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I.

Andere hätten ein Buch daraus machen können; aber die Geschichte, die ich hier erzähle, habe ich mit meiner ganzen Kraft gelebt, und meine Tugend hat sich in ihr verbraucht. Ich werde also ganz einfach meine Erinnerungen niederschreiben, und wenn sie stellenweise in Fetzen gegangen sind, so werde ich zu keiner Erfindungskraft greifen, um sie zusammenzustücken oder zu verbinden; die Mühe, die ich auf ihre Zurüstung verwenden müßte, würde die letzte Freude schmälern, die ich mir durch den einfachen Bericht verspreche.

Ich war noch nicht zwölf Jahre alt, als ich meinen Vater verlor. Meine Mutter, die nichts mehr in Le Havre zurückhielt, wo mein Vater Arzt gewesen war, beschloß, nach Paris zu ziehen, da sie glaubte, ich würde dort meine Studien besser abschließen können. Sie mietete in der Nähe des Luxembourg eine kleine Wohnung, die Miß Ashburton mit uns teilen wollte. Miß Flora Ashburton, die keine Familie mehr hatte, war ursprünglich die Gouvernante meiner Mutter gewesen; dann ihre Gesellschafterin und bald auch ihre Freundin. Ich lebte bei diesen beiden Frauen mit dem gleichermaßen sanften und traurigen Ausdruck. Eines Tages, ich glaube, es war ziemlich lange nach dem Tode meines Vaters, tat meine Mutter an die Stelle des schwarzen Bandes ihrer Morgenhaube ein malvenfarbiges Band.

»O Mama!« rief ich naiv aus; »wie schlecht dir diese Farbe steht!«

Am folgenden Morgen trug sie wieder ein schwarzes Band.

 

Meine Gesundheit war zart. Wenn die Pflege meiner Mutter und Miß Ashburtons, deren ganze Sorge es war, jeder Ermattung bei mir zuvorzukommen, keinen Faulpelz aus mir gemacht hat, so liegt es daran, daß ich wirklich Geschmack an der Arbeit finde. Kaum sind die ersten schönen Tage da, so überreden sie einander, daß es für mich Zeit ist, die Stadt zu verlassen, daß ich dort bleich werde; um Mitte Juni brechen wir nach Fongueusemare in der Umgegend von Le Havre auf, wo wir alljährlich bei meinem Onkel Bucolin zu Gast sind.

In einem nicht sehr großen, nicht sehr schönen Garten, den nichts eigentlich Besonderes von einer Fülle anderer normannischer Gärten unterscheidet, gleicht dieses weiße, zweistöckige Haus der Bucolins vielen Landhäusern des letzten Jahrhunderts. Es öffnet sich mit etwa zwanzig großen Fenstern gen Osten auf den Vorgarten; mit gleich vielen nach hinten; seitlich hat es gar keine. Die Fenster bestehen aus kleinen Scheiben; einige sind jüngst erneuert und scheinen zu hell neben den alten, die in ihrer Nähe grün und trüb aussehen. Manche haben Fehler, die unsere Verwandten »Blasen« nennen; der Baum, den man durch diese sieht, wird schlottrig; wenn der Briefbote vorübergeht, bekommt er jählings einen Buckel.

Der rechteckige Garten ist von Mauern umgeben. Er bildet vor dem Hause eine ziemlich kleine, beschattete Wiese, die ein mit Sand und Kies bestreuter Weg umläuft. Auf dieser Seite senkt sich die Mauer, um den Blick auf den Pachthof zu gestatten, der den Garten umschließt und dessen Grenze nach Landesbrauch eine Buchenallee bildet. Zwischen den Flanken des Hauses und den Mauern hat die plötzliche Verengung des Gartens nicht mehr Raum gelassen, als daß man einen Gang einschmuggeln und mit Hilfe hoher Büsche und rankenden Efeus die blinde Mauerwand ein wenig verkleiden konnte.

