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III.

Jenseits des Stromes, welcher den Nordosten der Stadt einsäumt, bilden üppige Laubwaldbestände und kleine Teiche ein Durcheinander, das für einen, der es nicht kennt, ein wahrer Irrgarten werden könnte. Durch diese grüne, wasserreiche Gegend zieht von einer der mächtigsten Brücken des Stromes eine breite Straße in das ebene Land hinaus. Ein beträchtliches Stück weit reihen sich zu beiden Seiten des vielbelebten Verkehrsweges allerlei Buden, Schenken und Vergnügungsanstalten aneinander. Wo das Gehölz aufhört, stehen Fabriken und Lagerhäuser an der Straße, hernach breiten sich rechts Gärtnereien aus, und links benimmt ein neuer Stadtteil die Aussicht. Hinter den buntfärbigen Gärten beginnen grüne Wiesenflächen, gelbe Stoppelfelder und schwarze Sturzäcker. Grün, gelb und schwarz sind dann weithin die vorherrschenden Farben. Die Fernen des ebenen Landes scheinen vom Himmelsblau übergossen, und hinter der letzten ihrer Erhebungen, die man jetzt von hier aus kaum vom Höhenrauche unterscheiden kann, ragt ein nebelgraues Gebirge empor. Ein schöner Fahrweg, der von der Straße abzweigt, scheidet zuerst zwei Gemüsegärten voneinander und dann zwei Maisfelder, die sich bis zu einem Bache hin erstrecken, der langsam und trübe durch die vorderste Senkung der Ebene fließt. Am diesseitigen Ufer des Baches steht der Schwemmeißerhof. Die Wirtschaftsgebäude dieses Gutes nehmen mehr Platz ein als manches kleine Dorf, aber sein Herrenhaus, das die Vorderseite der Straße zukehrt, ist klein und einfach, es hat an einer jeden Seite des Einfahrttores nur je drei dicht vergitterte Fenster. An der gewölbten, grobgepflasterten Einfahrt liegen eine Küche und ein großer Raum, in welchem das Gesinde gespeist wird, der Herrenwohnung gegenüber, die nur aus drei Stuben besteht

Hinter den Scheunen des Hofes führt eine feste Holzbrücke über den Bach. Drüben bilden an einem schlechtgepflegten Feldweg zwölf kleine, einander ganz ähnliche Häuschen eine Gasse. Das sind Arbeiterwohnungen des Schwemeißergutes. Ungefähr tausend Schritte weit vom Hofe mündet das träge Wasser in den Teich, der sich lang und schmal aus dem Gehölze hervor windet und der besonders jetzt, wo seinem dunklen Grau von dem Abendsonnenscheine unzählige rote und weiße Lichter aufgesetzt sind, einer schillernden Riesenschlange verglichen werden könnte. Von dem dichten Grün alter Espen ganz überschattet, steht ein hölzernes Haus auf dem breiten, weißen Sandufer des Teiches.

Das Mittelstück dieses Baues trägt einen mit plumpem Schnitzwerk verzierten Giebel und ist schon von außen leicht als ein Tanzsaal zu erkennen. Über den Saalfenstern hängt ein Schild, auf welchem ein mehr üppiges als feenhaftes Weib und die Worte hingemalt sind: »Leopold Hawechls Gasthaus zur Danaunixe.« Linksseitlich von dem Giebel bedeckt ein langes Flügeldach zwei große Schankstuben und einen offenen Schuppen, in welchem zur Winterszeit die vielen Kähne untergebracht werden, die jetzt vor dem Wirtshause auf dem Wasser liegen.

Außer diesem Wirtshause gehört in einer weiten Runde schier alles zu dem Schwemeißergute: die erträglichen Felder, ein ansehnliches Stück der Au, einige Fischteiche, ein schöner Weingarten, der draußen vor der Bachmulde dem Süden zugewendet liegt, und eine der an die große Landstraße grenzenden Gemüsepflanzungen. Im Hofe sind soeben mehrere Frauen mit der Stallarbeit fertig geworden und gehen über die Brücke den kleinen Häuschen zu.

Frau Ramscher, die hübsche, braune, schwarzhaarige Hofschaffnerin, sperrt indessen das hintere Hoftor von innen und das vordere von außen zu, setzt sich dann in einen feinen, mit zwei Schimmeln bespannten Landauer, auf welchem sie ein junger Kutscher erwartet, und fährt nach der Stadt, wo sie heute, wie fast allabendlich, irgendeinem Konzerte oder einer Theatervorstellung beiwohnen wird. Ihr Mann, der Hofschaffer, ist wie allabendlich, so auch heute nach dem neuen Vororte hinübergeritten. Dort hat er einige Freunde, mit denen er allerlei Sport betreibt. Die Arbeiter haben heute tagsüber ein Halmfeld gepflügt und sitzen jetzt unten in der »Donaunixe«. Nur zwei der Hofknechte sind jetzt daheim, der alte, buckelige Deßl und der junge, kraftvolle Rankorn. Der Alte wohnt in dem dritten Häuschen der rechten Gassenzeile. Er steckt seinen schneeweißen Kopf zwischen rotblühenden Monatsrosenstöcken heraus, die auf dem einen seiner zwei Fensterchen stehen, schmaucht an einer Pfeife und hofft, dass der Abendwind den Tabaksrauch verwehen werde, denn in dem Stübchen sitzt und schlummert eine Greisin, die gar leicht einen Hustenreiz bekommt. Der junge Rankorn sitzt vor seiner Hütte, welche die sechste und letzte derselben Zeile ist, auf dem Rasen und liest eine Raimundposse, »Den Barometermacher«. Dabei lächelt er so, dass sein sonst etwas derbes Gesicht eigentümlich fein aussieht. Der Lärm, den ungefähr zwanzig Kinder auf der Gasse machen, indem sie »Polizei und Pülcher« spielen, stört den Lesenden nicht. Der Deßl aber fürchtet, dass die grellen Pfiffe der Buben seine Frau wecken könnten. Er möchte ihnen gerne etwas zurufen, unterlässt es aber, weil er ja damit selbst die Schlummernde aufschrecken würde.

So droht er den Kindern nur immerzu mit der Faust und macht ein grimmiges Gesicht. Die Jungen wissen es, weshalb er ihnen keinen lauten Verweis gibt, und sie drohen ihm zurück, indem sie seine Mienen und Gebärden sehr gut nachahmen. Dann schreit plötzlich einer der Kleinen: »Uli, dort verfährt sich einer!«

Dabei zeigt er nach dem Automobile, das Egid soeben von der Straße in den Feldweg einlenkt.

