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III.

Ich hatte in diesem Jahr Abel Vautier kaum sehen können; er hatte sich vor dem dienstpflichtigen Alter gestellt, während ich meine Studienjahre vorbereitete, indem ich die letzte Klasse zum zweitenmal durchmachte. Ich war um zwei Jahre jünger als Abel und hatte mir die Erlaubnis erwirken können, meine Dienstzeit zu verschieben, bis ich das Seminar verließe, in das wir beide in diesem Jahr eintreten sollten.

Wir sahen uns mit Vergnügen wieder. Als er das Heer verließ, war er mehr als einen Monat gereist. Ich fürchtete, ihn verändert zu finden; aber er hatte einfach an Sicherheit gewonnen, ohne doch etwas von seinem Zauber zu verlieren. Am Nachmittag vor dem Wiederbeginn der Schule, den wir im Luxembourg verbrachten, konnte ich mein Vertrauen nicht mehr unterdrücken und erzählte ihm ausführlich von meiner Liebe, die er übrigens schon kannte. Er hatte in diesem Jahr einige Kenntnis der Frauen erworben, was ihm das Gehaben einer ein wenig geckenhaften Überlegenheit erlaubte, an der ich jedoch keinen Anstoß nahm. Er verspottete mich, weil ich es nicht verstanden hatte, wie er sagte, mein letztes Wort anzubringen; denn er stellte den Grundsatz auf, daß man einer Frau nie Zeit lassen dürfe, sich wieder zu fassen. Ich ließ ihn reden, indem ich mir sagte, daß diese ausgezeichneten Argumente weder für mich noch für sie paßten und daß er ganz einfach zeigte, wie wenig er uns verstand.

Am Tage nach unserer Ankunft erhielt ich folgenden Brief:

 

» Mein lieber Jerome,

Ich habe viel nachgedacht über das, was du mir vorschlugst. (Was ich vorschlug! So nannte sie unsere Verlobung!) Ich fürchte, ich bin zu alt für dich. Das scheint dir vielleicht noch nicht so, weil du noch keine Gelegenheit gehabt hast, andere Frauen zu sehen; aber ich denke an das, was ich später leiden würde, wenn ich mich dir gegeben hätte und sehen müßte, daß ich dir nicht mehr gefallen kann. Du wirst ohne Zweifel sehr entrüstet sein, wenn du mich liest; ich glaube deine Beteuerungen zu hören; und doch ziehe ich deine Liebe nicht in Zweifel; nur bitte ich dich, noch zu warten, bis du es im Leben ein wenig weiter gebracht hast.

Versteh mich recht; ich rede hier nur für dich, denn was mich angeht, so glaube ich wohl, daß ich nie aufhören kann, dich zu lieben.

Alissa.«

 

Aufhören, uns zu lieben! Aber konnte davon die Rede sein? – Ich war noch mehr erstaunt als bekümmert; aber doch so verwirrt, daß ich alsbald zu Abel lief, um ihm diesen Brief zu zeigen.

»Nun, was denkst du zu tun?« fragte der, nachdem er den Brief gelesen hatte, indem er mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf schüttelte. Ich hob voller Ungewißheit und Trostlosigkeit die Arme.

»Ich hoffe wenigstens, daß du nicht antworten willst! Wenn man mit einer Frau zu streiten beginnt, ist man verloren … Höre: wenn wir Samstag in Le Havre übernachten, können wir Sonntagmorgen in Fongueusemare und für die erste Montagsstunde wieder hier sein. Ich habe deine Verwandten seit meinem Dienstjahr nicht mehr gesehen; das ist ein ausreichender Vorwand, der mir noch zur Ehre gereicht. Wenn Alissa sieht, daß es nur ein Vorwand ist, um so besser! Ich werde mich mit Juliette beschäftigen, während du mit ihrer Schwester plauderst. Du mußt versuchen, einmal nicht das Kind zu spielen … Freilich steckt da in deiner Geschichte etwas, was ich mir nicht recht erklären kann; du kannst mir nicht alles erzählt haben … Einerlei! Ich werde das aufklären … Vor allem melde nichts von unserer Ankunft: du mußt deine Kusine überraschen und ihr keine Zeit lassen, sich zu bewaffnen.«

 

