Christian Fürchtegott Gellert
Fabeln und Erzählungen
Christian Fürchtegott Gellert

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Tartarfürst

                Ein Tartarfürst, von dem man in Geschichten preist,
Daß er, als Prinz, Europa durchgereist,
Befahl, weil er sein Volk galanter machen wollte,
Daß kein vornehmes Weib ihr Kind selbst stillen sollte.
Die wilden Damen lachten nur;
Sie nährten nach wie vor ihr Kind mit ihren Brüsten,
Und glaubten; daß sie der Natur
Und ihren Müttern folgen müßten.
Der Chan fing an, sich zu entrüsten,
Gab ein sehr scharf Mandat, und schwur,
Daß jede Frau vom Stande sterben sollte,
Die für ihr Kind nicht Ammen halten wollte.
Und weil sie sich gezwungen sahn:
So nahmen sie denn Ammen an.
Allein sie konnten sich des Triebs nicht lang erwehren,
Ihr eigen Blut an ihrer Brust zu nähren.
Die meisten fingen an, dem Chan den Tod zu schwören.

Einst, als der Tartarfürst sich ganz allein befand,
Kam, mit dem Degen in der Hand,
Ein vornehm Weib auf ihn gerannt,
Und sprach, von edlem Grimm entbrannt:
»Hör auf, mein Kind mir abzudrängen,
Sonst bin ich hier, dich umzubringen!
Ich säug es selbst, und säug es mir zur Lust,
Deswegen hab ich diese Brust.
In dieser Pflicht, mein Kind daran zu nehmen,
Soll mich, o Fürst, kein Tier beschämen.«

Der gute Tartarfürst erschrak,
Und unterließ, um nicht sein Leben zu verlieren,
Den europäischen Geschmack
In seinen Horden einzuführen.


 << zurück weiter >>