»Das ist ja 's Liebricher Auterl!« ruft ein anderer. Dann stockt das Spiel der Kinder völlig, und alle werden auf das schnelle Fahrzeug neugierig, das sie aber nicht lange sehen können, weil es vor dem Herrenhause stehen bleibt.

Sie laufen das Gässchen hinab, dann über die Brücke und um den weitläufigen Hof herum. Der junge Rankorn hebt den Kopf, sieht das Automobil ein Weilchen, ehe es hinter den Dächern des Hofes verschwindet, dann ruft er nach seinem Häuschen hin: »Mutter, ich glaub', jetzt sind sie da!«

Durch die offene Türe kommt eilends eine hagere Frau heraus, späht nach dem Hofe hin und fragt hastig: »Wo sind sie, wo?«

»Vor dem Herrenhaus. Und können wohl nicht hinein. Die Schafferin ist vor eine Weil' weggefahren.«

Die Alte schlägt die Hände über dem Kopfe zusammen, aber gleichzeitig lächelt sie schadenfroh. »Das wird der närrischen Fuchtl eine schöne Nase einbringen«, sagt sie. »Recht geschieht ihr. Weil sie allweil auf der Gaudee sein muss, die Rammen, die verbrennte.«

Dann bückt sich die alte Frau und gibt ihrem Sohne, der noch immer auf dem Boden sitzt, einen Rippenstoß. »Wie kannst du denn noch hocken bleiben? Renn'! Schau', ob sie richtig da sind! Zeig' dich dienstfertig! Sie sollen es sehen, dass du der einzige von allen bist, der am Platz' wär', wenn dem Hof' was geschäh'!«

Die letzteren Worte sagte sie in einem Flüstertone, um von einer jungen, prallen Nachbarin nicht gehört zu werden, die nun an einem Fenster erscheint. Aber die Nachbarin hat doch schon etwas erlauscht. Sie verschwindet am Fenster, kommt im nächsten Augenblick zur Türe heraus und läuft dem Hofe zu. Zu gleicher Zeit verlässt auch eine andere Frau eines der gegenüberliegenden Häuschen so schnell, als ob dieses von einem Erdbeben geschüttelt würde. Als die beiden kaum die Brücke erreicht haben, sind schon mehrere andere Weiber so hurtig hinter ihnen her, dass man die Röcke und Schürzen im ganzen Gässchen sausen hören kann. Die alte Rankorn sieht nun schon ganz verzweifelt aus und gibt mit ihrer knöcherigen Faust dem jungen Manne eine Kopfnuss.

»Jetzt lässt sich der Tepp die Wohldienerinnen zuvorkommen.«

»Ich will nicht der erste Wohldiener sein«, antwortet Rankorn und wendet ein Blatt seines Buches, um weiterzulesen. Da entreißt ihm die Alte das Buch, schleudert es zur offenen Türe hinein und stürmt den Weibern nach. Der junge Mann steht langsam auf. Er holt sein Buch, legt sich dann bäuchlings hin und liest.

Als der alte Deßl die Weiber vorüberstürzen sah, wusste er es, dass der Baldringer angekommen war. Er hörte deswegen nicht zu rauchen auf und redete leise vor sich hin: »Um zwanzig Jahr früher hätt' so ein Baldringer kommen und das nachzahlen sollen, was mir der Schwemeißer zu wenig geben hat. Dann hätt' ich vielleicht mein Waberl um Mitternacht aus dem Bett g'rissen und hätt' mit ihr ein'n Zepperlpolka tanzt. Aber heut? Haut' lass' ich's schlafen. Jetzt ist der Schlaf schon das Beste für sie.«

*

Als die zwei Baldringer und Egid das Einfahrtstor versperrt fanden, schien es ihnen zuerst noch nicht wahrscheinlich, dass der Hof von seinen Hütern verlassen sein könnte. Die zwei jungen Männer pochten ein Weilchen so stark, dass es unten in der Au widerhallte. Dann kam die vorhin so laute Kinderschar still und scheu um die Ecke geschlichen.

»Ist denn niemand da drinnen?« fragte Egid.

»Nein«, antworteten mehrere der Kleinen zugleich. Der Herr Schaffer ist ausgeritten.«

»Aufs Derby«, meinte ein blonder, brauner Knirps.

Da lachten ihn einige aus. »Auf d' Nacht gibt's kein Rennen mehr«, sagten sie. »Auf der Fuchsstuten tut er drüben am Firenzdorfer Sportplatz Trainingsreiten.«

»Gehört denn die Fuchsstute ihm?« fragte Egid.

»A wo. Zum Hof g'hört's.«

»Und nachher wird sie z'teilt«, erzählte sehr ernsthaft eine Vierjährige. Die wurde auch von den Größeren ausgelacht.

»Wann kommt denn der Schaffer heim?« fragte Egid. Darauf sagten die Kinder nichts Sicheres. Einige der Gescheiteren sagten aus Vorsicht nichts. Sie ahnten es, dass die zwei ihnen fremden Menschen die vielberedeten Baldringer waren, und sie hielten es nicht für ratsam, alles zu sagen, was sie von dem Hofschaffer wussten. Einer der arglosesten antwortete so ausführlich, als es ihm möglich war: »Meistens schlafen wir schon, wenn er kommt; aber manchmal sind wir auch schon wieder auf.«

»Und die Schafferin?« forschte Egid weiter.

»Die ist zu einer Operett' g'fahren.«

»Wer geht denn nachher bei der Nacht in den Kuhstall, wenn dort was los ist?« fragte nun Benna.

»Oft sind ja der Gnädigen ihr Dienstmädl und die Hofköchin z' Haus«, lautete die Antwort. »Aber heut übernacht' die Hofköchin wieder bei ihrer kranken Mutter drent in Lepoldau, und das Dienstmädl ist mit ihrem Alemanten in den Prater gangen.«

Jetzt kamen die Weiber nacheinander um die Ecke. Sie verbeugten sich und knicksten sogar. Eine jede wollte höflicher als alle anderen erscheinen. Benna wandte sich ab, um ihnen nicht in die Gesichter lachen zu müssen.

Eine, die hinten stand, zog einen der Buben zu sich und flüsterte ihm in das Ohr: »Sag's dem Vater, dass sie da sind.«

Dann bedeutete sie es dem Kleinen mit einem Puffe, dass er nicht an den Ankömmlingen vorüber, sondern um den Hof herum nach der »Donaunixe« laufen solle.

