Friedrich Gerstäcker
Blau Wasser
Friedrich Gerstäcker

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Aus der See

 

Die versunkene Stadt

 

I

Hoch im Norden von Deutschland, wo die Weser ihre Fluthen in das Deutsche Meer oder die Nordsee ergießt, und unfern von der jetzt noch bestehenden Insel Wanger-Oog die äußerste Spitze des festen Lands bildend, lag vor langen, langen Jahren eine kleine, blühende Stadt, Hoogs Weg genannt, über der sich jetzt weit oben die grüne Woge thürmt und das Schiff mit vollen Segeln und tief furchendem Kiel dahinfliegt.

Die fromme Sage behauptet, daß die Einwohner damals ein gottloses, böses Volk gewesen seien – d. h. nicht gerade wohl bös gegeneinander und im Handel und Wandel, sondern besonders in ihrer gründlichen Verachtung alles dessen, was Kirche und Religion betraf.

Oben im Oldenburgischen und Hannöverschen lebt diese Sage noch im Munde des Volkes – die Einwohner jener Stadt, die sich durch Handel enorme Reichthümer erworben hatten, sollen in ihrem Stolz und Uebermuth gar nicht mehr gewußt haben, was anzufangen. Einen Siel oder eine Schleuße legten sie von reinem Kupfer an – ihren Pferden schlugen sie goldene Hufeisen unter, und hätten sie sich damit noch begnügt – nein, mit ihren Thieren ritten sie sogar in die Kirche, benutzten die heiligen Gebäude zu Ställen und riefen einmal in frevelhafter Lästerung den heiligen Diener derselben angeblich an das Bett einer Sterbenden, ihr das heilige Abendmahl zu geben, während sie ein unreines Schwein unter der Decke verborgen hatten.

Der Priester, der da solche Greuel erleben mußte, wußte recht gut, wie der liebe Gott, trotz all' seiner Langmuth und Nachsicht, solchen Frevel doch nicht länger würde mit ansehen können, und bat den Herrn, wenn die Stunde nahen sollte, um ein Zeichen, da er nicht im Geringsten die Absicht hatte, unter diesen, schlimmer als Heiden, und mit ihnen zugleich zu Grunde zu gehen.

Ein solches Zeichen kam auch – eines Tages stürzte die Köchin in sein Zimmer und schrie voller Entsetzen, »die lebendigen Aale kämen durch die Küchendiele herauf.« Der Geistliche wußte aber recht gut, was das zu bedeuten hatte; er ließ ohne Säumen anspannen, warf sich in seine Kutsche und jagte, was die Pferde laufen konnten, dem innern Lande zu.

Wunderbarer Weise verschweigt die Sage dabei, ob er die Köchin, die ihm doch eigentlich durch ihre Meldung das Leben gerettet hatte, mitgenommen habe oder nicht; aber in toller Hast ging es fort, bis plötzlich sämmtliche Stränge der Pferde rissen und der Wagen halten blieb. Bis zu dem Punkt aber sank hinter ihm der Boden weg, und dort, wo er halten oder vielmehr stecken blieb, steht das erste Haus wieder und heißt deshalb noch bis auf den heutigen Tag »zum Stick«.

So spricht die Sage. – Unschuldige und Schuldige wurden damals mit einander gestraft – denn man kann doch nicht wohl annehmen, daß der ganze Ort so entsetzlich verderbt gewesen wäre, nur Schuldige in sich zu schließen; aber nicht die Körper wurden vernichtet, die Seelen vor ihren strengen Richter zu ziehen und die Schuldlosen von den Schuldigen zu trennen, nein, die Stadt lebte fort. Nicht im Todesschlaf sollten die Frevler für ihre Sünden büßen, sondern im vollen Bewußtsein ihrer Strafe weiter existiren, ja ein endloses Dasein führen. Und so von der Welt, die Zeuge ihrer Missethat war, getrennt, liegt die Stadt noch heutigen Tages tief unten in der klaren Fluth, und der Fischer, der in Windstille oben in seinem Kahne schaukelt, hört wohl Morgens ganz früh das Geläute der Glocken, die zu spät die Sünder zum Gebet rufen, und Thüren schlagen und Wagen rollen; ja wenn die Sonne recht hell auf das durchsichtige, krystallreine Wasser scheint, wollen Manche schon sogar die Spitze des Kirchthurms, mit dem kleinen Kreuz darauf, tief aus dem dunkeln Abgrund haben hervorblitzen sehen. Das ist aber immer nur einmal zufällig gewesen, wenn sie gerade den rechten Ort und die rechte Stunde getroffen, und wer besonders danach ausfahren wollte, würde wohl manche lange Meile vergeblich rudern und am Ende unverrichteter Sache wieder heimziehen müssen.

So viel nur als Einleitung, um den Leser mit den ungefähren Verhältnissen, gewissermaßen dem historischen Grunde meiner kleinen Erzählung und dem bekannt zu machen, was sich noch jetzt die Leute darüber erzählen, daß er nicht am Ende gar glaubt, ich wolle ihm ein Märchen aufbinden. Die Geschichte ist auch eigentlich gar zu traurig, um vielen Spaß damit zu machen.

Es sind jetzt eben sieben Jahre her, da lebte im Innern von Deutschland, in der Nähe von Halberstadt, ein gewisser Regierungsrath Merkfeld. Er hatte drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter, alle drei schon ziemlich erwachsen und der erstere vor etwa anderthalb Jahren von der Universität zurückgekehrt. – Außerdem hatte aber der Regierungsrath auch noch eine Waise entfernter Verwandten zu sich genommen, und Elise war mit den drei Kindern ihrer Pflegeeltern wie eine zu ihnen gehörige Schwester aufgewachsen, ja, als sich später zwischen ihr und Eduard, dem Sohne Merkfeld's, ein innigeres Verhältniß zu entwickeln schien, wurde dieses von den Eltern mit Freuden gesehen und gebilligt. Sie liebten Elise wie eine Tochter und hofften, ihre Kinder dadurch beide glücklich zu machen.

Eine solche Zuneigung war übrigens natürlich genug – die beiden jungen Leute, zusammen aufgezogen, gewöhnten sich von Kindheit so aneinander, daß ihnen etwas zu fehlen schien, wenn sie kurze Zeit getrennt leben mußten.

Eduard Merkfeld war dreiundzwanzig Jahre alt und hatte sich durch vielleicht zu ernstes und angestrengtes Studium einen für sein Alter ungewöhnlichen Schatz von Kenntnissen zu sammeln gewußt; selbst nach Hause zurückgekehrt, ergab er sich wieder mit solcher Leidenschaft seinen Lieblingsstudien, der höheren Physik und Chemie, daß er endlich seine Gesundheit dabei zu zerrütten drohte und sein Vater schon längere Zeit von ihm verlangt hatte, er solle sich einmal auf ein paar Monate von seinen Büchern und Instrumenten losreißen und eine größere Tour durch Deutschland oder Italien machen. Des alten Regierungsraths eigener kränklicher Zustand, in dem der Sohn ihn nicht verlassen wollte, schob das aber immer noch hinaus, und dem Vater kam es auch fast vor, als ob sich Eduard nicht gern wieder auf längere Zeit von Elisen trennen wollte, in deren Gesellschaft er reichlichen Ersatz für jede Anstrengung seiner Arbeiten zu finden schien – und doch hätte man, nach erster Bekanntschaft mit den beiden jungen Leuten, im Leben nicht glauben sollen, daß so verschiedene Charaktere, wie die ihrigen, so innig zusammenpassen und sich einander anschließen sollten. Und selbst körperlich zeigte sich diese Verschiedenheit.

Eduard Merkfeld war schlank, ja zart gebaut, das edle, etwas bleiche Gesicht fast schön zu nennen, die Stirn gewölbt und hoch, das blaue Auge schwärmerisch, zu Zeiten aber voll von tiefem, innigem Gefühl und regem Geiste, der manchmal wohl recht in schwermüthigen Ernst ausarten konnte. Hieran trugen aber auch nicht selten seine Studien die Schuld, und seine Commilitonen auf der Universität hatten mehrmals sogar behauptet, daß er die Gabe eines höhern Gesichts – eine Art clair-voyance besitze, oder das sei, was der »gemeine Mann« schlechtweg ein »Neusonntagskind« nenne. Das leugnete er freilich, sobald man ihn darüber frug, auf das Hartnäckigste, wollte sich aber auch nie darüber in nähere Erklärungen einlassen. So viel war jedoch gewiß, daß er sich oft ganze Nächte lang in einem unnatürlich aufgeregten Zustande befand und dann am nächsten Morgen noch viel bleicher als gewöhnlich aussah und ungemein erschöpft und abgespannt schien.

Elise war von all' diesem das Gegentheil. – Eine kleine, niedliche, runde Gestalt, mit gesund rothen Wangen und dunkelbraunen treuherzigen Augen, gab es kein Praktischeres, sorglicheres Wesen für eine Wirthschaft, als gerade sie, und der ihr besonders eigene stille, geräuschlose Sinn für Ordnung und Reinlichkeit flößte Jedem, der nur in ihre Nähe kam, ein unwiderstehliches Gefühl freudiger Behaglichkeit und Zufriedenheit ein. Eduard's kleine Eigenheiten kannte sie nun besonders aus dem Grunde; sie verstand jeden seiner Blicke oder Wünsche, oft lange vorher, ehe er selbst sich deren bewußt war. Nur mit seinen Träumereien und schwärmerischen Ideen durfte er ihr nicht kommen, da lachte sie ihm gleich die Sorgen und Falten von der Stirne und plauderte ihm so viel liebes, tolles Zeug dazwischen hinein, daß es ihm all' die dunkeln Wolken, die sein Herz vielleicht umnachtet gehalten, im Nu vertrieb und er dann nicht selten mit ihr lachte und scherzte wie ein fröhliches Kind.

Er fühlte den wohlthätigen Einfluß, den sie dadurch auf ihn ausübte, und flüchtete nicht selten in ihre Nähe, um seinen eigenen Gedanken oder Phantasien zu entgehen. Manchmal aber schien ihn auch wieder, wenn auch zum Glück in höchst seltenen Fällen, dies »praktische« Wesen des holden Mädchens, wenn man es so nennen darf, zu verletzen, er suchte sie dann, wenn auch nur auf Momente, für seinen Ernst zu gewinnen, um ihr die Ahnung dessen zu verleihen, was in seinem Herzen, seinem Geiste mit unermüdlicher, schaffender Gewalt arbeitete und lebte. Aber Elise wollte sich auf solche »traurige Hirngespinste«, wie sie es nannte, selten oder nie einlassen, und es war dann wohl schon einige Mal vorgekommen, daß er plötzlich selbst ihre Nähe gemieden, sich auf sein Pferd geworfen und das Freie mit einer Hast gesucht hatte, als ob er seinen eigenen Gedanken entfliehen wollte, und jedesmal mußte er nachher Tage lang sein Bett hüten.

Den Vater beunruhigte dies besonders – er war ein Mann, der sich lange Jahre in der Welt umgesehen und das große herrliche Buch der Natur und der menschlichen Charaktere hauptsächlich zu seinem Studium gemacht hatte. Er sah die Neigung zwischen den beiden jungen Leuten und er freute sich derselben, dennoch aber wieder konnte er sich auch manchmal des Gedankens nicht erwehren, daß sie doch am Ende in der eigentlichen Seele ihres Charakters nicht zusammen paßten und dann mit einander unglücklich werden müßten.

Es ist diese Seele des Charakters nur der eigentliche Grundton der Harmonie der Herzen, nicht der Charakter selbst, wie er sich im Leben zeigt und ausspricht; es ist jener Nerv unseres Innern, jener uns selbst oft unbewußte Trieb, jene geheime Feder, die das ganze so unendlich kunstvoll zusammengesetzte System unserer Handlungen, ja sogar unserer Gedanken und Gefühle regelt, oft erst weckt, und das zuletzt als unsern Charakter erscheinen läßt, was eigentlich in der That nur Folge und Wirkung dieser so unendlich feinen, aber auch so unendlich gewaltigen Kraft in uns selber ist.

Die wirklichen Charaktere zweier Gatten mögen sich dann so verschiedenartig aussprechen wie sie wollen – der Mann mag hitzig oder jähzornig, die Frau sanft und duldsam – der Mann unerschrocken und kühn, die Frau schüchtern, selbst furchtsam – der Mann meinetwegen ein Gottesleugner und die Frau eine Pietistin sein, kurz beide können aus den heterogensten, sich widersprechendsten Stoffen an Körper und Geist bestehen, harmonirt nur in ihnen diese Seele des Charakters, dieser Trieb ihrer noch so verschieden sich zeigenden Handlungen mit einander, so können und werden sie gewiß und trotz allem Andern glücklich mitsammen leben können. – Sie verstehen sich von selber; in ihrem eigenen Herzen liegt für einander die Lösung dessen, was dem Dritten, Uneingeweihten, und stehe er ihnen noch so nahe im Leben, stets ein Räthsel bleiben wird, ja diese anscheinende Verschiedenheit der Charaktere kann sogar dazu beitragen, sie eins an das andere nur desto fester und inniger zu ketten.

Wählt aber dagegen solche aus, die in ihren Charakteren vollkommen gleich scheinen, die eine Grille oder Leidenschaft, die eine Religion und einen Glauben (zwei gewiß sehr verschiedene Sachen) zusammen haben, wählt mit einem Wort solche, die von der Natur allem Anschein nach ganz besonders für einander bestimmt schienen, und diese Seele ihres Charakters, diese Triebfeder ihrer im Aeußern noch so gleichen Handlungen harmonirt nicht mit einander, so mögen sie eine Zeit lang zusammen leben und sich auch äußerlich vielleicht zufrieden mit einander fühlen können, aber im Innern arbeitet's und nagt's, und die Zeit kommt, wo sie es sich selber nicht mehr verhehlen können, wenn sie es auch vor der Welt noch geheim halten möchten, daß sie einander verkannt und sich vielleicht beide auf Lebenszeit unglücklich und elend gemacht haben.

Eduard war sich aber, wie der Vater hoffte, zu klar seines eigenen Herzens, seiner eigenen Gefühle bewußt, um für den wichtigsten Schritt seines Lebens, für die Wahl einer Lebensgefährtin, eine übereilte Handlung fürchten zu dürfen. Er hatte vor tausend Anderen Gelegenheit gehabt, die Jungfrau, die er sich selbst gewählt zu haben schien, in ihren kleinsten, unbedeutendsten Eigenheiten, ihren Tugenden, ihren Schwächen kennen zu lernen, und sein richtiger Verstand mußte ihn dann auf die richtige Bahn lenken und zum Besten leiten.

So standen die Sachen, als im Frühjahr der Vater plötzlich starb und die Mutter durch den Tod des Gatten so angegriffen wurde, daß der Arzt eine Veränderung der Luft und Umgebung, um sie besonders ihren traurigen Gedanken zu entreißen, für unumgänglich nothwendig fand. Ein nordisches Seebad wurde hierzu am passendsten geglaubt, und da die alte Dame dadurch auch für ihren Sohn Zerstreuung und festere Gesundheit hoffte, ließ sie sich gern zu einer solchen Reise, mit ihrer ganzen kleinen Familie, bewegen. Ende Mai brachen sie deshalb nach Wanger-Oog auf, und das Neue, Eigenthümliche der ganzen Scenerie, die frische Seeluft und die klare, salzige Fluth versprachen schon nach den ersten Wochen ein höchst günstiges Resultat für alle ihre Erwartungen und Hoffnungen.

Eduard besonders schien körperlich vollkommen neu aufzuleben; die Farbe kam auf seine Wangen, das Feuer in seine Augen zurück. Sein Schritt selber wurde elastischer, kräftiger, und die Mutter sah mit stillem Behagen die große und günstige Veränderung, die durch die Seeluft und mehr noch vielleicht durch das Aussetzen jener anstrengenden und schwachen Körpern überhaupt so gefährlichen übertriebenen Studien in ihm hervorgebracht schien.

Eduard war aber auch nicht im Stande, selbst zu seiner Erholung, ein ganz unthätiges Leben zu führen, und er fand bald ein Mittel, sich eine Beschäftigung zu verschaffen, die ihn, wenigstens ihrer Neuheit wegen, auf kurze Zeit anzuziehen und zu befriedigen versprach.

Er lernte auf Wanger-Oog einen alten Fischer kennen, mit dem er fast täglich in See hinausfuhr und ihm fischen half. In wenig Tagen verstand er so gut ein Segel zu setzen oder einen RiemenRuder. zu handhaben, als ob er eben so viel Monate lang dabei gewesen wäre, und er fand bald so vielen Geschmack an dieser Bewegung, daß er sich selber eins der kleinen Boote kaufte und dann bei schönem, ruhigem Wetter seine Geschwister und Elise so weit hinausfuhr, daß sich die Mädchen zu fürchten anfingen und in der friedlichen Nordsee in jedem sich nähernden unschuldigen Fischerboot einen verkappten blutigen Piraten, in jedem leichten Nebelgewölk einen aufsteigenden Orkan befürchteten.

Eduard lachte sie nun zwar deshalb stets aus, er vermochte sie aber doch nie ganz zu beruhigen und blieb endlich mit ihnen lieber näher an Land, um nicht immer dieselben Vernunftgründe, solcher übertriebenen Aengstlichkeit gegenüber, gebrauchen zu müssen.

Besondere Freude fand Eduard in den Gesprächen mit dem alten Fischer, der noch, recht aus der alten Zeit stammend, sämmtliche Sagen der Umgegend auf das Genaueste und aus bester Quelle wußte. Er hatte den Klabautermann selber zweimal mit eigenen Augen gesehen, und oh wie vielmal unten im Raume – denn der alte Mann war auch lange zur See gefahren – wirthschaften und oben aus den Raaen herunter rufen hören, ja sogar die Meerweibchen getroffen, im Mittelländischen Meere sowohl als an der grönländischen Küste, wie sie sich die goldenen Haare mit einem eben solchen Kamme kämmten und Nachts dem Schiffer verführerische Lieder sangen, ihn in Gefahr und Tod zu locken. Auch die heimischen Sagen wußte er alle genau, denn sie waren ihm nicht blos von Eltern oder Muhmen erzählt, nein, von Jugend auf gleich mit in sein Leben eingeflochten worden, und keine alte Frau lebte an der ganzen Küste, von der er nicht genau die Anzahl Kühe kannte, denen sie die Milch verhext oder die sie sonst zu Schaden gebracht, die Nächte, die sie nach dem fernen Brocken gefahren, oder die Zaubersprüche und Tränke, die sie gesprochen oder gebraut hatte, um vielen Menschen Schaden, manchen aber auch wieder, denen sie wohl wollte, Heil und Segen zu bringen.

Der alte Hannsen war eine förmliche Chronik alter, vergangener Zeiten und Thaten, und Eduard fand ein geheimes, aber mit jedem Tag mehr wachsendes Vergnügen daran, in derselben zu blättern, und über den nicht selten sogar poetischen Bildern zu sinnen und zu träumen.

Ein Lieblingsthema für den jungen Schwärmer bildete die Sage von der versunkenen Stadt, die er eigentlich, wenigstens in ihren Hauptbestandtheilen, kaum als Sage annehmen konnte, da das Wegsinken jenes Landstrichs mit dem Städtchen darauf gewissermaßen historischen Boden hatte. Der alte Mann gerieth aber oft bei der Erzählung all' der Abscheulichkeiten, die sich die frevelhaften Bewohner jenes Ortes früher hatten zu Schulden kommen lassen, in ordentlichen Eifer, und sonderbarer Weise schien er das besonders für so entsetzliche Sünde zu halten, daß die Bauern und Bürger ihre Pferde mit Gold beschlagen hätten. Eduard vermochte ihm nicht auszureden, daß ein Mann mit seinem rechtmäßig erworbenen Eigenthum machen könne was er wolle, und daß es dann eine eben so große Sünde sein müsse, eine goldene Uhrkette und goldene Ringe zu tragen, als seinen Pferden Gold unter die Hufe schlagen zu lassen.

Der Ort, wo diese Stadt früher gelegen, wurde denn auch sehr oft zu ihren verschiedenen Ausflügen gewählt, und was der alte Mann dabei mit Fischen versäumte – denn er hätte an der Stelle nicht um einen Petruszug sein Netz ausgeworfen – wußte ihm Eduard schon wieder auf hundert andere Arten zu vergüten, und der Alte plauderte dann wohl Stunden lang ruhig und ungestört fort, während Eduard, über den Rand des Bootes gebeugt, da lag und in die Tiefe starrte. Aber keiner der so viel besprochenen Laute, kein Glockenton, kein Zuwerfen von Thüren, kein Wagenrollen wollte an sein Ohr tönen, und er schüttelte wohl gar oft mißmuthig den Kopf, daß entweder seine Sinne so stumpf seien, oder das Ganze wohl nur ein erfundenes, hübsches Märchen wäre, das im wirklichen Leben gar nicht existire und von vernünftigen Menschen auch nicht beachtet oder gar geglaubt werden dürfe. – Und doch waren ihm selber schon Sachen begegnet, die sich noch wunderbarer gestaltet hatten, als eben das wunderbarste Märchen klingen würde; er sprach aber mit keinem Menschen darüber, und trug die Gedanken nur still und heimlich mit sich im Herzen herum.

»Und sind noch nie von den alten Bewohnern der Stadt Einzelne an der Oberfläche des Wassers oder gar am Ufer gesehen worden?« frug er einst, als sie wieder auf der spiegelglatten Meeresfläche trieben, den alten Mann, der schweigend am Steuer saß und mit seinen großen, klaren, lichtblauen Augen nach der untergehenden Sonne hinüberschaute.

»Oh ja,« sagte der Alte leise mit dem Kopfe nickend – »ich selber weiß zwei Fälle. Der eine davon ist am meisten beglaubigt, denn der, dem es passirte, – ein Bremer Capitain – war ein äußerst vernünftiger und glaubwürdiger Mann, wie das alle Bremer Capitaine sind, und er hat es nicht allein, als er zurückkam, erzählt, sondern es ist auch nachher von all' seinen Matrosen bestätigt worden. Dies war mit einem alten, weißhaarigen Mann, das zweite mit einem jungen, wunderhübschen Mädchen – doch das ist weniger bestimmt.«

»Und wie waren die beiden Fälle?« frug Eduard gespannt.

»Nun seht, lieber Herr!« sagte der Alte, indem er auf die nahe Küste zeigte – »wenn der Wind recht von Norden herunterstürmt, so wäre dies ein gar häßlicher Platz, um einen Anker auszuwerfen und dann nachher von der bösen Dünung, die hier stehen kann, auf die Küste geworfen zu werden. Es fällt auch keinem Christenmenschen ein, das hier in solchem Falle je zu thun, er müßte denn durch die äußerste Noth dazu gezwungen werden, – und ich weiß nicht einmal, ob ich es selbst dann thäte. So kam es aber einmal, daß ein Bremer Schiff – den Namen habe ich selber vergessen, der thut aber auch nichts zur Sache, doch der Capitain hieß Meier – von einer langen Reise aus Ostindien zurückkehrte, und vom Cap der guten Hoffnung schon ziemlich derb mitgenommen, fing es hier in der Nordsee noch einmal recht an zu wehen. Es kann hier manchmal recht aus Leibeskräften blasen, und er bekam ein tüchtiges Unwetter auf die Nase.

»Zwei Tage hielt er sich so und suchte einen Lootsen an Bord zu kriegen, um in die Mündung der Weser einlaufen zu können, am dritten Morgen aber schlug ihm eine etwas ungeschickt kommende Welle das Ruder los, und er mußte nun, wohl oder übel, bis hierher getrieben, seinen Anker fallen lassen, wollte er nicht rettungslos auf die Küste jagen.

»Das Schiff mochte aber keine halbe Stunde, jetzt ruhig und mit dem Bug gegen die hoch aufspritzende See an, gelegen haben, und die Leute waren alle hinten am Steuer beschäftigt, um dieses soviel als möglich wieder so weit in Stand zu setzen, um wenigstens in den Fluß einlaufen zu können, als ganz urplötzlich ein greiser, wunderlich altmodisch gekleideter Mann an Bord kam – ohne daß sie irgendwo ein Boot entdecken konnten, das aber auch in dieser See gar nicht hätte leben können – schnurstracks zwischen den Leuten, die ihm scheu Platz machten, aber freundlich grüßend durch und geraden Wegs in die Kajüte ging, wo er den Capitain ohne weitere Vorrede bat, seinen Anker wieder zu lichten, denn er läge ihm justament unten vor der Hausthür und er hätte müssen zum Fenster heraussteigen, um hier nach oben kommen zu können.«

Eduard konnte sich nicht helfen, das Bild, was ihm der Alte in seiner gerade ernsten Stimmung vor die Seele rief, kam ihm so komisch vor, daß er laut auflachen mußte, und er bemerkte dabei gar nicht, wie sein alter Freund, darüber bis in's Innerste gekränkt, plötzlich still schwieg und finster und verdrießlich nach dem Segel griff, um dies zu setzen und nach Hause zurückzusteuern. Es erhob sich gerade eine frische, günstige Brise, und es war überhaupt schon so spät geworden, daß sie jedenfalls an den Rückweg denken mußten.