Hinter dem Hause, im Westen, entfaltet sich der Garten behaglicher. Vor den Spalieren im Süden wird ein von Blumen lachender Gang durch einen dichten Vorhang portugiesischen Kirschlorbeers und einige Bäume geschirmt. Ein anderer Gang an der Nordmauer hin verschwindet unter den Zweigen. Meine Kusinen nannten ihn »den schwarzen Gang« und wagten sich nicht gern mehr hin, wenn die Abenddämmerung vorüber war. Diese beiden Gänge führen zum Küchengarten, der, tiefer gelegen, den Garten fortsetzt, nachdem man ein paar Stufen hinabgestiegen ist. Dann, auf der anderen Seite der Mauer, die im Hintergrund des Küchengartens von einer kleinen Geheimpforte durchbrochen wird, findet man ein kleines Buschholz, in das von rechts und links die Buchenallee einmündet. Von der westlichen Freitreppe aus bewundert der Blick, wenn er über dieses Dickicht hinweg die Hochebene wiederfindet, die Ernte, die sie bedeckt. Am nicht sehr fernen Horizont die Kirche eines kleinen Dorfes und abends, wenn die Luft ruhig ist, der Rauch einiger Häuser.

An jedem schönen Sommerabend stiegen wir damals nach dem Essen in den unteren Garten hinab. Wir gingen durch die kleine Geheimpforte zu einer Bank der Allee, von der aus man die Gegend ein wenig beherrscht; dort, dicht bei dem Strohdach einer aufgegebenen Mergelgrube, setzten sich mein Onkel, meine Mutter und Fräulein Ashburton; vor uns füllte sich das kleine Tal mit Dunst, und der Himmel wurde über den ferneren Wäldern golden. Dann zauderten wir im Hintergrund des schon düsteren Gartens. Wir kehrten ins Haus zurück und fanden im Salon meine Tante, die fast nie mit uns hinausging … Für uns Kinder schloß damit der Abend; aber oft waren wir noch in unseren Zimmern damit beschäftigt, zu lesen, wenn wir später unsere Eltern heraufkommen hörten.

Zu fast allen Stunden des Tages, die wir nicht im Garten verbrachten, hielten wir uns im »Schulsaal« auf, meines Onkels Arbeitszimmer, wo man Schulpulte aufgestellt hatte. Mein Vetter Robert und ich arbeiteten Seite an Seite; hinter uns Juliette und Alissa. Alissa ist zwei Jahre älter, Juliette ein Jahr jünger als ich; Robert ist von uns Vieren der jüngste.

Nicht meine ersten Erinnerungen gedenke ich hier niederzuschreiben; nur die, die sich auf diese Geschichte beziehen. Ich kann sagen, daß sie eigentlich mit dem Todesjahr meines Vaters beginnt. Vielleicht machte mich meine Empfindlichkeit, die durch unsere Trauer, und wenn nicht durch meinen eigenen Kummer, so doch durch den Anblick des Kummers meiner Mutter überreizt war, für neue Erregungen empfänglich: ich war vorzeitig gereift; als wir in diesem Jahr nach Fongueusemare zurückkehrten, schienen mir Juliette und Robert nur um so jünger, – aber als ich Alissa wiedersah, begriff ich jählings, daß wir beide aufgehört hatten, Kinder zu sein.

Ja, es ist das Todesjahr meines Vaters; meine Erinnerung wird bestätigt durch eine Unterhaltung meiner Mutter mit Miß Ashburton gleich nach unserer Ankunft. Ich war unvermutet in das Zimmer getreten, wo meine Mutter mit ihrer Freundin plauderte; es handelte sich um meine Tante; meine Mutter entrüstete sich darüber, daß sie keine Trauer angelegt oder sie schon wieder abgelegt hatte. (Es ist mir freilich ebenso unmöglich, mir meine Tante Bucolin in Schwarz vorzustellen wie meine Mutter in hellen Kleidern.) An jenem Tage unserer Ankunft trug Lucilie Bucolin, soweit ich mich entsinne, ein Musselinkleid. Miß Ashburton, die wie immer versöhnlich war, bemühte sich, meine Mutter zu beruhigen; sie machte schüchtern geltend:

»Schließlich ist Weiß auch Trauer.«

»Und nennen Sie den roten Schal, den sie über die Schultern geworfen hat, auch Trauer? Flora, Sie empören mich!« rief meine Mutter aus.