Markus bedankte sich für die viele Höflichkeit der Weiber, indem er einer jeden die Hand reichte. Er sprach dabei sonst nichts als zu allen miteinander: »Der Markus Baldringer bin ich.« Sie sagten ihm dann ihre Namen. Benna besah indessen eine Seitenwand des Hofes. Jetzt trat sie zu Markus zurück. »Da hinten hab' ich ein Tor gesehen, durch das wir leicht einbrechen könnten. Ich sehne mich schon stark nach einem Obdach«, sagte sie.

Markus nickte, dann ging er hin und riss, ohne sich gar viel plagen zu müssen, zwei Bretter von jenem Tore weg.

Während er damit beschäftigt war, stand Benna bei ihm. Egid wandte sich unterdessen an die Weiberschar und fragte: »Wer will die neue Herrschaft bedienen?«

Da boten sich alle, selbst die ältesten übereifrig an. Egid wählte nun aber zum Verdrusse aller anderen die zwei jüngsten und hübschesten.

Darauf stiegen Benna, Egid, Markus und die zwei auserkorenen Weiber durch die neue Torluke ein.

Die anderen Weiber verweilten noch ein wenig vor dem Hause und schimpften dabei, zunächst zwar ganz leise, aber doch kräftig genug über Egid.

Er war ihnen als einer bekannt, der es mit den Armen nicht gut meinte. Etliche befürchteten es ernsthaft, dass er auf den Baldringer einen für sie schädlichen Einfluss nehmen könnte, und alle waren darüber einig, dass er sich nicht ohne schlechte Ursache diesem guten Menschen angeschlossen habe.

»Derwürgen sollt man ihn! Vergiften! Zermalmen!« Das waren die Worte, denen schließlich die ganze Versammlung beistimmte. Dann sagte die alte Rankorn: »Jedenfalls krieg' ich heut mein'n Teil von der Erbschaft noch nicht. Drum geh' ich wieder heim.« Sie ging allen voran, dem Gässchen zu. Die anderen gesellten sich auf dem Rückwege zueinander, wie ihnen das zu einer weiteren Aussprache passte.

Über den großen Hofraum ging Egid allen voran zu der versperrten Türe der Herrenwohnung.

Aus dem Schuppen, durch welchen sie hereingekommen waren, hatte er einen großen Spaten mitgenommen, um die Türe aufsprengen zu können.

Als er sich eben an das Werk machte, hielt ihn Benna am Arme und wies nach vier großen, mit prachtvollen Spitzenvorhängen verhängten Fenstern, die in den Hofraum mündeten.

»Ist das die Schafferswohnung?« fragte sie.

»Ja«, antwortete er, dann zwängte er die Türe auf.

Sie betraten nun eine große, aber spärlich eingerichtete Küche, dann ein Zimmer, in welchem nur zwei leere alte Kästen, ein Tisch und zwei Sessel standen.

In den zwei nach vorne hinaus liegenden Räumen fanden sie wohl etliche bessere Möbelstücke, aber nur ein Bett. Benna betrachtete die Leinenüberzüge dieses Lagers sehr misstrauisch.

»Wir werden hier wohl auf Stroh schlafen müssen«, meinte sie dann.

»Nicht doch«, sagte Egid. »Ich schicke Ihnen sogleich zwei Betten aus meinem Hause herüber, oder ich bring' sie Ihnen selbst!«

»Ja, das dürfen Sie«, erlaubte Benna.

Egid ging nun zu der Türe und rief die zwei Frauen, welche bescheidentlich in der Einfahrt zurückgeblieben waren: »Kommen Sie hierher! Entfernen Sie dieses Möbel!«

Die zwei Frauen trugen das Bett hinaus, und die Baldringer wussten nun, dass in demselben der Schwemeißer gestorben war.

»Die wertvollen Möbelstücke, welche Ihr Großvater besaß, hat seine Wirtschafterin samt seinem Barvermögen mitgenommen, als sie gleich, nachdem er begraben war, in die Stadt gezogen ist«, erklärte Egid.

»Das braucht sie nur vor Gott zu verantworten«, erwiderte Markus.

Egid sah nun hier noch ein Weilchen herum, dann fragte er: »Möchten Sie beide nicht solange meine Gäste sein, bis diese Wohnung ordentliche instand gesetzt wäre?«

»Nein«, antwortete Benna. »Ehe wir zweimal übersiedeln, hab' ich's hier rein gemacht.« Dann fügte sie ein bisschen geschämig lächelnd ein Geständnis hinzu: »Hunger und Durst hab' ich jetzt. Wenn Sie meinen, dass es hier nichts Rechtes zu essen gibt, so bringen Sie uns etwas mit.«

»Du bettelst ohne Not«, sagte Markus. »Wir werden uns hier schon etwas Essbares verschaffen. Bringen Sie nur die Betten«, wandte er sich hierauf an Liebrich, der dann auch gleich davonfuhr.

Die Baldringer säuberten sich zunächst vom Reisestaub und labten sich dann an dem Gulasch und dem Biere, das ihnen eine der Frauen aus der »Donaunixe« geholt hatte.

Als die Frau das Wirtshaus betrat, sah sie zu ihrer Verwunderung keinen einzigen Gast in der Schankstube.

Kurz vorher hatten in dem großen Raume noch zehn Hofknechte gelärmt und getrunken. Dann wirkte der Ruf eines zarten Kinderstimmchens gar gewaltig auf die Arbeiter.

»Da sind's!« rief die Kleine zur Türe herein.

Einige der Arbeiter schnellten jäh empor. Die anderen heuchelten Ruhe, indem sie noch sitzen blieben, und einer, der vierschrötigste von allen, protzte sogar mit seiner Gelassenheit, indem er ausrief: »Wenn ihr euch jetzt derstoßt, so nutzt euch dann die Erbschaft nichts mehr!«

»Was tun wir denn jetzt?« fragten zwei zugleich.

Ein kleines, rundliches Männchen, das in seinem ganzen Gehaben etwas Gespreiztes zur Schau trug und das sich allen Anwesenden geistig weit überlegen zu fühlen schien, gab die Antwort:

»Es ist doch eh schon zum Beschluss erhoben, was zu geschehen hat, wann er ankommt. Ein Fackelzug wird arrangiert. Unsere Hauskapelle spielt, und ich halt die Begrüßungsred', die was mir mein Franzl, der Burgtheaterchorherr, einstudiert hat.«

Dann rief der Kleine den außergewöhnlich langen, mageren Wirt: »Hawechl, gib g'schwind die Papierlampions und die Kerzenstumpferln her, die unlängst von der venetianischen Nacht überblieben sind.«

»Nehmt's euch's. Im Schuppen sind's, in einer Werkzeugtruhen.«

Die Männer eilten fort.

