Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VI.

Bei Tante Plantier fand unsere erste Begegnung statt. Ich fühlte plötzlich, daß ich durch meinen Dienst schwerer, gröber geworden war … Dann konnte ich mir denken, sie habe mich verändert gefunden. Aber was konnte zwischen uns dieser erste trügerische Eindruck ausmachen? Ich meinerseits wagte zunächst aus Furcht, sie nicht mehr vollkommen wiederzuerkennen, kaum, sie anzusehen … Nein, was uns vor allem aus der Fassung brachte, das war die absurde Rolle der Verlobten, die man uns aufzwang, der absichtliche Eifer eines jeden, uns allein zu lassen, sich vor uns zurückzuziehen.

»Aber Tante, du störst uns in keiner Weise; wir haben uns nichts Heimliches zu sagen,« rief schließlich Alissa vor den taktlosen Bemühungen dieser dicken Frau, sich unsichtbar zu machen, aus.

»Doch, doch, meine Kinder! Ich verstehe euch recht wohl; wenn man sich lange nicht mehr gesehen hat, hat man sich einen Haufen von Kleinigkeiten zu erzählen …«

»Ich bitte dich, Tante; du würdest uns sehr verdrießen, wenn du gehst;« und das wurde in einem fast gereizten Ton gesagt, in dem ich Alissas Stimme kaum wiedererkannte.

»Tante, ich versichere dir, wir werden uns kein einziges Wort mehr sagen, wenn du gehst!« fügte ich lachend hinzu, während auch mich bei dem Gedanken, uns allein zu sehen, eine gewisse Besorgnis befiel. Und die Unterhaltung entspann sich zwischen uns dreien von neuem in jener Lustigkeit und Banalität, gepeitscht von jener erzwungenen Lebhaftigkeit, hinter der ein jeder seine Verwirrung zu verbergen suchte.

Wir sollten uns am folgenden Tage wiedersehen, denn mein Onkel hatte mich zum Frühstück eingeladen, so daß wir uns an diesem ersten Abend ohne Schmerz verließen, glücklich, dieser Komödie ein Ende machen zu können. Ich traf lange vor der Stunde der Mahlzeit ein, fand aber Alissa im Gespräch mit einer Freundin vor, die sie zu verabschieden nicht die Kraft hatte und die selbst nicht den Takt besaß, aufzubrechen. Als sie uns endlich allein ließ, tat ich erstaunt, weil Alissa sie nicht zu Tisch eingeladen hatte. Wir waren beide entkräftet, ermüdet durch eine schlaflose Nacht. Mein Onkel kam. Alissa fühlte, daß ich ihn gealtert fand. Er war schwerhörig geworden und verstand meine Stimme schlecht; ich mußte schreien, um mich verständlich zu machen, und dadurch wurden meine Worte dumm.

Nach dem Frühstück kam Tante Plantier, wie es verabredet worden war, um uns mit ihrem Wagen abzuholen; sie brachte uns nach Orcher, in der Absicht, auf dem Rückweg Alissa und mich den angenehmsten Teil des Weges zu Fuß zurücklegen zu lassen.

Es war warm für die Jahreszeit. Die Seite des Hügels, auf der wir gingen, war der Sonne ausgesetzt; die kahlen und reizlosen Bäume boten uns keinerlei Schutz. Vorwärtsgespornt durch die Sorge, den Wagen, in dem die Tante uns erwartete, wieder einzuholen, beschleunigten wir unsere Schritte in unbequemer Weise. Aus meinem Kopf, den Kopfschmerzen verdummten, vermochte ich keinen Gedanken hervorzuholen; aus Schicklichkeit, oder weil diese Geste die Worte ersetzen konnte, hatte ich unterwegs die Hand ergriffen, die Alissa mir überließ. Die Erregung, die Atemlosigkeit des Marsches und das unbehagliche Gefühl unseres Schweigens jagten uns das Blut ins Gesicht; ich hörte meine Schläfen pochen; Alissa war unangenehm rot; und bald zwang uns die Scham, daß wir fühlten, wie unsere feuchten Hände aneinander hingen, sie auseinander zu nehmen und traurig einzeln fallen zu lassen.