Das Herz pochte mir heftig, als ich die Gartenpforte aufstieß. Juliette kam uns gleich laufend entgegen. Alissa, die mit der Wäsche beschäftigt war, beeilte sich nicht, herabzukommen. Wir plauderten mit meinem Onkel und Miß Ashburton, als sie endlich in den Salon trat. Wenn unsere plötzliche Ankunft sie verwirrte, so verstand sie es wenigstens, sich nichts davon merken zu lassen; ich dachte an das, was Abel mir gesagt hatte: daß sie gerade um sich gegen mich zu wappnen so lange nicht erschienen war. Die außerordentliche Lebhaftigkeit Juliettes ließ ihre Zurückhaltung noch kühler erscheinen. Ich fühlte, daß sie meine Rückkehr mißbilligte: wenigstens suchte sie in ihrer Miene eine Mißbilligung übertrieben zum Ausdruck zu bringen, hinter der ich eine heimliche lebhaftere Bewegung nicht allzu streng zu suchen wagte. Sie saß ziemlich weit von uns in einem Winkel am Fenster und schien ganz in eine Stickerei versunken zu sein, deren Stiche sie sich vormerkte, indem sie die Lippen bewegte. Abel sprach; zum Glück! Denn ich selber hatte nicht die Kraft dazu, und ohne die Berichte, die er von seinem Dienst und seinen Reisen gab, wären die ersten Augenblicke dieses Wiedersehens ziemlich düster gewesen. Sogar mein Onkel schien merkwürdig gedankenversunken.

Gleich nach dem Frühstück nahm Juliette mich beiseite und zog mich in den Garten.

»Stelle dir vor, daß mich jemand zur Frau verlangt!« rief sie aus, sowie wir allein waren. »Tante Felicia hat gestern an Papa geschrieben, um ihm Mitteilung zu machen von der Werbung eines Weinbauern aus Nimes; er ist ein angesehener Mann, versichert sie, und er hat sich, wie es scheint, in mich verliebt, als er mich im Frühjahr irgendwo in der Gesellschaft sah.«

»Ist dir dieser Herr aufgefallen?« fragte ich mit unwillkürlicher Feindseligkeit gegen den Bewerber.

»Ja, ich sehe, wer es ist. Eine Art gutmütigen Don Quixotes ohne Kultur, sehr häßlich, sehr gewöhnlich und ziemlich lächerlich. Tante konnte vor ihm ihren Ernst nicht bewahren.«

»Hat er … Aussichten?« fragte ich in spöttischem Ton.

»Ach was, Jerome! Du scherzst! Ein Kaufmann! … Wenn du ihn gesehen hättest, hättest du mir die Frage nicht gestellt.«

»Und … was hat Onkel erwidert?«

»Was ich selbst erwidert habe: daß ich noch zu jung sei, um mich zu verheiraten … Unglücklicherweise,« fügte sie lachend hinzu, »hatte Tante den Einwand vorausgesehen; in einem Postskriptum sagt sie, Herr Eduard Teissière, so heißt er, sei bereit zu warten, er erkläre sich jetzt nur, um ›vorgemerkt zu werden‹ … Es ist absurd; aber was soll ich dabei machen? Ich kann ihm doch nicht sagen lassen, er sei zu häßlich?«

»Nein, aber du wollest keinen Weinbauern heiraten.«

Sie zuckte die Achseln:

»Das sind Gründe, die im Geist meiner Tante keinen Kurs haben … Lassen wir das. – Alissa hat dir geschrieben?«

Sie sprach mit höchster Zungenfertigkeit und schien in großer Erregung zu sein. Ich hielt ihr Alissas Brief hin, den sie unter starkem Erröten las. Ich glaubte eine Spur von Zorn in ihrer Stimme zu erkennen, als sie mich fragte:

»Was willst du nun tun?«

»Ich weiß es nicht mehr. Jetzt, da ich hier bin, fühle ich, daß es leichter gewesen wäre, zu schreiben, und schon mache ich mir einen Vorwurf daraus, daß ich gekommen bin. Du verstehst, was sie hat sagen wollen?«

»Ich verstehe, daß sie dich frei lassen will.«

»Aber liegt denn mir, mir an meiner Freiheit? Und du verstehst, weshalb sie mir das geschrieben hat?«

Sie erwiderte mir: »Nein,« und zwar so trocken, daß ich mich, ohne irgendwie die Wahrheit zu ahnen, doch von diesem Augenblick an überzeugt hielt, die Gründe seien Juliette vielleicht nicht unbekannt. – Dann machte sie an einer Wendung des Weges, dem wir folgten, unvermittelt kehrt.

