich mich Abel Vautier an, der im folgenden Jahr nach Paris zu mir in meine Klasse kam. Er war ein anmutiger, träger Junge, für den ich mehr Neigung als Achtung spürte, mit dem ich aber wenigstens von Le Havre und Fongueusemare reden konnte, wohin mein Gedanke unablässig zurückflog.

Meinen Vetter Robert Bucolin, den man als Pensionär in dasselbe Lyzeum gebracht hatte, in dem wir waren, aber zwei Klassen tiefer, sah ich nur Sonntags. Wenn er nicht der Bruder meiner Kusinen gewesen wäre, denen er übrigens wenig glich, so hätte es mir kein Vergnügen gemacht, ihn zu sehen.

Ich war damals ganz mit meiner Liebe beschäftigt, und nur in ihrem Licht erhielten diese beiden Freundschaften für mich irgendwelche Bedeutung. Alissa war jener kostbaren Perle gleich, von der mir das Evangelium gesprochen hatte; ich war jener, der alles verkauft, was er hat, um sie zu besitzen. So sehr ich noch Kind war, tue ich Unrecht daran, von Liebe zu reden und die Empfindung, die ich meiner Kusine entgegenbrachte, so zu nennen? Nichts, was ich später kennenlernte, scheint mir dieses Namens würdiger – und übrigens wandelte, als ich in das Alter kam, um schärfer umrissene Nöte des Fleisches zu spüren, meine Empfindung kaum ihr Wesen. Ich suchte sie, die ich als Kind nur zu verdienen trachtete, nicht unmittelbarer zu besitzen. Arbeit, Anstrengungen, fromme Werke: mystisch brachte ich alles Alissa dar; und ich erfand mir darin ein Raffinement der Tugend, daß ich sie oft in Unwissenheit über das ließ, was ich nur für sie getan hatte. Ich berauschte mich so an einer Art zu Kopf steigender Entsagung und gewöhnte mich, leider! indem ich wenig nach meinem Vergnügen fragte, mit nichts mehr zufrieden zu sein, was mich nicht einige Anstrengung gekostet hatte.

Spornte dieser Eifer nur mich? Es scheint mir nicht, als sei Alissa für ihn empfänglich gewesen und als hätte sie etwas um meinetwillen getan, während ich mich nur für sie mühte. Alles blieb in ihrer ungekünstelten Seele von natürlichster Schönheit. Ihre Tugend bewahrte soviel Leichtigkeit und Anmut, daß sie als ein Sich-gehen-Lassen erschien. Infolge ihres kindlichen Lächelns war der Ernst ihres Blickes bezaubernd; ich sehe es noch, wie dieser so sanft, so zärtlich fragende Blick sich hebt, und ich verstehe, daß mein Onkel in seiner Verwirrung bei seiner älteren Tochter Stütze, Rat und Trost suchen konnte. Oft sah ich ihn in dem Sommer, der folgte, mit ihr plaudern. Sein Kummer hatte ihn sehr gealtert; er sprach bei den Mahlzeiten kaum noch, oder er zeigte bisweilen unvermittelt eine Art gespielter Freude, die noch peinlicher war als sein Schweigen. Er blieb in seinem Arbeitszimmer und rauchte dort bis zu der Abendstunde, in der Alissa ihn aufsuchte; er ließ sich bitten, wenn er ausgehen sollte; sie führte ihn wie ein Kind in den Garten. Beide stiegen den Blumengang hinab und setzten sich auf dem Rondell bei der Treppe zum Küchengarten, wohin wir Stühle getragen hatten.

Eines Abends, als ich noch spät, im Schatten einer der großen purpurnen Buchen auf dem Grase ausgestreckt, las, von dem Blumengang nur durch die Lorbeerhecke getrennt, die die Blicke hemmte, nicht aber die Stimmen – hörte ich Alissa und meinen Onkel. Ohne Zweifel hatten sie von Robert gesprochen; da wurde von Alissa mein Name ausgesprochen; und als ich eben ihre Worte zu unterscheiden begann, rief mein Onkel aus:

»Oh, der wird stets die Arbeit lieben.«

Als Lauscher wider Willen wollte ich davongehen oder wenigstens eine Bewegung machen, die ihnen meine Anwesenheit verriet; aber was sollte ich tun? Husten? Rufen: »Ich bin da! Ich höre euch?« … Und eher Scheu und Schüchternheit als die Begier, mehr zu vernehmen, hielten mich still. Übrigens gingen sie nur vorüber, und ich hörte sogar ihre Reden nur sehr unvollkommen … Aber sie gingen langsam; ohne Zweifel hatte Alissa, wie sie es gewohnt war, einen leichten Korb am Arm, nahm verwelkte Blumen fort und hob am Fuß der Spaliere die noch grünen Früchte auf, die die häufigen Meeresnebel zum Fallen brachten. Ich hörte ihre klare Stimme:

»Papa, war Onkel Palissier ein bedeutender Mann?« Die Stimme meines Onkels war dumpf und verschleiert; ich konnte seine Antwort nicht verstehen. Alissa beharrte: »Sehr bedeutend, sag?«