Den alten Mann ärgerte dies Lachen heute besonders; es war überhaupt des jungen Herrn Sitte bis jetzt noch nie gewesen, auch nur das Geringste, was er ihm erzählt, zu bespötteln oder gar rundweg abzulachen. Eduard merkte etwas zu spät, daß er gefehlt habe, und er suchte es jetzt wieder gut zu machen, für heute aber gelang es ihm nicht; der alte Mann beobachtete ein mürrisches Schweigen, und vergebens waren die Fragen Eduard's nach dem Erfolg des Besuchs oder nach dem zweiten Fall mit dem Mädchen; Hannsen gab ausweichende Antworten und vertröstete ihn auf ein andermal, und da jetzt auch gerade der Wind schärfer einstand und ihre Aufmerksamkeit mehr in Anspruch nahm, glitten sie mit total abgebrochener Unterhaltung rasch dem schwer von düsteren Schatten der Nacht bedeckten Ufer zu, über dem das Feuer des Leuchtthurmes wie ein rothglühender Meteor herniederschimmerte.

Zu Haus hätten sie den jungen Mann gern ausgezankt, daß er so spät draußen auf dem Wasser geblieben, er war heute aber ganz besonders guter Laune und erzählte den Seinen die gehörte Anekdote und den Ernst und Eifer des alten Hannsen, mit dem er sich beleidigt gefühlt, als er dem Märchen des Bremer Capitains nicht hatte so unbedingt Glauben schenken wollen. Er versprach auch den Mädchen, morgen mit ihnen nach der Stelle hinaus zu fahren, vielleicht daß sie dem alten Herrn wieder begegnen könnten.

Am nächsten Tag war glücklicherweise ausgezeichnet schönes Wetter, und die Partie kam zu Stande. Als sie die Stelle erreicht hatten, beschrieb Eduard den Mädchen all' die kleinen Einzelheiten, die er von dem alten Mann über die unter ihnen liegende, von den Wogen bedeckte Stadt gehört hatte, und wie da unten, tief unten, noch jene Wesen, von dem strengen Richter gestraft, ein nicht endendes Leben fortführten und gewissermaßen noch auf Erden schon die Strafe der ewigen Verdammniß litten und für die Sünden, die sie in frevelhaftem Uebermuth begangen, büßten.

»Aber was ist aus den Kindern geworden?« frug da Elise plötzlich und sah Eduard fragend an, als ob er der sei, der ihr darüber Antwort geben könne, »würde der liebe Gott die armen, unschuldigen Kinder, die doch gewiß nicht an der Sünde ihrer Eltern schuld waren, eben so hart gestraft haben als die erwachsenen, mit vollem Bewußtsein begabten Eltern?«

»Und wie manches arme, unschuldige Mägdelein,« scherzte Eduard, »mag trauernd an ihrem Fenster sitzen, hinausschauen in die grüne, davor hin und her wogende Fluth, und der Erlösung harren!«

»Spotte nicht über so etwas, Eduard!« bat Elise – »ich weiß nicht, ich bin doch sonst nicht so kindisch, aber es klingt mir gerade an der Stelle hier, wo wir uns befinden, wie Lästerung – es ist nur gut, daß es doch nur eben eine bloße Volkssage ist.«

»Volkssage?« lachte aber Eduard, der heute in einer besonders lebendigen, fast muthwilligen Stimmung zu sein schien, »laß Du das einmal meinem alten Hannsen hören und sieh zu, was er dann sagt. Aber was brauchen wir uns da lange mit Vermuthungen zu quälen, wo es eben nur eine einzige directe Anfrage kostet. Hallo, da unten!« rief er, plötzlich sich über Bord biegend und tief in die grüne, klare Fluth hinabschauend – »hallo! alter Herr – steigt einmal einen Augenblick herauf und sagt uns –«

»Das ist nicht recht, Eduard!« rief Elise und ergriff seinen Arm, in demselben Moment aber fühlte sie ihre Hand von der seinen mit einer wahren Eisenkraft gefaßt, daß sie hätte laut aufschreie mögen und den Schmerz nur mit Gewalt zurückhielt. – Eduard bog den Kopf noch nach unten – als er sich aber gleich darauf wieder emporrichtete, war sein Gesicht leichenbleich, und er sah die Mädchen mit einem so wilden, stieren Blick an, daß sie wie aus einem Munde riefen:

»Um Gottes willen, Eduard, was ist Dir – Du wirst krank!«

Im ersten Augenblick schien er ihre Worte gar nicht zu hören, dann aber strich er sich mit der flachen Hand langsam über die Stirn und sagte lächelnd:

»Oh, es ist nichts – mir wurde nur auf einmal so schwindlig – ich glaube vom Niederbeugen.«

»Und mir hast Du dabei fast die Hand abgedrückt!« sagte Elise mit einem leisen, freundlichen Vorwurf, aber immer noch dabei, wie ängstlich, in seine Augen schauend.

»Siehst Du, das war eine Strafe für Deine Lästerung!« lachte seine jüngere Schwester, »und es sollte mich gar nicht wundern, wenn ihn von da unten herauf irgend ein schreckliches Gesicht angestarrt und ihm gedroht hätte; aber, Eduard, Du bist wahrhaftig krank,« unterbrach sie sich schnell und ängstlich, »Du siehst todtenbleich aus.«

»Wir wollen nach Hause fahren,« sagte der junge Mann, die Ruder wieder in die Dollen werfend und der ältesten der Schwestern, die gewöhnlich bei diesen kleinen Partien am Steuer saß, mit dem Kopfe freundlich zunickend. »Komm, Sophie, Backbord-Steuer, mein Mädchen, richte den Bug Deines Bootes dem heimathlichen Port zu, wie der wandermüde Seemann nach langer, beschwerlicher Fahrt.«

Er suchte die seines plötzlichen Unwohlseins wegen besorgten Mädchen wieder aufzuheitern und den trüben Eindruck zu verwischen, den er auf sie im ersten Moment gemacht haben mochte, aber es wollte ihm nicht recht gelingen, und sein ganzes Aussehen strafte ihn auch dabei Lügen. Jene unterseeischen Bewohner wurden gar nicht mehr erwähnt, und bis sie an Land kamen, war die Unterhaltung ganz eingeschlafen; Jeder schien mit seinen eigenen, nichts weniger als heiteren Gedanken beschäftigt. Kaum am Ufer, gewann aber auch Elise rasch ihre muntere Laune wieder und beklagte sich nun bitter bei Mutter Merkfeld über den ungalanten Sohn, der ihr die Finger so zusammengepreßt hatte, daß die Zeichen der zwei Ringe, die sie daran trug, noch jetzt tief in das Fleisch eingeprägt standen.

»Und das nennt er wahrscheinlich einer Dame die Hand drücken,« sagte sie lachend.

Die Mädchen erzählten auch jetzt von Eduard's plötzlichem Unwohlsein und verlangten, daß er zu Hause bleiben und sich lieber zu Bett legen solle. Auch der Mutter kam das Aussehen des jungen Mannes heute ganz eigenthümlich vor, Eduard versicherte jedoch, daß ihm vollkommen wohl sei, aß auch ziemlich herzhaft zu Mittag, ließ sich dann aber nicht länger zurückhalten. Zum Vorwand nahm er ein Buch mit und ging wieder hinunter zu seinem Kahn, um in See hinaus und nach derselben Stelle hinzurudern, wo er am Morgen schon gewesen war. Erst Abends spät kehrte er zurück und ging gleich auf sein Zimmer.

 

II

So verstrich eine ganze Woche. – Der alte Hannsen war krank geworden und mußte mehrere Tage lang sein Lager hüten. Eduard war häufig bei ihm, um zu sehen wie es ihm gehe, und ihm auch allerhand kleine Erfrischungen und Stärkungen zu bringen; auch der Brunnenarzt mußte ihn besuchen, und da der alte Mann sonst noch kräftig genug und von eisenfester Constitution war, erholte er sich bald wieder, mußte sich aber doch noch schonen und durfte, wenigstens in den ersten Tagen nicht, so scharf er auch dagegen protestirte, in See und seinen alten Beschäftigungen nachgehen.

Eduard aber versäumte keinen Tag, nach seiner gewohnten Stelle hinauszufahren, und war in der letzten Woche so ernst und schwermüthig dabei geworden, daß seine Mutter endlich gerade in diesen Wasserfahrten eine neue Ursache zur Besorgniß fand und es schon bereute, diesen ernsten, monotonen Küstenstrand gewählt zu haben, um darin Aufheiterung und Zerstreuung für ein junges, thatendurstiges Menschenherz zu finden.

Die nächste Woche setzte besonders kalt und unfreundlich ein, es hatte die ganze Nacht geregnet und Morgens lag ein feiner, feuchter Nebel auf dem Wasser. Die Badegäste, meist an ein wärmeres, milderes Klima gewöhnt, hielten sich fröstelnd in ihren Zimmern und Fenster und Thüren fest verschlossen, der feuchten, unfreundlichen Luft soviel als möglich den Zutritt zu versagen; nur Eduard war nicht von seiner, ihm schon vollkommen zur Gewohnheit gewordenen Wasserfahrt abzuhalten. Er besuchte vorher noch einmal den alten Hannsen, der ihn ebenfalls bat, heute nicht hinaus zu fahren, da der Nebel dichter einsetzen und er von der Strömung zu weit mit fortgenommen werden könnte. Eduard ließ sich aber nicht irre machen, stieg in sein Boot und fuhr hinaus in den weißgrauen, feuchten Nebelschleier. An seiner Lieblingsstelle angekommen, nahm er die Ruder ein, streckte sich auf seinem Sitz aus, und schaute träumend nieder in die heute wohl klare, aber durch den düstern Wolkenhimmel auch ebenfalls düster und unheimlich gefärbte Fluth, als ob da drunten gerade all' das Ziel seiner Sehnsucht, seiner heißesten Wünsche läge.

»Und willst Du Dich mir nicht wieder zeigen, Du bleiches, schönes Mädchenbild,« sagte er endlich leise und seufzend nach dem stillen Wasserspiegel nieder – »bist Du mir nur erschienen, mich in wilder, trostloser Sehnsucht vergehen zu lassen? Und hast Du mir nicht versprochen, mir Dein geheimes Wunderreich zu erschließen und mich einzuführen in all' Deine räthselhafte, unerforschte Herrlichkeit? – Wozu ahn' ich, fühl' ich es denn in meinem Innern mit so gewaltiger, nicht falsch zu deutender Sprache, warum ruft es und klingt es laut in meinem Herzen wieder, daß ich hier an den Pforten einer neuen, uns armen Sterblichen so nahen und doch so entsetzlich fernen Welt stehe? Warum quälen mich meine Träume mit Deinem Bild, und warum hast Du mir selbst wachend schon, hier aus dem Krystall heraus, Deine holden Züge zugeneigt, wenn es nur war, um mich doch ohne Trost, ohne Aufschluß vergehen zu lassen und die Fasern meines Hirns zu Wahnsinn treibender Aufregung anzuspannen? Wie neckender Spott drängen sich dabei die tollen Erzählungen des alten Fischers dazwischen, wie Hohngelächter klingt es mir oft in den Ohren, und ich meine verzweifeln zu müssen, spräche es nicht auch laut und mit fester Zuversicht in meinem Herzen, daß ich Dich dennoch wieder sähe, Du holde, ernste Gestalt mit dem bleichen Antlitz und den wunderdunkeln Augen. Wie einen Schatz hab' ich Dein liebes Bild seit jenem Tage in meinem Herzen getragen und gehegt – neidisch, wie es ein Geiziger mit seinem Golde thun würde. – Ich kann es ihnen ja auch nicht anvertrauen daheim, ihre Sinne sind nicht empfänglich für das Gewaltige – für das Geheimnißvolle einer andern Welt. – Stumpf und starr an dem Irdischen klebend, dem sie gehören, drängt sie ihr Geist nicht aus der engen Sphäre hinaus, die ihnen die Natur gezogen, wie man einem Kinde verbietet die Schwelle zu überschreiten, die auf die gefährliche, von Menschen bedrängte Straße, die in die Welt hinaus führt. Nein, sie ahnen Dich selbst nicht, und ihr Spott, oh selbst ihr ungläubiges Lächeln würde die Wunde nur tiefer, nur brennender machen, die das Bewußtsein Deiner Existenz mir tief, tief in die Seele gegraben. Den Schleier Deines Reiches hast Du mir aber so gelüftet – einen einzigen Blick mir in die Herrlichkeit seines Innern verstattet, um in der nächsten Secunde Alles mit nur noch düsterer Nacht zu decken und mich jetzt in Schmerz und Sehnsucht an dem geöffneten und doch, oh so fest verschlossenen Heiligthum verschmachten zu lassen. Oh zürne nicht länger dem blinden Sterblichen, daß er Dich einst in seinem Wahn verspottet – steige herauf zu mir aus Deiner geheimnißvollen Tiefe, und fürchte nicht, daß meine Sinne zu schwach wären, Dich zu ertragen – daß ich nicht Muth besäße Dir zu folgen. – Nur Licht gieb mir, Licht – in Deine Augen laß mich noch einmal, oh nur ein einziges Mal schauen, und löse mir das Räthsel meines Lebens.«

»Lasse die Todten ruhen!« sagte da plötzlich eine weiche, leise Stimme an seiner Seite, und mit jähem Schreck fuhr er empor, denn dicht neben seinem Boot und über den Rand desselben schaute ein bleiches, wunderschönes Mädchenhaupt gar ernst und traurig zu ihm herüber.

Die langen, feuchten, rabenschwarzen Locken fielen ihr in schweren Massen über die marmorbleiche, hohe und edle Stirn, und unter den langen seidenen Wimpern blickten die dunkeln Augen so ernst, ja fast strafend auf den Verwegenen, der die Ruhe der da unten Schlummernden zu stören wagte, daß ihm das Blut im Herzen erstarrte und sein Puls zu schlagen aufhörte. Es war aber nur ein Moment, nur der Moment der ersten gewaltigen Ueberraschung, das endlich verkörpert vor sich zu sehen, was nicht seit Tagen allein, nein seit langen, langen Jahren die geheime, aber gewaltige und stets unbefriedigte Sehnsucht seines Herzens gewesen.

Doch war das auch in der That Wirklichkeit, was wie ein Traum seine Sinne zu umnachten drohte? – wachte er denn und sah er mit offenen, durch seine innere Aufregung nicht getäuschten Augen das holde, liebe Bild lebendig, frei und unabhängig von seiner eigenen Phantasie, selbstständig in eigener Kraft und eigenem, freiem Willen vor sich?

Er deckte auf wohl eine halbe Minute seine Augen mit der Hand – er sagte sich selber, daß er ein Träumer sei, der wilde Bilder seiner Einbildungskraft in täuschendem Leben an die Oberfläche seiner Seele gerufen habe – er schalt sich einen thörichten Schwärmer – als er aber die Hand zurückzog, fiel sein Blick wieder voll und unzweifelhaft auf das holde Antlitz des bleichen Kindes, und die Augen desselben blieben mit dem nämlichen Ausdruck, halb erregt, halb schmerzlich, auf ihn gerichtet. Jetzt faßte er auch die äußeren Umrisse der ganzen Gestalt in einem Blick, und er fühlte, er begriff mit einem heiligen Schauer, der ihm jeden Nerv seines Körpers in jauchzender Lust erzittern machte, daß die Lösung seines Lebens, wie jene geheimnißvolle und bis dahin so fest verschlossene Pforte einer andern Welt geöffnet vor ihm liege.

Die Gestalt tauchte aber nicht, wie er im ersten Augenblick geglaubt, aus der Fluth selber auf, sondern schaukelte dicht neben ihm in einem dünnen, schmalen Kahn, wie sie die Fischer wohl in kleinen Flüssen und auf Teichen benutzen, mit denen sie sich aber nie in die offene See hinauswagen. Ihre weiße, fast durchsichtig zarte Hand hielt ein schmales, kurzes Ruder, das sie jetzt neben sich niederlegte. Ihr Hals war, trotz der naßkalten Witterung, bloß und von einer einfachen rothen Korallenschnur geschmückt, und ihren schlanken Leib umschloß ein weißes, faltiges Gewand, das in der Mitte durch einen Gürtel grünen, fruchtbedeckten Seetangs zusammengehalten wurde. Auch durch ihre Locken wand sich ein einzelner dünner Zweig desselben.

Ihre Hand ruhte noch auf dem Ruder, und sie verwandte keinen Blick von dem staunenden Jüngling, in dessen Wangen jetzt das bis dahin gewaltsam gehemmte Blut mit voller, gewaltiger Kraft zurücktrat, und dessen Augen von einem fast überirdischen Feuer glühten.

»Bringst Du mir Kunde, Du holde Maid, aus Deiner Heimath?« rief er endlich mit leiser, fast bittender Stimme, »hast Du mein inbrünstiges Gebet erhört und Mitleid gehabt, mit diesem armen kranken Menschenherzen? Dank, tausend Dank, Du liebe bleiche Maid, denn Du weißt ja gar nicht, wie nur das Licht Deiner holden Augen schon Balsam ist für diese arme, von wilder Sehnsucht so lange gequälte Brust.»

»Aus meiner Heimath willst Du Kunde, Fremdling?« sagte endlich die Maid mit leiser Stimme, und die Worte klangen dem lauschenden Ohr des Jünglings wie Sphärenmusik höherer Welten; sie aber strich, sinnend dabei vor sich niederschauend, die dunkeln Locken aus der marmorbleichen Stirn, und wie halb bewußtlos dann kleine Zweige von dem Seetang, der ihre Hüften umschlang, abpflückend und von sich werfend, daß einige sogar in Eduard's Boot fielen, fuhr sie, mit einer wunderlichen Mischung von Singen und Sprechen fort:

    »Ich hab' es den Sternen am Himmel gesagt,
Den Weg mir nach der Heimath zu zeigen;
Ich habe die rauschenden Wipfel gefragt,
Die tanzenden Nixen im Mondes-Reigen,

    Den Regenbogen in seinem Glühn,
Die Blätter, als sie im Sturm sich hoben,
Die Wolken, wie sie da droben ziehn,
Die heulende Luft in der Wind'sbraut Toben,

    Das flüsternde Schilf an dem öden Strand,
Die Wellen, wie sie dem Sand entrollen,
Die wandernde Schwalbe vom fremden Land,
Daß sie die Heimath mir künden sollen.

    Umsonst – sie mochten nicht Rede stehn,
Es wollte mir Keines Antwort sagen;
Umsonst, umsonst war mein heißes Flehn,
Sie brausten davon und ließen mich klagen.«

»Auch Du?« sagte endlich Eduard, als die Maid schon lange geschwiegen und die Stirn wie in recht bitterem Schmerz und Nachdenken in die Hand gestützt hatte – »auch Du fühlst noch dieses Drängen und Sehnen? Und ist denn selbst nicht dort unten Ruhe und Frieden für das arme, gedrängte Herz?«

Die Jungfrau hob rasch den Kopf und sah den Jüngling mit wilden, erstaunten Blicken an.

»Dort unten?« wiederholte sie endlich wie überrascht von den Worten – »dort unten? Und was weißt Du von dort unten, Du armes, verblendetes Menschenkind? – Ja, dort unten ist Ruhe und Frieden, dort unten ruht das Herz aus von Qual und Jammer und unendlichem, oh so schwer getragenem Seelenleid – dort unten kühlt sich wieder das brennende Hirn, und die Träume – oh die bösen, bösen Träume schwinden. Nicht die tollen, zum Wahnsinn treibenden Gedanken hetzen Dich mehr, nicht die entsetzlichen Bilder, die Dein eigener wirrer Geist heraufbeschworen. – Dort unten – oh wie es so still und freundlich klingt, schon das Wort allein, tief, tief unter der grünen Woge, fern von dem Sorgen und Treiben der tollen, freudlosen Welt – dort unten. Aber suchst Du dort unten die Heimath? – armes, getäuschtes Menschenherz, Du; dort liegt Deine Heimath nicht, und wenn Du noch hier auf Erden –« und sie schaute ihn dabei mit wild verstörten, scheuen Blicken an und fuhr dann mit leiser, fast flüsternder Stimme fort – »nur noch eine einzige Seele hast, die Du Dein nennen kannst, nur noch ein einziges Herz noch, das mit Dir schlägt und mit Dir fühlt, oh dann bleibe oben an der warmen, lichten Sonne, am glänzenden Tage, der für Deine Augen geschaffen, denn da unten ist's kalt« – setzte sie schaudernd hinzu – »kalt und traurig, und keine Rückkehr giebt es für Dich mehr zu den Lebenden.«

»Und wenn mich die Sehnsucht nun triebe nach Deinem Lande der Ruhe, Du holdes Wesen?« – rief Eduard, leidenschaftlich die Hand nach ihr hinüber streckend, – »wenn es mich nun hinunterzöge mit Dir in unendlicher Lust und Seligkeit, und mein armes Herz hier oben verzehren und verderben müßte vor unendlichem Weh? –«

»Ich kenne das, ich kenne das,« sagte die Maid, still und unheimlich lächelnd mit dem Kopf nickend, »die Menschen hier oben nennen das Wahnsinn, – sie begreifen das nicht, wie es uns manchmal in Kopf und Herzen brennen kann, daß alle Fluthen des Oceans nicht im Stande wären, die Gluth zu löschen.«

»Und darfst Du mir Kunde bringen von jener geheimnißvollen Welt?« bat der Jüngling; »sollen mir Deine süßen Lippen den frohen Trost eines neuen Lebens bieten? – oh brächten sie den Tod, er wäre Seligkeit!«

»Kunde von jener Welt?« sagte die Jungfrau gar ernst zu ihm aufblickend, berührte dann mit einem ihrer zarten Finger die klare Fluth und hielt ihn langsam gegen den Jüngling ausgestreckt – »siehst Du den Tropfen hier?« fuhr sie fort, »nicht klarer und schwächer zittert er als Thau an der knospenden Rose, und doch hemmt er hier, wie ein diamantenes Thor, auch nur die leiseste Kunde von dort unten. – Nein, Freund,« setzte sie leise und geisterhaft lächelnd hinzu – »das Thor mußt Du Dir selbst öffnen und – es öffnet sich leicht – es weicht dem geringsten Druck – aber hinter Dir fallen die Riegel wieder in's Schloß, und eines Riesen Faust wäre machtlos gegen sie, wie des Menschen Hand gegen das schwingende Rad der Zeit.«

»So sei Du meine Führerin, freundlicher Geist,« rief der Jüngling in schwärmerischem Feuer – »zeige mir die Bahn, und führte sie durch alle Schrecken des Todes, ich fühle die Kraft in mir, sie zu ertragen. Ich habe gekämpft und gestrebt hier oben, den Drang meines Herzens niederzuhalten und mein Gleis in dem gewöhnlichen Menschenleben zu suchen, wie tausend Andere – ich habe geglaubt, ich hätte ein Wesen gefunden, das mich verstehe und dem ich mich anschließen könne in reiner, heiliger Liebe – aber Schatten sind es, denen ich nachgejagt, das Auge blendeten sie, und das Herz blieb kalt und unbefriedigt – diese innere, heiße, glühende Sehnsucht konnten sie nicht löschen, und nur dann, wenn es mich in wilder Hast hinaustrieb in die dunkle Nacht, in den heulenden Sturm, fühlte ich, wie sich mir die Schläfe kühlten und meine Pulse ruhiger schlugen.«

»Und was werden die Deinen sagen,« erwiderte ihm mit unendlich weicher, rührender Stimme die Maid – »wenn die Fischer Deine Leiche in ihrem Netz finden und sie hinein in die bis dahin glückliche Wohnung tragen? – hast Du auch daran gedacht, Verblendeter?«

Eduard barg schaudernd sein Antlitz in den Händen – wie ein jäher Schreck durchzuckte es ihn – der Gedanke an die Seinen – das von Kindheit an geflochtene, gewaltige Band hielt ihn noch fest, fest umklammert und schien ihn von dem Abgrund, an dem er stand, hinwegreißen zu wollen.