Bald nachher bewegte sich ein kleiner Festzug aus dem Gässchen vor dem Herrenhaus hin. Voran gingen die Arbeiterkinder und trugen die beleuchteten Lampions, dann folgte die besagte Hauskapelle. Das waren vier junge Arbeiter. Zwei trugen Geigen, einer eine Gitarre und er vierte eine Zugharmonika. Nach den Musikern kamen zehn Männer, bei denen sich auch der alte Deßl und der junge Rankorn befanden, und hintennach zog eine fünfzehnköpfige Weiberschar.

Markus und Benna hatten sich gerade in der ersten der vorderen Stuben satt gegessen, als draußen vor den offenen Fenstern die Musik einen lustigen Marsch zu spielen begann.

Die beiden standen auf, sahen flüchtig hinaus und traten, wahrhaftig mehr erschreckt als angenehm überrascht, zurück.

Dann sahen sie einander ratlos an. »Das hätten die Leut bleiben lassen sollen«, sagte Markus. »Es ist mir unbegreiflich, dass sie so eine Komödie für artig halten können. Dass sie mich damit verhöhnen, kann ich auch nicht glauben.«

Benna guckte wieder hinaus und sagte: »Nein, nein, sie sind mit erwartungsvoller, frommer Andacht bei ihrer lustigen Veranstaltung.« Markus sah nun seiner Base tief in die Augen und seufzte dabei.

Sie nickte so, als ob sein Blick eine Rede gewesen wäre. »Ja, ich versteh' dich, mein lieber Markus. Jetzt möchtest du sie alle sogleich reich machen können, ohne vorher einen einzigen auf seinen Wert zu prüfen. Jetzt fühlst du dich unglücklich, weil du ihnen sagen sollst, dass es mit der Verteilung noch seine guten Wege hat.«

»Ich werd' es ihnen dennoch sagen«, antwortete er. Dann trat er an eines der Fenster und verneigte sich.

Da schrie nun draußen fast ein jedes, so viel es konnte: »Hoch! Hoch solle er leben!« Die Musiker hörten zu spielen auf und schrien mit.

Dem Markus wurde es schwer bei dieser Huldigung, so auf die lärmende Schar zu sehen, wie sich das gehörte. Die Scham wollte ihm immerzu die Augenlider niederdrücken. Das stärkste Gefühl in ihm war jedoch die Furcht davor, dass die Erklärung, zu welcher er sich nun schon allein von seiner Ehrlichkeit gezwungen sah, gar zu schreckhafte Eindrücke auf diese Menschen machen könnte.

Nun trat der kleine, gespreizte Mann, welcher vorhin im Wirtshause die maßgebende Weisung erteilt hatte, vor alle hin und winkte dem Lärm mit einer dirigentenmäßigen Handbewegung ab. Das Geschrei nahm auch wirklich sogleich ein Ende.

Der Kleine breitete nun ganz theatergerecht seine Arme gegen den Baldringer aus und schrie: »Heil! Heil dir, der gekommen bist, um Gerechtigkeit zu üben, um Segen zu streuen, Elend in Glück zu verwandeln, Tränen zu stillen, die sonst diesen Boden unfruchtbar, zu einem verfluchten machen würden. Schreite ohne Zögern an dein hehres Werk, erfülle die Hoffnungen, die du in uns geweckt hast, tilge mit deiner Gnade, was ein anderer an uns verbrach, so flehen wir dich an! Und ernte dann hier und dort unendlichen Lohn für deine unsterbliche Tat! Sei dann gepriesen von uns, solange unser Mund offen steht, und von unseren Kindern und Kindeskindern! Sei von allen, die sich für das Gerechte und Schöne begeistern können, bis in die fernsten Zeiten gepriesen, hoch…« Er gab es nun wieder mit einem Zeichen den anderen zu wissen, dass sie weiterschreiten sollten. Das taten sie denn auch, und Markus sah es mehreren von ihnen an, dass sie seiner Antwort in Hoffen und Bangen entgegen zitterten.

Er hätte es ihnen gerne auf eine möglichst tröstliche und vernünftige Art geoffenbart, dass er die Verteilung anders vornehmen wollte, als sie sich das vorstellten; weil nun aber die Ruhe nicht in ihm war, welche er da zum Denken brauchte, sprach er, so gut es ihm eben gelang.

»Ich verdien' hier noch gar keine Belobigung«, sagte er. »Es muss einem jeden, der nicht schon die einfachst' Gerechtigkeit für was Unerhört's betracht't, ganz selbstverständlich erscheinen, dass ich mir meines Großvaters Sach' nicht behalten will. Ich möcht' aber mit dem Verteilen mehr als eine ganz gewöhnliche Schuldabtragung bezwecken. Rechtschaffen, christlich möcht' ich die Erbschaft verwenden, das heißt für Menschen, denen ich damit wirklich Gutes tu'.

Zu einer solchen Verwendung der Hinterlassenschaft gehört eine Menschenkenntnis, die ich jetzt nicht hab' und nach der ich streben will. Drum bleib' ich vorderhand da auf dem Schwemeßergut. Ich hoff', dass euch das recht sein wird.«

Jetzt wollte er es auch irgendwie erklären, dass er denjenigen, welche etwa ihrer Armut halber besonders schwer auf ihn warteten, vorläufig aus der ärgsten Not helfen möchte, aber er war nicht gleich eines Weiterredens fähig, denn die Veränderung, welche sich nun auf den ihm zugewandten Gesichtern vollzog, wirkte gar schreckhaft auf ihn ein. Er hörte die Leute zueinander flüstern, ohne sie zu verstehen, aber so viel bemerkte er wohl, dass sie einander nichts Beruhigendes sagten.