Von neuem zu verschwommene Antwort. Dann Alissa von neuem:

»Jerome ist intelligent, nicht wahr?« Wie hätte ich nicht das Ohr hinstrecken sollen … aber nein, ich konnte nichts unterscheiden. Sie fuhr fort:

»Glaubst du, daß er ein bedeutender Mann werden wird?«

Jetzt wurde die Stimme meines Onkels lauter:

»Aber, liebes Kind, ich möchte zunächst einmal wissen, was du mit diesem Wort meinst. Bedeutend! Man kann sehr bedeutend sein, ohne daß es danach aussieht, wenigstens für die Augen der Menschen … sehr bedeutend in Gottes Augen.«

»So meine ich es,« sagte Alissa.

»Und dann … kann man das jetzt schon wissen? Er ist noch zu jung … Ja, gewiß, er verspricht viel; aber das genügt nicht für den Erfolg …«

»Wessen bedarf es mehr?«

»Aber liebes Kind, was soll ich dir sagen? Man braucht Zuversicht, Halt, Liebe …«

»Was nennst du Halt?« unterbrach Alissa ihn.

»Die Liebe und Achtung, die mir gefehlt haben,« erwiderte mein Onkel traurig. Dann verlor sich ihre Stimme endgültig.

 

Im Augenblick meines Abendgebets packten mich Gewissensbisse wegen meines unabsichtlichen Horchens, und ich nahm mir vor, mich deswegen vor meiner Kusine anzuklagen. Vielleicht mischte sich diesmal die Begierde, mehr zu erfahren, hinein.

Und bei den ersten Worten, die ich am folgenden Tage darüber sprach:

»Aber Jerome, es ist sehr schlecht, so zu lauschen. Du hättest uns warnen müssen oder fortgehen.«

»Ich versichere dir, daß ich nicht gelauscht habe … Ich hörte, ohne es zu wollen … Dann gingt ihr auch nur vorüber …«

»Wir gingen langsam.«

»Ja, aber ich konnte auch kaum hören. Ich hörte euch gleich darauf nicht mehr … Sag, was erwiderte mein Onkel, als du ihn fragtest, wessen es zum Erfolg bedürfe?«

»Jerome,« sagte sie lachend, »du hast es ganz deutlich gehört! Es macht dir Spaß, es noch einmal zu hören.«

»Ich versichere dir, daß ich nur den Anfang gehört habe … als er von Zuversicht und Liebe sprach.«

»Er sagte nachher, daß es noch vieler anderer Dinge bedürfe.«

»Aber du, was hattest du ihm geantwortet?«

Sie wurde plötzlich sehr ernst:

»Als er vom Halt im Leben sprach, erwiderte ich, du hättest deine Mutter.«

»Alissa, du weißt recht wohl, daß ich sie nicht immer haben werde … Und dann ist es auch nicht dasselbe …«

Sie senkte die Stirn:

»Das hat er mir auch zur Antwort gegeben.«

Ich faßte sie zitternd bei der Hand.

»Was ich später auch werden mag, ich will es nur für dich sein.«

»Aber Jerome, auch ich kann dich verlassen …«

Meine Seele floß in meine Worte:

»Ich, ich werde dich nie verlassen.«

Sie zuckte ein wenig die Achseln:

»Bist du nicht stark genug, um allein zu gehen! Ganz allein muß ein jeder von uns zu Gott gelangen.«

»Aber du zeigst mir den Weg.«

»Weshalb willst du einen anderen Führer suchen als Christus? … Glaubst du, wir seien einander jemals näher, als wenn ein jeder von uns, den andern vergessend, zu Gott betet?«

»Ja, betet, uns zu vereinigen,« unterbrach ich sie; »darum bitte ich ihn jeden Morgen und jeden Abend.«

»Verstehst du nicht, was die Vereinigung in Gott bedeuten kann?«

»Ich verstehe es von ganzem Herzen: es heißt, sich verloren in einem selben Angebeteten zu finden. Mir scheint, gerade um dich zu finden, bete ich an, wovon ich weiß, daß auch du es anbetest.«

»Deine Anbetung ist nicht rein.«

»Verlange nicht zu viel von mir. Ich würde den Himmel verachten, wenn ich nicht dich darin wiederfinden müßte.«

Sie legte einen Finger auf ihre Lippen und sagte ein wenig feierlich:

»Suchet am ersten nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit!«

 

Während ich diese Worte niederschreibe, bin ich mir wohl bewußt, daß sie all jenen wenig kindlich erscheinen werden, die nicht wissen, wie gern die Reden gewisser Kinder ernst werden. Was kann ich daran ändern? Soll ich sie zu entschuldigen suchen? … So wenig, wie ich sie schminken will, damit sie natürlicher erscheinen.