»Und möchtest Du hier oben bleiben auf der kalten, unfreundlichen Erde?« sagte er endlich traurig, während ihm die gefalteten Hände auf das Knie niedersanken – »möchtest Du zurückkehren in jene seelenlose, geschäftige Menschenwelt?«

»Ich? – ich?« rief da die Jungfrau und richtete sich wie in jähem Schreck empor in ihrem schwanken Kahn – »ich zurück in Kerker und Bande, wo der Geist hier frei über der Tiefe schweben und seiner Quäler spotten kann? – ich zurück zu menschlicher Qual und Oede, zu all' dem unsäglichen Jammer und Elend, das hinter mir liegt? – zu jenen endlosen Jahren einer Höllenpein, die das Herz noch in seinen innersten Tiefen erzittern macht und die keine menschliche Lippe im Stande wäre auszusprechen, ohne das Hirn des Hörers aus seinen Fugen zu drängen – ich zurück?« Und ein leises, krampfhaftes Lachen rang sich aus ihrer Brust, dann aber plötzlich den schönen Kopf emporwerfend, daß die dunkeln Locken ihr voll über Schultern und Nacken flogen, und die Augen an den mattblauen Himmel geheftet, der sich über dem jetzt dicht auf dem Wasser lagernden Nebel ausspannte, streckte sie die Arme nach oben und rief, wie in hoher, wilder Begeisterung:

»Dein bin ich, Vater, Dein da oben in der blauen Höhe; – frei ist mein Geist, frei wie der Sturm, der über die weite Tiefe braust; frei wie die Woge, die jauchzend die Schwester jagt; frei wie der Aar, der sich wolkenhoch durch den Aether schwingt; frei wie der Gedanke selbst, der bis zu Dir, Allmächtiger, hinauf flüchtet; – frei – frei – frei – hinter mir liegt jeder Schmerz, jede Qual der Erde, hinter mir jedes getragene Herzeleid, und jubelnd, jauchzend fliegt das Kind an's Vaterherz!«

Ihr Kahn war indessen dicht zu Eduard's Bootrand getrieben, mit den letzten Worten trat sie auf die äußerste Spitze desselben, und Eduard war es, als ob ein Heiligenschein die ganze feenhafte Gestalt umfloß.

»Oh, fliehe nicht wieder!« rief er in herber Angst und streckte die Hand nach ihr aus – »laß mich nicht hier allein zurück, von nun an in brennender Sehnsucht nach Dir zu vergehen und meine Seele aufzuzehren in wilden, quälenden Gedanken!«

»So komm!« sagte sie freundlich, und der Jüngling fühlte, wie ihre Hand die seine faßte; sein Arm schlang sich in wilder Begeisterung um ihren Leib, und im nächsten Augenblick schwanden ihm die Sinne, denn über ihm zusammen schlug die Fluth, und er fühlte nur, wie sie mit zauberhafter Schnelle tiefer und immer tiefer niedersanken.

 

III

Als er zuerst wieder die Augen aufschlug, sah er sich in einem weiten, wunderlichen Gemach, über ihn hingebeugt aber lehnte die schlanke, zaubersüße Gestalt, und ihre Lippen drückten sich in leisem Kuß auf seine kalte Stirn.

In ihrem ganzen Wesen war aber eine eigene reizende Veränderung vorgegangen – der ernste Schmerz um den holden Mund verschwunden, das trübe Weh aus den sanften, engelreinen Zügen wie mit tröstender Hand verwischt, und mit lieblichem Lächeln und Erröthen bog sie sich zu dem Jüngling nieder und weckte ihn mit den süßesten Schmeichelworten.

Eduard schlang seinen Arm um sie, zog sie sanft wieder zu sich und lag wohl viele Minuten mit geschlossenen Augen träumend da – er konnte sein Glück nicht fassen, und es war ihm immer, als ob es ihm mit jedem Augenblick wieder unter den Händen entschwinden müßte.

»Wach' auf, wach' auf, mein lieber Freund!« sagte aber endlich die weiche Stimme der holden Maid; »träume nicht länger und schlage die Augen auf; Du hast mit Deinem trotzigen Herzen das Ziel Deiner Wünsche erreicht, fürchtest Du jetzt, ihnen die Stirne zu bieten?«

»Fürchten?« rief der Jüngling und sprang rasch empor, »oh, wie wenig kennst Du mein Herz, Geliebte, wenn Du Furcht in dessen Tiefe suchst – fürchten? und bin ich denn nicht bei Dir? ist nicht mein ganzes Dasein Dir geweiht? Nein, das Einzige, was ich jetzt auf der Welt wirklich fürchte, ist, daß Du mir wieder entrissen werden könntest, und mein armes Herz müßte dann ja brechen, sollte es den Verlust ertragen.«

»Wenn Du's nur nicht selber müde wirst hier unten bei uns!« lachte aber das schelmische Kind und entwand sich seinen Armen; »doch sieh, die Fische kommen schon an's Fenster, sie wollen gefüttert sein, und Du bist schuld, daß ich sie heute habe so lange warten lassen. Nun schau' Dich hier im Hause so lange um, mein Vater wird auch bald heimkommen; er weiß schon, daß Du da bist – der alte Hannsen hat es ihm lange gesagt, daß Du zu uns heruntersteigen würdest.«

»Und kennst Du den alten ehrlichen Hannsen, Du holdes Kind?« frug Eduard rasch und erstaunt.

»Den alten Hannsen?« lachte die Jungfrau neckend – »was sollt' ich den nicht kennen, kennt ihn doch jeder Fisch hier unten in der ganzen Nordsee, und ist er nicht selber viel hundert Jahre alt, und eigentlich ein Verwandter von uns, von Mutter Seite!«

»Der alte Hannsen?« rief Eduard staunend.

»Ei, versteht sich,« sagte die Maid. – »Daß Du mich aber dann nicht immer mit »holdes Kind« und solch' anderen wohl recht lieb und gut klingenden, aber doch schwärmerischen Namen zu nennen brauchst, die ich wohl schon gerne höre, die mein Vater aber nicht recht leiden kann, so muß ich Dir wohl meinen Namen nennen, sie heißen mich hier unten Bonita, nach dem muntern springenden Fisch, der den Schiffer auf seinen langen Reisen in der Südsee begleitet – Du mußt es aber dann nicht machen, wie es die bösen Menschen da oben oft thun,« setzte sie plötzlich mit weicherer, recht herzlich klingender Stimme hinzu, »daß sie schöne, blitzende Haken auswerfen, die armen vertrauenden Bonitas damit zu bethören und zu verderben – die Menschen da oben sind schlimm genug, und Du wirst gewiß nicht so bös sein und Deiner armen Bonita weh thun wollen. Nein, ich weiß schon, ich weiß schon!« setzte sie aber schnell und lächelnd hinzu, als er betheuernd und bittend die Arme gegen sie ausstreckte – »wenn man Eurem Worte glauben dürfte, so seid ihr Alle treu wie der Felsengrund selber – nein, ich will Deinen Augen glauben, lieber Freund, denen trau' ich lieber als Deinen Worten. Aber jetzt ade, und in wenig Sekunden bin ich wieder bei Dir.«

Und wie ein Blitz glitt sie ihm unter den Händen weg und aus der Thür, und als er an das Fenster sprang, ihr nachzuschauen, schoß ein schlanker, silberblitzender Bonita draußen vorüber durch die krystallhelle, blitzende Fluth und verschwand gleich darauf in einem dichten Hain zackiger Korallen.

Eduard preßte die heiße Stirn gegen die kalten Scheiben des Fensters – war es denn Wirklichkeit, was ihn umgab und was ihm das Hirn schwindeln zu machen drohte? – Aber er konnte sich seinen Gedanken nicht lange überlassen, denn zu viel des Neuen, Fabelhaften stürmte auf ihn ein, um seine Sinne nicht alle und vollständig in Anspruch zu nehmen.

Das Gemach, in dem er sich befand, war hoch und gewölbt, die Wände bestanden, oder waren vielmehr mit einer Art Seetang bedeckt, die langen, guirlandenartigen Zweige zu bunten, phantastischen Mustern geflochten, aus denen die traubenförmigen, theils runden, theils länglichen Früchte oder Blüthenknospen, jedesmal wo sie zusammengeschlungen schienen, hervorhingen. Einzelne freie Räume hatte man aber dazwischen gelassen, und hier formten dicke Kränze blauer und goldgelber Seelilien künstliche Rahmen um wunderbar lebendig ausgeführte Bilder, die Thaten aus dem Leben berühmter Fische darzustellen schienen.

Das Haupt- und Mittelstück hiervon bildete ein mächtiger Walfisch, dessen Mitte an der einen Stelle durchsichtig war und einen Blick in das Innere desselben verstattete, wo ein kleines, dürres Männchen mit zusammengezogenen Knieen und gefalteten Händen anscheinend auf dem Boden saß und traurig vor sich hinstarrte. Der Walfisch aber selber blies das Wasser in gewaltigen Strahlen von sich, die kleinen Augen standen ihm weit aus dem Kopf, und das weite, breite Maul hatte er auf eine merkwürdige Weise verzogen, als ob ihn innerlich ein entsetzlicher Schmerz drücke oder er sonst ein Leiden habe.

Rechts davon hing der Delphin, der den Arion aus den Fluthen rettete, und links war der Kampf eines riesigen Haies mit einem Sägefisch abgebildet. Die furchtbaren Thiere wanden sich in grimmigem Kampf, und während der Hai seinen Gegner mit dem eisernen Gebiß festhielt, suchte ihm dieser mit der tödtlichen Säge den Bauch aufzureißen.

Zwischen den Fenstern, als freundliches Gegenstück zu dieser finstern Blutscene, hingen aber die Bilder zweier lieblichen Meerweibchen, die vollen üppigen Leiber nur noch verführerischer mit dem langen wallenden Haar bedeckt, das ihnen über Nacken und Schultern herunterfloß und auf den blitzenden Wellen sich mit diesen fast zu vereinigen schien. – Und oh, wie glich Bonita dem einen reizenden Bilde!

Aber von den Bildern ab wandte sich sein Blick bald den anderen, das Zimmer schmückenden Schätzen zu – und auf breiten, zierlich geformten Marmorplatten sah er mit staunenden Blicken alle Schätze der Tiefe hier angehäuft, wie sie verborgen liegen in den fernen südlichen Gewässern und wohl selten in solchem Reichthum eines Menschen Auge blendeten.

Perlen, wie sie noch nie selbst eines Sultans Turban schmückten – Ambra-Thränen in ihren duftenden Massen, rothe und blaue Korallen, Muscheln in jeder Form und Gestalt – Seeschwämme und Flechten wie aus dem feinsten Seidenstoff gewoben – Krystall-Vasen mit Goldstaub aus den indischen Meeren und kostbare Steine aus den Kronen der Seeschlange.

Der Boden des Gemaches selber war aus blauem und rothem Krystall kunstvoll zusammengesetzt und die Sitze im Zimmer aus mit weichem Seemoos dicht überzogenen Korallenarmen.

Eduard konnte sich nicht satt sehen an all' den Herrlichkeiten, und er begriff dabei nicht, wie er nur leben könne hier unten in den dicht von der Fluth bedeckten Räumen, während sich doch seine Brust so frei und leicht dabei hob, als athme er oben die gewohnte Luft seiner heimischen Berge.

Sonderbarer Weise schien aber dennoch ein bedeutender Unterschied zwischen dem Zimmer selbst und der da draußen liegenden Straße zu herrschen, denn während er sich hier frei und trocken bewegen konnte, quoll draußen vor den Fenstern die grüne, durchsichtige Fluth und füllte die Straße bis hoch über die Häuser hinauf, und die wunderlichsten, oft fast menschenähnlichen Fische schwammen darin auf und ab – hielten manchmal in der Mitte der Straße, wenn sie sich begegneten, still, wie um mit einander zu plaudern, und verfolgten dann wieder ihren Weg.

Die Straße selbst war wie aus einem uralten Bilderbuch herausgenommen; graue Giebelhäuser mit spitzen, hohen Dächern und schmalen, oft gerade, oft schräg laufenden Fenstern, die Außenwände mit Muscheln und Seetang an einigen Stellen förmlich bewachsen, an anderen sauber und rein gehalten und mit zierlichen Malereien und Muschelbildern geschmückt, wie es dem Geschmack der Einzelnen gerade zuzusagen schien. Vor jeder Thür stand ein hoher schattiger Korallenbaum, und an den Mauern waren nicht selten, wie wir daheim wohl Wein und Rosen an schlanken Staketen ziehen, weitarmige Polypen gepflanzt, die hoch über die Fenster hinaus, oft bis unter die vorragenden Giebel der Dächer wucherten. Am reizendsten sahen die Fenster dazwischen aus, hinter denen, in den Häusern selber, alle Blumen der Oberwelt in unendlicher Frische blühten und dieser stillen, heimlichen Welt wieder einen eigenen Anstrich alter, vergangener Zeiten gaben.

Auch Bonita's Zimmer schmückten eine Menge Rosen, Veilchen und Reseden, Narzissen und Aurikeln, und in den Fensterecken standen große, herrliche Wasserlilien nur eben in das Gesims gepflanzt, durch das sie die Wurzeln hinschlugen. Die anderen Landblumen hatten jedoch ihre eigenen Töpfe, oder vielmehr hierzu benutzte Muscheln, in die sie hineingepflanzt waren.

Am wunderlichsten erschien ihm der Himmel oben selber, denn als er dort hinaufschaute, kam es ihm vor, als ob sich oben über der glasigen Fluth graugelbe Wolkenmassen hinüberzögen, und durch diese hin konnte er doch auch wieder das lichte, nur grünlich, statt sonst blau schimmernde Firmament deutlich erkennen.

Wie er aber noch so auf die Straße hinausschaute, sah er einen ziemlich starken, eigenthümlich genug aussehenden Fisch den Weg herunter und gerade auf das Haus zugeschwommen kommen. Er hatte an seinem Körper die gewöhnliche stahlgraue Fischfarbe, auf dem breiten gemüthlichen Kopf – denn er gehörte keineswegs zu den Raubfischen – trug er aber ein kleines dreieckiges Hütchen und unter der linken Flosse einen langen, oben mit einem schweren goldenen Knopf gezierten Rohrstock.

Als Eduard noch erstaunt zu ihm hinausschaute, fuhr er plötzlich gegen die Thür, und im nächsten Augenblick trat auch ein wohlbeleibtes, stattliches Männchen, mit etwas altmodischem stahlgrauen Frack und gar weißen, langen Manschetten, mit kurzen Hosen und großen silbernen Schnallen auf den Schuhen, schwarz durchwirkten, ebenfalls grauseidenen Strümpfen, weiß gepudertem Kopf und kurzem, aber ansehnlichem Zöpflein, und hoch oben auf dem Scheitel den kleinen, scharf ausgezackten Hut, den langen, goldbeknopften Stock in der Hand, rasch in's Zimmer. Er schüttelte sich auch einmal, wie Jemand, der aus einem schweren Regen in das trockene Haus oder sonst unter ein Schutzdach kommt, und ging dann gleich, ohne, wie es schien, im Mindesten über die Ankunft des Fremden erstaunt zu sein, auf diesen zu, bot ihm freundlich die Hand und sagte mit herzlichem Gruß und Druck:

»Ei, sieh da, liebwerthester Herr Merkfeld, freut mich ja ungemein, Sie einmal bei uns hier unten zu sehen – sind schon so oft hier in der Nähe gewesen,« – meinte er mit einer lächelnden Bewegung des Stockknopfes nach oben – »daß ich mir immer dachte, wir würden auch einmal das Vergnügen Ihrer werthen Bekanntschaft hier unten haben. – Aber Sie machen sich's ja gar nicht bequem – Bonita – Bonita – wo steckt das Wettermädel nur wieder, bitte, legen Sie ab, lieber Herr Merkfeld, und thun Sie, als ob Sie zu Hause wären – hier unten können wir ohnedies nicht viele Complimente machen.«

Und er nahm auch, ohne weiter ein Wort des jungen erstaunten Mannes abzuwarten, dessen breitrandigen Filzhut, den dieser noch immer in Gedanken aufbehalten, und legte ihn mit seinem eigenen kleinen Hütchen mitten auf eine der Perlmuscheln, stellte dann seinen Stock in die Ecke und sagte, während er sich die beiden unteren Knöpfe seines Röckleins aufknöpfte:

»So – nun sind wir einmal wieder zu Hause, das ist jetzt feuchtes Wetter draußen, Herr Merkfeld – und wie geht's denn eigentlich da oben zu? – was macht mein alter Freund Hannsen? – der ist mir auch in den letzten acht Tagen nicht mehr zu Gesicht gekommen.«

»Lieber, bester Herr!« sagte Eduard – und er preßte sich mit beiden Händen fest gegen die Schläfe. – »Sie müssen es mir nicht übel nehmen, wenn mir's im Kopf noch wie mit einem Mühlrad herumgeht, – ich bin hier eigentlich zu Ihnen gekommen, ich weiß selbst kaum wie, und manchmal ist mir's noch immer, als ob ich träume und das Alles wieder mit dem ersten Hahnenschrei verschwinden müßte.«

Der alte Herr schmunzelte aber dabei mit dem ganzen Gesichte und nickte endlich gutmüthig lachend mit dem Kopfe.

»Ja, ja,« sagte er, »glaub's Ihnen gern, werthester Herr Merkfeld, glaub's Ihnen gern – ist mir selber die ersten hundert Jahre wunderlich vorgekommen; mit der Zeit aber gewöhnt man sich dann an alle die kleinen Sonderbarkeiten und Abweichungen vom gewöhnlichen Leben, und jetzt glaub' ich, spräng ich auseinander wie dürrer Lehm, wenn ich da oben wieder im Trocknen und in der heißen Sonne den ganzen Tag herumlaufen sollte. Sie glauben gar nicht, wie angenehm sich's hier unten wohnt – und denken Sie lange bei uns zu bleiben?«

Eduard schrak zusammen, denn in der Frage lag so viel heimlich Lauerndes, und die kleinen grauen Augen des Mannes blitzten dabei so scharf zu ihm herüber, daß er sich eines leisen Schauders nicht erwehren konnte; der alte Herr mochte das aber ungefähr in seiner Seele lesen, denn er sagte freundlich mit dem Kopf schüttelnd:

»Bitte, beunruhigen Sie sich nicht, liebwerthester Herr Merkfeld, sollte gar keine directe Frage sein, sondern war eigentlich nur bloße Redensart, denn wer hier zu uns herunterkommt, bleibt, wie allgemein angenommen, schon überdies bei uns. Aber Sie kennen unser Städtchen noch nicht – allerliebstes Plätzchen da unten – so lauschig und nett, wie kein zweites über oder unter dem Wasser auf der ganzen Welt – und es giebt sonst noch hübsche Stellen in den Seen. Besonders in der Südsee weiß ich so gar reizende Gegenden – haben die Korallen alle von dort hierher gepflanzt und noch manche andere Seltenheiten. Doch nachher führ' ich Sie überall bei uns herum, wollen schon gute Bekannte werden, lieber Herr Merkfeld, wollen schon gute Bekannte werden. – Aber jetzt werd' ich uns erst einmal ein Schlückchen zu trinken holen, mein sehr werthgeschätzter Freund. Ein Schlückchen hält, wie man da oben zu meiner Zeit sagte, Leib und Seele zusammen, und wenn wir das auch hier unten nicht gerade mehr nöthig haben, so thut's doch wenigstens einem oder dem andern der beiden gut. Und da kommt auch Bonitchen, um Ihnen so lange die Zeit zu vertreiben, bis ich wieder zurückkomme.«

Er glitt dem jungen Mann fast unter den Händen fort, an seiner Statt aber stand die Jungfrau in der Thür.

»Bonita!« rief Eduard, von staunender Lust ergriffen – denn wie ein Engelsbild höherer Welten lächelte die wunderliebliche Maid zu ihm herüber und streckte ihm freundlich ihre Hand entgegen.

Nicht mehr das weiße, schlichte Kleid, sondern ein lichtblaues golddurchwirktes Gewand umschloß in weichen, schmiegsamen Falten ihre schlanke, zarte Gestalt. In der Mitte wurde es durch ein künstlich geflochtenes goldenes Band zusammengehalten, dessen äußerste Enden, wie Thau an der aufsteigenden Sonne, von hundert kleinen leuchtenden Edelsteinen blitzten und funkelten. Durch die dunkeln üppigen Locken wand sich eine einfache Schnur reiner Perlen, mit dem Zweig des Seetangs in einander geflochten, und ein kleiner goldener Seestern hielt vorn das Gewand über der schwellenden Brust gefestigt.

»Bonita,« flüsterte Eduard und sank in jauchzender Seligkeit zu ihren Füßen nieder – »Bonita, mein süßes, holdes Lieb, oh wie schön Du bist und wie wohl, wie unendlich wohl nur Deine Nähe schon diesem armen, kranken Herzen thut – oh banne mich nicht wieder aus dieser Nähe, bleibe dem Armen, was Du ihm heute geworden – sein Engel – sein Führer!«

»Mein lieber Freund!« flüsterte die Jungfrau und hauchte, sich zu ihm niederbeugend, einen leisen Kuß auf seine Stirn, und dann ihn langsam und liebend zu sich emporziehend, sagte sie schmeichelnd: »Fort mit den düstern Falten von dieser Stirn – fort mit dem Schmerz aus dem sonst so klaren Blick – Du hast das Ziel Deiner Sehnsucht – das Ziel Deiner Wünsche erreicht, und wenn Du heut Abend Schwesterleins Reigen hier unten siehst und Zeuge sein wirst unserer heitern, innigen Lust, darf's Dich auch nicht gereuen, daß Du die kalten, häßlichen Menschen da oben verlassen und Einer der Unseren geworden bist. Oh, sie schelten uns, daß wir Fischblut in den Adern hätten, aber sie wissen, sie ahnen nicht, wie heiß und glühend diese Pulse pochen, diese Herzen schlagen können. Oder gereut Dich der Schritt schon, den Du gethan? Möchtest Du wieder hinauf zu ihnen – zurück zu –«

»Nein, nein, nein!« rief Eduard mit wilder Heftigkeit, seine Stirn in die Falten ihres Kleides bergend – »nur das, was mir jetzt noch das Herz in todesmarternder Pein durchzieht, ist die Angst, Dich – Dich wieder zu verlieren, Geliebte – ich fühle, daß ich wache; daß ich Dich sehe, daß ich Dich mit meinen Armen umschließe, und doch – doch quält es mir in wildem Zweifel die Seele, daß ich Dich wirklich halte und nimmer lassen dürfe. – Mir ist es immer, als ob ich eine gewaltige Hand sich nach dem schönsten Glück meines Lebens ausstrecken sähe und der nächste Augenblick mich unter den Trümmern meiner Seligkeit begraben müsse. Oh, nimm mir den Zweifel, Bonita – nimm mir den Zweifel!«

»Lieber Träumer!« flüsterte die Jungfrau mit weicher, seelenvoller Stimme – »aber habe guten Muth, die Zweifel schwinden schon allein – nur wahre Dich selber, Geliebter,« setzte sie dann ernst und fast wehmüthig hinzu – »wahre Dich selbst und Dein eigenes Herz; dort werden die Zweifel geboren, und sie könnten Dich und auch wohl mich noch recht, recht unglücklich machen. Still jetzt,« sagte sie wieder lächelnd, als er rasch und erschreckt zu ihr aufschaute – »still jetzt, lieber Freund, mein Vater kommt zurück, und stoße Dich nicht an den Wunderlichkeiten des alten Mannes. Er hat manchmal gar sonderbare, eigenthümliche Launen, meint es aber von Herzen gut und wird auch Dich wohl bald recht lieb gewinnen.«

Durch der Jungfrau lindernde Worte war es wie Frühlingstrost in sein wundes Herz gezogen. Mit Glück strahlenden Augen hob er sich empor, und die holde, erröthende Maid mit seinem Arm umschließend, rief er freudig:

»Ja, vertrauen will ich Dir, Du holdes liebliches Engelsbild, vertrauen mit festem, unerschüttertem Herzen; hast Du Dich mir ja doch zu eigen gegeben in all' Deiner jugendlichen Herrlichkeit, und mich vor mir selber gerettet und meinen nicht länger zu dämmenden Träumen. So nimm mich denn hin, Du Holde, und dieser Kuß der innigsten, heiligsten Liebe siegle und wahre den Bund unserer Herzen.«

Er hielt die sich zitternd zu ihm hinneigende Jungfrau mit seinem Arm fest umschlossen und preßte einen heißen, langen Kuß auf ihre Lippen.

»Bitte, geniren Sie sich nicht, Liebwerthester,« sagte in diesem Augenblick, dicht neben ihm, die wohl etwas spöttisch, aber doch freundlich klingende Stimme des Alten – »wollte Ihnen eine kleine Erfrischung aus meiner Vorrathskammer bringen, sehe aber, Dieselben haben schon eigenhändig zugelangt und scheinen mir auch einen vortrefflichen Geschmack zu besitzen, was die Wahl des Artikels betrifft.«

Eduard richtete sich schnell und erröthend empor, die Jungfrau blieb aber noch einen Augenblick lächelnd in ihrer Stellung und schlüpfte dann rasch aus der Thür hinaus.