Das gespreizte kleine Männchen starrte ihn an, als ob es verblödet wäre; es bezweckte mehrmals wie ein luftschnappender Fisch den Mund und brachte kein Wort hervor. Dann ließ sich mitten aus der Menge ein großer, blondbärtiger Mann in einer innig flehenden und dabei doch festen Weise vernehmen. »Sagen S' uns einen besseren Bescheid, gnädiger Herr, uns hat Ihre Red' gar bang' gemacht. Sie werden doch nicht von dem guten Willen abstehen wollen, der uns schon so lang bekannt ist. Seit dem vorigen Winter haben wir uns sicher darauf verlassen, dass Sie einem jeden von uns zurückzahlen werden, was da ein anderer vorenthalten hat. Die Teilung könnt' wohl gar ungerecht ausfallen, wenn sie auf Grund einer Menschenkenntnis geschäh', die sie bei und erst erwerben wollen. Handeln Sie doch ohne Verschub nach der Gerechtigkeit, die wir von Ihnen erwart't haben. Wir bitten recht gar schön.« Er faltete die Hände und hob sie empor. Dann flehten auch mehrere andere so wie er: »Wir bitten recht gar schön.« Etliche bettelten schandhalber nicht mit und die Übrigen nicht, weil sie verwirrt und unschlüssig waren.

»Es soll euch nicht schrecken, dass ich von jenem erstlichen Willen abg'standen bin«, antwortete Markus. »Wenn ihr christlich gesinnt seid, so wird es euch, wie ich hoff', bald recht sein, wie ihr es jetzt von mir erwartet. Ich weiß es nicht, wie reich oder wie arm alle sind, die auf diese Hinterlassenschaft einen Anspruch haben, und ich will das beiläufig erfahren. Es gibt viel Not, die mit aller Macht und Möglichkeit behoben werden sollt', und drum will ich kein Geld oder Sach' wo hingeben, wo's überflüssig wär' oder wo's anstatt zum Guten zum Schlechten verwend't würd'. Einer, an den der Teil, den er nach eurer Rechnung von mir zu kriegen hätt', verschwend't wär', müsst' mir zugunsten des Ärmeren verzichten. Als Christen werdet ihr euch also um desto mehr über die Teilung zu freuen haben, je richtiger sie dem Beteiligten hilft.«

Diese Rede gab nun keinem dieser Menschen eine merkliche Befriedigung, und der blondbärtige Mann antwortete unverweilt: »Sie wollen was Besser's als das Grade und Einfache tun, gnädiger Herr, und könnten drum was G'fehltes vollbringen. Von allen, die da stehen und auf Sie hoffen, ist niemand so reich, dass er das, was ihm von dem Schwemeißerischen Nachlass gebührt, nicht brauchen tät, und niemand so schlecht, dass Sie ihn unbeteilt lassen könnten, ohne sich einer Grausamkeit schuldig zu machen. Wohl aber sind manche, denen die nötige Hilf' zu spät käm' – wenn Sie lang schauen, wie Sie am besten helfen könnten.«

Diesen Worten wurde von vielen laut beigestimmt.

»Ich weiß es ja, dass man Hungernde eher laben als auf ihre Seel' erforschen muss«, sagte Markus. »Sind solche unter euch, so will ich ihnen, sobald es nur sein kann, aus der allerärgsten Not helfen.«

»Herr, wir bitten Sie um kein Almosen, sondern um die verheißene rechtliche Entschädigung«, erklärte eindringlich der Blondbärtige.

»Die kann ich euch nicht geben«, erwiderte Markus.

Da nahm der Blondbärtige eine stolze Haltung an, schlug sich an die Brust und rief: »Ich zähl' mich nicht zu den Schlechten, und grad deshalb verbiet't es mir mein Ehrgefühl, dass ich mich der B'schau unterwerf', von der Sie die Teilung abhängig machen wollen. Obwohl ich arm bin, verzicht' ich auf den Teil, den Sie mir nach Rechtem schuldig wären. Geben Sie ihn irgendwo dorthin, wo es sich herausstellt, dass Sie sich bei der Tugendprüfung geirrt haben. Irren werden Sie sich dabei gräulich arg und viel. Himmelschreiend wird's ausfallen, weil Sie es gar zu christlich machen wollen.«

Er ging nun zu den Arbeiterwohnungen zu. Zwei Männer, die sich von der Straße her zu der Schar gesellt hatten, schrien nun: »Bravo, Niemarb! Das ist Gesinnungsfestigkeit! Ja, der Niemarb, der ist halt mannbar!«

»Ja, mannbar ist er, aber dumm«, sagte einer, der mitten in der Schar stand.

Zu gleicher Zeit drängte sich eine hochgewachsene Frau gegen den Baldringer hin. »Ich brauch' eine schnelle Hilf' und bin drum zum Almosennehmen nicht zu stolz«, sagte sie. »Von dem Schwemeißer sein'm Sach' hätt' ich mehr als ein jeder andere zu fordern; er war schuld an mein'm Mann sein'm Tod und hat mich dann sogar um alle gesetzmäßige Entschädigung betrogen. Aber ich bitt', helfen S' mir lieber gleich jetzt aus Erbarmen und später aus Gerechtigkeit, denn mir geht's schlecht.«

»Helfen Sie auch mir gleich!« schrie ein zweites Weib, und ein lendenschiefer, alter Mann wiederholte den Ruf: »Auch mir!«

Dann sagte eine kleine, hexenhaft aussehende Greisin: »Andere sind auch arm und doch nicht so schamlos zudringlich wie diese da.«

»Jawohl! So ist's! Das ist wahr!« bestätigten etliche. Jetzt wandten sich die drei, welche sich zum Bitten vereinigt hatten, aufgeregt an ihre Verurteiler.

»Sie sind nicht arm«, erwiderte die Hochgewachsene der Greisin. »Sie haben den Kropf voll und schauen anderer Leut' Elend lustig zu.«

Die zweite Bittstellerin verwarnte indessen ein Weib, das der Greisin recht gegeben hatte: »Stell' dich nur du nicht bescheiden, sonst erzähl' ich's dem Herrn, wie du auf deine Rechnung gekommen bist!«

Der verkrüppelte alte Mann ereiferte sich zunächst gegen alle miteinander, die ihm das Bitten verübelt hatten. Er rief: »Euch sollt' der Herrgott arm werden lassen! Wenn ihr wüsstet, wie das Armsein ist, dann hättet ihr mehr Einsicht. Es geht euch zu gut, und deshalb fühlt ihr euch zu groß unserein'm gegenüber. Wenn euch der Herr Baldringer was gäb', so tät' er grad das Verkehrte und eure Hartherzigkeit erst recht vermehren. Und er will ja mit dem Sach' was Gut's stiften. Ihr kriegt nichts von ihm, gar nichts. Euch soll man was nehmen, nicht aber was geben.«

Nun meinten einige, dass ihnen die Worte des Krüppels arg schaden könnten, und hielten es deshalb für nötig, ihn vor dem Markus als einen lügenhaften, schlechten Menschen hinzustellen.