Wir hatten uns im Text der Vulgata Evangelien verschafft und kannten ganze Stellen daraus auswendig. Unter dem Vorwand, daß sie ihrem Bruder helfen wollte, hatte Alissa mit mir lateinisch gelernt: aber der Grund, so scheint mir, war eher der, daß sie mir auch ferner in meiner Lektüre folgen wollte. Und sicherlich wagte ich kaum an einem Studium Geschmack zu finden, in dem sie mich, wie ich wußte, nicht begleiten würde. Wenn mich das bisweilen hemmte, so geschah es nicht, wie man denken könnte, indem sie den Schwung meines Geistes aufhielt; im Gegenteil schien es mir stets, daß sie mir überallhin frei vorausflog. Aber mein Geist wählte seine Wege ihr gemäß, und was uns damals beschäftigte, was wir »das Denken« nannten, war oft nur ein Vorwand für eine verstiegenere Vereinigung, nur eine Verkleidung der Empfindung, nur eine Hülle der Liebe.

Meine Mutter hatte sich zunächst über eine Empfindung beunruhigen können, deren Tiefe sie noch nicht zu ermessen vermochte; aber jetzt, da sie ihre Kräfte schwinden fühlte, schien sie uns in einer einzigen mütterlichen Umarmung zu vereinigen. Die Herzkrankheit, an der sie seit langem litt, trug ihr immer häufigere Leiden ein. Im Laufe einer besonders heftigen Krisis ließ sie mich dicht zu sich treten:

»Mein armer Kleiner, du siehst, ich altere sehr,« sagte sie zu mir; »eines Tages werde ich dich ganz plötzlich verlassen.«

Sie verstummte sehr bedrückt. Unwiderstehlich mußte ich da das rufen, was sie, wie es schien, aus meinem Munde erwartete:

»Mama … du weißt, ich will Alissa heiraten.« Und meine Worte setzten ohne Zweifel ihre geheimsten Gedanken fort, denn sie sagte alsbald:

»Ja, davon wollte ich mit dir reden, mein Jerome.«

»Mama,« fuhr ich schluchzend fort: »du glaubst, daß sie mich liebt, nicht wahr?«

»Ja, mein Kind.« Sie wiederholte es mehrmals zärtlich: »Ja, mein Kind.« Sie sprach mühsam und fügte hinzu: »Man muß es dem Herrn überlassen.« Und als ich dicht vor ihr stand, den Kopf geneigt, legte sie mir die Hand aufs Haar und sagte noch einmal:

»Gott behüte euch, meine Kinder! Gott behüte euch alle beide!« Dann sank sie in eine Art Schlaftrunkenheit, aus der ich sie nicht zu wecken suchte.

Diese Unterhaltung wurde nie wieder aufgenommen; am folgenden Tage fühlte meine Mutter sich wohler, ich ging in meine Stunden, und das Schweigen schloß sich wieder über dieser halben Aussprache. Was hätte ich übrigens mehr erfahren sollen? Daß Alissa mich liebte, daran konnte ich keinen Augenblick zweifeln. Und hätte ich es auch bis dahin getan, so wäre der Zweifel bei dem traurigen Ereignis, das folgte, auf ewig aus meinem Herzen geschwunden.

 

Meine Mutter erlosch eines Abends ganz sanft zwischen mir und Miß Ashburton. Die letzte Krise, die sie hinübertrug, schien mir zunächst nicht heftiger als die vorhergegangenen; sie nahm erst gegen das Ende einen beängstigenden Charakter an; und keiner unserer Verwandten hatte Zeit, vorher herbeizueilen. Neben der alten Freundin meiner Mutter blieb ich in der ersten Nacht sitzen, um bei der teuren Toten zu wachen. Ich liebte meine Mutter sehr, und erstaunte, trotz meiner Tränen keine Trauer zu spüren; als ich weinte, geschah es nur, weil Miß Ashburton mich jammerte, die ihre um viele Jahre jüngere Freundin so früher vor Gott hintreten sah. Aber der geheime Gedanke, daß diese Trauer meine Freundin jäh zu mir jagen müßte, beherrschte meinen Kummer mit ungeheurer Gewalt.

Am folgenden Tage traf mein Onkel ein. Er reichte mir einen Brief seiner Tochter, die mit meiner Tante Plantier erst am dritten Tage kam.

 

»Meine Not ist unerträglich,« schrieb sie darin … »Jerome, mein Freund, mein Bruder! Wie trostlos bin ich, daß ich ihr nicht vor ihrem Tode noch die wenigen Worte habe sagen können, die sie erwartete. Jetzt mag sie mir vergeben! Und Gott allein leite uns beide hinfort! Leb wohl, mein armer Freund. Ich bin zärtlicher als je

Deine Alissa.«

 

Was konnte dieser Brief bedeuten? Welches waren die Worte, die nicht ausgesprochen zu haben sie trostlos war, wenn nicht die, durch die sie unsere Zukunft gebunden hätte? – Ich war noch so jung, daß ich trotzdem nicht gleich um ihre Hand zu bitten wagte. Hatte ich übrigens ihr Versprechen noch nötig? Waren wir nicht schon so gut wie verlobt? Unsere Liebe war auch für unsere Umgebung kein Geheimnis mehr; mein Onkel legte ihr so wenig wie meine Mutter Hindernisse in den Weg. Im Gegenteil, er behandelte mich schon wie seinen Sohn. Die Osterferien, die ein paar Tage darauf kamen, verbrachte ich in Le Havre, wo ich bei meiner Tante Plantier wohnte und fast all meine Mahlzeiten bei meinem Onkel Bucolin einnahm.