Ich sah meine Tante nur während der Ferienmonate, und ohne Zweifel motivierte die Hitze des Sommers jene leichten und weit offenen Mieder, die ich stets an ihr gekannt habe. Aber mehr noch als die brennende Farbe der Tücher, die meine Tante sich über die nackten Schultern warf, erregte diese Dekolletierung bei meiner Mutter Ärgernis.

Lucilie Bucolin war sehr schön. Ein kleines Porträt von ihr, das ich aufbewahrt habe, zeigt sie mir, wie sie damals war; sie sieht so jung aus, daß man sie für die ältere Schwester ihrer Töchter halten könnte, wie sie seitlich dasitzt in jener ihr eigentümlichen Haltung: den Kopf auf die linke Hand geneigt, den kleinen Finger mutwillig zur Lippe niedergebogen. Ein weitmaschiges Netz hält die Masse ihres gekräuselten Haares, das halb in den Nacken gesunken ist; im runden Ausschnitt des Mieders hängt an einem lockeren Halsband aus schwarzem Samt ein Medaillon aus italienischem Mosaik. Der Gürtel aus schwarzem Samt mit der breiten, fließenden Schleife, der breitrandige Hut aus biegsamem Stroh, den sie mit dem Band über den Stuhlrand gehängt hat, alles steigert ihren kindlichen Ausdruck. Die gesenkte rechte Hand hält ein geschlossenes Buch.

Lucilie Bucolin war Kreolin; sie hatte ihre Eltern nicht gekannt oder sehr früh verloren. Meine Mutter erzählte mir später, daß sie als Ausgesetzte oder Waise im Hause des Pastors Vautier Aufnahme fand, der noch keine Kinder hatte und der, als er Martinique bald darauf verließ, dieses mit nach Le Havre nahm, wo die Familie Bucolin ansässig war. Die Vautiers und die Bucolins verkehrten miteinander; mein Onkel war damals im Ausland an einer Bank angestellt, und erst drei Jahre später, als er zu den Seinen zurückkehrte, sah er die kleine Lucilie; er verliebte sich in sie und bat alsbald zum großen Kummer seiner Eltern und meiner Mutter um ihre Hand. Lucilie war damals sechzehn Jahre alt. Inzwischen hatte Frau Vautier zwei Kinder geboren; sie begann für sie den Einfluß dieser Adoptivschwester zu fürchten, deren Charakter sich von Monat zu Monat als immer wunderlicher herausstellte. Zudem waren die Mittel des Haushalts mager … All das sagte mir meine Mutter, um mir zu erklären, weshalb die Vautiers die Werbung ihres Bruders mit Freuden angenommen hatten. Ich vermute obendrein, daß die junge Lucilie ihnen furchtbare Verlegenheiten zu bereiten begann. Ich kenne die Gesellschaft von Le Havre genau genug, um mir den Empfang, den man diesem so verführerischen Kind bereitete, leicht vorzustellen. Pastor Vautier, den ich später als sanft und zugleich umsichtig und naiv, als wehrlos gegen die Intrige und waffenlos vor dem Übel kennen lernte – dieser ausgezeichnete Mann mußte wie verraten sein. Über Frau Vautier kann ich nichts sagen; sie starb bei der Entbindung von einem vierten Kind, dem Sohn, der ungefähr mein Altersgenosse war und später mein Freund werden sollte …