»So, verehrtester Herr und Gönner,« sagte der kleine alte Mann, indem er einen ganzen Arm voll Krüge und Flaschen nach einander auf den Tisch stellte – »jetzt haben wir die Wahl aus dem Schönsten und Besten, was die Provinzen liefern. Hier ist z. B. vortrefflicher Madeira, zum vierten Mal die Linie passirt und dicht vor dem Hafen doch noch gescheitert – ich habe mir neulich zwei Kisten davon herübergeholt – er liegt gleich drüben vor Goodwin sands an einer vortrefflichen Stelle, und wir können noch lange daran haben. Oder hier, Allerbester, ist ein ausgezeichnetes Gläschen Shiedam – der kleine Schooner, der ihn vor acht Tagen erst von Amsterdam herüberbringen sollte, wurde in dem letzten schlechten Wetter, was sie oben hatten, leck und sank kaum eine halbe deutsche Meile von hier – hätte uns die Kisten beinah vor die Thüren gebracht, hi hi hi! Hier ist auch ein delicater Portwein aus einem englischen Schiff, das ohne Lootsen in die Weser einlaufen wollte – närrisches Volk die Engländer! – Der Capitain hatte den hier zu seinem eigenen Gebrauch mitgenommen, jetzt liegt er oben auf dem Sande.« Und dabei zeigte die kleine bewegliche Gestalt freundlich grinsend nach oben.

»Der Portwein?« frug Eduard zerstreut; aber der Kleine lachte noch viel stärker.

»Ei, verehrtester Herr Merkfeld!« rief er und sprang dabei mit einem Satz auf die Lehne des nächsten Korallenstuhles, wo er sich schaukelnd balancirte, »den Portwein haben wir ja hier, schwachsichtiges Menschenkindlein, mit Euer Edeln Erlaubniß – den Capitain mein' ich. Aber da kommt auch Bonita und bringt uns das Compactere unserer Mahlzeit, denn Seeluft zehrt, sagt man da oben, und Seewasser noch mehr, sagen wir hier unten, hi hi hi!«

Und in der That trat in diesem Augenblick Bonita wieder in's Zimmer, und zwar von ein paar kleinen allerliebsten Mädchen gefolgt, die eine Masse Teller und Schüsseln trugen und den Tisch bald mit einer Fülle von Sachen bedeckten, die unsern jungen Freund in Erstaunen setzten.

»Unser Gast darf auch nicht etwa glauben, Väterchen, daß wir hier unten von der Luft leben,« sagte Bonita lächelnd, als sie dem jungen Mann mit einem freundlichen Blick die Hand reichte und ihn zu einem Sitz führte, »es möchte ihm sonst am Ende nicht bei uns gefallen.«

»Ja, wir Fische sind eigentlich grimmige Raubthiere,« schmunzelte der Alte, »der eine frißt den andern, der größere immer den kleineren, wie das nun eigentlich bei den Menschen da oben gerade so der Fall ist, nur daß sie einander nicht braten – wenigstens hier in der Weser nicht – und da ist auch einer gerad' so wie der andere – selbst hier Bonitchen –«

»Väterchen!« bat das Mädchen und wurde feuerroth – »Du weißt, Du sollst nicht!« und sie hob scherzhaft drohend den Finger gegen ihn auf.

»Nun, hier haben wir auch etwas Gescheidteres zu thun,« beruhigte sie der Alte – »sehen Sie, verehrungswürdigster Herr Merkfeld, das hier ist etwas Delicates, was ich Ihnen empfehlen kann und was Sie hier auch nicht alle Tage bekommen – dies Kistchen mit fliegenden Fischen hat mir ein weitläufiger Verwandter vom Aequator geschickt – fett wie Butter, Herr Merkfeld, fett wie Butter, – oh es ist ein herrliches Wasser, wo die fliegenden Fische herkommen, ich bin selber schon mehrmals dort gewesen. Vortreffliche Korallenplantagen, ausgezeichnet gehalten und angelegt – habe mir selber einige von den Fischlein damals mitgebracht – habe ein ganzes Nest ausgenommen, hoch oben aus einem Korallenbaum heraus – war damals aber auch noch jung, liebwerthester Herr, auch so ein leichter Springinswasser, wie gewisse Leute, hi hi hi! – Aber was haben wir hier – ah, eine Flasche eingesetzte Tangrosen – delicat, Bester, delicat – hier Lotoskerne, wie sie auf dem Wasser des Südens wachsen – wie Mandeln – genau so wie Mandeln – und hier in Gelée gekochte Zitteraalflossen, ein Lieblingsgericht von mir, aber nicht Jedermanns Sache,« lachte der Kleine – »hat sonderbare Wirkungen manchmal, wenn man nicht daran gewöhnt ist – das aber zum Dessert, und vor allen Dingen wollen wir uns einmal mit diesem geräucherten Lachs und dem eingesetzten Seekohl begnügen. Kann ich Ihnen empfehlen, Herr Merkfeld, kann ich Ihnen empfehlen.«

Und der Alte aß und trank und lachte und schwatzte, und der Jüngling, von dem ganzen Neuen, Wunderbaren seiner Umgebung erregt, mit dem zauberischen Mädchen an seiner Seite, fühlte nicht, wie ihm die Stunden schwanden, und es war ihm, als ob ihm erst jetzt des Lebens Stern aufgegangen und die Pforten seligen Glücks weit, weit geöffnet wären. Da ihm Bonita mit gutem Beispiel vorangegangen, schmeckte es ihm ebenfalls vortrefflich, und er glaubte noch nie in seinem ganzen Leben so gut gegessen und getrunken zu haben.

Gegen Ende der Mahlzeit wurde übrigens der Alte immer lustiger, lachte und sang und erzählte tausenderlei Späße und Anekdoten.

»Da oben glauben sie,« rief er endlich, sein großes Humpenglas auf's Neue mit dem starken Portwein füllend, »daß wir Fische hier unten nichts als Wasser trinken – hi hi hi! Herr Collega – gefehlt, Durst haben wir, das ist richtig, immer gewaltigen Durst, aber Salzwasser? – nein, da dank' ich – zum Mundausspülen laß ich mir's gefallen, aber nur in äußerster Noth einmal zum Trinken; so bin ich überzeugt, daß ich z. B. schon gewiß seit den letzten zweihundert Jahren, keine halbe Flasche süß Wasser mehr verschluckt habe – es schmeckt Einem so fade, wenn man sich an das Salzwasser einmal gewöhnt hat. Jetzt wollen wir aber erst einmal ein Stückchen von dem Zitteraal versuchen, bestes Freundchen – sollen einmal sehen, was das für eine vortreffliche Wirkung auf die menschliche Constitution ausübt.«

Er wollte dabei Eduard die Schüssel hinüberreichen, da dieser aber fragend Bonita anschaute und sah, wie das Mädchen leise und lächelnd mit dem Kopf schüttelte, dankte er, und der Kleine sagte, dadurch nicht im Mindesten außer Fassung gebracht:

»Auch gut, Herr Collega, werden schon noch auf meinen Geschmack kommen, wenn Sie hier erst einmal so ein paar saecula im Nassen liegen. Aber noch ein Gläschen Wein, Freundchen, ist vortrefflich hier unten und hält uns die nassen Dämpfe aus der Nase.« Und dabei schenkte er sich selber noch einmal ein und schob sich ein großes Stück Zitteraal in den Mund.

Die Wirkung war zauberschnell und zeigte sich wunderbarer Weise in der äußersten Zopfspitze zu allererst – die fing an zu zittern und zu zucken, dann der ganze Zopf, dann die Perrücke, dann der Kopf und dann der ganze kleine Mann bis auf den Stuhl hinunter, auf dem er saß, selbst der Hut und Stock in der Ecke fingen an zu hüpfen und zu schlagen.

Eduard, der Gefahr für den alten Mann befürchtete, wollte zuspringen und erfaßte auch schon, ehe ihn Bonita selber daran verhindern konnte, seinen linken Arm, bekam aber in demselben Augenblick einen solchen elektrischen Schlag, daß ihm die Hand wie gelähmt an die Seite sank. Der kleine Mann wollte sich aber todt darüber lachen, und während ihm alle Glieder am Leibe flogen, als ob sie ihm abspringen müßten von der entsetzlichen Gewalt, und der Zopf ganz wie eine kurze, dicke Peitschenschnur hinten ausschlug und fitschte, schien er selber nicht allein keinen Schmerz, sondern sogar noch ein gewisses Wohlbehagen dabei zu fühlen. Nur erst als die Wirkung nachließ und die Glieder wieder ruhiger wurden, ja selbst der Zopf, der sich bei der ganzen Sache am ungeberdigsten gezeigt, wieder still und friedlich niederhing, begann sich eine Art Erschlaffung oder Mattigkeit bei ihm einzustellen, und er lehnte wohl zehn Minuten geisterbleich und überhaupt förmlich wie todt in seinem Stuhl.

Eduard fühlte sich dadurch geängstigt, Bonita beruhigte ihn aber wieder und sagte leise:

»Fürchte nichts, lieber Freund, es ist das eine häßliche Gewohnheit, welche die Männer hier unten angenommen haben. Ihr seid wunderliche Wesen, Ihr Herren der Schöpfung, und scheint es in der ganzen Welt nur immer darauf abgesehen zu haben, Eure geistigen Kräfte erst zu dem höchsten Grad ihrer Fähigkeit zu treiben und dann, fast wie mit Gewalt, wieder zu Grunde zu richten. Oben in der Luft und auf der trockenen Erde raucht ihr Tabak und Opium, und da Euch das hier unten nicht möglich ist, sucht ihr mit einer merkwürdigen Erfindungsgabe gerade das Schädlichste aus, was Ihr auftreiben könnt, um Euch für kurze Zeit aufzuregen und wo möglich besinnungslos zu machen – und das nennt Ihr Genuß.«

Eduard schaute ihr lächelnd in das von schönem Eifer geröthete Antlitz und zog leise ihre Hand an seine Lippen; in dem Augenblick schlug aber auch das alte Herrlein die Augen wieder auf. Er sah sich einen Moment ganz verwundert um, als ob er gar nicht wisse, wo er sich befände, und sagte dann, erst hinten an seinen Zopf und dann an seine Stirn fühlend:

»Ah so – ja so, Alles in Richtigkeit; aber Haifische und Seequallen! das war ein famoser Aal, von dem Haus werde ich mehr beziehen, der ist ausgezeichnet; und nun, mein werther Herr Merkfeld, wollen wir unsern gewöhnlichen Nachmittags-Spaziergang machen, auf dem Sie uns hoffentlich begleiten werden; allerliebste Gartenanlagen da draußen, vortrefflich eingerichteter Club und ein Raritäten-Cabinet – allen Respect, was Sie interessiren wird.«

Das alte Herrchen sprang auf, nahm seinen Hut und Stock und wandte sich, Bonita ganz dem jungen Mann überlassend, der Thüre zu; Eduard aber, der ebenfalls nach seinem Hut gegriffen, sah Bonita fragend an – und das schöne Mädchen lachte gerade heraus, als sie seine Bedenklichkeit errieth.

»Du hast mich heute hier als wirklichen Bonito von der Thür weggleiten sehen,« sagte sie neckend, »und glaubst nun, daß ich Dir wieder so unter den Händen fortschlüpfen werde, während Du nicht im Stande wärest, mir zu folgen – hab' ich nicht Recht, wie?«

»Freilich hast Du Recht, Du närrisches, liebes Kind,« sagte der Jüngling, aber doch noch immer ein wenig verlegen, »und wie soll ich Dir auch dahinaus folgen, da ich selber doch nicht eingewohnt bin in das neue, wunderliche Leben, und Dich dann verlieren würde in der, meinem ungeschickten Körper widerstrebenden Fluth.«

»Wir gehen aber heute in das Glashaus, Du armer, betrübter Freund,« neckte ihn das Mädchen, »in ein trocknes, solides, ehrbares Glashaus, wo Männer und Frauen zusammenkommen mit all' ihren menschlichen Schwächen und Thorheiten und Du Dich so wohl fühlen wirst, ›Verehrtester‹, wie Dich mein Vater immer nennt, wie wir Fische im Wasser. Aber komm, fürchte nichts, und unterwegs soll Dir noch Alles erklärt werden. Du mußt überhaupt noch Vieles hier unten lernen, und wirst hoffentlich ein recht braver, gelehriger Schüler sein.«

Und damit hing sich das zauberisch hübsche Kind an seinen Arm und zog ihn behend durch eine andere Thür, als die, welche nach der Straße führte, dem Vater nach, der schon ernst und ehrbar vor ihnen hinschritt.

 

IV

Eduard, mit der Jungfrau an seiner Seite, fühlte kaum, wie sie sich über den Boden fortbewegten – alle irdische Schwäche schien von ihm genommen, all' die trüben, quälenden Gedanken, die ihm bis dahin Herz und Seele, oh oft in so unerträglicher Pein beengt, waren verschwunden – die Welt lag hinter ihm, als ob er aus Lethe's Becher getrunken.

Die Scene, die sich jetzt seinen Blicken eröffnete, wäre aber auch geeignet gewesen, einen weniger schwärmerischen, dem Ueberirdischen nicht so zugeneigten Geist, als der Eduard's von je gewesen, zu fesseln und einzig und allein mit sich zu beschäftigen. Kaum verließen sie das Haus, so betraten sie einen weiten, krystallgewölbten, luftigen Gang, in den fast alle die benachbarten Häuser auszumünden schienen; dicht daneben aber und einzig und allein durch eine vollkommen durchsichtig und wie aus dünnen Eisschollen aufgeschichtete Wand davon getrennt, lag die klare, hellgrüne Fluth, und aller Verkehr des kleinen geschäftigen Fleckens zeigte sich in dieser fremden, sie umschließenden und doch von ihnen getrennten Welt. Fische von jeder Größe und Gestalt schwammen darinnen auf und ab, und nur an einzelnen Abzeichen ließen sich die verschiedenen Beschäftigungen der bald Vorüberschießenden, bald langsam und lässig Vorbeigleitenden erkennen.

Die ehrsamen Bürger trugen fast alle das kleine dreieckige Hütchen auf dem Kopf, manche ebenfalls, wie es Bonita's Vater gethan, einen Stock unter der Flosse, und diese gehörten jedenfalls zur besseren Klasse – manche hatten aber auch ein Schurzfell oder eine Schürze um, die ihnen oben durch die Rückenflosse befestigt wurde. Hier kam einer mit einem Paar neuen Stiefeln im Maul angeschwommen, dort brachte ein anderer Gemüse und Lebensmittel – Eier, wie sie das Seehuhn auf die Fluth legt, Flußkrebse, die sich zu weit aus ihrem heimischen Element gewagt, Austern, an den heimischen Felsen gesucht, und tausend andere Sachen, wie sie ihnen eben erreichbar gewesen, in einem Korb vom Markte.

Besonders auffallend war ihm aber ein großer, starker Lachs, der zwei Schweinefische vor eine gewaltige Muschel gespannt hatte und damit Kisten und Fässer, die er wahrscheinlich als gute Beute von einem dort irgendwo gestrandeten Schiffe aufgelesen, angefahren brachte.

Junge, niedliche Fischchen schwammen dazwischen herum, mit Häubchen oder kleinen niedlichen Hüten kokett hinten auf den Kopf gesetzt, ein paar sogar mit einem allerliebsten Cashmire-Shawl um und seine Spitzen um Seiten-, Rücken- und Schwanzflossen – die lieben Dinger wollen sich nun einmal putzen.

Am meisten amüsirten ihn aber für den Augenblick ein paar charmante Stutzerchen, Referendärchen vielleicht oder Ladenschwengelein, die den lieben Feierabend benutzten, hinter den Damen Ihrer Wahl herzuschwimmen. Die kleinen, seitwärts gesetzten, spitzen Hütchen, die Klemmlorgnette über den großen Fischaugen, die Vatermörder mit Busenstreif, und hinten an der Schwanzflosse die Strippe mit eingeschraubtem Sporn, ließen sich nicht verkennen, wäre das unter die rechte Flosse gedrückte, dünne Spazierstöckchen, mit dem Elfenbeinknopf an die Lippen gehalten, nicht schon überhaupt Abzeichen genug gewesen.

Auch eine Masse von Kindern spielte auf der Straße – kleine Wesen wie Stintchen, Sardellen und Häringe – und ein paar Wächter, wie sie in alten Zeiten wohl Sitte und Brauch gewesen sein mögen, mit rostigen Hellebarden über dem Rücken, die sie vorn mit der linken Flosse im Gleichgewicht hielten, schwammen langsam auf und ab, und schienen auf Ordnung zu sehen zwischen dem leichten, muntern Gesindel.

Da stob plötzlich Alles wild auseinander, als ob ein Habicht zwischen einen Flug Tauben hineingerathen wäre, nur die beiden Wächter hielten Stand und stiegen rasch etwas höher hinauf, und für einen Augenblick war die Straße total fischleer. Als Eduard aber Bonita fragend ansah, zeigte sie mit ängstlichem Blick nach oben, und er sah jetzt, wie ein großer, mächtiger Hai langsam über die Stadt hinschwamm und gierig mit den grünen kleinen Katzenaugen niedersah auf die auseinanderstiebende Schaar.

»Das sind böse, böse Thiere,« flüsterte Bonita schüchtern, und schmiegte sich ängstlich an die schlanke Gestalt des Jünglings – »entsetzliche Thiere, und sie schonen nichts, was ihnen in den Weg kommt, weder Alter noch Geschlecht.«

»Fürchte nichts, Du süßes, holdes Kind!« sagte aber der Jüngling, sie beruhigend, und legte seinen Arm leise um die holde Gestalt – »fürchte nichts, mein Herz, und überdies stehen ja die Wächter da oben und können ihn leicht mit ihren langen Spießen zurückhalten.«

»Ach, die sind nur so hoch aufgestiegen,« sagte das zitternde Mädchen, »daß sie nachher desto leichter in die Schornsteine hinabfahren mögen, wenn sich irgend wirkliche Gefahr für sie zeigen sollte – das sind nur Polizeidiener – und was Dir als Glas oder Krystall erscheint, ist nur der künstlich gehärtete Rand des Wassers, durch den das Ungeheuer so leicht hindurchfahren könnte, wie durch die Fluth da oben. Das ist derselbe schreckliche Hai, der mir auch schon die beiden Brüder und ein Schwesterchen gefressen hat.«

»Aber wo ist denn Dein Vater?« fragte Eduard und sah sich überall nach diesem um. Der ganze Saal oder Gang war jedoch im Nu wie leer geworden, und nur unter einer dichten Korallenstaude sah er, wie der wohlehrsame Stadtschreiber dieses Ortes – denn dieses achtbare Amt bekleidete er allerdings – sein Hütchen fest in den Nacken gedrückt, seinen Stock unter dem linken Arm und die beiden Hände auf dem Rücken, ängstlich und vorsichtig durch die Zweige nach oben schaute, und Eduard hätte in diesem Augenblick um sein Leben nicht sagen können, ob der alte Herr wirklich ein Fisch oder eine menschliche Gestalt sei, so ähnlich sah er beiden.

»Und habt Ihr denn keine Harpune, keinen Haken hier unten, womit man den Raubfisch erlegen oder fangen und unschädlich machen könnte?« frug Eduard sein zitterndes Mädchen, das sich fester und fester an ihn schmiegte, als das Ungeheuer immer tiefer stieg und wirklich nicht übel Lust zu haben schien, seinen Weg hierher keinen vergeblichen sein zu lassen.

»Um Deiner Sicherheit willen, Geliebter – sprich kein solches Wort mehr!« bat in fieberhafter Angst die Jungfrau; »siehst Du, wie er sich schon herunterneigt nach der kühnen Rede – er ist wilder heute als je.«

In diesem Augenblick machte der Hai einen raschen Angriff auf einen der bewaffneten Wächter – er hätte aber weit schneller sein müssen; wollte er den erwischt haben, denn wie der Blitz war er, seine Hellebarde rasch fallen lassend, in einem der Schornsteine verschwunden, und dort natürlich außer aller Gefahr, während der andere, der sich nicht mehr so hoch als die ihm nächsten Schornsteine wagen wollte, durch die erste beste Scheibe mit Hellebarde und Allem verschwand, und ebenfalls nicht wieder zum Vorschein kam. Zu gleicher Zeit öffnete sich dicht neben ihnen eine kleine schmale Thür, und eine Schaar kleiner Fische schoß unter die nächsten Korallenstauden, wo sich, als Eduard ihnen mit den Augen folgte, fünf oder sechs kleine Mädchen, allerliebste Kinder mit ihren Büchern und Schreibtafeln unter dem Arme, fest zusammendrängten und mit den lieben, von Thränen nassen Gesichtchen in bitterer Todesangst nach oben schauten.

Da litt es aber den jungen Mann nicht länger in nutzlosem Zuschauen, und er suchte sich rasch von der Geliebten los zu machen, die ihn jetzt aber nur noch fester und ängstlicher umklammert hielt.

»Laß mich, Du holdes Lieb!« bat der junge Mann mit dringender Stimme; »da draußen liegt die Waffe, die der feige Wächter von sich geworfen, und ich bin vielleicht im Stande, Dich auf immer von dem Ungeheuer zu befreien – sieh nur, es schwimmt schon wieder im Kreis, als ob es auf eine neue Beute losstürzen wollte – und soll ich denn hier warten, bis es Dich selber mir vielleicht aus den Armen reißt?«

»Oh bleib, bleib!« bat aber die Jungfrau; »weißt Du denn nicht, daß Dich die tückische Fluth, wie Du Dich ihr anvertraust, wieder nach oben führt? Und willst Du Deine Bonita auf immer verlassen?«

In demselben Moment, noch ehe der Jüngling die leidenschaftlichen Worte des Mädchens erwidern oder selber seinen Entschluß zur Ausführung bringen konnte, schoß aber der Hai plötzlich nach oben – dicht über ihm mußte sich eine andere, leichtere Beute gezeigt haben – kaum jedoch durch die helle Wolkenschicht hindurch, die über den Giebeln ihrer Häuser hinzuziehen schien – sahen sie plötzlich das Wasser schlagen und schäumen und brausen, und im Nu fuhr der Stadtschreiber unter dem Korallenbusch hervor und nach oben.

Bonita horchte hoch auf, und als Eduard noch staunend über das neue Unerklärliche, was um ihn her vorging, da stand, sprang sie plötzlich in die Höhe, schlug jauchzend die Hände ineinander und rief mit lauter, jubelnder Stimme:

»Sie haben ihn – sie haben ihn – der alte Hannsen hat ihn gefangen und uns auf immer von dem entsetzlichen Ungeheuer befreit – oh das brave, wackere Menschenkind!«

Und wie mit einem Zauberschlag schossen sie aus allen Winkeln und Ecken hervor, die wunderlichen Kinder dieses wunderlichen Ortes; unter allen Korallenzweigen und Büschen glitten sie heraus, unter jedem Tisch, unter jedem Stuhl, aus den Schubladen der altmodischen Schränke und Commoden, die in diesem seltsamen Clubzimmer standen, kurz überall, wo nur ein handbreiter Versteck für das allerkleinste Fischlein gewesen, lebte es plötzlich und kam an's Tageslicht.

Auch der Herr Stadtschreiber trat mit vergnügtem Händereiben auf den jungen Mann und seine Tochter zu, und sagte schmunzelnd und mit dem Kopfe gar bedeutungsvoll und seltsam dazu nickend:

»Sehen Sie, Verehrtester, das sind die Schattenseiten unseres freundlichen Stilllebens hier unten, und es erfüllt mich allerdings mit schmerzlicher Wehmuth Hochdero gleich einem solchen höchst unangenehmen Auftritt ausgesetzt zu haben. Sind nun wohl einige dreißig oder vierzig Jährchen, daß wir keine so große Bestie hier über unserem kleinen Städtchen gehabt haben, und ich weiß wirklich nicht, wie es uns ohne den, in der That lobenswerthen und aufopfernden Heldenmuth unserer beiden tapferen Wächter ergangen wäre, denn das Ungeheuer schien außerordentlich hungrig und würde in solchem unwünschenswerthen Zustande selbst nicht den Herrn Bürgermeister oder einen der Stadtältesten verschont haben.«

»Aber,« sagte Eduard und er konnte sich eines leichten Lächelns nicht erwehren, »sehr verehrter Herr, es wollte mir doch beinah' von hier unten vorkommen, als ob die beiden Wächter mit mehr Gewandtheit als Tapferkeit in Schornstein und Fenster hineingefahren wären, und hätte der alte Hannsen da oben, wie meine süße Bonita hier sagt, nicht den Hai so sehr zur rechten Zeit gefangen, wer weiß, wie es dann noch gegangen wäre.«

»Kriegslist, Liebwerthester, pure, reine Kriegslist!« rief aber der alte Herr mit einem triumphirenden Blick auf die Umstehenden, den Fremdling bei ihnen über die Taktik ihrer auserwählten Truppen belehren zu können. »Hätte sich der Hai nicht so genau zur rechten Zeit zurückgezogen, so wären sie ihm, der eine von dieser, der andere von jener Seite in die Flanke gefallen, und das Resultat möchte dann doch, mit Dero höchst gütiger Erlaubniß immer, das Wenigste zu sagen, äußerst zweifelhaft gewesen sein. Aber es wird spät, verehrtester Herr Merkfeld, die Gäste sammeln sich schon, und wir haben hier jeden Abend, nun schon seit über dreihundert Jahren, unser bestimmtes Partiechen Solo, da gewöhnt man sich denn zuletzt daran und setzt es nicht gern aus. Bonita wird Sie jedoch indessen ein wenig in unserem Garten und den freundlichen Anlagen herumführen, und nachher holt Ihr mich wieder hier ab, Kinderchen, nicht wahr, Verehrtester?«

Ein sonderbar abstoßendes Gefühl durchzuckte des jungen Mannes Seele, wenn der Alte mit seiner ungemein freundlichen, aber doch süßlichen und nicht treu klingenden Stimme sprach. – Es tönte ihm immer wie geheimer Spott in die Ohren, und er meinte ein paar Mal in der That, die Doppellarve des Alten müsse nun von einander fallen und ein scheußliches Teufelsantlitz daraus zum Vorschein kommen. Es war und blieb aber immer der Herr Amts- und Stadtschreiber Fischkopf, wie er es auch, seiner eigenen Aussage nach, diese letzten drei und vielleicht mehrere hundert Jahre gewesen, und – er war ja auch Bonita's Vater.