»Schlimmer könnt' der gnädig' Herr nimmer fehlen, als wenn er dir was gäb'!« rief einer. »Dich hat Gott deshalb so grauslich verschanigelt Verschanigelt = verunstaltet., damit man's erkennen soll, dass du kein Erbarmen verdienst.« Ein anderer fügte hinzu: »Und anstatt dass du demütig die Straf' tragen tätst, die dir Gott für dein'n sündhaften Lebenswandel auferlegt hat, geiferst du gegen alle Rechtschaffenen.« Nun wollten noch mehrere den Krüppel zuschanden stellen, und auch den zwei verbündeten Weibern, denen man unterdessen schon scharf erwidert hatte, waren noch kräftige Rügen vermeint, aber da wurde nun die ganze Schar von einem jener drei Männer, welche ihr nicht zugehörten, zum Aufhorchen gebracht.

»Geht's nicht gegeneinander!« rief der noch junge Mensch, der mit seinem weißen, außergewöhnlich schönen Gesichte mehr als seine Begleiter aus der Dunkelheit hervorleuchtete. »Geht's lieber gegen den Liebrich, der dort herkommt, und leid't es nicht, dass er sich da eintegelt Eintegelt = einschmeichelt.! Ich hab's von meiner Werkstatt aus gesehen, wie er mit dem Herrn Baldringer ankommen ist, und da hat mir gleich nichts Gut's g'ahnt. Ich behaupt's keck, dass euer Herr nur vom Liebrich umg'stimmt worden ist, der, wie ihr wisst, als Großgrundherr nicht will, dass sein Nachbargut verstückelt wird. Wenn sich aber der Herr Baldringer von dem Ruch Ruch = Nimmersatt, Wucherer. wirklich leiten ließ', dann wär's zu viel Ehr' für ihn, wenn ein ehrlicher Bettler auch nur ein Stück Brot von ihm annähm'.«

An der Aufmerksamkeit, mit welcher die Meinung des jungen Menschen angehört wurde, war es zu ersehen, dass er hier als kein Geringer galt. Er war ein Schlossergeselle, der sich in der Gegend schon öfters als ein freiheitsbegeisterter Volksredner hervorgetan hatte, und hieß Wunibald Sphändl.

Etliche riefen nun allzugleich den Markus an, und aus ihrem Stimmengewirr drangen am lautesten die Rufe hervor: »Wenn Sie gut gewillt sind, so lassen Sie sich nur von dem Liebricher nicht verführen! Nur dem trauen Sie nicht! Er heißt eh schon überall der Armeleutfresser! Derselbe Räuber wie der Schwemeiß ist er! Er möchte' halt ein'n Nachbarn, mit dem er gegen die Armen arbeiten könnt', wie's schon sein Vater mit dem Schwemeiß getan hat! Werden Sie nicht unser Feind, indem Sie dem sein Freund werden! Halten Sie uns Ihr Wort!«

Mehrere hatten sich unterdessen schon dem Liebrich zugewendet, der nun auf seinem Kraftwagen den Baldringer verschiedenes Bettzeug daherbrachte. »Pfui!« schrien sie ihm zu. »Wir wissen schon, was du da willst! Um unsere Sach' möcht'st uns bringen! Den Herrn möcht'st du zu einem Blutsauger machen wie du einer bist! Wir lassen dich nicht zu ihm! Zieh ab!«

Liebrich kehrte nur deshalb nicht um, weil er sich vor den Baldringern mutig zeigen wollte. Er fürchtete diese Arbeiter, die er als seine Feinde kannte und deren Feind er war. Nachdem er sein Gefährt vor denen, die den Weg verstellten, schleunig zum Stehen gebracht hatte, gab er seinen Mienen ein spöttisches und etwas stolzes Aussehen; dann rief er: »Weicht aus! Ich werd' ja schließlich doch ohne eure Bewilligung alle meine Wege fahren!«

»Diesen nicht«, wurde ihm erwidert. »Der Herr Baldringer wird auch nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, weil er so ein allgemeines Urteil über dich hört!« Dann schmähten sie ihn noch weiter als einen volksfeindlichen, raubsüchtigen, hochmütigen Menschen, und ihr Geschrei sowie auch ihre Gebärden wurden so drohend, dass er aus Angst nicht imstande war, sich über den vielen Schimpf zu ärgern.

Sobald Markus die Leute gegen Liebrich hindrängen sah, verließ er das Fenster und eilte durch den Hof in das Freie. Benna folgte ihm bis vor das erbrochene Tor; dort blieb sie stehen, und er ging mitten durch die Schar zu Liebrich.

Da wurden nun bei der neugierigen Erwartung seines Beschlusses die Schreier jählings stille. Vor dem Wagen pflanzte sich Markus auf, wandte sich an die Leute und rief: »Ich kann euch jetzt über das, was ihr von früher her mit Herrn Liebrich auszutragen hättet, keinen Richter machen. Gegenwärtig tut ihr ihm jedenfalls unrecht, denn umgestimmt, wie ihr meint, hat er mich nicht. Eher könnt' wohl ich ihn umstimmen als er mich. Deshalb sollt' es euch wohl eher freuen als schrecken, wenn er zu mir kommt!«

Dann gebot er denen, die noch auf dem Fahrweg standen, das Vorbeifahren. Sie gehorchten ihm, und er ging vor Liebrich, der ihm langsam nachfuhr, dem Tore zu.

Zwei Männer, in deren Nähe er vorüberschritt, sprachen ihn an. »Trauen Sie doch diesem Menschen nicht mehr als uns allen«, bat der eine, und der andere sagte: »Gar so groß sollten Sie uns nicht zurücksetzen, gnädiger Herr.«

Markus antwortete: »Ich tät' euch eine schlechte Ehr an, wenn ich ihn hassen möcht', wie ihr es verlangt.« Dann rief er so laut, dass es alle Anwesenden deutlich hören konnten: »Die, welchen ich bei dem vorherigen Lärm auf ihre Bitt' nicht geantwortet hab', will ich noch heut' besuchen!« Gleich darauf trat er mit Liebrich und Benna in den Hof.

»Da müssen wir halt aufs Neue Geduld fassen«, sagte nun einer der älteren Männer.