Meine Tante Plantier war die beste der Frauen; aber weder meine Kusinen noch ich waren sehr vertraut mit ihr. Eine beständige Geschäftigkeit brachte sie außer Atem; ihre Gesten waren ohne sanfte Rundung; ihre Stimme ohne Melodie; sie stieß uns mit Liebkosungen herum, die in irgendeinem Augenblick des Tages einem Bedürfnis des Überströmens entflossen, in dem ihre Liebe zu uns aus ihren Ufern trat. Mein Onkel Bucolin liebte sie sehr, aber allein am Klang seiner Stimme, wenn er mit ihr sprach, konnten wir merken, wie sehr viel lieber ihm meine Mutter gewesen war.

»Mein armes Kind,« begann sie eines Abends, »ich weiß nicht, was du in diesem Sommer zu tun gedenkst; aber ich werde abwarten, bis ich deine Pläne kenne, ehe ich mich darüber entscheide, was ich selbst beginnen werde; wenn ich dir nützlich sein kann …«

»Ich habe noch nicht viel darüber nachgedacht,« erwiderte ich. »Vielleicht werde ich versuchen, zu reisen.«

Sie fuhr fort: »Du weißt, daß du bei mir wie in Fongueusemare stets willkommen sein wirst. Du wirst deinem Onkel und Juliette eine Freude machen, wenn du zu ihnen hinunterkommst …«

»Du meinst, Alissa.«

»Ja, richtig! Entschuldige … Würdest du glauben, daß ich mir eingebildet hatte, du liebtest Juliette? Bis dein Onkel mit mir sprach … Es ist noch keinen Monat her … Du weißt, ich liebe euch sehr, aber ich kenne euch nicht allzu genau; ich habe so wenig Gelegenheit, euch zu sehen! … Und dann beobachte ich auch nicht gut; ich habe keine Zeit, um stillzustehen und mir anzusehen, was mich nichts angeht. Ich hatte dich immer nur mit Juliette spielen sehen … Ich hatte mir gedacht … sie ist so hübsch, so lustig.«

»Ja, ich spiele immer noch gern mit ihr; aber Alissa liebe ich …«

»Schön! Schön! Wie du willst … Ich, weißt du, da kann man fast sagen, ich kenne sie nicht; sie spricht weniger als ihre Schwester; ich denke mir, wenn du sie gewählt hast, so hast du deinen guten Grund gehabt.«

»Aber, liebe Tante, es war nicht meine Wahl, daß ich sie liebte, und ich habe mich nie gefragt, aus welchen Gründen ich …«

»Ärgere dich nicht, Jerome; ich rede ohne jede böse Absicht … Jetzt habe ich richtig vergessen, was ich dir sagen wollte … Ach ja: ich denke mir, wohlverstanden, daß all das mit einer Heirat enden wird; aber wegen deiner Trauer kannst du dich anständigerweise noch nicht verloben … und dann bist du auch noch recht jung … Ich habe mir gedacht, jetzt, da du ohne deine Mutter bist, möchte deine Anwesenheit in Fongueusemare nicht gern gesehen werden …«

»Aber liebe Tante, gerade deshalb sprach ich von Reisen.«

»Ja. Nun, liebes Kind, ich habe mir gedacht, wenn auch ich da wäre, so könnte das die Dinge erleichtern, und ich habe mich so eingerichtet, daß ich einen Teil des Sommers hindurch frei bin.«

»Wenn ich sie gebeten hätte, wäre Miß Ashburton gern mitgekommen.«

»Ich weiß schon, daß sie kommen wird. Aber das genügt nicht! Ich werde gleichfalls kommen … Oh, ich bin nicht so anmaßend, daß ich dir deine arme Mutter ersetzen wollte,« fügte sie hinzu, indem sie plötzlich schluchzte. »Aber ich würde mich um den Haushalt kümmern – und schließlich sollst weder du, noch dein Onkel, noch Alissa euch gestört fühlen.

 

Meine Tante Felicia irrte sich über die Wirksamkeit ihrer Anwesenheit. Die Wahrheit zu sagen, so wurden wir nur durch sie gestört. Wie sie es verkündigt hatte, richtete sie sich schon im Juli zu Fongueusemare ein, wohin Miß Ashburton und ich ihr bald folgten. Unter dem Vorwand, daß sie Alissa bei den häuslichen Arbeiten helfen wollte, erfüllte sie dieses so ruhige Haus mit einem beständigen Lärm.

Die Dienstfertigkeit, mit der sie uns angenehm sein und, wie sie es ausdrückte, »die Dinge erleichtern« wollte, war so plump, daß Alissa und ich in ihrer Gegenwart meist gezwungen und stumm blieben.