Doch dies Gefühl konnte nicht in seinem Herzen Wurzel fassen, so lange das liebliche Bild an seiner Seite weilte – ein Druck ihrer Hand, ein Blick ihres Auges rief ihm die ganze Fülle seines Glückes mit jubelnder Lust in die Seele zurück, und seiner kaum bewußt, legte er seinen Arm um den schlanken Leib der Maid und wandelte langsam mit ihr die weiten, seltsamen Gänge entlang, zwischen Schaaren plaudernder Gruppen von Männern, Frauen, Mädchen und Kindern, alle in ihren Sonntagsstaat gekleidet, durch. Er sah kaum, was ihn umgab, hörte nur mit halbem Ohr die leichten, flüsternden Bemerkungen, die über das junge Paar gemacht wurden, und schwelgte in dem einen seligen Gefühl, dem der Nähe der Geliebten.

Weit von den Uebrigen hinweg suchten und fanden sie ein stilles lauschiges Plätzchen, wo sie ungestört mit einander kosen und plaudern konnten; und dort, zu den Füßen des wunderholden Mädchens, seinen Kopf an ihr Knie gelehnt, ihre linke Hand auf seinem Scheitel, ihre Rechte mit seinen Küssen bedeckend, lauschte er ihren Worten, die ihm mit einer nie gekannten, nie geahnten Wonne das überselige Herz erfüllten.

Es war ein wunderliebliches Plätzchen, das sie gewählt – über ihnen wölbte sich ein riesiger, in phantastischen Formen auszackender Korallenstamm, von dessen Zweigen breitmächtige Guirlanden farbigen, krausen Mooses niederhingen. Dicht darum hingeschmiegt aber, und den Platz, wo sie saßen, fast einer Laube gleich überschattend, standen breitblättrige, wunderlich geformte Schwammgewächse, und das weiche Moos, das ihnen überall entgegenquoll, wo der eigentliche schmale Weg nicht mit buntfarbigen Schnecken- und Windenhäusern dicht ausgelegt war, lud schon überall selber zum weichen Ruhesitz ein.

Die Sonne mußte indessen am Himmel lange verschwunden sein, denn es dunkelte stark. Eduard sah aber jetzt zu seinem Staunen, daß sich diese unterseeischen Gänge, je mehr die Dämmerung eintrat, desto mehr und mehr von selber und eben so allmählig erhellten, denn überall in den Korallen- und Schwammbüschen, zwischen den Guirlanden und dichten Behängen von Seetang und dem hohen wehenden Seegras hin, das dahinter hervorragte, saßen breitmächtige, gläsern aussehende Quallen, die schon im Anfang ein schwaches grünlich phosphorisches Licht von sich gegeben, das aber mit dem einbrechenden Dunkel an Stärke rasch zunahm und zuletzt mit hellem Glanze leuchtete, während nichtsdestoweniger diese kleinen Grotten und Sitze in einem lauschigen Halbdunkel verborgen blieben.

»Nimmer hätt' ich es für möglich gehalten, Du holdes Lieb,« flüsterte er endlich, als seine Blicke den strahlenden Dom suchten, »daß außer Deinen süßen Augensternen, Geliebte, Deine Schwesteraugen, die holden Sterne des Himmels, bis zu uns herunterleuchten könnten, aber klar und freundlich stehen sie da oben am Firmament, und nur die neidischen Wolken decken manchmal ihren Glanz und verhüllen sie mit ihren Schleiern.«

»Närrischer Freund,« lächelte aber das schöne Mädchen, »wie magst Du glauben, daß das matte Licht Eurer irdischen Sterne bis nach uns hier herunterdringen könnte. Was Du für Wolken ansiehst, ist dasselbe, was Euch oben von der Oberfläche des Meeres, wenn Ihr herniederschaut, als Sand und fester Boden erscheint – so seid Ihr Menschen aber alle – Ihr mögt nach unten oder oben schauen – Ihr laßt Euch immer täuschen. – Und was Du für Sterne hältst, das ist ja dasselbe, was Ihr da oben das Meeresleuchten nennt, ob Du oben bist oder unten, immer sind's blitzende Sterne, die durch die Fluth ziehen – geheimnißvolle Wesen, die wir hier unten selber nicht ergründen können – und ohne sie würden wir hier in trostloser Nacht vergehen müssen.

»Und täuschen auch diese Sterne?« frug der Jüngling, indem er sie leise und liebend zu sich niederzog und ihre holden Augen küßte; »liegt auch in diesen Himmelslichtern Trug verborgen? – Nein, nein!« fuhr er rascher und leidenschaftlicher fort – »laß mich an Dich glauben, meine Bonita, wie an Gottes Auge selber, das über der Fluth und unserer Liebe wacht. – Sieh, früher,« setzte er leiser, fast wie mit sich selber redend hinzu, und spielte dabei in den Locken der Jungfrau, die ihm über die eigene Stirn niederfielen und mit den seinen sich mischten, »früher lag es, meine ganze Jugend hindurch, wie ein schwerer, entsetzlicher Traum auf mir, den ich nicht abschütteln, nicht fortdrängen konnte von meiner Seele. Ich ahnte, oh ich wußte, daß außer dem grob materiellen Wesen unserer menschlichen Natur noch eine andere, geistigere Welt existire – ich fühlte ihre Nähe in meinen Träumen, ich empfand den Einfluß, den sie mit gewaltiger Macht auf alle Fasern meines Herzens ausübte. Oft in dem lauten Jubel der Kameraden standen die stillen heiligen Luftgebilde vor meiner Seele und leiteten mich mit freundlicher, wenn auch unsichtbarer Hand aus den geräuschvollen Reihen. Aber sie verwundeten, wo sie heilen wollten, sie gaben das arme Herz der Verzweiflung preis, wo sie vielleicht zu trösten gedachten – oder waren es nur neckische Spukgebilde, die ihre Lust daran hatten, mir die Freude des Lebens zu verbittern und mich tollen, trügerischen Schatten nachzujagen? – So glaubte ich oft und suchte mich gewaltsam ihnen zu entringen, aber hartnäckig wollten sie ihren Platz behaupten, und Schritt für Schritt, ja Zoll für Zoll mußte ich ihnen den Boden abkämpfen, auf dem sie sich eingenistet. Schon hatte mich die Welt mit all' ihrer kalten Wirklichkeit fast wieder in ihr Garn gezogen, nur die Träume ließen sich nicht zurückzwingen und warfen sich um so viel kampflustiger meinem Geist entgegen, je mehr ich ihre Schwestern, die Gedanken, zu bändigen strebte. – Da, bei jener Wasserfahrt, tauchte mir zuerst Dein holdes Antlitz plötzlich aus der Fluth entgegen, meine Bonita – es war nur für einen kurzen Moment, wie das Zucken einer Wimper, aber es hatte genügt, sich wie die Bilder, die des Menschen Hand dem flüchtigen Sonnenstrahle raubt, tief in meine Seele zu graben, und von dem Augenblick an wußt' ich, daß meine Träume nicht gelogen, daß jene stillen, heiligen Bilder meiner Seele kein Trug und Schaum gewesen. Von dem Augenblick an gehörte ich Dir, bis Du mir in Deiner ganzen Herrlichkeit vor das lebendige Auge tratest und mir die Hand helfend, liebend entgegenreichtest.«

»Du lieber, lieber Freund,« flüsterte das holde Mädchen und preßte ihre Lippen fest und innig auf die Stirn des Jünglings; »aber wird Dein Herz auch so aushalten in treuer Liebe und Innigkeit?« setzte sie langsamer und fast traurig hinzu; »wirst Du Dich nicht wieder hinaufsehnen zu den Deinen, an die frische blaue Luft und auf die grünen Berge und Höhen? Wirst Du das freundliche Licht der Sonne und die heimischen Klänge der Glocken und lieben Stimmen entbehren und für alles das – oh denke, was Du da oben verloren – für alles das nur in der einzigen Liebe eines armen Mädchens Ersatz finden? – Oh, betrüge Dich nicht selber,« bat sie ihn, als er sie betheuernd umschlang und seine Augen von einem fast überirdischen Feuer glühten, »betrüge Dich nicht selber, Geliebter. Jetzt ist Dir noch der Rücktritt frei – noch bist Du keiner der Unseren, nur Dein fester Wille – denn der Wille des Menschen hat eine furchtbare, ihm selber wohl noch unbekannte Kraft, wenn er sich mit seiner ganzen Stärke auf den einen erwählten Punkt wirft – nur dieser hat Dir den Eingang zu uns gebahnt, aber das erste Gefühl der Sehnsucht, der erste heimliche Wunsch nach oben, der, Dir selber vielleicht kaum bewußt, in Deinem Herzen reift, reißt Dich mit wilder, rettungsloser Gewalt aus meinen Armen und wieder in Deinen Luftkreis, in die Bahn hinein, die Dir bei Deiner Geburt vom Schicksal vorgeschrieben. – Wirst Du im Stande sein, den zu bekämpfen, nur die kurze Zeit zu bekämpfen, die Dir zu Deiner Prüfungszeit durch unsere unwandelbaren Gesetze bestimmt ist?«

»Und warum eine Prüfungszeit?« bat der Jüngling; »ist nicht mein ganzes Leben eine solche gewesen? war es nicht das einzige stete Streben meines Geistes, der mich mit oft bis an Wahnsinn grenzender Kraft zu Dir, dem damals nur noch geahnten Ziele meiner heißesten Wünsche, herüberzog? – Kämpfte ich nicht dagegen mit all' jenen logischen Lügenschlüssen an, die sich die Menschen da oben in förmliche Systeme aufgebaut, und aus denen sie eine eigene, dürre, reizlose Welt geschaffen haben? – Diese beschauen und beliebäugeln sie nachher, finden sie praktisch und mathematisch richtig und fühlen nicht, daß ihnen das Herz darüber zu Grunde geht und im Bau jener Truggebilde der eigene Boden unter den Füßen schwindet. Nein, nein, Bonita, verlangen die Meister dieses wunderbaren Reiches einen Beweis für meine Ausdauer, eine Bürgschaft für mich selber, so lasse sie einen einzigen Tag – eine Stunde meines vergangenen Lebens nehmen, sie mögen sie herausgreifen, wo sie wollen, und sie werden sehen, daß ich ihrer würdig bin.«

»Aber die Prüfungszeit ist nicht zu ihren, sondern zu Deinen Gunsten, Du lieber Freund,« sagte die Jungfrau, und ein wehmüthiges Lächeln überflog, wie ein matter Sonnenblick, das von Schmerz durchzitterte Antlitz. »Sie haben mich Alle hier unten lieb und würden sich meines Glückes freuen, aber sie wollen auch nicht, daß ihnen ein Sterblicher ein Opfer bringe und sich nachher unglücklich zwischen ihnen fühle. Alle die wir hier unten leben, haben kein Band mehr, das uns an die obere Kruste der Erde bindet. Abgeschnitten und todt liegt, was da oben ist, hinter uns; kein Gedanke, keine Sehnsucht zieht uns hinauf, und so leben wir glücklich, zufrieden und – so hättest Du selbst da oben gelebt, hätte Dich nicht Sehnsucht und Ahnung zu uns herunter gezogen.«

»Und giebt es kein Mittel, diese Prüfungszeit abzukürzen?« bat der Jüngling mit dringend flehender Stimme; »liegt es nicht in des Einzelnen Kraft, die Bande, die also durch die Zeit geschwächt werden sollen, mit einem kräftigen Schlage zu zerreißen?«

»Oh, die Zeit ist so kurz!« bat Bonita, und ihr Gesicht wurde todtenbleich.

»Also es giebt ein solches!« rief Eduard freudig, der ihre Bewegung entdeckte; »oh, nenne es, Geliebte, nenne es, und laß mich dann Dir beweisen, daß ich werth bin, Dich zu besitzen!«

»Wir müssen es Dir nennen, wenn Du es verlangst,« sagte das Mädchen traurig, und zwei große perlende Thränen zitterten an ihren Wimpern. – »Oh, Du böser, böser Mann, ich fürchte, Du hast Dir selber dadurch gar entsetzlich wehe gethan. – Oh nicht jetzt, nicht jetzt!« bat sie aber, als der Jüngling fragend, drängend zu ihr aufblickte, »noch wenige Stunden bleiben uns, laß sie uns nicht muthwillig und mit eigener kalter Hand zerstören. – Wenn sich die Tage scheiden, um zwölf Uhr, wird Dich mein Vater rufen – unsere geheimnißvollen Boten haben Deinen Wunsch schon zu seinem Ohr getragen. Und nun fort mit diesen trüben Gedanken und Bildern!« rief sie, seine Stirn mit ihrer Hand leise überstreichend und sie küssend; »die kurze Stunde gehört noch uns, dahinter liegt die Zukunft schwarz und in Nebel gehüllt, und wehe der Hand, die den Schleier lüftet, ehe der richtige Augenblick gekommen.«

In Eduard's Herzen hatte aber ebenfalls das Bewußtsein, das eigene Schicksal in den Bereich des eigenen Armes gebracht zu haben, einen fast zauberartigen Einblick ausgeübt – sein Auge blitzte in freudigem Stolz, in dem Selbstgefühl seiner Kraft, die ganze Gestalt hob sich und seine Lippen flossen über in jubelnder, jauchzender Seligkeit. Bonita aber saß still und wehmüthig lächelnd dabei und schien mit schmerzlicher Lust den lieben schmeichelnden Tönen seiner Stimme zu lauschen. Er hatte sich neben sie gesetzt und seinen rechten Arm um ihre Hüfte gelegt, während er mit der Linken ihre beiden Hände gefaßt hielt und ihr liebes Haupt an seiner Schulter ruhte.

»Ist mir's doch selber fast wie ein Traum,« sagte sie endlich leise und wehmüthig, »daß ich hier bei Dir bin und mit Dir plaudern und kosen kann. Oh, als ich Dich da oben in Deinem Kahn sah, wie Du manchmal so still und schmerzlich hier herunterschautest, und es mir, wenn ich Dich so von Weitem beobachtete, manchmal recht weh im Herzen wurde, da flog mir wohl dann und wann eine Ahnung durch die Seele, daß ich Dich einst noch mein nennen und Dir dann all' den bittern Schmerz und das schwere Leid von der Stirne streichen könne. Jetzt aber, da ich Dich wirklich hier halte, da Du zu mir gekommen bist und mir gesagt hast, wie lieb ich Dir sei, ach da weiß ich nicht, wie weh es mir im Herzen ist, denn da spricht's und flüstert's in einem fort mit recht grausamer, marternder Stimme, daß ich Dich ja doch nur wieder verlieren würde und nicht halten dürfe in der Tiefe, die Dir eben keine Heimath werden könnte, und die sonst immer so fröhliche, heitere Bonita müßte ja dann gar recht unglücklich und elend werden.«

Und das Mädchen barg ihr Gesicht schluchzend an seiner Brust und weinte, als ob er ihr schon jetzt entrissen wäre und nie, nie wieder heruntersteigen dürfe zu dem treuen Herzen.

Eduard suchte sie lange mit all' seinen süßesten Schmeichelworten zu trösten – ihr Schmerz schien nur tiefer und heftiger zu werden, endlich richtete sie sich aber wie gewaltsam empor, sah ihn mit den noch thränenvollen Augen lächelnd an und sagte leise:

»Du hast Recht, mein Freund – ich bin ein Kind, daß ich mich solchem Schmerz hingebe, jetzt, wo Du noch mein, mir noch nicht genommen bist. Ich kann ja noch hoffen – brauche ja noch nicht zu verzweifeln.«

»Aber Du trautes Lieb,« sagte Eduard, sie inniger an sich pressend, »wenn ich die Probe selbst nicht bestände, von der Du so Entsetzliches zu fürchten scheinst – wäre dann gar keine Rückkehr mehr zu Dir möglich?«

»Möglich?« sagte sie traurig und kopfschüttelnd; »möglich wohl, ja, aber die einmal unserem Reich entflohen sind, die einmal das helle Licht der Sonne da oben wieder gesehen haben, kehren nie mehr zu uns zurück. Sie fürchten die kalte Fluth und was sie birgt, und manches arme Mädchen hier unten hat recht arges Weh gelitten um Euch böse, leichtsinnige Menschenkinder. Nein, mein Freund – noch will ich hoffen, daß Du bestehst – hoffen mit der ganzen Kraft meines innersten Herzens, und der Allmächtige da oben, der Land und See, Luft, Feuer und Liebe zusammenhält, wird Dich mir ja bewahren und zwei Herzen, die sich so innig zugethan sind, nicht von einander reißen mögen.«

»Land und See? – Luft, Feuer und Liebe? – sagtest Du, Du herziges Kind?« frug Eduard, im freudigen Dank für die vertrauensvollen Worte ihr liebes Haupt fester an sich drückend, während seine Lippen auf ihrer Stirne ruhten; »wie? zählst Du die Liebe zu den Elementen?«

»Und thust Du das nicht?« sagte sie staunend, ihre großen dunkeln Augen zu ihm aufschlagend; »was die Luft dem Wasser, was das Feuer der Erde ist, das ist die Liebe dem ganzen Weltall, jedem athmenden Wesen haucht sie Licht, Leben, Gefühl ein. – Wie das Wasser verderben müßte, wenn die Luft es nicht in Aufregung und Bewegung hielte, wie die Erde altern und zusammenstürzen würde, gährte in ihrem Innern nicht die fort schaffende, fort arbeitende Kraft des gewaltigen Feuers, so würde die Menschen-, Thier- und Pflanzenwelt dort oben und hier unten verwelken und zu Grunde gehen ohne die Liebe, gerade so, als ob sie des Lichtes oder der Wärme beraubt würde. Oh mein Freund, die Liebe Gottes ist das stärkste Element dieser ganzen so wundervollen Welt – nimm ihr dies, und was bleibt ihr, als das dürre, zackige, von einem todten Meer bespülte Gestein, das in ewiger Finsterniß, ein schwingender Ball finstern Entsetzens, seine Bahnen kreist. – Nimm unseren Herzen die Liebe, und wie jener heilige Käfer des Ostens, den der anbrechende Tag geboren und mit den herrlichsten, glühendsten Farben geschmückt hat, stirbt, sobald ihm das Licht seiner Sonne, die ihm Leben ist, genommen wird, so müßten auch unsere Herzen vergehen in Jammer und unendlichem Weh.«

Und sie senkte das schöne, bis jetzt vom Feuer ihrer Rede zu ihm emporgehobene Haupt wieder mit tiefem, schmerzlichem Seufzer auf seine Schulter nieder.

»Aber, Du holdes, liebliches Engelsbild,« rief da der Jüngling, der ihren Worten mit staunender, freudiger Bewunderung gelauscht, »dann lügt ja auch die Sage, wenn sie behauptet, Gott habe Euer stilles Städtchen der Erde genommen, um Euch zu strafen des frevelhaften, übermüthigen Trotzes Eurer Väter wegen. – Wenn das Euer Glaube ist hier unten in diesen stillen, freundlichen Räumen, hätte sich des Allliebenden Hand da feindlich gegen Euch ausstrecken mögen?«

Ein Zug jenes holden Lächelns, das ihrem Antlitz einen so wunderbaren Reiz verlieh, zuckte wieder um die Lippen und Augen der Jungfrau, und sie blickte fast schelmisch zu dem Jüngling empor.

»Und glaubst Du denn auch die alten Märchen, die sie sich da oben von ihren ernsten, fanatischen Priestern erzählen lassen?« frug sie fast strafend. »Sieh, lieber Freund, in alten Zeiten, da diese Stadt von der obern Erde geschieden wurde, nicht zur Strafe ihrer Bewohner, sondern zum Besten derselben durch Gottes freundliche Güte – da rasten da oben jene entsetzlichen Kriege durch das ganze Land, die sie Religionskriege nannten, und wo die Menschen unter einer Fahne, die sie das Banner und Zeichen Gottes lästerten, einander mordeten oder einkerkerten, Frauen und Kinder schlachteten und die Brandfackel in friedliche Hütten warfen. Die Lehre der Liebe wollten sie verkünden, und die Thaten des Hasses und der Rache trugen sie durch's Land. Jene Zeiten sind jetzt vorbei, die Menschen morden einmal wohl nicht mehr so viel des Phantoms wegen, das sie Religion nennen, und das ihnen als Mantel dient, ihren eigenen Ehrgeiz, ihre eigenen Begierden zu befriedigen – aber so viel wir hier unten davon zu hören bekommen, so ist es darum doch noch immer nicht viel anders geworden.

»Unser kleines Städtchen kümmerte sich nun damals nicht um all' diese Streitigkeiten verschiedener Lehren und Dogmen, wir beteten zu Gott, wie es uns unser Herz eingab, wir liebten ihn als unsern Schöpfer und Vater und bauten ihm keinen Tempel von Stein, äußerer Schau wegen, sondern einen Tempel in unseren Herzen, das seiner Liebe voll war. Du siehst, auch davon erzählen sie sich Märchen da oben, denn sie wollen bei ruhigem Wetter manchmal die Spitzen unseres Kirchthurms sehen und das Läuten unserer Glocken hören – wir haben aber weder Kirche noch Thurm oder Glocken. Das aber verdroß die Priester da oben, daß wir ihre Herrschaft nicht anerkennen wollten; das fanatische Volk der Umgegend war leicht gegen uns aufgehetzt, denn sie mißgönnten uns schon lange unsern Wohlstand und den stillen Frieden unseres Beisammenwohnens – und zwangen uns zuletzt förmlich dazu, eine Kirche zu bauen und einen Prediger einzusetzen. Die Folge blieb aber nicht aus – es bildeten sich erst zwei, dann drei und mehr Gemeinden; Familien, die sich sonst geliebt und geachtet hatten, traten feindlich von einander zurück – junge Leute, die sich liebten und deren Herzen für einander geschaffen waren, wurden gewaltsam getrennt, weil des Einen Vater dieser, des Andern jener Gemeinde oder Religion – wie sie's nannten – angehörte. Wir waren auf dem besten Wege, recht unglücklich zu werden und all' den Fluch zu ernten, den blinder Fanatismus, gehe er nun aus von welcher Religion, von welchem Glauben er wolle, schon so unsäglich oft auf der Welt gesäet hat und noch mit jedem Tage weiter säet; da legte der liebe Gott, der es besser mit uns meinte als die Menschen, und der wohl einsah, daß uns auf andere Weise doch nicht mehr zu helfen sei, seine Hand zwischen uns und unsere Verfolger und versenkte unser kleines Städtchen in die Tiefe des Meeres, fern von da, wohin die Hand der Menschen dringen konnte.

»Der fremde Priester entzog sich damals allerdings noch mit genauer Noth durch die Flucht der Gefahr, uns ebenfalls begleiten zu müssen, und sich wenig darum kümmernd, was aus seinen Beichtkindern wurde, die er dem Untergang geweiht glaubte, suchte er nur seinen eigenen Leib in Sicherheit zu bringen, was ihm gelang; Gott wollte ja nicht strafen, sondern nur die, die ihm in treuer Liebe ergeben gewesen, dem alten Frieden ihres Lebens zurückgeben. In damaliger Zeit waren es aber die Geistlichen fast nur allein, die hier in unserer Gegend lesen und schreiben konnten, in ihren Händen lag es also auch, die Geschichte unseres vermeintlichen Unterganges zu beschreiben, und es läßt sich denken, daß sie ihr die ihnen am meisten zusagende Färbung geben würden. Ihrer Aussage nach hatte uns der Allliebende für die Verstocktheit der Einzelnen mit Schuldigen und Unschuldigen in die Tiefe des Meeres geschleudert und nur allein seinen Diener vom Untergang, ich glaube durch ein Zeichen, gerettet.