»Ja, und schön brav sein müsst's dabei oder, besser gesagt, recht scheinheilig!« rief der junge Mann, welcher mit dem Sphändl gekommen war. »Wer am scheinheiligsten tun kann, der hat von dem Herrn Baldringer, dem Musterchristen, das Meiste zu hoffen. Da könnt' ich schon allein aus Scham nicht mit euch wetteifern.«

Dann redete wieder der Sphändl: »Ihr müsst dem Baldringer eure Würde entgegensetzen, mit welcher er – als ob ihr überhaupt keine hättet – gar nicht zu rechnen scheint. Denkt er ernstlich an die Sittenprüfung, von welcher er spricht, so müsst ihr es ihm zeigen, dass ihr euch zu gut und zu frei fühlt, als dass ihr seinem Urteil entgegensehen und euch von ihm einschätzen und hintereinanderstellen lassen möchtet. So eine Einschätzung tät' euch zu tief demütigen und brächt' einen jeden mit der Reihennummer, die er dabei bekäm, in ein Gespött, das wohl mancher nicht um den Betrag erdulden möcht', den er nachher bei der Bescherung erhalten tät'. Auch um eurer Zusammengehörigkeit und Eintracht wegen dürftet ihr euch ein solches Hintereinandersetzen selbst dann nicht gefallen lassen, wenn es – was ja gar nicht zu erwarten steht – halbwegs eurem Werte entspräch'. Ist aber alles, was uns der Herr Baldringer da gesagt hat, verlogne Ausred', hat er durch den Einfluss des Liebrich oder anderswie den Entschluss gefasst, das gut zu behalten, will er spähen, wie er euch – um sich selbst zu rechtfertigen – der Beteiligung für unwürdig erklären könnte, dann ist es erst recht notwendig, dass ihr euch alle miteinander fest gegen sein Urteil verwahrt. Vielleicht wird er das, was er euch so lange zu erwarten gab, auch erfüllen, wenn er sieht, dass ihr einhellig gesinnt seid, ihn nicht früher zu achten. Auch eure Ärmsten sollten mit euch einhellig sein und kein Almosen von dem Baldringer annehmen, sondern nur den Teil, der ihnen von der Erbschaft gebührt.«

Da lachten nun die zwei Weiber, welche vorhin dem Markus so eindringlich ihre Hilfsbedürftigkeit erklärt hatten, hohnvoll auf, und der verkrüppelte Mann rief: »Wenn's dir so ging' wie uns, tät'st auch mit uns betteln. Der Herr Baldringer wird übrigens schon tun, was recht ist, ich trau' und bau' auf ihn und mag dein aufhetzerisch' Reden nimmer anhören.« Dann verließen der Alte und die zwei Weiber den Platz. Einige Arbeiter, die sich besonders davor fürchteten, dass sie Markus der Ausbezahlung unbedürftig finden könnte, hielten Sphändls Ratschläge für gut, damit ihre Furcht nicht offenkundig werde, verschwiegen sie vorläufig ihre Willensmeinung.

Die Mehrzahl der Anwesenden sprach sich leise und doch entschieden gegen die Worte des jungen Schlossers aus, laut reden wollte nun keines, um nicht von der Wohnung aus belauscht werden zu können, in welche soeben der Baldringer mit seinen zwei Begleitern zurückgekehrt war.

»Du sollt'st den Herrn nicht so grauslich verdächtigen«, sagte man dem Sphändl. »So schlecht, wie du meinst, kann der gar nicht werden. Es wär' ganz verkehrt, wenn man sich ihm gegenüber stolz und stützig stellen tät, wie du es haben willst. Mit Höflichkeit und Demut wird man da mehr ausrichten.«

Dann sagte einer: »Wenn er mich durchaus kennen lernen will, so werd' ich mich dagegen nicht sträuben. Ich brauch' das Erkanntwerden nicht zu scheuen. Seh' ich's, dass er mich zu arg verkennt, so will ich schon für mich reden.«

So wie dieser letzte Sprecher wollten es auch mehrere halten, und dann erschien einem um den anderen ein weiteres Stehenbleiben zwecklos. Die Schar zerteilte sich in kleine Gruppen, welche hernach gegen die Arbeitshäuser hinzogen. Manche der Abgehenden zeigten es dem Sphändl mit Gebärden an, dass sie jetzt seine Ansicht geringschätzten, und alle sahen noch mehrmals auf das offene Stubenfenster hin, an dem sich nun Markus nicht mehr zeigen wollte.

Sphändl sah diesem Ende der Versammlung schweigend und mit einer kummervollen Miene zu, und sein Genosse beobachtete ihn dabei spöttisch lächelnd von der Seite. Von denen, die hier am ärgsten standhielten, sprach einer den Sphändl sehr artig an:

»Uns gefällt Ihr Vorschlag, und es tut uns leid, dass wir uns deshalb nicht in Ihrem Sinne charaktervoll zeigen können, weil sich halt die anderen nicht mit uns solidarisch erklären mögen.«

Sphändl sah bei dem Scheine des einzigen brennenden Lampions, das sich noch hier befand, dem Artigen in das Gesicht und fing hellauf und gar höhnisch zu lachen an.

Hernach zog er seinen Begleiter mit sich fort gegen das Wirtshaus hin.

»Weshalb lachst du denn so unheimlich?« fragte der junge Mensch.

»Weil dieser einzige Beifallsspender ein Verbrecher ist, der freilich vielen Grund hat, das Durchschautwerden zu fürchten. Die, welche neben ihm gestanden sind, verdienen für ihre Rechtlichkeit auch keinen Ehrenpreis. Also nur grad der Auswurf aller dieser Leut' möcht' sich auf mein' Red' hin solidarisch erklär'n! Und ich hab' wahrhaftige mehr für die Besten als für die Schlechtesten reden wollen!«

Durch sein abermaliges Lachen klang nun fast ein Weinen.