Sie mußte uns recht kühl finden … – Und wenn wir nicht geschwiegen hätten, hätte sie da die Art unserer Liebe begreifen können? – Juliettes Charakter dagegen paßte sich diesem Schwall vortrefflich an; und vielleicht hemmte ein Groll meine Liebe zu meiner Tante, weil ich sah, daß sie der jüngeren ihrer Nichten eine sehr ausgesprochene Vorliebe entgegenbrachte.

 

Eines Tages ließ sie mich nach dem Eintreffen der Post zu sich kommen.

»Mein armer Jerome, ich bin ganz trostlos; meine Tochter ist leidend und ruft mich; ich werde gezwungen sein, euch zu verlassen …«

Geschwellt von unnötigen Bedenken suchte ich meinen Onkel auf, denn ich wußte nicht mehr, ob ich wagen konnte, nach dem Aufbruch meiner Tante noch in Fongueusemare zu bleiben. Aber gleich nach meinen ersten Worten rief er:

»Was hat meine arme Schwester sich da wieder ausgedacht, um die natürlichsten Dinge zu verwickeln! Wie? Weshalb wolltest du uns verlassen, Jerome? Bist du nicht fast schon mein Sohn?«

Meine Tante war kaum mehr als vierzehn Tage in Fongueusemare geblieben. Sowie sie fort war, konnte das Haus sich wieder sammeln: von neuem zog jene Heiterkeit darin ein, die so sehr dem Glück glich. Meine Trauer hatte unsere Liebe nicht verdüstert, aber gleichsam schwerer gemacht. Es begann ein Leben mit gleichförmigem Lauf, darin wie in einem klangsteigernden Medium die geringste Regung unserer Herzen zu hören war.

 

Ein paar Tage nach dem Aufbruch meiner Tante sprachen wir eines Abends bei Tisch von ihr … Ich entsinne mich, daß wir sagten:

»Welche Aufregung! Ist es möglich, daß die Fluten des Lebens ihrer Seele nicht mehr Ruhe lassen? Schöner Schein der Liebe, was wird hier aus deinem Widerglanz? …« – Denn wir entsannen uns des Wortes von Goethe, der von Frau von Stein schrieb: »Es wäre schön, die Welt sich in dieser Seele spiegeln zu sehen.« Und wir errichteten auf der Stelle ich weiß nicht welche Hierarchien, indem wir die kontemplativen Fähigkeiten am höchsten stellten. Mein Onkel, der bis dahin geschwiegen hatte, unterbrach uns mit einem traurigen Lächeln:

»Liebe Kinder,« sagte er, »selbst zerbrochen wird Gott sein Bild noch wiedererkennen. Wir wollen uns hüten, die Menschen nach einem einzigen Augenblick ihres Lebens zu beurteilen. Alles, was euch an meiner armen Schwester mißfällt, verdankt sie Ereignissen, die ich zu genau kenne, um sie so streng zu kritisieren, wie ihr es tut. Es gibt keine noch so liebenswürdige Eigenschaft der Jugend, die nicht mit dem Alter verderben kann. Was ihr bei Felicia Aufregung nennt, war zunächst nichts als reizender Schwung, rasche Eingebung, Hingabe an den Augenblick und Anmut … Wir waren nicht viel anders, das versichere ich euch, als ihr heute erscheint. Ich glich so ziemlich dir, Jerome; mehr vielleicht als ich weiß. Felicia glich sehr stark dem, was jetzt Juliette ist … ja, sogar körperlich – und plötzlich,« fügte er hinzu, indem er sich zu seiner Tochter wandte, »erkenne ich sie in gewissen Klängen deiner Stimme wieder; sie hatte dein Lächeln – und diese Geste, die sie bald verlor, daß sie wie du oft plötzlich, ohne irgend etwas zu tun, still dasaß, die Ellbogen vorgestützt, die Stirn in die durchflochtenen Finger ihrer Hände gelegt.«

Miß Ashburton wandte sich zu mir und sagte mit fast flüsternder Stimme:

»An deine Mutter erinnert Alissa.«

 

Der Sommer war in diesem Jahr wundervoll. Alles schien vom Blau durchströmt. Unsere Glut triumphierte über das Übel, den Tod; der Schatten wich vor uns zurück. An jedem Morgen weckte mich die Freude; ich stand mit der Frühröte auf, stürzte mich dem Licht entgegen … Wenn ich von dieser Zeit träume, sehe ich sie voller Tau. Juliette stand früher auf als ihre Schwester, die den Abend lange wachend hinzog, und ging mit mir in den Garten hinunter. Zwischen ihrer Schwester und mir wurde sie zur Botin; nicht endenwollend erzählte ich ihr von unserer Liebe, und sie schien nicht müde zu werden, wenn sie mir lauschte. Ich sagte ihr, was ich vor Alissa nicht zu sagen wagte, denn vor ihr wurde ich im Übermaß meiner Liebe furchtsam und gezwungen. Alissa schien auf dieses Spiel einzugehen, sich zu ergötzen, weil ich so lustig mit ihrer Schwester sprach; und sie wußte nicht, oder tat, als wüßte sie nicht, daß wir inzwischen nur von ihr sprachen.