Lucilie Bucolin nahm nur wenig an unserem Leben teil; sie kam erst nach der Mittagsmahlzeit aus ihrem Zimmer herab; sie streckte sich alsbald auf einem Sofa oder in einer Hängematte aus, blieb bis zum Abend liegen und erhob sich nur schläfrig. Sie hob zuweilen ein Tuch an ihre gleichwohl vollkommen glanzlose Stirn, als wollte sie eine Feuchtigkeit abwischen: es war ein Taschentuch, dessen Feinheit mich erstaunte und dessen Geruch mehr der Duft einer Frucht als einer Blume zu sein schien; bisweilen zog sie aus ihrem Gürtel einen winzigen Spiegel mit drehbarem Silberdeckel, der mit verschiedenen Kleinigkeiten an ihrer Uhrkette hing; sie sah sich an, berührte mit einem Finger ihre Lippen, nahm ein wenig Speichel auf und befeuchtete sich die Augenwinkel. Oft hielt sie ein Buch, aber ein fast stets geschlossenes Buch; in dem Buch haftete ein Lesezeichen aus Schildpatt zwischen den Blättern. Wenn man ihr nahte, so wandte ihr Blick sich nicht von ihrer Träumerei ab, um einen zu sehen. Oft fiel aus ihrer entweder unachtsamen oder ermatteten Hand, von der Sofalehne oder von einer Falte ihres Rockes das Tuch zu Boden; oder auch das Buch oder irgendeine Blume oder das Lesezeichen. Als ich eines Tages das Buch aufhob – ich rede hier von der Erinnerung eines Kindes – und sah, daß es Verse waren, errötete ich.

Abends nach dem Essen kam Lucilie Bucolin nicht an unseren Familientisch, sondern, am Piano sitzend, spielte sie selbstgefällig langsame Chopinsche Mazurkas; bisweilen unterbrach sie den Rhythmus und verweilte reglos auf einem Akkord …

 

Ich empfand ein sonderbares Unbehagen in der Nähe meiner Tante, ein Gefühl, gemischt aus Unruhe, einer gewissen Bewunderung und Angst. Vielleicht nahm mich ein dunkler Instinkt gegen sie ein; dann fühlte ich, daß sie Flora Ashburton und meine Mutter verachtete, daß Fräulein Ashburton sie fürchtete und meine Mutter sie nicht liebte.

Lucilie Bucolin, ich möchte dir nicht mehr grollen, einen Augenblick vergessen, daß du so viel Unrecht getan hast … Wenigstens will ich versuchen, ohne Zorn von dir zu reden.

 

An einem Tage dieses Sommers – oder des folgenden Sommers, denn bei dieser stets gleichen Umgebung verwirren sich zuweilen meine übereinander geschichteten Erinnerungen – trete ich in den Salon, um ein Buch zu holen; sie ist dort; ich will mich auf der Stelle zurückziehen; doch sie, die mich für gewöhnlich kaum zu sehen scheint, ruft mich:

»Weshalb gehst du so schnell? Jerome! Flöße ich dir Angst ein?«

Mit klopfendem Herzen trete ich zu ihr; ich gewinne es über mich, ihr zuzulächeln und ihr die Hand hinzustrecken. Sie hält meine Hand in einer der ihren zurück und streichelt mir mit der anderen die Wange.

»Wie schlecht deine Mutter dich anzieht, mein armer Kleiner …!«

Ich trug damals eine Art Matrosenbluse mit breitem Kragen, den meine Tante zu zerknittern beginnt.

»Matrosenkragen trägt man viel weiter offen,« sagt sie, indem sie einen Knopf meines Hemdes aufspringen läßt. »Da! Sieh, bist du so nicht viel hübscher?« Und indem sie ihren Spiegel hervorzieht, zieht sie mein Gesicht an ihres, legt mir den nackten Arm um den Hals, läßt ihre Hand in mein halb offenes Hemd hinabgleiten, fragt lachend, ob ich kitzlich bin, dringt weiter vor … Ich schrak so jäh zusammen, daß meine Matrosenbluse zerriß; mit flammendem Gesicht und während sie rief: »Pfui, was für ein großer Dummkopf!« entfloh ich; ich lief bis hinab in den Garten hinein; dort benetzte ich in einer kleinen Zisterne des Gemüsegartens mein Taschentuch, legte es mir auf die Stirn und wusch und rieb meine Wangen, meinen Hals und alles, was diese Frau berührt hatte.