»Welche der beiden Erzählungen hältst Du nun für die wahrscheinlichere – welche stimmt mehr mit dem Wesen dessen überein, der selbst nach Jener Aussage der Gott der Liebe ist? – Doch genug davon, Du trauter Freund, Du wirst uns ja hier kennen lernen und dann erfahren, wie unsere Sitten, die von jenem Augenblick an zu ihrer alten Reinheit zurückkehrten, sicher nie den Zorn des großen Vaters auf uns herablenken konnten. Für die Sage da oben,« setzte sie dann aber etwas schelmisch hinzu, »haben jedoch unsere Städter hier unten auch ein wenig Genugthuung genommen. Du weißt, daß nun einmal das Volk seine eigenen Märchen bildet und ihnen stets die Auslegung giebt, die ihnen selbst am besten zusagt. Du hast den entsetzlichen Hai gesehen, von dem wir heute durch einen Zufall – wenn wir auf dieser herrlich eingerichteten Welt überhaupt einen Zufall dürfen gelten lassen – befreit wurden. Dieser Hai oder ein ähnlicher hat uns fortwährend hier, oft in sehr langen Zwischenräumen, oft rasch nacheinander kommend, verfolgt und schien die Stadt stets als einen Ort zu betrachten, der ihm eigentlich gehöre und wo er sich aussuchen könne, was er wolle. Unsere Leute behaupten nun, das sei eben jener Priester, der damals geflüchtet wäre und nun immer noch zu der Stelle zurückkehre, wo früher seine Kirche gestanden, um das schuldige Beichtgeld einzufordern. Aber sie sagen das bei uns mehr im Scherz als Ernst, denn wir mögen einem Menschen schon gar nicht gern so Böses zutrauen.« –

»Liebwerthester und geschätztester Herr Merkfeld,« flüsterte in diesem Augenblick dicht neben ihnen eine leise und freundlich höfliche Stimme, und Bonita fuhr leichenblaß und mit einem jähen Schrei von ihrem Sitz empor. – Es war ihr Vater, der den Geliebten zu der von ihm selbst verlangten Probe abzuholen kam, und der ganze fürchterliche Ernst der gegenwärtigen Stunde trat ihr mit entsetzlicher Gewalt vor die Seele. Zitternd umklammerte sie den Arm des Jünglings und rief mit ängstlicher, bittender Stimme:

»Nein – nein – nein, sie dürfen Dich nicht von mir reißen – sie dürfen nicht mit ihren kalten Formen und Gesetzen mein armes Herz, das ihnen nie ein Leid gethan, unter die Füße treten. Oh Eduard, Du weißt nicht, was sie von Dir verlangen – wie sie Dich hinterlistig dem unmöglich zu Leistenden entgegenführen. – Du wirst gehen und Deine arme, arme Bonita nie, nie wiedersehen.«

Sie warf sich an des Jünglings Brust und schluchzte laut.

»Vertrau' auf Gott und unsere Liebe, mein holdes, herziges Lieb!« tröstete sie aber mit freundlichem Ton der junge Mann – »was mir die Herren da auferlegen, wird doch so sein, daß mir die Möglichkeit des Gelingens bleibt, es wäre ja sonst keine Probe, und bist Du denn nicht bei mir? – weiß ich denn nicht, für wen ich kämpfe und ringe, und glaubst Du, daß ich einem Augenblick erliegen würde, wo bis jetzt mein ganzes Leben nur ein einziges Streben und Sehnen dem Glück entgegen war, das jetzt endlich in den Bereich meiner Kraft geworfen?«

»Aber sehr verehrungswürdigster und allerfürtrefflichster Herr Merkfeld,« bat jetzt mit feiner, ängstlicher Stimme der kleine Mann – »was reden denn Dieselben nur, mit Dero freundlichster Erlaubniß – für tolles und ungereimtes Zeug von Kämpfen und Ringen und Erliegen; die ganze entsetzliche Probe besteht in weiter nichts unter dem Wasser, als eine Auswahl vortrefflich gefertigter Bilder anzuschauen und ein wenig Musik zu hören – ist denn das etwas so Fürchterliches und gefährlich zu Bestehendes? Bonitchen ist ein Kindlein, das am hellen lichten Tage Gespenster sieht und sich jetzt noch eifrigst dabei bemüht, Hochdero Herz weich zu machen, wo sich Dieselben gerade mit besonderer Standhaftigkeit ausrüsten sollten. Kommen Sie nur, mein verehrungswürdigster Herr Merkfeld, kommen Sie, unser ganzes kleines Clubzimmer ist in Aufregung gekommen, mit Schmerzen erwartend, Sie, unter den gebührenden Achtungs- und Freundschaftsbezeigungen, als einen der Unseren begrüßen zu können, und die Zeit naht auch heran, die wir nicht versäumen dürfen, wollen wir nicht die Kraft unserer Bilder verlieren.«

»So komm denn, meine Bonita,« sagte der Jüngling leise und umschlang die Geliebte, »komm und steh mir zur Seite, Du holde Lilie dieses freundlichen Reiches. – Wie es auch kommen möge, ich bin Dein, Dein im Leben und im Tode, und als Pfand meiner Treue nimm, oh Geliebte, hier den goldenen Reif, das Sinnbild der Ewigkeit – ich habe ihn von früher Kindheit an getragen – er zwang sich kaum noch an meinen Finger – oh sieh, wie er den Deinen so liebend umschließt – möge er Dir ein Vorbote freudiger Tage sein!«

Ihre Lippen begegneten sich in heißem, langem Kusse, dann sich aber gewaltsam aus ihren Armen emporrichtend, wandte er sich entschlossen gegen das Männlein, das in süßlicher Ungeduld und Verlegenheit daneben stand und das Ende der Scene zu erwarten schien, und sagte freundlich:

»Und nun, alter Herr, bin ich zu Ihren Diensten, und je eher Sie mir Gelegenheit geben, Bonita mir zu gewinnen, desto herzlicher will ich es Ihnen Dank wissen.«

 

V

Der alte, ehrliche Stadtschreiber, dem wohl auch nicht so ganz sicher zu Muthe sein mochte, daß der zuversichtliche fremde junge Herr die Probe so leicht bestehen werde, und der dabei nur zu sehr fühlen mußte, wie innig sich der Tochter Herz demselben schon angeschlossen, trippelte mit einem halb wehmütigen, halb freundlichen Gesicht voran, und Eduard, seinen Arm um die Geliebte geschlungen, folgte ihm dicht auf dem Fuße.

Bald darauf betraten sie den Saal wieder, wo die Spieltische und Stühle bei Seite geschoben standen und einen freien Durchgang für das Paar und ihren Führer gewährten, und erreichten ein etwas kleineres, aber hohes und langes Gemach, an dessen entferntestem Ende ein meergrüner, schwerseidener Vorhang bis auf den Boden niederfiel und die ganze hintere Wand vollkommen bedeckte. Vor diesem blieb der alte Herr stehen, und nachdem sich die wunderliche Schaar der übrigen Gäste, alte Männer und Frauen und liebliche Jungfrauen und junge Leute, um sie gesammelt hatte, sagte der Stadtschreiber, während jedes Auge in erwartungsvoller Stille an seinen Lippen hing und Eduard fühlte, wie die schlanke Gestalt, die an seiner Schulter lehnte, zitterte und bebte, ernsthaft, ja fast feierlich:

»Sehr verehrungswürdigster Herr Merkfeld, – ich brauche kein Wort über das Vergangene zu verlieren – es ist uns Allen bekannt, – so viel nur hier zu unserer Rechtfertigung und zu Ihrer Beruhigung, Liebwerthester, daß wir uns Alle auf das Innigste freuen würden, Sie als ein Glied unserer kleinen, mit der äußern Welt in nur sehr geringer Beziehung bestehenden Gesellschaft zu begrüßen. Vorher aber ist es nöthig, daß Sie erst eine gewisse Prüfungszeit aushalten müssen, die unsere Gesetzgeber allerdings auf dreißig Jahre, nach menschlichen Begriffen eine etwas lange Zeit – festgesetzt haben. Für den Fall aber, daß ein Menschenkind, wie das jetzt bei Ihnen, Verehrtester, geschehen ist, zu uns freiwillig heruntersteigen sollte und erklärt, daß er mit der Oberwelt vollkommen abgebrochen hat und mit ihr nicht mehr in der geringsten Beziehung steht – denn das zu bewerkstelligen haben wir eben die dreißig Jahre angenommen, in denen oben gewöhnlich Alles abstirbt, was den Ausgeschiedenen noch bis dahin näher angegangen wäre, – so besitzen wir Fische hier unten, trotz unserem kalten Blut, viel zu warmes Gefühl, eines Andern Glück oder dem wenigstens, was er dafür halten sollte, hartnäckig im Wege zu stehen. Dann aber muß uns auch seine Erklärung vollständig und außer jedem Zweifel liegend bestätigt werden, und zwar nicht deshalb etwa, Allerverehrungswürdigster, als ob wir nur im Geringsten an seinem Wort oder an der festen Ueberzeugung, die er selber von der Sache hegt, zweifelten. Weit entfernt davon! Nein, wir unterscheiden uns auch in dieser Hinsicht von dem christlichen Polizeistaat dort oben – ohne Jemandem etwas Böses nachreden zu wollen –, indem wir nicht, wie dieser, jeden Menschen für einen Spitzbuben halten, bis er sich als ehrlicher Mann ausgewiesen, sondern, daß wir jedes Wesen gut und rechtschaffen glauben, bis uns der Beweis des Gegentheils davon zu Händen und Augen gekommen. Nein, wir wollen, weit genauer als ihm das selber nur je möglich wäre, auch das innerste, geheimste, ihm vielleicht vollkommen unbewußte Gefühl seines Herzens prüfen, und besteht er darin, dann wissen wir, daß er über seinen Aufenthaltsort schalten und walten kann wie er will, daß er, wenn nicht schon körperlich, doch jedenfalls geistig todt ist für die Welt da oben, und wir freuen uns dann immer recht von Herzen, Liebwerthester, ihn als Bruder und Mitgenossen begrüßen zu können. Sie werden aber auch zugleich einsehen, mein vortrefflichster Herr Merkfeld, daß dabei Ihrerseits von Kämpfen und Ringen, wie Sie vorhin die Gewogenheit hatten sich auszusprechen, gar keine Rede sein kann; das Ganze ist einfach, wenn ich mich so ausdrücken darf, ein anatomischer Prozeß, den wir uns in schuldigster Hochachtung erlauben mit Dero Seele vorzunehmen. Es ist ein Spiegel, den wir ihr vorhalten, wie man auf der Oberwelt den Lippen eines scheinbar Ertrunkenen einen solchen vorhält – der leiseste Athem, der sonst den feinsten Sinneswerkzeugen unbemerkt entschlüpfende Hauch, der sie verläßt, trübt die reine Fläche, und der Beweis ist da. – Diese Probe nun, Verehrungswürdigster, um Sie in keiner Hinsicht im Dunkeln zu lassen, besteht einzig und allein darin: daß Sie in den gleich vor Ihnen geöffneten Spiegel schauen und das mit ansehen und hören, was darin vorgeht. Er bringt Ihnen Scenen von der Oberwelt – sind Sie im Stande, diesen ruhig und ohne Verlangen nach denselben zu begegnen, denn zu fordern, daß Sie dieselben ohne Bewegung des Gemüthes anschauen sollten, wäre eine Unmöglichkeit geheischt – nein, fühlen Sie nur keine Sehnsucht mehr nach jenen Figuren und Bildern der Oberwelt, dann bleibt der Spiegel klar. Der geringste Schmerz, den sie hervorrufen, bringt den Hauch auf seine Fläche, doch er verwischt sich wieder, und das Glas erscheint so hell als vorher. – Erwecken sie aber auch nur einen Gedanken der Reue und der Sehnsucht, dann springt das Glas, mein allerverehrungswürdigster und geschätztester Herr Merkfeld, in tausend und tausend Stücke, und das Vergnügen Ihrer sonst uns so angenehmen und wünschenswerthen Gegenwart wird uns auch in demselben Augenblicke in nicht zu verhindernder Weise entrissen.«

»Und giebt es in diesem Fall keine Rückkehr für den Ausgestoßenen?« frug der Jüngling leise; er hatte gehofft, daß die Prüfung seiner eigenen Kraft und Seelenstärke gelten würde, und er fühlte das Zittern der schlanken Gestalt an seiner Seite.

»Keine für den Lebenden, mein allervortrefflichster Herr Merkfeld,« sagte aber der Raths- und Stadtschreiber mit wehmüthig ernster Stimme – »keine für den Lebenden, und bis die Menschenkinder da oben altern und sterben, sind auch ihre Gedanken und Gefühle mit ihnen gealtert und gestorben. – Sie betrachten die kurze und meist zufällige Art und Zeit ihres Aufenthaltes hier unten wie irgend einen etwas phantasiereichen und systematischen Fiebertraum, erwähnen ihn wohl im Anfang noch dann und wann, werden ausgelacht, schämen sich endlich deshalb, und – das ist dann gewöhnlich das Letzte, was wir von ihnen hören. Uns hier unten ist wenigstens noch kein Fall vom Gegentheil vorgekommen. Aber die Zeit vergeht, Verehrungswürdiger, und da tönt wahrhaftig schon die Glocke.«

In diesem Augenblick klang ein wild klingender, lang gezogener Ton, wie auf einer der großen indischen Muscheln geblasen, durch die weiten Räume und wiederholte sich in regelmäßigen Zwischenräumen in langen, feierlichen Pausen. Eduard preßte die Geliebte fester in seinen linken Arm.

»Muth, Muth, mein trautes Herz,« flüsterte er leise und rasch, »Muth, meine süße Bonita, und vertraue auf die Liebe zu mir, die meiner Brust ein schützender Talisman geworden – Muth, mein holdes Leben!«

Er behielt keine Zeit für weitere Worte, denn wie der Klang des letzten Tones verhallte, flog der Vorhang, sich in zwei Hälften theilend, blitzschnell zur Seite, und ein großer runder Spiegel mit klarer, ungetrübter Fläche wurde dahinter sichtbar. Zu gleicher Zeit legten sich auch darin aufsteigende Wolken über sie hin und verhüllten für kurze Momente den innern Raum.

Als sie sich wieder verzogen, lag ein lichter Plan vor seinen Blicken – jubelnde Kinder jagten und haschten sich, die Sonne ruhte mit ihrem freundlichsten Glanz auf den stillen Matten, die Lerche stieg schmetternd in die Höhe, und die Blumen blühten in all' ihrer unendlichen Frische.

Ein leichtes Lächeln flog über Eduard's Züge.

»Du liegst dahinten, fröhliche Jugendzeit,« rief er mit klarer, unbewegt klingender Stimme – »Deine Lust, Deine Freuden – eine liebe Erinnerung bist Du dabei dem Herzen geblieben, aber nur eine Erinnerung.«

Das Bild stand einen Augenblick klar und ungetrübt, und der Nebel verhüllte es wieder.

Das zweite, was rasch danach erschien, war ein stilles, düsteres Stübchen mit vielen Bücherbrettern rings an den Wänden und wunderlichen Instrumenten und Apparaten auf Tischen und in den Ecken. Der Schein einer kleinen Studirlampe mit hellgrünem Schirm erleuchtete nur unsicher das Gemach, und an dem Pult, den Kopf in die Hand gestützt, saß die Gestalt eines jungen Mannes in tiefem, brütendem Nachdenken versunken.

Der Jüngling schaute lange und erregt in das Glas, in dessen Glanz sich aber nicht die mindeste Veränderung zeigte, und sagte endlich mit einem wehmüthigen, halb ernsten Lächeln:

»Es waren schöne, liebe Stunden, die ich in dem trauten, stillen Kämmerlein dort verlebte, Stunden, in denen dem Geist die Ahnung künftiger Seligkeit manchmal dämmerte und die düsteren Schatten dieses Gemachs zu einem Paradiese verwandelten – Stunden aber auch wieder, die mich der Verzweiflung trostberaubter Hoffnungslosigkeit so nahe brachten, daß ich nimmermehr einen Ausweg sah und vergehen zu müssen glaubte in rettungslosem Jammer. – Freude und Schmerz liegen dahinter – fort mit euch, ihr lieben Bilder; mir ist die Wirklichkeit geworden, und ihr habt euren Zauber verloren!«

Wieder stieg, wie seinen Worten gehorchend, die Wolke auf, und als sie sich auf's Neue theilte, lag eine liebe, traute und ihm oh! wie wohlbekannte Landschaft vor seinen Blicken.

Im Hintergrunde ein kleines, freundliches, von Reben beschattetes Wohnhaus, an das sich links der Garten und rechts ein dichtes, im herrlichsten Grün prangendes Birkengebüsch schloß – im linken Vordergrund der alte überbaute Brunnen, mit dem moosbewachsenen Eimer daneben, aus dem er so manchen frischen Trunk gethan, und weiter dahinten, wo die hohe, prächtige Linde das Haus, dem sie Schutz und Schatten gab, halb verdeckte, in dem kleinen aufgeworfenen Hügel stand ein einfacher weißer Stein. Zugleich erhob sich eine weiche, schwermüthige Melodie, wie der Klang eines fernen Hornes, und alte bekannte, ach! so lieb gewonnene Klänge tönten, wie von da drüben selber herüberkommend, an sein Ohr.

»Meine Heimath – das Grab meines Vaters!« rief der junge Mann mit tiefer Wehmuth in der Stimme, und ein dichter Schatten drohte für einen Augenblick die Umrisse des Bildes total zu verwischen. – Bonita schaute mit tödtlicher Angst zu ihm auf, und der Jüngling selber verdeckte sich mehrere Secunden das Antlitz mit der Hand – aber die Bewegung wich – der Spiegel nahm mehr und mehr seinen Glanz wieder an, und Eduard's Blick fiel voll und fest auf die Landschaft, doch mit gepreßter Stimme sagte er:

»Ihr wißt Einem das Herz in der innersten Brust zu fassen und zu rühren, Ihr Herren! – das wären entsetzliche Anhaltspunkte an da oben, hielte mich nicht hier ein so fester Talisman gar treu beschützt selbst gegen diese Waffe. – Oh wie diese Klänge so süß mir in's Ohr tönen, wie sie die Seele mit all' den lieben, lieben Erinnerungen früherer Tage füllen – oh tönt fort – schwindet nicht dahin – ihr werdet ewig den Widerklang in meinem Herzen finden; – aber nur der Widerklang ist für euch geblieben,« setzte er rascher hinzu. »Fürchte nichts, meine Bonita, ich glaube, sie haben ihr Schlimmstes gethan, ich fühle noch keine Sehnsucht nach der Oberwelt.«

Bonita sprach kein Wort, aber alles Leben war aus ihren Wangen gewichen und sie lehnte bleich und zitternd an des Geliebten Schulter, sein Arm sie mehr tragend als stützend.

Das Bild verschwand schnell, und als sich der Spiegel zum vierten Mal erhellte, entfuhr ein Ausruf der Ueberraschung, fast des Schrecks, den Lippen des Geprüften. Ein leichter Schatten flog über die Gruppe, die sich ihnen zeigte, aber er schwand wieder, und auch dies Bild stand hell und rein.

Es waren drei junge Mädchen, die am Seestrand zusammenstanden und trauernd über die Fluth hinaussahen – es war Nacht, aber das Licht des Mondes beschien hell und deutlich die lieben, bleichen Züge und der rauhe Wind spielte mit ihren Locken.

»Arme Elise,« sagte Eduard traurig – »arme Schwestern; aber Ihr werdet Euch bald um den Verlorenen trösten, und auch Du, Gespielin meiner Jugend, wirst Trost und Ersatz für den Mann finden, der doch nie Deinem Herzen das hätte sein können, was Deine treue, aufopfernde Liebe verlangen, fordern durfte. Nie habe ich so wie in diesem Augenblick gefühlt, daß unsere Bahnen für das Leben so weit auseinander führen mußten – Du verstandest nie das ruhe- und rastlose Drängen meines Herzens – Du hättest es nie verstanden, und mein wilder Geist würde Dich stille, freundliche Blume des Waldes wie ein toller sprudelnder Bergbach Deinem heimischen Boden entrissen und in einen Abgrund geschleudert haben, wo Du verderben mußtest, ohne seine jähe Bahn hemmen oder lenken zu können. Nein, meine Bonita,« wandte er sich, während das Bild wieder erlosch, kosend zu dem armen Mädchen nieder, das mit tödtlicher Spannung an seinen Blicken hing und schon im Voraus Glück oder Schmerz daraus zu haschen suchte, »zittere nicht für mich – ich habe die Liebe zum ersten Mal in diesen treuen Augen gelesen – zuerst an diesem Herzen gefühlt, wie nur an ihm meine ganze Seele hängt und nimmer wieder von ihm lassen könnte, wenn sie nicht vergehen sollte vor qualvollem Jammer und Leid. Nein, Du süßes, holdes Lieb, kein anderes Bild kann diese mir in das innerste Leben geflochtenen Züge je daraus vertilgen oder schwächen. Ich bin Dein, Dein für immer, und der Väter Segen möge auf unserem Bündniß ruhen.«

Der Spiegel hatte indessen wieder Farbe und Licht angenommen – ein stilles, düsteres, aber reinliches Kämmerchen lag vor ihnen, eine einzelne flackernde Lampe brannte auf dem Tisch, daneben lag ein großes aufgeschlagenes Buch – die Bibel –, und vor dem Tisch, die Hände im Schooß gefaltet, das Gesicht bleich, aber von einem fast heiligen Schmerz still ergebener Resignation überhaucht, saß eine alte, ehrwürdige Frau, den Kopf mit einer schneeweißen Haube bedeckt, unter der die dünnen silbernen Locken vorquollen, sonst aber noch in ihrem schwarzen Traueranzug, den sie den Tag über getragen – sie war augenscheinlich bis spät in die Nacht im schmerzlichen Harren aufgeblieben, und der matte, schwermüthige Blick haftete still und unbeweglich am Boden.

Der Jüngling hatte die Geliebte fest in seinen Arm gedrückt und Prüfung wie Umgebung in dem einen Gefühle frohen Glückes fast vergessen, als sein Blick plötzlich auf das vom vollen Strahl des Lichtes erhellte Bild fiel. Der Eindruck war so schnell als gewaltig – wie ein elektrischer Schlag durchzuckte es seinen Körper, und beide Arme dem Bild entgegenstreckend, rief er mit vor Schmerz Sehnsucht fast erstickter Stimme:

»Meine Mutter!«

Blitz und Schlag erfüllten in demselben Moment das Gemach – in tausend Splittern und Stücken schmetterte der Spiegel auseinander, und die Umstehenden flohen entsetzt nach allen Seiten.

»Eduard – Eduard!« tönte Bonita's Stimme in herzbrechendem Weh durch den entsetzlichen Lärm und Aufruhr – und Eduard sah, wie die bleiche, zitternde Maid verzweifelnd die Hände nach ihm ausstreckte. – Er wollte sie fassen – halten, aber um ihn her stürmte und brauste es – Woge nach Woge stürzte und brach über ihn hin und hob ihn und drängte ihn gewaltig nach oben, und vergebens war sein rasendes Ankämpfen gegen das zürnende Element. Wie ein machtloses Kind trugen sie ihn empor, und die Sinne schwanden ihm im Druck der gewaltigen Wogenmassen.

 

VI

»Er lebt!« waren die ersten Worte, die wieder an sein Ohr schlugen, als er, wie es ihm vorkam, aus einem langen, fürchterlichen Traum erwachte, »er lebt wahrhaftig, er athmet ordentlich, und da gehen ihm auch die Augen auf, so klar und frisch, als ob ihm im ganzen Leben noch nichts gefehlt hätte.«

Das war des alten Hannsen Stimme. Aber wie kam der alte Hannsen hierher und wo war er selber eigentlich?

»Bonita!« rief er leise und wehmüthig, als er aufschaute und rings um ihn nichts als fremde und doch wieder so bekannte Gegenstände seinem Blick offen lagen – »Bonita – meine arme Bonita!«

»Ja, Bonitos!« sagte der Alte, indem er freudig seine Hand ergriff und ihn mit dem Arm unterstützte, daß er sich emporrichten konnte. – »Haifische könnten jetzt an Ihnen zehren, wenn Gott nicht seine Hand in der letzten Nacht so sichtbarlich über Sie gehalten hätte. Aber, lieber, junger Herr, was war das auch für ein Streich von Ihnen, in dem Nebel in See hinauszufahren? Habe ich es Ihnen denn nicht gleich gesagt, daß Sie sich in Acht nehmen sollten? Aber kommen Sie nur heraus, meine lieben Damen!« rief er dann plötzlich mit lauter Stimme und sich nach der Kammerthür zuwendend, die nur angelehnt stand – »kommen Sie nur her, jede Gefahr ist vorbei, und das bischen Regen und Spritzwasser wird ihm auch eben nicht viel geschadet haben.«

»Mutter!« rief der Jüngling, als die liebe, ehrwürdige Gestalt, mit Thränen in den Augen, aber diesmal waren es Freudenthränen, auf ihn zukam und ihn an ihr Herz schloß – »Mutter!« klagte er und barg weinend sein Antlitz an ihrer Brust – »es ist Alles, Alles verloren – aber Du bist nicht schuld daran, liebe, liebe Mutter – Du bist nicht schuld daran!«

»Beruhige Dich, mein armes Kind!« bat aber die Mutter, der die Worte des Sohnes wieder Angst und Sorge einflößten, »beruhige Dich – die letzten so gefährlichen Stunden haben Dich zu sehr aufgeregt – es wird Alles schon wieder besser – es kann noch Alles gut werden, mein lieber Sohn.«

Der Jüngling schüttelte wehmüthig das Haupt und barg das Gesicht in den Händen.