»Jetzt laß mich. Du bist nicht gekommen, um mit mir zu plaudern. Wir sind schon viel zu lange beisammen.«

Laufend entfloh sie zum Hause hin, und einen Augenblick darauf hörte ich sie am Piano.

Als ich in den Salon zurückkehrte, plauderte sie, ohne im Spiel inne zu halten, wenn sie die Tasten auch nur noch träge anschlug und als improvisierte sie aufs Geratewohl, mit Abel, der zu ihr getreten war. Ich ließ sie allein und irrte ziemlich lange auf der Suche nach Alissa im Garten umher.

 

Sie war im Hintergrund des Obstgartens, wo sie am Fuß einer niederen Mauer die ersten Chrysanthemen pflückte, die ihren Duft unter den der welken Blätter der Buchen mischten. Die Luft war mit dem Herbst gesättigt. Die Sonne wärmte kaum noch die Spaliere, aber der Himmel war orientalisch rein. Ihr Gesicht war eingerahmt, fast verborgen in einer großen zeeländischen Haube, die Abel ihr von der Reise mitgebracht und die sie sofort aufgesetzt hatte. Sie wandte sich bei meinem Nahen zunächst nicht um, aber ein leichtes Zittern, das sie nicht unterdrücken konnte, sagte mir, daß sie meinen Schritt erkannt hatte; und schon verhärtete ich mich, machte ich mir Mut wider die Vorwürfe und die Strenge, mit der ihr Blick schwer auf mir lasten würde. Aber als ich ihr ziemlich nahe war und schon schüchtern meinen Schritt verlangsamte, reichte sie, ohne mir zunächst die Stirn zuzuwenden, die sie wie ein schmollendes Kind gesenkt hielt, fast rückwärts die Hand voller Blumen hin, als wollte sie mich einladen, zu ihr zu treten. Und als ich spielend vielmehr bei dieser Geste still stand, tat sie, indem sie sich endlich wandte, ein paar Schritte auf mich zu und hob das Gesicht, und ich sah, daß ein Lächeln es füllte. Gleichsam durch ihren Blick erleuchtet, erschien mir plötzlich alles von neuem einfach und leicht, so daß ich ohne Anstrengung und mit unveränderter Stimme begann:

»Dein Brief hat mich hergetrieben.«

»Ich habe es geahnt,« sagte sie, und indem sie durch ihren Tonfall den Stachel ihres Tadels abstumpfte: »Und gerade das ärgert mich. Weshalb hast du übel genommen, was ich sagte? Es war doch so einfach …« (Und schon schienen mir Trauer und Schwierigkeiten nur noch eingebildet zu sein, nur noch in meinem Geist zu leben.) »Wir waren glücklich so, ich hatte es dir ja gesagt; weshalb darüber erstaunen, daß ich mich weigere, wenn du mir eine Veränderung vorschlägst?«

Wirklich fühlte ich mich bei ihr glücklich, so vollkommen glücklich, daß mein Denken versuchen wollte, in nichts mehr von dem ihren abzuweichen; und schon wünschte ich über ihr Lächeln hinaus nichts mehr, wollte nur noch so mit ihr dahingehen auf einem lauen, von Blumen eingerahmten Wege, wo ich ihr die Hand gab.

»Wenn es dir lieber ist,« sagte ich, indem ich mit einem Schlage auf jede andere Hoffnung verzichtete und mich dem vollkommenen Glück des Augenblicks überließ – »wenn es dir lieber ist, so werden wir uns nicht verloben. Als ich deinen Brief erhielt, begriff ich wohl im selben Augenblick, daß ich in Wahrheit glücklich war und aufhören sollte, es zu sein. Oh, gib mir das Glück zurück, das ich besaß; ich kann es nicht entbehren. Ich liebe dich genug, um mein Leben lang auf dich zu warten; aber daß du aufhören solltest, mich zu lieben, oder daß du an meiner Liebe zweifelst, Alissa, dieser Gedanke ist mir unerträglich.«