 

An gewissen Tagen hatte Lucilie Bucolin ihre »Krise«. Das packte sie plötzlich und brachte das ganze Haus in Aufruhr. Miß Ashburton beeilte sich, die Kinder fortzuführen und zu beschäftigen; aber man konnte um ihretwillen nicht die grauenhaften Schreie ersticken, die aus dem Schlafzimmer oder aus dem Salon hervordrangen. – Mein Onkel wurde wahnsinnig; man hörte ihn in den Gängen laufen, nach Handtüchern, Kölnischem Wasser oder Äther suchen; abends bewahrte er bei Tisch, wo meine Tante noch nicht wieder erschien, eine besorgte und gealterte Miene.

Wenn die Krise annähernd vorüber war, rief Lucilie Bucolin ihre Kinder zu sich; wenigstens Robert und Juliette; Alissa nie. An solchen traurigen Tagen schloß Alissa sich in ihrem Zimmer ein, wo ihr Vater sie zuweilen aufsuchte, denn er plauderte oft mit ihr.

Die Krisen meiner Tante machten einen tiefen Eindruck auf die Dienstboten. Eines Abends, als die Krisis besonders stark gewesen und ich bei meiner Mutter geblieben war, auf ihr Zimmer beschränkt, in dem man weniger deutlich merkte, was im Salon vorging, hörten wir die Köchin in den Gängen laufen und rufen:

»Der gnädige Herr muß schnell herunterkommen, die arme gnä' Frau liegt im Sterben!«

Mein Onkel war in Alissas Zimmer hinaufgegangen; meine Mutter ging ihm entgegen. Als die beiden eine Viertelstunde darauf, ohne dessen zu achten, vor den offenen Fenstern des Zimmers, in dem ich geblieben war, vorübergingen, erreichte mich die Stimme meiner Mutter: »Soll ich es dir sagen, mein Freund: all das ist Komödie!« Und sie wiederholte mehrmals, indem sie die Silben trennte: »Ko–mö–die!«

 

Das war gegen Schluß der Ferien und zwei Jahre nach unserer Trauer. Ich sollte meine Tante lange nicht wiedersehen. Aber ehe ich von dem traurigen Ereignis rede, das unsere Familie zerrüttete, und von einem kleinen Umstand, der kurz vor der Katastrophe das komplizierte und unbestimmte Gefühl, das ich Lucilie Bucolin entgegenbrachte, in reinen Haß verwandelte, ist es Zeit, daß ich von meiner Kusine spreche.

Daß Alissa Bucolin hübsch war, konnte ich noch nicht bemerken; mich rief ein anderer Zauber zu ihr und fesselte mich an sie, als der der einfachen Schönheit. Ohne Zweifel ähnelte sie ihrer Mutter sehr; aber ihr Blick hatte einen so verschiedenen Ausdruck, daß mir diese Ähnlichkeit erst später auffiel. Ich kann kein Gesicht beschreiben; die einzelnen Züge entschlüpfen mir bis auf die Farbe der Augen; ich sehe nur den schon fast traurigen Ausdruck ihres Lächelns und die Linie ihrer Brauen, die sich über den Augen so außerordentlich hoch erhoben und sich von ihnen in weitem Kreise entfernten. Ich habe ihresgleichen nirgends wiedergesehen … oder doch: bei einer florentinischen Statuette der Epoche Dantes; und ich stelle mir gern vor, daß Beatrix als Kind sehr weit gewölbte Augenbrauen hatte, gleich diesen. Sie gaben dem Blick, dem ganzen Wesen den Ausdruck einer zugleich ängstlichen und zuversichtlichen Frage – ja, einer leidenschaftlichen Frage. Alles an ihr war nur Frage und Erwartung … Ich will erzählen, wie dieses Fragen sich meiner bemächtigte, mein Leben bildete.