»Eduard – lieber Eduard!« sagte da eine leise, schüchterne Stimme an seiner Seite – er sah rasch und erschreckt empor – aber ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust.

»Kennst Du mich nicht mehr, Eduard?« bat das Mädchen, und die Thränen strömten aus den schon übervollen Augen – »kennst Du Deine Elise nicht mehr?«

»Meine arme, arme Elise!« flüsterte Eduard und zog das weinende Mädchen an seine Brust, drückte einen Kuß auf ihr Haupt und strich ihr die blonden Locken aus der Stirne. Auch die Schwestern kamen heran, ihn zu begrüßen, und er küßte sie und stand von seinem Lager auf. – Aber die Kleider, die er anhatte, waren ihm fremd – er befand sich, so viel er sah, in Hannsen's Hütte, trug aber, statt seiner eigenen Kleider, das schwere wollene Zeug des alten Fischers, und fühlte sich gar matt und erschöpft und von heftigem Durst geplagt. Die Sonne stand schon ziemlich hoch am Himmel, es mochte etwa neun Uhr Morgens sein.

»Aber wie komme ich hierher, was sind das für Kleider, – wie habt Ihr mich gefunden?« frug er endlich, als er seine Gedanken ein wenig gesammelt hatte und sich nun klar und deutlich der Vorgänge der letzten Nacht zu erinnern begann, »sind denn das in der Ecke da nicht die Riemen aus meinem eigenen Boot?«

»Nun ja, lieber Herr, von wem sollten sie denn sonst sein?« lachte der alte Hannsen – »wenn wir Sie gefunden haben, mußte doch das Boot auch dabei sein; oder glauben Sie etwa, daß Sie wie eine Boje auf dem Wasser geschwommen wären?«

»Bitte, erzählt mir, wo und wie Ihr mich gefunden habt,« bat jetzt der junge Mann – »mir schwindelt der Kopf noch von den Vorgängen der letzten Nacht, und ich möchte gern einen Faden haben, um mich heraus zu finden. Aber erst einen Trunk Wasser – meine Kehle ist verdorrt und ich könnte einen Bach austrinken.« Der Alte brachte ihm rasch einen Becher, den er auf einen Zug leerte, und sagte dann:

»Sie wissen recht gut, daß Sie gestern in dem Nebel wieder trotz meiner Warnung hinausfuhren und mir dabei doch verboten, mitzugehen – als es aber gegen Abend lief und Sie noch immer nicht zurückgekehrt waren, litt's mich nicht länger hier drinnen und ich fuhr hinaus.«

»Und Ihr fingt den großen Hai?« rief der Jüngling plötzlich rasch, den einen Gedanken auffassend, ihm zu, während er seinen Arm ergriff und ihm in die Augen schaute – »seht Ihr, daß ich es weiß!« fuhr er, als er das Erstaunen des Alten sah, triumphierend fort; – »gerade über der Stelle, wo die versunkene Stadt liegt – habe ich Recht oder nicht?«

»Ich will ver–« platzte der Alte heraus, erinnerte sich jedoch noch zur rechten Zeit der Gegenwart der Frauen und fuhr etwas bedächtiger, aber immer noch staunend fort: »ich will mein Leben lang Holz am Lande hacken, wenn ich weiß – aber Potz Blitz« – lachte er plötzlich laut auf – »das ist keine Kunst, solche Hexereien kann ich auch!«

»Aber woher kann er das wissen?« rief die Mutter überrascht.

»Woher er das wissen kann?« schmunzelte der Alte, »weil wir den ganzen Morgen, der alte Classen und ich, als wir den jungen Herrn hier bei uns im Boot und seine kleine Jolle hinten schleppen hatten, von nichts Anderem fast gesprochen haben, als von dem Hai, der so groß seit einer wahren Ewigkeit hier in der Nähe nicht gefangen worden ist. – Da mag der junge Herr dann schon recht gerne so ein bischen zu sich gekommen sein und hat, vielleicht noch halb im Schlaf, halb im Wachen, unsere Erzählungen mit angehört, und jetzt bildet er sich am Ende gar noch ein, er wäre mit dabei gewesen.«

Der junge Mann hielt sich die Stirn mit beiden Händen in tiefem Nachdenken – als eine neue Idee sein Hirn durchzuckte.

»Habt Ihr keinen kleinen Kahn, wie sie auf den stillen Flüssen im Innern brauchen, hier auf dem Wasser treibend gefunden?« frug er rasch.

»Einen kleinen Kahn? – nein, wie sollte der hierher kommen – ich nicht, aber – wartet einmal – gestern Nachmittag kam ein Schiff draußen vorbeigesegelt und hatte eins der Boote ausgesetzt – ich wunderte mich noch weshalb und sah genau hinüber, und als sie zum Schiff zurückruderten, hatten sie irgend etwas in Schlepptau, das ich damals für ein Stück Holz – ein Theil von einem Mast oder irgend eine über Bord geworfenen Stenge hielt – das könnte recht gut ein solches Ding gewesen sein, wenn ich auch nicht wüßte, wo das in die See hinausgetrieben sein sollte.«

Eduard nickte schweigend mit dem Kopf, fiel in seine vorige Stellung zurück und bat den Alten, in seiner Erzählung fortzufahren.

»Ja, aber wo war ich stehen geblieben?« frug dieser sich den Kopf kratzend.

»Ihr fuhrt hinaus, um meinen Sohn zu suchen, lieber Hannsen,« half ihm die alte Dame.

»Und so war's auch,« erzählte dieser weiter, »aber nichts zu hören noch zu sehen – das heißt, sehen konnte man auch nicht weit, denn der Nebel hatte sich noch immer nicht verzogen, und ich mag damals hundert Schritt von ihm vorbeigefahren sein, wundern sollt's mich nicht. Dem Schiff kam ich eben nur in Sicht, daß ich, wie gesagt, das Boot erkennen konnte. Bis Dunkelwerden trieb ich so herum und rief und schrie ein paar Mal aus Leibeskräften, aber umsonst, und erst wie es gegen Sonnenuntergang zu wehen anfing und ich einsah, daß ich in Nacht und Finsterniß doch nicht weiter im Stande sein würde, Hülfe zu leisten, ja nicht einmal wußte, ob der junge Herr nicht schon lange selber munter und wohl nach der Insel zurückgekehrt sei, denn er ist ja schon manchmal noch später ausgeblieben, machte ich mich ebenfalls auf den Heimweg und bekam nun erst wirkliche Angst, als das böse Wetter heraufstieg und ich hörte, daß weder vom Boot noch Mann darin das Mindeste an Land gekommen wäre. Die Nacht hat's bös geweht und Gottes Hand muß recht väterlich auf Ihnen gelegen haben, daß Sie nirgends gestrandet und verunglückt oder mit dem Boot gesunken sind. Ich hatte auch wenig Hoffnung heute Morgen, als ich hinausfuhr, und dachte wahrhaftig, ich sähe ein Gespenst, als ich den jungen Herrn ganz ruhig gerade auf seinem gewöhnlichen Lieblingsplatz herumtreiben sah. Das heißt, ich fand erst das Boot, das mit der Fluth herein und mit der Ebbe wieder hinausgetrieben sein muß, und der junge Herr lag todtenbleich darin und war durch und durch wie aus dem Wasser gezogen – was übrigens auch kein Wunder ist, denn es hat die Nacht ein paar Mal scharf genug geregnet. Classen, der mit mir war, und ich nahmen ihn dann in unser Boot, hingen die Jolle hinten an und kamen so rasch hierher, als uns, über die noch etwas unruhige See, unsere beiden Riemen bringen konnten.«

»Und was machtet Ihr mit dem Hai?« frug Eduard, ohne aufzusehen.

»Mit dem Hai? gar nichts – wäre das Wetter gut gewesen, so hätte ich ihn eingebracht, so aber hatte ich gestern Abend nur meinen ältesten Jungen, den Schlingel da, mit mir im Boot und konnte mich nicht weiter mit ihm aufhalten, als daß ich ihn an's Boot heranzog und ihm den Kopf abschlug – das Gebiß hatt' ich für Sie bestimmt.«

»Ja, es ist richtig,« flüsterte der junge Mann, ohne den Kopf aus den Händen zu heben, und die Gegenwart der Anderen wohl ganz vergessend, in sich selber hinein – »es ist vollkommen richtig – Zeit und Ort stimmen auf die Minute, und auch der Hai und der Kahn – aber der alte Stadtschreiber hat doch falsch prophezeit – nicht Alle bleiben hier oben und altern und vergessen – nein, meine arme Bonita, ich kann Dich da unten weinen und trauern sehen an dem lauschigen Plätzchen, wo Dein liebes Haupt an meiner Schulten ruhte – unter dem wogenden Schwammbusch und der alten, riesengroßen Koralle –«

»Aber, lieber Eduard,« bat Elise und ergriff die Hand des erschreckt Emporfahrenden. »Du brichst ja Deiner armen Mutter das Herz mit solchen Reden – laß doch diese bösen Träume und sei ein Mann. – Komm, geh mit uns nach Hause, die frische Morgenluft wird Dir gut thun, und wir wollen nachher über all' den närrischen Kram, den Du jetzt im Kopf hast, zusammen lachen – nicht wahr, Eduard?«

Die alte Dame saß auf dem Stuhl neben dem Sohn, und die hellen Thränen liefen ihr fortwährend über die bleichen, abgehärmten Wangen herunter. Eduard ergriff ihre Hand, drückte sie innig an seine Lippen und sagte mit leiser, bittender Stimme:

»Sei mir nicht böse, liebe Mutter, daß ich Dir so vielen Schmerz gemacht, aber Du kannst auch nicht wissen, was Alles in der letzten Nacht mit mir vorgegangen, ja Ihr würdet es mir vielleicht nicht einmal glauben,« setzte er wehmüthig lächelnd hinzu; »und in der That ist das Ganze so toll und abenteuerlich, daß ich fast selber anfange, es Alles für einen wilden, nur wunderbar klaren Traum zu halten. Aber Elise hat Recht – wir wollen hinaus ins Freie gehen – dort wird mir besser werden, vielleicht daß dann auch diese trüben Bilder von mir weichen – ich will mir wenigstens alle mögliche Mühe geben, liebe Mutter – ist Dir das so recht?«

Die alte Frau lächelte unter ihren Thränen vor und sagte mit freundlicher Stimme:

»So bist Du wieder mein lieber, lieber Sohn – ermanne Dich nur selber, und Du wirst bald wieder mit klarem Geist durch den dichten Nebel sehen, der Dich bis jetzt umlagert hielt. – Die arme Elise hat auch so viel Angst Deinetwegen ausgestanden – das arme Mädchen war die ganze Nacht mit mir auf.«

»Liebe Elise,« sagte Eduard mit weicher, inniger Stimme, während er ihre Hand ergriff und festhielt, »und ich habe das gar nicht um Dich verdient,« setzte er dann leiser und traurig hinzu.

In diesem Augenblick fühlte er an ihrer Hand einen der Ringe, die sie trug – im Nu durchzuckte ihn wieder die Erinnerung der letzten Nacht – er hob rasch seine Blicke gegen das Licht der Sonne – der kleine Ring an seinem linken Finger, den er sonst nie, weder wachend noch schlafend, ablegte – fehlte. Er wurde todtenbleich und mußte sich an der Lehne des Stuhles, von dem er aufgesprungen war, festhalten.

»Um Gott! was ist Dir?« rief die Mutter entsetzt und ergriff seinen Arm – so rasch die Bewegung aber gekommen, so rasch verschwand sie auch wieder – Eduard lächelte und sagte, sie beruhigend:

»Es ist nichts, liebe Mutter, nur ein kleiner Schwindel, noch Schwäche der letzten Aufregung vielleicht; es ist schon vorüber und ich fühle mich besser. Aber komm, liebe Mutter, komm, Elise, und Ihr, liebe Schwestern, wir wollen nach Hause gehen – ich sehe da drüben schon eine Partie neugieriger Menschen kommen – wenn sie mich wieder wohl und gesund am Ufer sehen, werden sie sich ja wohl befriedigt fühlen. Aber halt, Hannsen – nicht wahr, Ihr begleitet uns, Alter, – ich möchte mir nachher ein wenig Bewegung machen und da bedarf ich doch am Ende noch eines Begleiters.«

»Das ist recht, mein Sohn!« sagte die alte Frau freundlich und vollkommen beruhigt, als sie diese plötzliche Veränderung in des jungen Mannes Benehmen bemerkte; »schüttle nur die alten häßlichen Gedanken mit Gewalt von Dir, und es wird alles gut werden. Und nun kommt, Kinder, ich glaube, wir bedürfen alle miteinander der Ruhe, und wenn wir ein Stündchen geschlafen haben, dann soll uns Eduard nachher erzählen, wie er sich gestern bei dem Nebel draußen verirrt hat und herumgetrieben ist.«

Eduard winkte ihr lächelnd zu und bot ihr und Elisen den Arm, und seine beiden Schwestern folgten mit dem alten Hannsen, der sie heute Morgen, als er den jungen Mann draußen in seinem Boot gefunden und an Land gebracht, gleich hatte davon benachrichtigen lassen.

Eduards plötzliche Ruhe und Besonnenheit rührte aber keineswegs davon her, daß er sich, wie seine Mutter hoffte und glaubte, der trüben Gedanken und Träume entschlagen habe, sondern sie beruhte gerade auf dem Gegentheil. Durch das Verschwinden des Ringes war ihm die Gewißheit geworden, daß er nicht geträumt hatte, daß das Alles, was ihm noch, wie der wilde Nachklang einer zerschmetterten Harfe, mit schmerzlichem Accord durch die Seile tönte, Wirklichkeit – That gewesen, und mit dieser Gewißheit zog ihm auch wieder Ruhe und Besonnenheit in das Herz zurück. Träumen und Grübeln konnte ihm nichts mehr nützen – er mußte handeln.

Als er die Frauen nach Hause begleitet und sie verlassen hatte, nahm er des alten Hannsen Arm trotz dessen Sträuben und schritt mit ihm langsam auf den Dünen hinauf, dem westlichen Ende der Insel zu. Erst aber als sie von den Häusern vollkommen entfernt waren und allein auf dem gelben Sandstreifen standen, der sich nach dem grün dagegen anzuschauenden Wasser niederzog, blieb er plötzlich stehen; schaute sich erst um, ob sie auch keine Unterbrechung zu fürchten hätten, und sich dann auf den Sand niederwerfend, während er Hansen winkte, neben ihm Platz zu nehmen, sagte er:

»Hannsen, Ihr wolltet mir neulich einmal erzählen, wie – wenn ich nicht irre – ein junges Mädchen aus jener versunkenen Stadt hier oben gesehen worden sei.«

»Aber bester, junger Herr –«

»Ich weiß schon – ich weiß schon, Hannsen – ich war damals ein Thor und lachte über Eure Erzählung, aber Ihr müßt mir das nicht so übel nehmen und dürft deshalb keinen Groll gegen mich hegen. Seid auch versichert, daß es nicht wieder geschehen soll – ich habe vollkommen Grund, ernsthaft dabei zu bleiben – wenn ich Euch nachher sage, weshalb, werdet Ihr mir auch Recht geben. Und nun bitte, erzählt mir, wie es mit dem jungen Mädchen war, das hier oben an der Oberfläche gesehen worden sein soll.«

»Mein lieber, junger Herr!« sagte aber der Alte kopfschüttelnd und sich, wie das seine Gewohnheit so war, hinter dem linken Ohr kratzend, »ich fürchte, ich habe Ihnen schon zu viel solche Sachen erzählt. Unser alter Herr Pastor, Gott habe ihn selig, sagte immer, man solle den Teufel nicht an die Wand malen, sonst käme er zur Thür herein.«

»Aber die Geschichte, mein guter Hannsen!« bat Eduard.

»Lieber Herr, das sind Ammenmärchen!« wich der Alte aus; »derlei Geschichten sind gut für kleine Kinder und alte Weiber, und hat man einmal nichts Besseres zu thun, so hört man ihnen wohl ein Weilchen zu und lacht darüber – sonst aber –«

»Und wenn es nun keine Ammenmärchen wären, alter Freund?« frug der junge Mann, ihn scharf dabei anschauend, als ob er in seiner innersten Seele lesen wollte. »Hannsen,« sagte er da plötzlich, seinen Arm ergreifend, »es sind in der That keine Märchen – ich war unten bei ihnen.«

»Unten? – wo?« rief der alte Mann erschrocken.

»In der versunkenen Stadt – ich war bei ihnen und« – er sah sich scheu dabei um und fuhr flüsternd fort – »ich muß auch wieder zu ihnen hinunter.«

»Gott im Himmel, sei uns gnädig!« sagte der Alte erschrocken, »wie kommen Sie nur auf die tollen Gedanken? Das wäre ja ein erschreckliches Unglück, wenn Sie sich erst einmal so etwas in den Kopf setzten!«

»Kennt Ihr den Stadtschreiber Fischkopf, Hannsen?« frug Eduard plötzlich und sah ihm aufmerksam ins Auge.

»Stadtschreiber Fischkopf?« wiederholte der Alte sinnend, »Stadtschreiber Fischkopf, Fischkopf – ist mir immer, als ob ich den Namen schon einmal gehört haben könnte – »will's aber nicht gewiß behaupten – und was ist's mit dem?«

Eduard lächelte, nickte still vor sich hin und stützte einen Augenblick den Kopf in die Hand – in seiner Erinnerung tauchte eine neue Scene auf.

»Wie alt seid Ihr, Hannsen?« frug er rasch, sich wieder emporrichtend.

»Alt? – lassen Sie mich einmal sehen!« murmelte der Greis, indem er nach dem jetzt fast wolkenleeren Himmel mit den lichtblauen Augen emporschaute und so wenige Minuten nachsann. »Wie wir das Haus bauten,« zählte er leise dabei vor sich hin, »waren's vierzig – nachher, wie mir der Junge starb, fünfundvierzig – das sind nun fünf, sieben, dreizehn – das sind jetzt siebzehn Jahre her, also werd' ich wohl nächste Pfingsten zweiundsechzig Jahre alt werden, wenn mich Gott bis dahin leben läßt,« setzte er mit einem frommen Blick nach oben hinzu.

»Zweiundsechzig Jahre?« wiederholte Eduard lächelnd und ungläubig. »Ihr irrt Euch, Hannsen!«

»Ich? – nein, ich glaube nicht –« sagte der Alte erstaunt; »aber warten Sie einmal – das sind vierzig – fünfundvierzig – zweiundfünfzig – drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht und fünfzig – und das werden heuer vier Jahr – nein, es stimmt wahrhaftig – zweiundsechzig Jahr – aber ich bin noch ziemlich kräftig für mein Alter,« setzte er schmunzelnd hinzu, »und deshalb sehen mich manche Leute vielleicht für ein paar Jahr jünger an, als ich wirklich schultere.«

»Hannsen, Ihr seid weit älter!« sagte der junge Mann ernsthaft, indem er ihn forschend betrachtete. »Ihr seid weit, weit älter und wollt es mir nur nicht sagen – der Stadtschreiber Fischkopf hat Euch schon vor mehreren hundert Jahren gekannt.«

»Der Stadtschreiber Fischkopf?« wiederholte Hannsen, und ein eigener Zug drolligen Humors zuckte ihm über das ehrwürdige offene Angesicht. Als aber sein Blick auf das Antlitz des Jünglings fiel und er den trüben, eifrigen Ernst darin gewahrte, da schoß es ihm wie mit einem jähen Schreck durch das Herz, und es stieg zum ersten Mal der Gedanke in ihm auf, sein lieber, junger Freund könne am Ende doch wohl gar wahnsinnig geworden sein.

Eduard las in seinem plötzlich so verstörten Blick den Gedanken seiner Seele und sagte lächelnd:

»Fürchtet nichts, alter Freund, ich habe meine Sinne vollkommen gut beisammen; um Euch aber zu beweisen, wie mich nicht blos ein Traum quält, sondern daß ich wirklich Erlebtes, mag es auch wunderbar genug klingen, im Gedächtniß, nicht im fieberhaft aufgeregten Hirn trage, will ich Euch, wenn Ihr Lust habt mich anzuhören, mit kurzen, klaren Worten die Geschichte dieser Nacht erzählen; lacht mich dann aus, wenn Ihr könnt, bis dahin aber hört mich ruhig an.«

Eduard begann nun, dem alten, ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zuhörenden Mann genau zu erzählen, wie er vor einiger Zeit einmal geglaubt habe, das Bild eines Mädchenkopfes im Wasser zu sehen – er sei aber dessen doch nicht recht gewiß gewesen und nun oft allein hinausgefahren, um dem holden Antlitz noch einmal zu begegnen, und wie er gestern die wunderholde Maid in dem Kahn auf derselben Stelle – er wußte selber nicht von wannen kommend – angetroffen habe. Des Alten Aufmerksamkeit wuchs, als er des fremden Mädchens erwähnte, und er ließ sich genau ihre Gestalt, ihre Augen, ihre Kleidung beschreiben. Eduard that das aber mit viel zu schwärmerischer Begeisterung, um ihm einen klaren Begriff darüber geben zu können, und der Alte frug ihn endlich kopfschüttelnd:

»Aber seid Ihr denn auch ganz gewiß, lieber Herr, daß Ihr nicht, in Eurem Boot eingeschlafen, die ganze Sache doch am Ende nur geträumt habt? – Es ist ja doch möglich.«

Eduard deckte sich einen Augenblick die Stirn mit der Hand in tiefem, ernstem Nachdenken – endlich sagte er:

»Als sie auf eine meiner Fragen mir als Antwort ein kleines, schwermüthiges Lied, oh mit wie holder Stimme sang, erinnere ich mich, daß sie von dem Seetang, der ihre schlanke Gestalt wie ein Gürtel umschloß, einzelne Stücke abpflückte und wie spielend in mein Boot warf – als ob die Maid dort vor mir stünde, so klar und deutlich höre ich ihre liebe Stimme noch und sehe ihr holdes Antlitz und ich wollte meine Seligkeit für die Wahrheit einsetzen. Mit Spannung beobachtete ich damals auch die kleinste, unbedeutendste Handlung, die geringste Bewegung jenes mir so zauberhaft erscheinenden Wesens, und so klar liegt das Vergangene vor mir, daß ich drei kleine Zweige, die sie nach und nach in das Boot warf, zählte – ein vierter fiel auf das Wasser – laßt uns zum Boot gehen – sie müssen vorn in der Spitze desselben liegen. – Und habt Ihr nicht den Kahn mit Euren eigenen Augen gesehen?«

Der alte Hannsen war in der peinlichsten Verlegenheit – er hatte die drei kleinen Zweige Seetang wirklich im Boot gefunden und danach geglaubt, sein junger Freund sei vielleicht am Strande herumgetrieben, wo er sie aufgelesen und zum Spiel in sein Boot geworfen. Sollte er es ihm jetzt bekennen oder verschweigen? Die Sache fing ihm dabei selber an unheimlich vorzukommen: es stak noch viel zu viel von dem alten Glauben an Geistergeschichten in seinem Kopf, um ihn gegen eine solche Erzählung, die gewissermaßen unter seinen eigenen Augen vorgefallen war, total unempfindlich zu machen. Seine gewohnte Ehrlichkeit trug dann noch außerdem den Sieg davon, und er bestätigte dem jungen Manne, daß der Seetang im Boot gelegen.

»Ich wußte es!« sagte dieser ruhig; »ich war hinausgerudert und so vollkommen wach und bei meiner klarsten Besinnung, wie ich es jetzt bin; auch kann ich Euch gestehen, ich glaubte im Anfang, als ich das holde Frauenbild neben mir sah, wirklich selber, daß ich träume – ich deckte meine Augen mit der Hand, ich schalt mich einen Thoren, der sich muthwillig Bilder seiner Phantasie heraufbeschwöre – aber die Gestalt blieb – blieb mir so klar und ernst gegenüber, wie ich Euch, Hannsen, neben mir sehe, und Täuschung war nicht mehr möglich. Aber hört, wie es weiter ging –«

Und er fuhr nun fort und erzählte dem immer mehr erstaunten alten Fischer, der zuletzt gar nicht mehr wußte, ob er selber wache oder träume, die ganzen Vorgänge der letzten Nacht bis in die unbedeutendsten Kleinigkeiten hinab. Dem alten Manne wurde es ordentlich unheimlich zu Muthe, als er seinen eigenen Namen auf solche Weise damit verflochten hörte, und die Geschichte mit dem Hai kam ihm jetzt selber am rätselhaftesten vor, denn, zufällig oder nicht, der Hai, von dem er vorher nur auf einen Augenblick die Flosse gesehen, war nach unten gegangen und gerade über jener Stelle plötzlich herauf- und nach dem Haken zu geschossen. Einen so großen Hai erinnerte er sich aber, in sehr, sehr langer Zeit nicht gesehen zu haben.