Wir hatten uns zu sehr beeilt und kamen weit vor dem Wagen an dem Kreuzweg an, denn unsere Tante hatte ihn, um uns zum Plaudern Zeit zu geben, auf einem anderen Wege sehr langsam fahren lassen. Wir setzten uns auf eine Böschung; der kalte Wind, der sich plötzlich erhob, ließ uns erstarren, denn wir waren feucht vom Schweiß; da standen wir auf, um dem Wagen entgegenzugehen … Aber das Schlimmste war noch die drängende Sorge der armen Tante, die überzeugt war, daß wir uns reichlich ausgesprochen hatten, und bereit, uns über unsere Verlobung auszufragen. Alissa konnte nicht mehr an sich halten, und während ihre Augen sich mit Tränen füllten, schützte sie heftige Kopfschmerzen vor. Die Rückkehr vollzog sich in tiefem Schweigen.

Am folgenden Tage erwachte ich wie zerschlagen, verschnupft und so leidend, daß ich mich entschloß, erst nachmittags zu den Bucolins zurückzukehren. Unglücklicherweise war Alissa nicht allein, Magdalene Plantier, eine der Enkelinnen unserer Tante Felicia, war da – ich wußte, daß es Alissa oft Vergnügen machte, mit ihr zu plaudern. Sie wohnte auf einige Tage bei ihrer Großmutter und rief, als ich eintrat:

»Wenn du nachher wieder hinaufgehst, so können wir zusammengehen.«

Mechanisch willigte ich ein, so daß ich Alissa nicht allein sehen konnte. Aber die Anwesenheit dieses liebenswürdigen Kindes half uns ohne Zweifel noch; ich verfiel nicht wieder der unerträglichen Befangenheit vom Tage zuvor; bald entspann sich eine behagliche Unterhaltung zwischen uns dreien, die weit weniger nichtig war, als ich es zuerst hatte fürchten können. Alissa lächelte seltsam, als ich ihr Lebwohl sagte, und ich merkte dies: bisher hatte sie noch nicht begriffen, daß ich am folgenden Tage abreisen wollte. Übrigens nahm die Aussicht auf ein sehr nahes Wiedersehen meinem Abschied jede Tragik, die er hätte haben können.

Nach dem Diner jedoch stieg ich, getrieben von einer unbestimmten Unruhe, von neuem in die Stadt hinab, wo ich fast eine Stunde umherirrte, ehe ich mich entschließen konnte, bei den Bucolins zu schellen. Mein Onkel empfing mich. Alissa war, da sie sich leidend fühlte, schon in ihr Zimmer hinaufgegangen und hatte sich ohne Zweifel gleich zu Bett gelegt. Ich plauderte ein paar Augenblicke mit meinem Onkel und brach wieder auf …

So ärgerlich diese Unannehmlichkeiten waren, so würde ich sie doch vergeblich anzuklagen suchen. Auch wenn alles uns geholfen hätte, hätten wir unsere Befangenheit erfunden. Aber daß auch Alissa sie empfand, machte mich mehr als alles andere trostlos. Hier folgt der Brief, den ich gleich nach meinem Einzug in Paris erhielt.

 

»Mein Freund, welches traurige Wiedersehen! – Du schienst sagen zu wollen, daß die andern daran schuld waren, aber du konntest dich selbst nicht dazu überreden. Und jetzt glaube ich, weiß ich, daß es immer so sein wird. Ach, ich bitte dich, wir wollen uns nicht wiedersehen! Weshalb diese Befangenheit, dieses Gefühl einer falschen Situation, diese Lähmung, dieses Schweigen, während wir einander alles zu sagen haben? – Am ersten Tage deiner Rückkehr war ich noch glücklich selbst über dieses Schweigen, weil ich glaubte, es würde sich aufhellen und du würdest mir wunderbare Dinge sagen; du könntest nicht vorher abreisen.

Aber als ich sah, daß unser trauriger Spaziergang in Crocher schweigend verstrich, und vor allem, als unsere Hände sich losließen und hoffnungslos niederfielen, glaubte ich, das Herz müsse mir springen vor Trauer und Schmerz. Und was mich am meisten trostlos machte, war nicht, daß deine Hand die meine hatte fahren lassen, sondern daß ich fühlte, wenn sie es nicht getan hätte, so hätte die meine damit begonnen – denn auch ihr gefiel es nicht mehr in der deinen.