»Ach, Jerome, ich kann nicht an ihr zweifeln –.« Und als sie das sagte, war ihre Stimme zugleich ruhig und traurig; aber das Lächeln, das sie erleuchtete, blieb so heiter schön, daß ich mich meiner Befürchtungen und Beteuerungen schämte; mir schien jetzt, als käme nur durch sie dieser Unterton der Trauer, den ich im Hintergrund ihrer Stimme fühlte. Ohne jeden Übergang begann ich von meinen Plänen zu sprechen, von meinen Studien und jener neuen Lebensweise, von der ich mir soviel Nutzen versprach. Das Seminar war damals noch nicht, was es seit kurzem geworden ist. Die ziemlich strenge Zucht lastete nur auf den trägen oder störrischen Geistern; sie begünstigte das Streben eines lernbegierigen Willens. Es gefiel mir, daß die fast mönchische Sitte mich vor einer Welt bewahrte, die mich übrigens wenig lockte und die Alissa nur hätte zu fürchten brauchen, damit sie mir auf der Stelle als hassenswert erschien. Miß Ashburton hatte in Paris die Wohnung behalten, die sie früher mit meiner Mutter inne gehabt hatte. Da Abel und ich in Paris außer ihr kaum jemanden kannten, so wollten wir jeden Sonntag ein paar Stunden bei ihr verbringen; jeden Sonntag wollte ich an Alissa schreiben, und nichts aus meinem Leben sollte ihr unbekannt bleiben …

Wir saßen jetzt auf dem Rahmen der Beetkästen, aus denen aufs Geratewohl ungeheure Gurkenstengel herausragten, deren letzte Früchte schon eingeerntet waren. Alissa hörte mir zu und fragte mich; noch nie hatte ich ihre Zärtlichkeit als aufmerksamer, ihre Liebe als drängender empfunden. Furcht, Sorge und selbst die geringste Bewegung verflogen in ihrem Lächeln, gingen auf in jener reizenden Vertraulichkeit wie Nebel im vollkommenen Blau des Himmels.

Dann saßen wir auf einer Bank des Buchenhains, wo Juliette und Abel zu uns gestoßen waren, und benutzten den Rest des Tages dazu, wieder einmal den »Triumph der Zeit« von Swinburne zu lesen; und abwechselnd sprach ein jeder von uns eine Strophe. Der Abend kam.

»Nun!« sagte Alissa, als sie mich im Augenblick unserer Abfahrt umarmte, halb scherzend, aber doch mit jener Miene einer älteren Schwester, die anzunehmen sie vielleicht mein unbedachtes Vorgehen trieb, und die sie gern annahm: »Versprich mir jetzt, in Zukunft nicht mehr so romanhaft zu sein …«

 

»Nun, bist du verlobt?« fragte Abel, sowie wir wieder allein waren.

»Mein Lieber, davon ist keine Rede mehr,« erwiderte ich, und gleich darauf fügte ich in einem Ton, der jede neue Frage abschnitt, hinzu: »Und es ist so viel besser. Nie bin ich glücklicher gewesen als heute abend.«

»Ich auch nicht,« rief er aus; dann fiel er mir unvermittelt um den Hals: »Ich will dir etwas Wundervolles, Außerordentliches sagen! Jerome, ich bin wahnsinnig in Juliette verliebt: ich ahnte es schon ein wenig im vorigen Jahr; aber ich habe inzwischen gelebt, und ich wollte dir nichts sagen, ehe ich deine Kusinen nicht wiedergesehen hätte. Jetzt ist es geschehen, mein Leben ist gefangen. › Ich liebe, was sage ich – ich vergöttere Juliette!‹ Seit langem war es mir, als hegte ich für dich eine Art Schwagerliebe …«

Und lachend und spielend schlang er die Arme um mich und wälzte sich wie ein Kind auf den Kissen des Wagens, der uns nach Paris zurückführte. Ich war von seinem Geständnis ganz erstickt und ein wenig geniert wegen des literarischen Einschlags, der sich hineinmischte und den ich spürte; aber wie sollte man solcher Heftigkeit und soviel Freude widerstehen?

»Nun, und? Hast du dich erklärt?« gelang es mir endlich, ihn zwischen zwei Ergüssen zu fragen.

»Aber nein! aber nein!« rief er aus, »ich will nicht gleich das reizendste Kapitel der Geschichte abbrechen.

Der Liebe schönster Augenblick liegt nicht,
Nachdem man sagte: Du, ich liebe dich …

Was! Du wirst mir daraus doch wohl keinen Vorwurf machen wollen, du, der Meister der Langsamkeit?«

»Aber schließlich,« fuhr ich ein wenig gereizt fort, »glaubst du denn, daß sie ihrerseits …«

»Hast du denn nicht bemerkt, wie verwirrt sie war, als sie mich wiedersah! Und diese Aufregung, solange wir dort waren, dieses Erröten, dieser Wortreichtum! … Nein, du hast nichts bemerkt, natürlich nicht, denn du bist ganz mit Alissa beschäftigt … Und wie sie mich ausfragte! Wie sie meine Worte trank! Ihr Verstand hat sich im letzten Jahr gewaltig entwickelt. Ich weiß nicht, woher du es haben magst, daß sie die Lektüre nicht lieben soll; du glaubst immer, dergleichen sei nur für Alissa. Aber, mein Lieber, es ist erstaunlich, was alles sie kennt! Weißt du, womit wir uns vor dem Diner die Zeit vertrieben haben? Eine Kanzone Dantes herzusagen; wir sprachen immer abwechselnd je einen Vers; und sie verbesserte mich, wenn ich mich irrte. Du weißt doch:

Amor che nella mente mi ragiona.