Hannsen leugnete übrigens hartnäckig, von einem Amts- oder Stadtschreiber Fischkopf auch nur das Geringste zu wissen, viel weniger mit ihm verwandt zu sein, schwur, daß er es mit dem Kirchenbuch beweisen könne, wie er eben nur zweiundsechzig Jahre, und das erst zu Pfingsten, alt wäre, und wollte überhaupt mit der ganzen Geschichte nichts zu thun haben. Auch das Zusammentreffen mit dem Ring suchte er aufzuklären; den Ring konnte Eduard im Boot verloren haben, und deswegen nachzusehen, gingen jetzt beide Männer mit raschen Schritten nach der Stelle zurück, wo dieses lag. Trotzdem aber, daß sie es auf das Genaueste durchsuchten, ja die Laufplanken unten sogar aufbrachen, ob er sich nicht doch irgendwo zwischen den Rippen festgeklemmt habe, fanden sie nichts als die paar kleinen Zweige Seetang, die Eduard mit wilder Leidenschaftlichkeit an seine Lippen preßte und an seinem Herzen barg – es war das Einzige, was ihm als Andenken an die verlorene Geliebte geblieben.

Hannsen bewog ihn endlich mit Mühe, daß er jetzt nach Hause ginge und sich schlafen lege, und morgen früh wollten sie die ganze Sache noch einmal kaltblütig und vernünftig mit einander besprechen. So große Lust auch Eduard hatte, wieder in See hinauszufahren, mußte er sich diesmal dem allerdings verständigen Vorschlage fügen. Hannsen blieb noch eine ganze Weile am Strand allein, und die Sache ging ihm so im Kopf herum, daß er zuletzt gar nicht mehr wußte, was er daraus machen sollte. Zu sehr selber in dem Glauben seiner Umgebung aufgewachsen, war er nicht im Stande, jede Unmöglichkeit eines solchen übernatürlichen Vorfalls wegzuleugnen, noch dazu, da einzelne Punkte sich als wirkliche Thatsachen herausstellten. Er erfuhr noch an demselben Nachmittag durch einen andern Fischer, der zufällig an das Schiff, was er in See gesehen, gekommen und ihm Fische verkauft hatte, daß sie dort an Bord einen kleinen Kahn in der Gegend von Wanger-Oog gefunden und geborgen hätten – der Seetang ließ sich ebenfalls nicht wegleugnen, und die Sache mit dem Ring und dem Hai, wenn man sie vielleicht auch anders zu erklären vermochte, ließ doch Manches noch unklar und bedenklich.

Er that endlich den vernünftigsten Schritt, den er unter solchen Umständen thun konnte – er ging zu dem Brunnenarzt, von dem er sich vorher tiefes Stillschweigen über das ihm Mitgetheilte angeloben ließ, und machte ihn mit Allem bekannt, was er wußte.

Der Arzt war einer jener hausbackenen Wirklichkeitsmenschen, die nun einmal unter keiner Bedingung, und wenn ihnen selbst die Beweise sonnenklar vor Augen gelegt würden, an etwas Ueber- oder, wie sie's nennen, Widernatürliches glauben wollen. Ein menschliches Wesen kann unter Wasser höchstens wenige Minuten leben, aber nicht ganze Stunden und Nächte lang und dabei frühstücken und Spaziergänge machen, ergo: war die ganze Sache ein Hirngespinnst. Ein vernünftiger Mensch konnte aber auf solche Hirngespinste eben so wenig fallen, als er das Kunststück mit dem Wasser hätte ausführen mögen, ergo: war dem jungen Mann irgend eine Schraube im Kopf losgegangen, und dagegen mußten augenblicklich die nachdrücklichsten Maßregeln getroffen werden. Mit Gewalt ließ sich übrigens hier, so viel sah er ein, nichts ausrichten, und er beschloß deshalb, vor allen Dingen Frau Merkfeld, die er auch glücklicher Weise selber behandelte, aufzusuchen und mit ihr einen Plan zu besprechen, um den Sohn, so rasch das nur möglicher Weise anging, aus der Nähe dieser für ihn gefährlichen Stelle – wo seine jetzt einmal krankhaft aufgeregte Phantasie immer neuen Stoff, neue Nahrung finden mußte – zu entfernen.

Ein Vorwand war hierzu leider nur zu bald und zwar so ernstlich gefunden, daß es gar nicht einmal mehr ein Vorwand genannt werden konnte. Die alte Frau Merkfeld, welcher der Arzt natürlich nicht alle die Einzelheiten angab, sondern sie mehr ahnen ließ, welcher Gefahr ihr Sohn hier ausgesetzt sei, als daß er es ihr bestimmt sagte, wurde mit Allem, was sie selber von ihm gehört und gesehen, so gewaltig davon ergriffen, daß das Schlimmste für sie selber zu fürchten war, blieb sie noch längere Zeit in solcher Aufregung. Ihr Entschluß war deshalb rasch gefaßt. Noch während Eduard schlief, denn nach der gehabten Aufregung hatte sich eine förmliche Betäubung seiner Sinne bemächtigt, in der sich der Körper wieder Ruhe und Erholung zu verschaffen suchte – packte Elise mit den beiden Töchtern alles Nöthige ein, und die Abreise in die Heimath zurück wurde auf den nächsten Morgen mit dem ersten Dampfboot festgesetzt. Als Eduard am anderen Morgen, denn so lange hatte er sein Zimmer gehütet, zu seiner Mutter kam, erschrak er fast ebenso über die Anzeige und Nachricht der nahen Abreise, als über der Mutter Aussehen; die Möglichkeit wurde ihm aber genommen, noch einmal nach seiner Lieblingsstelle, die für ihn so furchtbarliebe Erinnerungen bot – hinausfahren zu können. Er durfte seine Mutter keinen Augenblick verlassen und schickte nur noch nach dem alten Fischer, um von ihm Abschied zu nehmen.

Wenige Stunden später keuchte der Dampfer mit ihnen die Weser hinauf, und nach wenigen Tagen hatten sie die Heimath erreicht.

 

VII

Eduard war allerdings durch die Entfernung von dem Ort seiner Sehnsucht ruhiger geworden, aber eine stille, tiefe Schwermuth hielt seinen Geist dafür mit desto unzerreißbareren Banden gefesselt. Er erwähnte mit keinem Worte mehr des Vergangenen, ja er vermied sogar mit fast ängstlicher Sorgfalt Alles, was nur auf ihren Aufenthalt an der Nordsee den mindesten Bezug haben konnte. Gegen Elise war er stets freundlich, ja herzlich, aber er hielt sich soviel er konnte von ihr zurück, und das arme Mädchen, das ihm von ganzer Seele gut war, ertrug mit stiller, schmerzlicher Trauer die Kälte des so geliebten Mannes. Mit Freuden nahm sie bald darauf aber auch eine Gelegenheit wahr, um sich einem ihr peinlich werdenden Zusammenleben mit ihm in einem Hause zu entziehen; eine Tante von ihr kränkelte und hatte sie gebeten, zu ihr nach Braunschweig zu kommen, und sie folgte dem Ruf.

Eduard wurde von der Zeit an fast noch stiller; er fühlte wohl, wie entsetzlich weh er dem armen Mädchen gethan, aber er sah auch ein, daß eine Trennung für sie Beide gut, ja nöthig wäre, und beschäftigte sich von nun an fast allein mit seiner Mutter, deren Kränklichkeit und Schwäche von Tag zu Tag zunahmen. Der armen alten Frau waren die Schläge des Schicksals aber zu hart und schnell auf einander folgend gekommen, um sich wieder davon erholen zu können. Der Verlust des Gatten hatte sie schon sehr angegriffen, und die stete Angst und Sorge um den geliebten Sohn, dessen unheilbarer Tiefsinn dem Mutterauge nicht entgehen konnte, vollendeten, was der erste begonnen – Ostern war noch nicht vorüber, da trugen sie ihre Leiche an die Seite des Gatten unter die stille, freundliche Linde am Herrenhaus.

Es vergingen mehrere Monate, aber die sonst so traute, lebendige Wohnung der Merkfeldschen Familie war ein Haus der Trauer geworden, in dem es die Bewohner endlich nicht länger mehr aushalten konnten. Die beiden Mädchen zogen nach Halberstadt, zu ihrer Mutter Schwester, und nur Eduard weigerte sich, den Platz zu verlassen. Er behielt wenigstens seinen ständigen Aufenthalt dort und kam nur dann und wann nach Halberstadt, um seine Schwestern und Verwandten zu besuchen.

Im Hause dieser lernte er einen jungen Maler kennen, dessen ganzes, etwas schwermüthiges wie gemüthvolles Wesen ihn so anzog, daß er sich inniger an ihn anschloß, als er das in den letzten Jahren an irgend einen andern Menschen gethan. Nur das Geheimniß seines Herzens, den Wurm, der an seiner Seele nagte – vertraute er ihm nicht an. Er fürchtete den Spott der Menschen und wollte sein Heiligthum nicht entweiht haben.

Ein solcher Besuch in seinem Atelier fiel in die nächsten Tage nach dem Osterfeste, und er fand den jungen Maler eifrig beschäftigt, das Portrait eines biedern Staatsbürgers zu vollenden, der sich im Frack und weißer Weste, mit goldener schwerer Uhrkette und einem Orden im Knopfloch hatte abconterfeien und auf die Nachwelt bringen lassen.

Eduard warf sich auf seinen gewöhnlichen Sitz, der Staffelei gegenüber, und betrachtete sich gleichgültig das Bild mit dem alltäglichen Gesicht, an dem sein Freund aber trotzdem eifrig fortarbeitete. Endlich sagte er:

»Sie scheinen ja heute sehr beschäftigt, Helmers – hat das Portrait solche Eile?«

»Nein,« sagte der junge Mann kopfschüttelnd, »aber ich möchte mit dem langweiligen Gesicht gern fertig werden, um an etwas Besseres zu gehen, denn das ist reine Holzhackerarbeit – einfacher Broderwerb, an solche Carricaturen menschlicher Aufgeblasenheit die Zeit zu verschwenden. Aber es muß eben sein, und Lohn und Ersatz dafür finden wir nur in anderer Weise.«

»In anderer?«

»In der Arbeit an Gegenständen, die unser Auge entzücken und unsere Phantasie wecken und begeistern,« rief der Maler; »ich sage Ihnen, Merkfeld, ich habe neulich zufällig eine Studie bekommen und für mich copirt, die das Schönste und Herrlichste ist, was ich in der Art je gesehen – das Gesicht einer Heiligen – einer Prophetin. Schade, daß das Ganze nur Studie geblieben. Ich wollte ein Jahr meines Lebens darum geben, wenn ich die ganze Gestalt hätte kennen und malen dürfen.«

Eduard seufzte tief auf und sagte endlich: »Sie haben Recht! Ich selber würde zehn Jahre meines Lebens darum geben – wenn ich überhaupt noch so viel zu vergeben habe –, könnte ich selber malen, nur um ein einziges Antlitz – eine einzige Gestalt in unvergänglichen Farben festzuhalten.«

Der junge Maler schaute ernst und sinnend zu ihm hinüber und sagte endlich leise, wie mit sich selber redend:

»Ja – es ist ein süßes, herrliches Gefühl, so still und allein in seiner Kammer sitzen zu können und, von Niemandem gestört, von Niemandem belauscht, in die lieben verlorenen Züge zu schauen – aber es ist auch Thorheit,« fuhr er rascher und rascher fort, »es ist Selbstmord, und wir quälen und peinigen den Geist, bis wir – Bah! Jugendstreiche,« brach er plötzlich ab – »die alten Herren sagen, wir würden vernünftiger werden, wenn wir älter würden, und in einer Art haben sie Recht. Wer hätte derlei Treiben schon von alten ehrwürdigen Gerichtsräthen oder sonstigen Philistern gehört, und doch sind Alle diese auch einmal jung gewesen, und haben das Herz vielleicht eben so heiß und ungestüm in der Brust herumgetragen, als wir es jetzt thun. Das Einzige, worin sie irren, ist, daß sie der Sache einen falschen Namen geben. Sie nennen Vernunft, was eigentlich nur erstarrtes und abgestorbenes Blut ist. Sie schreiben das ihrer eigenen, verständigen Ueberlegung zu, was sie nur in ihren vertrockneten Adern zu suchen haben, und rechnen sich das zum Verdienst an, was die Jugend als ein Unglück betrachten würde. Sie haben die Blumenflur hinter sich, die freilich ohne Weg und Steg, von wilden Bergbächen durchtobt, von Abgründen oft durchschnitten, aber mit einem unendlichen Zauber und Reiz ausgestattet ist, und schreiten jetzt in grauer Haidegegend, auf ebener und bequemer Chaussee fürbaß. ›Oh wie behaglich geht sich's hier,‹ rufen sie aus, ›was für Thoren sind doch die jungen Leute, daß sie dahinten noch zwischen den Steinblöcken umherspringen, um sich vielleicht eine Blume zu pflücken, die ihnen nachher in der Hand welkt.‹ – Aber im Herzen wünschen sie sich doch gerade wieder zwischen die jungen Leute hinein und setzen nur hinzu: ›aber mit unseren Erfahrungen,‹ und wären sie wieder jung, Merkfeld – Sie sollten einmal sehen, was für tolle Sprünge und Sätze sie mit ihren Erfahrungen machen würden. Doch wo bin ich hingerathen – ich sprach ja von meinem lieben Bild.«

»Und darf ich es sehen?« sagte Eduard – »Sie machen mich wirklich neugierig.«

»Gewiß,« rief der Maler, indem er ein kleines Oelgemälde, das noch ohne Rahmen umgedreht an einem andern Bilde lehnte, vornahm und zur Staffelei trug. »Sie werden mir Recht geben, wenn ich sage, ich habe in meinem Leben noch keinen interessanteren Kopf gesehen. Es ist ein Kopf, wie er–«

Ein wilder, fast übernatürlich klingender Aufschrei Eduard's unterbrach ihn hier, und als er erschreckt zu ihm hinüberschaute, sah er, daß der Freund leichenbleich, mit stierem auf das Bild gehefteten Blick, vor dem Oelgemälde stand und die Arme wie sehnend danach ausstreckte – Dieser Zustand dauerte aber nicht lange, dann schlossen sich seine Augen wieder, und das Antlitz in den Händen bergend, sank er mit dem leise gemurmelten Ausruf: »Bonita« auf seinen Stuhl zurück.

»Um Gottes willen, Merkfeld – was ist Ihnen?« rief der Maler bestürzt. »Kennen Sie das Original?«

Eduard antwortete nicht, aber die Schwäche hatte er bald niedergekämpft, und wieder fiel sein Blick auf das Portrait, an dem seine ganze Seele zu hängen schien. Es war ja ihr Antlitz – Zug für Zug. Das lange, schwarze Haar – die großen, dunkeln Augen, der kleine, halb wie zum Sprechen geöffnete Mund, und die zarte, aber so bleiche Wange – aber es war der Ausdruck ihrer Züge, nicht wie er sie dort unten in ihrer fröhlichen Heiterkeit, sondern vorher – oben auf dem Wasser, in ihrem Schmerz gesehen. Wie sie da oben in ihrem Kahn gestanden, so sah er sie wieder vor sich, mit dem milden träumerischen und doch so begeisterten Blick. Nur die lose wallenden Haare waren von einem blühenden Lindenzweig statt von Seetang durchflochten.

»Wo stammt dies Bild her?« sagte Eduard endlich leise, ohne jedoch den Blick auch nur für einen Moment von dem Gemälde zu nehmen. »Wessen Phantasie schuf diese Züge?«

»So viel ich weiß,« erwiderte Helmers, »ist es keine Phantasie, sondern das Original lebte. Wie mir gesagt wurde, gehörten diese Züge einer Wahnsinnigen an, die aber eines Nachts ihrer Aufsicht entsprang und seitdem spurlos verschwunden ist.«

Eduard sah ihn wie sinnend an, aber es war, als ob die Worte nur halb verständlich an sein Ohr klangen, und dann wieder trank er mit durstigen Blicken das süße Gift dieser Züge, dieser Augen und konnte sich nicht davon losreißen. Er drang jetzt in den Maler, ihm die Copie zu überlassen, ja er schwur ihm, daß er nicht leben könne ohne das Bild, und Helmers suchte vergebens ihn durch allerlei Ausreden und Vernunftgründe davon abzubringen – umsonst. Er sah wohl ein, welchen nachtheiligen Einfluß eine so unnatürliche Erregung auf den überdies reizbaren jungen Mann haben und ausüben mußte, aber alle seine Gegenreden blieben fruchtlos. Eduard verließ, diesen Schatz im Arm, das Atelier – um es nie wieder zu betreten.

Drei Wochen etwa hielt er sich in seinem eigenen Zimmer fest verschlossen, nahm nur selten, und dann immer sehr wenig Nahrung zu sich – verkehrte dabei mit keinem Menschen, einen alten Diener ausgenommen, und besuchte nicht einmal mehr seine Schwestern. Mitte April verließ er plötzlich Morgens seine Wohnung, gab dem alten Mann einen Brief für seine Verwandten und sagte ihm nur, daß er beabsichtige, eine längere Reise vorzunehmen, die ihn wohl auf Wochen, vielleicht auf Monate entfernt halten könnte – aber er kehrte nie zurück.

*

Im Laufe des Sommers landete eines Tages ein alter Herr auf Wanger-Oog, der sich augenblicklich nach dem Fischer Hannsen erkundigte und diesen aufsuchte.

Es war ein Sonntag-Nachmittag, und der alte Fischer saß vor seiner Thür, die aufgeschlagene Bibel auf den Knieen, und schaute mit gefaltenen Händen auf die im freundlichen Sonnenlicht blitzende, spielende Fluth. Als er den Fremden aber auf sich zukommen sah, schloß er das Buch, legte es bei Seite und stand auf, um ihn zu begrüßen.

»Ich habe das Vergnügen, Herrn Hannsen zu sprechen?« frug der Fremde artig.

»Wenn Sie den Herrn weglassen und dafür Fischer setzen, ja,« lächelte der alte Mann in gutmüthiger Weise; »wir sind das hier nicht so recht gewohnt.«

»Sie kannten im vorigen Sommer einen jungen Mann, Namens Eduard Merkfeld?« frug der fremde Herr, ohne auf die Einsprache, des Titels wegen, weiter einzugehen; »nicht wahr? – Sie fuhren oft mit ihm hinaus in See?«

Das Lächeln schwand bei dem Namen im Nu von den Zügen des alten Fischers, er sah den Fremden einen Augenblick wehmüthig an und sagte dann leise:

»Wollen sie sein Grab besuchen?«

»Sein Grab?« wiederholte der Fremde sichtlich erschüttert, »sein Grab – also wirklich hier – und wo ist es?« setzte er dann nach kleiner Pause langsam und leiser hinzu.

»Kommen Sie!« sagte der Alte kurz, setzte seine Mütze, die er bis dahin in der Hand gehalten, wieder auf und schritt nach seinem Boot hinunter; »es ist jetzt gerade Fluth, wir können hinüberfahren.«

Der Fremde folgte ihm ohne Widerrede oder weitere Bemerkung, und Hannsen ruderte mit ihm dem festen Lande zu. Unterwegs erzählte er ihm in wenigen Worten den Tod des Jünglings.

Er war im vorigen Jahre, schon im Spätherbst, als alle Badegäste lange die Insel verlassen, aber sonst heiterer wie ihn der alte Mann je gesehen, nur etwas bleich, wie kränklich oder angegriffen aussehend, hier eingetroffen und hatte gesagt, daß er sich diesmal nur sehr kurze Zeit – spätestens bis morgen früh – hier aufhalten könne, vorher aber doch noch einmal nach seinem alten Lieblingsplätzchen hinausfahren wolle – er habe nun so lange im Innern des Landes gelebt, daß er sich ordentlich einmal wieder nach Salzwasser sehne.

»Ich hatte gerade etwas an Land zu thun,« sagte der alte Mann, während ihm eine Thräne in's Auge stieg – »und er wollte mich auch nicht mithaben – es wäre sonst nicht vorgefallen. Er nahm den kleinsten Kahn, wie er das früher so oft gethan hatte, und ruderte hinaus; vorher aber stellte er noch ein Kästchen zu mir in die Stube und sagte dabei, er habe mir etwas vom festen Lande mitgebracht, ich dürfe es aber nicht eher aufmachen, als bis wir Licht angesteckt hätten, denn am hellen Tage sehe es nicht gut aus. – Er versprach, in höchstens zwei Stunden wiederzukehren, aber es wurde Mittag und er kam nicht, und als es tiefer und tiefer in den Nachmittag hineinrückte, fing ich selber an, unruhig zu werden und wollte schon hinausfahren und sehen, wo er bliebe. Wie ich aber gerade vom Land stoße, segelte das Boot meines Nachbars an und brachte den leeren Kahn mit zurück – er hatte ihn so auf dem Wasser treibend gefunden. Erst am dritten Morgen,« fuhr der alte Mann, indem er sich nur kräftiger in die Ruder legte, die gewaltsam aufsteigende Bewegung zu verbergen, mit leiserer, fast tonloser Stimme fort – »fanden wir die Leiche; hier auf der Insel war aber Niemand mehr, der seine Wohnung im Innern des Landes kannte, selbst der Doctor war nach dem festen Lande zurückgegangen – ich wußte nicht wohin, und ich besorgte deshalb seine Beerdigung auf meine eigene Verantwortung. Lieber Gott, er hatte mir Geld genug dazu gelassen – das Kistchen, was ich an dem Abend noch öffnete, denn ich glaubte mit Recht Aufschluß darin zu finden, war mit einer schweren Goldbörse gefüllt, und oben darauf lag ein beschriebenes Blatt und ein kleiner dürrer Zweig Seetang; auf dem Zettel aber stand, daß das Geld für mich sei und ich freundlich an ihn denken und ihn manchmal« – die hellen Thränen liefen dem alten Mann jetzt über die Wangen hinunter – »und ihn manchmal da draußen in seinem stillen Ruheort besuchen solle – ich wisse ja schon, wohin und zu wem er gegangen, aber auch nicht böse solle ich auf ihn sein, – denn er hätte sein Wort gegeben gehabt, und das dürfe er nicht brechen.«

Der alte Herr – der Onkel Eduard Merkfeld's – hörte ihm tiefbewegt zu, unterbrach ihn aber mit keiner Silbe, und die beiden Männer stiegen jetzt, als das Boot gelandet war, die sandigen Dünen der Küste hinan und schritten einer kleinen, von dichten Büschen beschatteten freundlichen Wohnung zu, die etwa eine Viertelstunde Weges vom Ufer entfernt lag.

»Es ist meiner Tochter Haus,« sagte der alte Mann, als sie dicht an die Wohnung vorbei ein schattiges Gebüsch betraten; »es giebt kein stilleres, lieberes Plätzchen in der ganzen Umgegend.«

Im nächsten Augenblick standen sie vor dem Heiligthum. Von Birken und Weiden dicht behangen, mit einem wahren Blumenflor bepflanzt, lagen zwei Gräber vor ihnen. An ihrem Kopfende standen zwei einfache hölzerne Kreuze – das eine trug nur einfach den Namen Eduard Merkfeld's, das andere war ganz glatt, und um Beide schlang sich eine dichte Guirlande von Seetang, wie er dort an den Küsten treibt.

»Armer Eduard!« sagte der alte Herr leise, während er mit gefalteten Händen und gesenktem Haupte neben dem Grabe des unglücklichen jungen Mannes stand; »aber wer ruht hier neben ihm?«

»Gott allein weiß es!« sagte der alte Fischer, die thränenvollen Augen zum Himmel aufschlagend, »es war ein junges, oh so liebschönes Mädchen, das die See noch an dem nämlichen Abend, wo der arme junge Herr Merkfeld mit seiner Familie abgereist war, gegenüber der Stelle, wo wir jetzt auch seine Leiche gefunden haben, an den Strand spülte. Niemand kannte sie hier. Niemand wußte, wo sie hergekommen, oder wohin sie gehöre, ich konnte mir aber nicht helfen, mir war es, als ob sie mit des armen jungen Herrn Schicksal wohl weit näher verwandt sein könne, als ich es mir selber gestehen mochte, und ich nahm sie hier herüber und begrub sie an dem stillen Plätzchen. Als der junge Herr Merkfeld jedoch nach Wanger-Oog zurückkam, scheute ich mich, sogleich wieder von alten, wie ich hoffte schon halb vergessenen Geschichten anzufangen, und sagte ihm nichts von dem Mädchen – ich glaubte, es wäre auch an dem Abend oder am nächsten Tag noch Zeit; – lieber Gott, am nächsten Tage holten wir seine Leiche herein. – Jetzt liegt das arme junge Paar hier beisammen im kühlen Grunde, aber Gott wird nicht hart mit ihnen sein und die Erde leicht auf ihnen ruhen lassen.«

 


 


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