O wunderbare Verstellung der Liebe, des Übermaßes selber der Liebe, auf welchem heimlichen Wege führtest du uns vom Lachen zu Tränen und von der naivsten Freude zur anspruchsvollen Strenge der Tugend!

Der Sommer war so rein, so glatt, daß mein Gedächtnis heute von jenen gleitenden Tagen fast nichts mehr zurückhalten kann. Die einzigen Ereignisse waren Unterhaltungen, gelesene Bücher …

»Ich habe einen traurigen Traum gehabt,« sagte mir Alissa am Morgen eines meiner letzten Ferientage. – »Ich lebte, und du warst tot. Nein, ich sah dich nicht sterben. Nur dieses eine stand fest: du warst tot. Es war furchtbar; es war so unmöglich, daß ich mich überredete, du seiest nur abwesend. Wir waren getrennt, und ich fühlte, daß es ein Mittel gab, mich wieder mit dir zu vereinigen; ich suchte nach dem Wie, und um es zu erreichen, machte ich eine solche Anstrengung, daß sie mich weckte.

Heute morgen, glaube ich, blieb ich noch unter dem Eindruck dieses Traumes stehen; es war, als setzte ich ihn fort. Mir war immer noch, als sei ich von dir getrennt, als würde ich lange von dir getrennt bleiben, lange …« Und sehr leise fügte sie hinzu: »Mein ganzes Leben lang … und das ganze Leben lang müßte ich eine große Anstrengung machen …«

»Wozu?«

»Wir beide, eine große Anstrengung, um wieder zueinander zu kommen.«

Ich nahm ihre Worte nicht ernst oder fürchtete mich davor, sie ernst zu nehmen. Wie um dagegen zu protestieren, sagte ich, während mir das Herz in einem plötzlichen Mut heftig schlug:

»Nun, und ich, ich habe heute morgen geträumt, ich vermählte mich dir so eng, daß uns nichts, nichts mehr trennen könnte – außer dem Tod.«

»Du glaubst, der Tod könne trennen?« fragte sie.

»Ich meine …«

»Ich glaube, er kann eher nähern … ja, nähern, was im Leben getrennt war.«

All das drang so tief in uns ein, daß ich selbst den Ton ihrer Worte noch höre. Und doch begriff ich ihren ganzen Ernst erst später.

 

Der Sommer floh. Schon waren die meisten Felder leer, und der Blick flog unverhofft freier darüber hin. Am letzten, nein, am vorletzten Abend vor meiner Abreise ging ich mit Juliette in das Gehölz des Untergartens hinab.

»Was zitiertest du Alissa gestern?« fragte sie.

»Wann denn?«

»Auf der Bank der Mergelgrube, als wir euch hinter uns gelassen hatten.«

»Ah … ein paar Verse von Baudelaire, glaube ich.«

»Welche? … Willst du sie mir nicht sagen? …«

»› Bald werden wir ins kalte Dunkel tauchen‹« begann ich ziemlich widerwillig; aber sie unterbrach mich auf der Stelle und fuhr mit zitternder und veränderter Stimme fort:

»› Leb wohl, zu kurzer Sommer scharfe Helle‹«

»Wie, du kennst sie?« rief ich in höchster Überraschung. »Ich glaubte, du möchtest keine Verse …«

»Weshalb denn? Etwa, weil du mir keine vorsagst?« erwiderte sie lachend, aber ein wenig verlegen … »Mitunter ist es, als hieltest du mich für vollständig borniert.«

»Man kann sehr intelligent sein, ohne darum Verse zu mögen. Niemals habe ich dich welche hersagen hören und nie hast du mich gebeten, dir welche zu nennen.«

»Weil Alissa das übernimmt …« Sie verstummte auf einige Augenblicke; dann unvermittelt:

»Übermorgen reist du?«

»Ich muß.«

»Was wirst du diesen Winter beginnen?«

»Es ist mein erstes Seminarjahr.«

»Wann denkst du Alissa zu heiraten?«

»Nicht vor meinem Militärdienst. Nicht einmal, bevor ich nicht ein wenig genauer weiß, was ich nachher beginnen will.«

»Du weißt es also noch nicht?«

»Ich will es noch nicht wissen. Mich interessieren zu viele Dinge. Ich schiebe den Augenblick, in dem ich wählen muß, um dann nur noch eins zu tun, so lange wie möglich hinaus.«

»Schiebst du deine Verlobung auch aus Furcht vor der Entscheidung hinaus?«

Ich zuckte die Achseln, ohne zu antworten. Sie blieb dabei: »Worauf wartet ihr denn, um euch zu verloben? Weshalb verlobt ihr euch nicht gleich?«

»Aber weshalb sollten wir uns verloben? Genügt es nicht, wenn wir wissen, daß wir einander gehören und gehören werden, wenn auch die Welt nichts davon erfährt? Wenn es mir gefällt, mein ganzes Leben für sie zu verpfänden, würdest du es da schöner finden, wenn ich meine Liebe durch Versprechungen bände? Ich nicht. Gelübde würden mir als eine Beschimpfung der Liebe erscheinen … Ich würde mich nur verloben wollen, wenn ich ihr mißtraute …«