Am folgenden Tage – gestern – habe ich den ganzen Morgen hindurch wie wahnsinnig auf dich gewartet. Zu unruhig, um im Hause zu bleiben, hatte ich ein Wort hinterlassen, das dir sagen sollte, wo du mich finden würdest, nämlich auf der Werft. Lange war ich geblieben und hatte aufs hohlgehende Meer geblickt; aber ich litt zu sehr darunter, daß ich ohne dich hinausschaute; ich kehrte um, weil ich mir plötzlich einbildete, du wartest in meinem Zimmer auf mich. Ich wußte, daß ich am Nachmittag nicht frei sein würde. Magdalene hatte mir am Tage zuvor ihren Besuch angekündigt, und da ich damit rechnete, dich morgens zu sehen, hatte ich sie kommen lassen. Aber vielleicht verdanken wir nur ihrer Anwesenheit die einzigen guten Augenblicke dieses Wiedersehens. Ich hatte ein paar Sekunden lang die seltsame Illusion, daß diese ungezwungene Unterhaltung lange, lange dauern würde … Und als du dich dem Kanapee nähertest, wo ich mit ihr saß, und mir, indem du dich zu mir neigtest, Lebwohl sagtest, da konnte ich dir nicht antworten; mir schien, als sei alles zu Ende; unvermittelt hatte ich begriffen, daß du abreisest.

Du warst kaum mit Magdalene hinaus, als es mir unmöglich schien, unerträglich. Weißt du, daß ich noch einmal hinausging? Ich wollte nochmals mit dir sprechen, dir endlich alles sagen, was ich dir nicht gesagt hatte; schon lief ich zu den Plantiers … es war spät; ich hatte keine Zeit mehr, ich wagte es nicht … Ich ging verzweifelt nach Hause, um dir zu schreiben … daß ich dir nicht mehr schreiben wollte … einen Abschiedsbrief … weil ich endlich allzu deutlich fühlte, daß unser ganzer Briefwechsel nur eine große Spiegelung war, daß ein jeder von uns, ach, nur an sich selber schrieb, und daß … Jerome! Jerome! Ach, laß uns einander immer fernbleiben! – Ich habe freilich diesen Brief zerrissen; aber ich schreibe ihn dir jetzt fast ebenso noch einmal. Oh, ich liebe dich nicht weniger, mein Freund! Im Gegenteil, ich habe nie so gut gefühlt, selbst an meiner Verwirrung, an meiner Befangenheit, als du dich mir nähertest, wie tief ich dich liebte; aber voll Verzweiflung, siehst du, denn ich muß es mir wohl eingestehen, ich liebte dich aus der Ferne mehr. Schon ahnte ich es, ach! Diese so sehr ersehnte Begegnung klärt mich vollends darüber auf; und auch du, mein Freund, mußt dich, es ist nötig, davon überzeugen. Lebwohl, mein so sehr geliebter Bruder; Gott behüte und leite dich; nur Ihm darf man sich ungestraft nahen.«

 

Und als wäre mir dieser Brief nicht schon schmerzlich genug, hatte sie am folgenden Tage diese Nachschrift hinzugefügt:

»Ich wollte diesen Brief nicht abgehen lassen, ohne dich um etwas mehr Diskretion in dem zu bitten, was uns beide betrifft. Manches Mal hast du mich verletzt, indem du mit Juliette oder Abel von dem sprachst, was hätte zwischen mir und dir bleiben müssen, und das hat mir auch lange, ehe du es ahnst, den Gedanken eingegeben, daß deine Liebe vor allem eine Liebe des Kopfes ist, ein schöner Eigensinn der Zärtlichkeit und Treue.«

 

Zweifellos hatte die Furcht, ich möchte Abel diesen Brief zeigen, die letzten Zeilen diktiert. Welcher mißtrauische Scharfblick hatte sie gewarnt? Hatte sie jüngst in meinen Worten einen Widerschein der Ratschläge meines Freundes wahrgenommen? … Ich fühlte mich von ihm hinfort recht fern – wir folgten zwei divergierenden Wegen! Und diese Empfehlung war nicht erst nötig, um mich zu lehren, daß ich die quälende Last meines Kummers allein tragen mußte.