Du hattest mir nicht gesagt, daß sie Italienisch gelernt hat.«

»Ich wußte es selbst nicht,« sagte ich ziemlich überrascht.

»Wie? Und als wir die Kanzone begannen, sagte sie mir, du hättest sie damit bekannt gemacht.«

»Sie wird ohne Zweifel gehört haben, wie ich sie eines Tages ihrer Schwester vorlas, als sie in unserer Nähe nähte oder stickte, wie sie es oft tut; aber ich will des Henkers sein, wenn sie sich hat merken lassen, daß sie etwas verstand.«

»Allerdings, Alissa und du, ihr seid erstaunlich in euerm Egoismus. Ihr seid ganz in eure Liebe versunken und habt keinen Blick für das wundervolle Aufblühen dieses Intellekts, dieser Seele! Ich will mir damit weiter kein Kompliment machen, aber immerhin war es Zeit, daß ich kam … Aber nein, aber nein, ich grolle dir darum nicht, du siehst ja,« sagte er, indem er mich von neuem umarmte. »Nur, versprich mir, kein Wort darüber zu Alissa. Ich gedenke meine Angelegenheit ganz allein zu führen. Juliette ist gefangen, das ist gewiß; und zwar fest genug, daß ich sie bis zu den nächsten Ferien zu verlassen wage. Ich will ihr sogar bis dahin nicht einmal schreiben. Aber die Neujahrsferien werden du und ich in Le Havre verbringen, und dann …«

»Und dann?«

»Nun! Alissa soll gleich von unserer Verlobung hören. Ich denke da scharf vorzugehen. Und weißt du, was dann geschehen wird? Alissas Einwilligung, die du ihr zu entreißen nicht imstande bist, will ich dir kraft unseres Beispiels erlangen. Wir werden sie überreden, daß man unsere Hochzeit nicht vor der euren feiern kann …«

Er fuhr fort und tauchte mich unter in einen unversieglichen Strom von Worten, der nicht einmal aufhörte, als der Zug in Paris ankam, ja, nicht einmal, als wir wieder im Seminar waren, denn obwohl wir den Weg vom Bahnhof zur Schule zu Fuß zurückgelegt hatten, und trotz der vorgerückten Nachtstunde begleitete Abel mich in mein Zimmer, wo wir die Unterhaltung bis zum Morgen fortsetzten.

Abels Begeisterung verfügte über die Gegenwart und über die Zukunft. Er sah schon unsere Doppelhochzeit und schilderte sie; er stellte sich jedermanns Überraschung und Freude vor und malte sie aus; er verliebte sich in die Schönheit unserer Geschichte, unserer Freundschaft, seiner Rolle in meiner Liebe. Ich wehrte mich schlecht gegen eine so schmeichelhafte Glut, fühlte, wie sie mich schließlich durchdrang, und gab langsam dem Reiz seiner chimärischen Vorschläge nach. Mit Hilfe unserer Liebe schwoll unser Ehrgeiz und unser Mut; kaum war nach dem Verlassen des Seminars unsere doppelte Ehe von Pastor Vautier eingesegnet worden, so brachen wir alle vier auf, um zu reisen; dann stürzten wir uns in ungeheure Arbeiten, bei denen unsere Frauen freudig unsere Mitarbeiterinnen wurden. Abel, den die Professorenwürde wenig lockte und der sich zum Schriftsteller geboren glaubte, erwarb rasch mit einem erfolgreichen Stück das Vermögen, das ihm fehlte; ich, den das Studium mehr lockte als der Gewinn, den man aus ihm ziehen kann, dachte mich der Religionsphilosophie zu widmen, deren Geschichte ich zu schreiben mir vornahm … Aber wozu hier soviel Hoffnungen aufzählen? …

Am folgenden Tage stürzten wir uns in die Arbeit.


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