»Nicht ihr mißtraue ich …«

Wir gingen langsam; wir waren bis zu jenem Punkt des Gartens gekommen, an dem ich jüngst unfreiwillig der Unterhaltung Alissas mit ihrem Vater gelauscht hatte. Mir kam plötzlich der Gedanke, daß vielleicht Alissa, die ich in den Garten hatte hinausgehen sehen, im Rondell säße, und daß sie auch uns hören könnte; die Möglichkeit, sie vernehmen zu lassen, was ich ihr direkt nicht zu sagen wagte, verführte mich auf der Stelle; belustigt durch meine List erhob ich die Stimme und rief mit jener ein wenig pomphaften Begeisterung meines Alters, indem ich viel zu sehr auf meine eigenen Worte achtete, als daß ich durch die Juliettes hindurch hätte hören können, was sie nicht aussprach:

»Oh! Wenn wir nur, indem wir uns über die Seele neigen, die wir lieben, in ihr wie in einem Spiegel sehen könnten, welches Bild wir ihr aufprägen! In anderen lesen wie in uns selber, besser als in uns selber! Welche Ruhe in der Zärtlichkeit! Welche Sicherheit im Handeln! Welche Reinheit in der Liebe! …«

Ich war Narr genug, um Juliettens Verwirrung für eine Wirkung meines mittelmäßigen Schwungs zu halten. Sie barg plötzlich den Kopf auf meiner Schulter:

»Jerome! Jerome! Ich möchte sicher sein, daß du sie glücklich machen wirst! Wenn sie auch durch dich noch leiden müßte, ich glaube, ich würde dich verabscheuen!«

»Aber, Juliette,« rief ich, indem ich sie umarmte und ihre Stirn emporhob, »ich würde mich selber verabscheuen. Wenn du wüßtest! … Aber nur, um erst mit ihr mein Leben besser zu beginnen, will ich noch nicht über meine Laufbahn entscheiden; ich lasse meine ganze Zukunft um ihretwillen unentschieden! Alles, was ich ohne sie sein könnte, will ich nicht …«

»Was sagt sie, wenn du mit ihr darüber redest?«

»Aber ich rede niemals mit ihr darüber! Niemals; auch aus diesem Grunde verloben wir uns noch nicht; nie ist zwischen uns von einer Heirat die Rede, noch auch von dem, was wir später tun werden. – O Juliette! Das Leben mit ihr scheint mir so schön, daß ich nicht wage … verstehst du das? Daß ich nicht wage, mit ihr darüber zu reden?«

»Du willst, daß das Glück sie überrascht …«

»Nein, das ist es nicht. Aber ich fürchte mich … ihr Furcht einzuflößen, verstehst du? … Ich fürchte, daß dieses ungeheuere Glück, das ich ahne, sie beängstige. – Eines Tages habe ich mit ihr von Reisen gesprochen; ich fragte sie, ob sie zu reisen wünschte. Sie sagte mir, sie wünsche nichts, und es genüge ihr, zu wissen, daß es jene Länder gebe, daß sie schön seien, und daß andere sie besuchen dürften …«

»Und du, Jerome, du möchtest reisen?«

»Überallhin. Das ganze Leben erscheint mir als eine lange Reise – mit ihr, als eine Reise durch Bücher, Menschen und Länder … Denkst du wohl daran, was diese Worte bedeuten: die Anker lichten?«

»Ja, ich denke oft daran,« murmelte sie; aber ich, der ich kaum auf sie hörte und ihre Worte wie kleine, verwundete Vögel zu Boden fallen ließ, fuhr fort:

»Aufbrechen, nachts; erwachen in der Blendung der Morgenröte; sich zu zweit allein auf der Unsicherheit der Wogen fühlen …«

»Und die Ankunft in einem Hafen, den man als Kind schon auf den Karten betrachtet hat und wo alles unbekannt ist … Ich stelle mir vor, wie du das Schiff verläßt und über den Landesteg gehst, Alissa auf deinen Arm gestützt.«

»Dann gehen wir schnell auf die Post,« fügte ich lachend hinzu, »um den Brief zu holen, den Juliette uns geschrieben hat …«

»Von Fongueusemare, wo sie geblieben ist und das euch ganz klein, ganz traurig und ganz fern erscheinen wird …«

Sind das ihre genauen Worte? Ich kann es nicht behaupten, denn, wie ich schon sagte, ich war von meiner Liebe so erfüllt, daß ich neben ihr kaum noch einen anderen Ausdruck hörte als den ihrigen.

Wir kamen zum Rondell; wir wollten umkehren, als plötzlich aus dem Schatten hervor Alissa sich zeigte. Sie war so bleich, daß Juliette aufschrie.

»Ich fühle mich wirklich nicht sehr wohl,« stammelte Alissa hastig. »Die Luft ist frisch. Ich glaube, ich täte besser daran, hineinzugehen.« Und sie verließ uns alsbald und kehrte mit raschem Schritt zum Hause zurück.