Die drei folgenden Tage wurden ganz von meiner Klage in Anspruch genommen; ich wollte Alissa antworten; ich fürchtete durch eine zu gesetzte Erörterung, einen zu heftigen Protest, durch das geringste ungeschickte Wort unsere Wunde unheilbar neu zu beleben. Zwanzigmal begann ich den Brief von neuem, in dem meine Liebe sich wehrte. Ich kann auch heute noch nicht ohne zu weinen das von Tränen gebadete Papier wieder lesen, die Abschrift des Briefes, den ich mich endlich zu schicken entschloß:

 

»Alissa, habe Mitleid mit mir, mit uns beiden! … Dein Brief tut mir weh. Wie gern würde ich über all deine Befürchtungen lächeln! Ja, ich empfand alles, was du mir schreibst: aber ich fürchtete mich, es dir zu sagen. Welche grauenhafte Wirklichkeit gibst du dem, was nur imaginär ist, und wie du es zwischen uns verdichtest! Wenn du fühlst, daß du mich weniger liebst … Fern von mir diese grausame Voraussetzung, die dein ganzer Brief Lügen straft! Aber was machen da deine vorübergehenden Befürchtungen aus? Alissa! Sowie ich dies mit der Vernunft fassen will, werden meine Worte zu Eis; ich fühle nur noch das Stöhnen meines Herzens. Ich liebe dich zu sehr, um geschickt zu sein, und je mehr ich dich liebe, um so weniger verstehe ich zu dir zu reden. ›Eine Liebe des Kopfes!‹ … Was soll ich darauf erwidern? Da ich dich mit meiner ganzen Seele liebe, wie könnte ich da zwischen meinem Intellekt und meinem Herzen unterscheiden? – Aber da unser Briefwechsel die Ursache deiner beleidigenden Anklage ist, da uns, die durch ihn Emporgehobenen, nachher der Sturz in die Wirklichkeit so hart zerschlagen hat, da du jetzt glauben würdest, wenn du mir schreibst, nur noch an dich selbst zu schreiben, und da auch ich noch einen Brief wie den letzten zu ertragen kraftlos bin – so bitte ich dich, laß uns eine Weile jeden Briefwechsel zwischen uns beiden einstellen.«

 

Im weiteren Verlauf meines Briefes legte ich im Protest gegen ihr Urteil Berufung ein und flehte sie im Namen unserer Liebe an, unserer Liebe eine neue Begegnung zu gewähren. Diese hatte alles wider sich gehabt: Umgebung, Statisten und Jahreszeit – ja, selbst unsere begeisterte Korrespondenz, die uns so wenig vorsichtig dazu gerüstet hatte. Nur das Schweigen sollte diesmal unserem Zusammentreffen vorangehen. Ich wünschte es mir im Frühjahr zu Fongueusemare, wo, wie ich glaubte, die Vergangenheit zu meinen Gunsten sprechen und wo mein Onkel mich wohl während der Osterferien auf so viel oder so wenig Tage, wie sie für gut befinden mochte, aufnehmen würde.

Mein Entschluß war gefaßt, und sobald mein Brief fort war, konnte ich mich in die Arbeit stürzen.

*

Ich sollte Alissa noch vor Schluß des Jahres wiedersehen. Miß Ashburton, deren Gesundheit seit einigen Monaten schwankte, starb wenige Tage vor Weihnachten. Seit meiner Rückkehr aus dem Dienst wohnte ich wieder bei ihr; ich verließ sie kaum und konnte ihren letzten Augenblicken beiwohnen. Eine Karte von Alissa bezeugte mir, daß ihr unser Gelübde des Schweigens noch mehr am Herzen lag als meine Trauer: sie wollte zwischen zwei Zügen lediglich zum Begräbnis kommen, dem mein Onkel nicht würde beiwohnen können.

Wir, sie und ich, waren fast allein bei der Totenfeier und folgten auch so der Bahre; wir schritten Seite an Seite dahin und wechselten kaum ein paar Worte; aber in der Kirche, wo sie sich in meine Nähe gesetzt hatte, fühlte ich mehrmals, wie ihr Blick zärtlich auf mir ruhte.

»Es ist doch abgemacht,« sagte sie in dem Augenblick, als sie mich verließ, zu mir, »nichts vor Ostern.«

»Ja, aber Ostern …«

»Erwarte ich dich.« Dann stand sie, nachdem sie dicht zu mir getreten war, ein paar Augenblicke da, die Stirn auf meine Schulter geneigt. Wir waren am Tor des Kirchhofs. Ich schlug vor, sie zum Bahnhof zu bringen; aber sie winkte einem Wagen und ließ mich ohne ein Wort des Abschieds allein.


 << zurück weiter >>