Juliette konnte indessen schöner scheinen; Freude und Gesundheit gossen ihren Glanz über sie aus; aber ihre Schönheit schien neben der Anmut ihrer Schwester äußerlich, so daß sie sich von selbst auf einen einzigen Blick erschloß. Meinen Vetter Robert kennzeichnete nichts Besonderes. Er war eben ein Junge in ungefähr meinem Alter. Ich spielte mit Juliette und mit ihm; mit Alissa plauderte ich; sie mischte sich kaum in unsere Spiele; so weit ich auch in die Vergangenheit zurücktauche, ich sehe sie ernst, sanft lächelnd und gesammelt. – Wovon plauderten wir? Wovon können zwei Kinder plaudern? Ich will gleich versuchen, es zu sagen; aber zuvor will ich, um nie wieder von ihr zu reden, zu Ende erzählen, was auf meine Tante Bezug hat.

 

Zwei Jahre nach dem Tode meines Vaters kamen wir, meine Mutter und ich, nach Le Havre, um dort die Osterferien zu verbringen. Wir wohnten nicht bei den Bucolins, die in der Stadt in ihrem Raum ziemlich beengt waren, sondern bei einer älteren Schwester meiner Mutter, deren Haus geräumiger war. Meine Tante Plantier, die ich zu sehen nur selten Gelegenheit hatte, war seit langem Witwe; kaum kannte ich ihre Kinder, die viel älter waren als ich und ganz anderen Charakters. Das »Haus Plantier«, wie man in Le Havre sagte, stand nicht in der Stadt selbst, sondern auf halber Höhe jenes Hügels, der die Stadt beherrscht und den man »La Côte« nennt. Die Bucolins wohnten in der Nähe des Geschäftsviertels; eine steil abfallende Gasse führte ziemlich schnell von einem Hause zum andern; ich sprang mehrmals am Tage hinab und wieder hinauf.

An jenem Tage frühstückte ich bei meinem Onkel. Kurze Zeit nach der Mahlzeit ging er aus; ich begleitete ihn bis in sein Bureau und stieg dann wieder zum Hause Plantier hinauf, um meine Mutter zu holen. Dort erfuhr ich, daß sie mit meiner Tante ausgegangen war und erst zum Essen wiederkommen würde. Ich ging alsbald wieder in die Stadt hinab, wo ich nur selten frei spazierengehen konnte, da meine Mutter mich noch streng überwachte. Ich ging zum Hafen, den ein Meeresnebel düster machte; ich irrte eine oder zwei Stunden auf den Kais umher; ich sah den einlaufenden Barken zu und versuchte mir meine Langeweile zu verhehlen. Unvermittelt kam mich der Wunsch an, Alissa zu überraschen, die ich doch eben erst verlassen hatte … Ich eile laufend durch die Stadt und schelle an der Tür der Bucolins. Schon wollte ich mich in die Treppe stürzen, als mich das Mädchen, das geöffnet hatte, aufhielt:

»Nicht hinaufgehn, Herr Jerome! Nicht hinaufgehn: die gnädige Frau hat eine Krise.«

Aber ich eile weiter: – »Ich will nicht meine Tante besuchen …« Alissas Zimmer liegt im dritten Stock. Im ersten der Salon und das Speisezimmer; im zweiten das Schlafzimmer meiner Tante, aus dem Stimmen herausdringen. Die Tür steht offen, und ich muß an ihr vorüber. Ein Lichtstrahl fällt heraus und durchschneidet den Treppenabsatz; aus Furcht, gesehen zu werden, zögere ich einen Augenblick und verstecke mich. Und voll Entsetzen sehe ich dies: mitten in dem Zimmer, dessen Vorhänge geschlossen sind, in dem aber die Kerzen zweier Leuchter freudige Helle verbreiten, liegt meine Tante auf einer Ottomane; zu ihren Füßen stehen Robert und Juliette; hinter ihr ein unbekannter junger Mann in Leutnantsuniform. Die Anwesenheit der beiden Kinder scheint mir heute ungeheuerlich; in meiner damaligen Unschuld beruhigte sie mich eher. Sie sehen lachend den Unbekannten an, der mit Flötenstimme wiederholt:

»Bucolin! Bucolin! … Wenn ich einen Hammel hätte, so würde ich ihn sicherlich Bucolin nennen.«

Meine Tante selbst lacht schallend. Ich sehe, wie sie dem jungen Mann eine Zigarette hinhält, die er anzündet und aus der sie ein paar Züge raucht. Die Zigarette fällt zu Boden. Er stürzt hin, um sie aufzuheben, tut, als strauchle sein Fuß über einen Schal und fällt vor meiner Tante auf die Knie … Ich benutze dieses lächerliche Schauspiel und gleite ungesehen vorbei.