»Sie hat alles gehört, was wir sagten,« rief Juliette, sowie Alissa sich ein wenig entfernt hatte.

»Aber wir haben nichts gesagt, was ihr weh tun könnte. Im Gegenteil …«

»Laß mich,« sagte sie, indem sie ihrer Schwester nachstürzte.

 

In jener Nacht konnte ich nicht schlafen. Alissa war bei Tisch erschienen und hatte sich bald darauf zurückgezogen, indem sie sich über Kopfschmerzen beklagte. Was hatte sie von unserer Unterhaltung gehört? Und ich besann mich besorgt auf unsere Worte. Dann dachte ich, daß ich vielleicht unrecht daran getan hätte, als ich zu dicht neben Juliette herging, meinen Arm um sie zu schlingen; aber das war eine Kindergewohnheit, und manches Mal schon hatte uns Alissa so gehen sehen. Ah, was für ein trauriger Blinder ich war, als ich tastend nach meinem Unrecht suchte und nicht einen Augenblick daran dachte, daß Juliettes Worte, denen ich so schlecht zugehört hatte, vielleicht bei Alissa besseres Gehör gefunden haben mochten. Einerlei! Irre geführt durch meine Unruhe, entsetzt ob des Gedankens, daß Alissa an mir zweifeln könnte, entschloß ich mich, zumal ich mir keine andere Gefahr vorstellte, und trotz all dessen, was ich Juliette darüber hatte sagen können, vielleicht sogar beeindruckt durch das, was sie mir gesagt hatte, meine Bedenken, meine Befürchtung zu überwinden und mich am folgenden Tage zu verloben.

 

Es war am Tage vor meinem Aufbruch. Diesem Umstand konnte ich ihre Trauer zuschreiben. Mir schien, als miede sie mich. Der Tag verstrich, ohne daß ich sie hatte allein treffen können; die Furcht davor, abreisen zu müssen, ohne sie gesprochen zu haben, trieb mich ein paar Augenblicke vor der Hauptmahlzeit bis in ihr Zimmer; sie legte sich ein Korallenhalsband um und hob die Arme und neigte sich vor, um es zu befestigen, wobei sie der Tür den Rücken wandte und über die Schulter weg zwischen zwei Kerzen in einen Spiegel blickte. Im Spiegel sah sie mich zuerst; und ein paar Augenblicke lang sah sie mich so an, ohne sich zu wenden.

»Ach, war meine Tür denn nicht verschlossen?« fragte sie.

»Ich habe geklopft – du gabst keine Antwort. Alissa – du weißt, daß ich morgen reise?«

Sie erwiderte nichts, sondern legte das Halsband, das zu befestigen ihr nicht gelang, auf den Kamin. Da mir das Wort Verlobung zu nackt, zu brutal schien, gebrauchte ich statt dessen ich weiß nicht mehr welche Umschreibung. Sowie Alissa mich begriff, war es mir, als schwankte sie, als stützte sie sich am Kamin … aber ich selber zitterte so sehr, daß ich es schüchtern vermied, nach ihr zu sehen.

Ich stand dicht bei ihr, und ohne die Augen zu heben, ergriff ich sie bei der Hand; sie machte sich nicht los; aber indem sie ihr Gesicht ein wenig neigte und meine Hand ein wenig hob, drückte sie die Lippen darauf und murmelte, halb an mich gelehnt:

»Nein, Jerome, nein, wir wollen uns nicht verloben, ich bitte dich …«

Mir pochte das Herz so stark, daß ich glaubte, sie müßte es fühlen; sie fuhr nur zärtlicher fort:

»Nein, noch nicht …«

Und als ich fragte: »Weshalb?«

»Aber eigentlich kann ich dich fragen: weshalb? Weshalb etwas ändern?«

Ich wagte nicht, ihr etwas von der Unterhaltung des vorhergehenden Tages zu sagen; aber ohne Zweifel fühlte sie, daß ich daran dachte, und wie zur Antwort auf meinen Gedanken sagte sie, indem sie mich fest ansah:

»Du irrst dich, mein Freund: Ich habe soviel Glück nicht nötig. – Sind wir so nicht glücklich?«

Sie bemühte sich vergebens, zu lächeln.

»Nein, da ich dich verlassen muß.«

»Höre, Jerome, ich kann heute abend nicht mit dir sprechen … Wir wollen uns nicht die letzten Augenblicke verderben … Nein, nein. Ich liebe dich so sehr wie nur je; beruhige dich. Ich werde dir schreiben; ich werde dir alles erklären. Ich verspreche, dir zu schreiben; gleich morgen … Sowie du fort bist. Geh jetzt! Sieh, da weine ich schon … Laß mich allein.«

Sie stieß mich zurück, entzog sich mir sanft – und das war unser Abschied; denn an diesem Abend konnte ich ihr nichts mehr sagen, und am folgenden Tage schloß sie sich in dem Augenblick meines Aufbruchs in ihrem Zimmer ein. Ich sah, wie sie mir von ihrem Fenster ein Lebewohl nachwinkte, während sie zusah, wie mein Wagen davonzog.


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