 

Ich stehe vor Alissas Tür. Ich warte einen Augenblick. Das Lachen und die Stimmen schallen aus dem unteren Stockwerk herauf; und vielleicht übertönen sie das Geräusch meines Klopfens, denn ich höre keine Antwort. Ich drücke gegen die Tür, die schweigend nachgibt. Das Zimmer ist schon so finster, daß ich Alissa nicht gleich erkenne; sie liegt am Kopfende ihres Bettes auf den Knien und wendet dem Fenster, durch das ein sterbendes Licht hereinfällt, den Rücken. Sie wendet sich, doch ohne aufzustehen, als ich ihr nahe, und murmelt:

»Oh, Jerome, weshalb kommst du wieder?«

Ich bücke mich, um sie zu küssen; ihr Gesicht ist von Tränen überströmt …

Dieser Augenblick entschied über mein Leben; ich kann noch heute nicht ohne Qual an ihn denken. Ohne Zweifel verstand ich den Grund von Alissas Not nur recht unvollkommen; aber ich fühlte intensiv, viel zu stark war sie für diese pochende kleine Seele, für diesen gebrechlichen Leib, der ganz vom Schluchzen geschüttelt wurde.

Ich blieb bei ihr stehen, während sie auf den Knien blieb; ich verstand von der neuen Entzückung meines Herzens nichts auszusprechen; aber ich drückte ihren Kopf an mein Herz und auf ihre Stirn meine Lippen, durch die sich meine Seele ergoß. Trunken vor Liebe, vor Mitleid, vor einer unbestimmten Mischung von Begeisterung, Entsagung und Tugend wandte ich mich mit all meinen Kräften an Gott und bot mich dar, denn ich fand kein anderes Ziel mehr für mein Leben, als das, dieses Kind gegen die Furcht, gegen das Übel, gegen das Leben zu schirmen. Ich kniete endlich voll Andacht nieder; ich zog sie wie in ein Asyl an mich, und undeutlich hörte ich sie sagen: »Jerome, sie haben dich nicht gesehen, nicht wahr? Oh, geh schnell! Sie dürfen dich nicht sehen …«

Dann, noch leiser: »Jerome, erzähle niemandem … Mein armer Papa weiß nichts …«

 

Ich erzählte also meiner Mutter nichts; aber das nicht enden wollende Geflüster meiner Tante Plantier mit ihr, die geheimnisvolle, geschäftige und schmerzliche Miene dieser beiden Frauen, das: »Mein Kind, geh dort hinten hin und spiele!« mit dem sie mich fortschickten, so oft ich mich ihren geheimen Besprechungen näherte – all das zeigte mir, daß ihnen das Geheimnis des Hauses Bucolin nicht völlig unbekannt war.

Wir waren kaum wieder in Paris, als eine Depesche meine Mutter von neuem nach Le Havre rief: meine Tante war geflohen.

»Mit irgend jemandem?« fragte ich Miß Ashburton, bei der meine Mutter mich zurückließ.

»Liebes Kind, das mußt du deine Mutter fragen; ich kann dir keine Antwort geben,« sagte diese gute alte Freundin, die dies Ereignis niederschlug.

Zwei Tage darauf brachen wir auf, sie und ich, um meine Mutter zu treffen. Es war ein Samstag. Ich sollte am folgenden Tage meine Kusinen in der Kirche wiedersehen, und das allein beschäftigte mein Denken, denn mein kindlicher Geist legte dieser Weihe unseres Wiedersehens große Bedeutung bei. Schließlich kümmerte ich mich wenig um meine Tante, und ich sah es als Ehrensache an, meine Mutter nicht zu fragen.

 

In der kleinen Kapelle waren an jenem Tage nicht viele Leute. Pastor Vautier hatte, offenbar absichtlich, zum Text seiner Betrachtung die Worte Christi erwählt: »Gehet ein durch die enge Pforte.«

Alissa saß ein paar Reihen vor mir. Ich sah ihr Gesicht im Profil; ich blickte sie fest an, und zwar in solcher Vergessenheit, daß mir war, als hörte ich diese Worte, auf die ich verloren lauschte, durch sie hindurch. Mein Onkel saß neben meiner Mutter und weinte.

Der Pastor hatte zunächst den ganzen Vers verlesen: »Gehet ein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit, und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt; und ihrer sind viele, die drauf wandeln. Und die Pforte ist enge, und der Weg ist schmal, der zum Leben führet; und wenig sind ihrer, die ihn finden.« Dann griff er die Disposition des Themas auf und sprach zunächst vom breiten Weg … Mit verlorenem Geist und wie im Traum sah ich das Zimmer meiner Tante wieder; ich sah meine Tante wieder, wie sie dalag, liebenswürdig, lächelnd; ich sah auch den glänzenden Offizier wieder lachen … und schon der Gedanke des Lachens, der Freude wurde verletzend, beschimpfend, wurde gleichsam zur scheußlichen Offenbarung der Sünde! …

»Und ihrer sind viele, die drauf wandeln,« fuhr Pastor Vautier fort; dann schilderte er, und ich sah sie, eine geputzte Menge, die lachte und schäkernd daherzog und einen Aufzug bildete, in dem ich, das fühlte ich, keinen Platz finden konnte, finden wollte, weil mich jeder Schritt, den ich mit ihnen getan hätte, von Alissa fortführen mußte. – Und der Pastor griff zurück auf den Anfang des Textes, und ich sah diese enge Pforte, durch die man eingehen mußte. Ich stellte sie mir in dem Traum, in den ich hinabtauchte, vor als eine Kasteiungsmaschine, als eine Art Walzwerk, in das ich mich nur mit Mühe und unter außerordentlichen Schmerzen hineinzwängte, unter die sich jedoch schon ein Vorgeschmack der Seligkeit des Himmels mischte. Und die Pforte wurde obendrein zur Tür von Alissas Zimmer; um durch sie einzugehen, befreite, entleerte ich mich all dessen, was noch vom Egoisten in mir lebte … »Denn der Weg ist schmal, der zum Leben führt,« fuhr Pastor Vautier fort – und jenseits jeder Kasteiung, jeder Trauer dachte ich mir, ahnte ich eine andere, reine mystische, seraphische Freude, nach der meine Seele schon dürstete. Ich stellte mir diese Freude vor wie ein Violinspiel, das zugleich schrill und sanft ist, wie eine spitze Flamme, in der Alissas und mein Herz sich erschöpften. Beide traten wir vor, bekleidet mit jenen weißen Gewändern, von denen die Apokalypse spricht; wir hielten uns an den Händen und schauten aus nach einem und demselben Ziel … Was frage ich, ob diese Kinderträume ein Lächeln entlocken; ich wiederhole sie, ohne etwas daran zu ändern. Die Verwirrung, die sich vielleicht in ihnen zeigt, liegt nur in den Worten und in den unvollkommenen Bildern, mit denen ich eine sehr bestimmte Empfindung ausdrücken will.

»Und ihrer sind wenig, die ihn finden,« schloß Pastor Vautier. Er erklärte, wie die enge Pforte zu finden sei … »Ihrer sind wenig …« Ich wollte einer von ihnen sein! …

Ich war gegen das Ende der Predigt hin in einen solchen Zustand moralischer Spannung geraten, daß ich, sowie der Gottesdienst beendet war, ohne einen Versuch, meine Kusine zu sprechen, entfloh – aus Stolz, denn ich wollte meine Entschlüsse (ich hatte solche gefaßt) auf die Probe stellen und glaubte, sie nur um so mehr zu verdienen, wenn ich mich auf der Stelle von ihr entfernte.

Was den Widerhall anging, den dieses Ereignis und diese Ermahnung in ihr haben konnte, so kümmerte ich mich darum nicht einen Augenblick.


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