»Schau', Gitzgrill«, sagte er hernach in einem weichen Tone, »ich mein's den Leuten wirklich gut und find's so traurig, dass ihnen das Ehrgefühl und Wertbewusstsein mangelt, mit dem sie sich von Rechts wegen gegen die Urteilsanmaßung des Baldringer erheben sollten.«

Der Gitzgrill zuckte die Achseln und entgegnete:

»Diesen Bauernknechten kann man halt ihre Menschenrechte nicht so bald zu kennen geben und ausnützen lehren, wie zum Beispiel einem unserer städtischen Arbeitsgenossen. Du ereiferst dich überhaupt wegen dieser Sach' in einer unrichtigen Weis'.«

Sphändl schüttelte den Kopf. »Wenn mir ein tüchtig's Trumm von dieser Erbschaft gebühren tät', so hätt' ich mich nicht mehr auf dem Baldringer sein' Ankunft freuen können, als es der Fall war«, sagte er. »Das große Geschrei, durch das er schon langher angemeldet worden ist, hat mich beinah' schon überzeugt, dass ich an ihm den reinen Sozialisten sehen werd', von dem ich geträumt und den ich gesucht hab'. Ich hab' mir freilich auch immer gedacht, dass ich diesen Gesuchten schwerlich wo anders als bei meiner Partei, den Sozialdemokraten, finden könnt'. Wie ich erfahren hab', dass der Baldringer zu den gläubigen Christen gehört, ist mir meine Partei deshalb gleich um etwas weniger wert geworden, weil er nicht aus ihr hervorgegangen ist. Schier zweifelhaft bin ich dran worden, ob man die Rarsten nicht doch unter den Christen suchen muss. Und wann ich's heut' gesehen hätt', dass er das erfüllen wird, was von ihm vorausgesagt worden ist, da wär' ich dem Christentum, dem ich , wie du ja weißt, abg'schworen hab', doch wieder um ein Stück näher kommen, denn da hätt' ich ja wieder an Heilige glauben müssen, und wer das muss, der ist von der Bekehrung nicht weit. Ja, ja, Gritzgrill, schau' mich nur an, ich hab's schon in aller Heimlichkeit für möglich gehalten, dass mich der Baldringer unserer Partei untreu machen könnt'. Aber jetzt bleib' ich ihr wieder treu. Er hat mich gar zu groß enttäuscht und auf ihn misstrauisch gemacht. Eine Heiligenkraft ist keinesfalls in ihm. Ein unverlässlicher, wankelmütiger Mensch ist er ganz sicher, und bildet er sich bei diesem Wesen die Weisheit wirklich ein, die er brauchen würde, um die Leute hier richtig zu erkennen, dann ist er ein Narr. Bereut er's aber, was er verheißen hat und sucht er Grund, um sich seines Versprechens entheben zu können, so ist er ein erbärmlicher, schuftiger Schwallhans. Eines oder das andere ist er. Es ist wohl begreiflich, dass ich mich so gegen ihn ereifere, wie ich's tue.«

Der Gritzgrill erwiderte leise lächelnd und in einem ruhigen Tone: »Es sollt' dir überhaupt nicht so viel daran liegen, dass diese Teilung stattfind't. Für unsere Partei wär's ein Schaden, wenn der Baldringer so ein großes Beispiel gäb'. ›Ja, so tut halt eben ein rechter Christ‹, wird es heißen, und dann werden die Holzknecht', die bei der letzten Wahl schon für den sozialdemokratischen Kandidaten gestimmt haben, aus Liebe zu ihrem Wohltäter christlich wählen, wenn er's auch nicht von ihnen verlangen sollt'. Hernach musst du bedenken, wie so eine Tat auch noch andere Leut' in der Wahlgemeinde ergreifen tät'. Unsere fünfundzwanzig bis dreißig Wähler könnten wir da verlieren. Aus Parteiinteresse sollt' man diese Teilung zu hintertreiben suchen, nicht aber für sie eintreten wie du. Ich hab' auch vorhin einen Augenblick gemeint, dass du den Baldringer und diese Leut' damit gegeneinander hetzen willst, indem du so tust, als ob dir ihr Einigwerden am Herzen läg'. Dann hab' ich's freilich erkennt, dass ich mich an dir geirrt hab'.«

»Ich hab' mich auch an dir geirrt«, sagte Sphändl. Dann ging er dem anderen mit langen, schnellen Schritten davon.

Der Gritzgrill lachte hohnvoll auf. »So ein Paschachter!« rief er dem Sphändl nach. »Und der will sich zu einem Volksmann ausbilden!« Dann kehrte er sich nach links und ging über ein Stoppelfeld der großen Straße zu. Die beiden arbeiteten schon lange miteinander als Schlosser in einer Fabrik und hatten oft bei Streiks und Versammlungen allzugleich: »Pfui!« und »Bravo!«, »Hoch soll er leben!« und »Nieder mit ihm!« gerufen. Dass sie trotzdem zwei verschiedene Sozialisten waren, das erfuhren sie erst jetzt.

Als der Sphändl noch etwa hundert Schritte weit von dem Wirtshause war, begegnete er einem Manne und zwei Knaben. In der nun herrschenden Finsternis wäre ihm wohl keines von den dreien bekannt vorgekommen, wenn nicht die Kleinen ihre Augen schärfer als er gebraucht hätten.

»Wunionkel!« schrien die beiden allzugleich, und dabei drückten sie sich an ihn.

Sphändl legte seine Hände auf die Schultern der Kleinen, und dabei fragte er den großen, plumpen Mann, der ihm langsam näher trat, in einem strengen Tone: »Wohin willst du denn heut' noch mit den Kindern?«

Die Antwort klang spöttisch begütigend: »Sei nur nicht schon wieder grob, eh du mich angehört hast.« Wenn sich diese zwei Männer begegneten, setzte es immer gleich einen Wortstreit ab.

Sie standen einst einander als Jugendfreunde sehr nahe. Infolge der späteren Entwicklung ihrer Wesensarten entstand ein Zwiespalt zwischen ihnen, aber gleichgültig und fremd konnten sie deswegen einander doch nicht werden. Sphändl schickte sich in die Welt, welche arbeitsame Menschen verlangt, und Stephan Kleiwenleicht wurde einer der entschiedensten Freunde des Nichtstuns.

Bei seiner Faulheit war Kleiwenleicht immerzu darauf bedacht, wie er irgendjemand für sich arbeiten und sorgen lassen könnte. Es fehlte ihm an List und Geschicklichkeit, um sich andere so groß zu Diensten zu machen, wie ihm das gepasst hätte, aber er zwang doch schon als junger Anstreichergeselle in Abwesenheit seines Meisters etliche Lehrbuben zu übermäßigen Anstrengungen, damit er selbst faulenzen konnte, und später ließ er sich von Fabrikarbeiterinnen und Dienstmädchen, die in sein Äußeres vernarrt waren, manchen freien Tag bereiten. Hernach heiratete er als Minderjähriger ein Mädchen, weil er annahm, dass es sich ganz besonders für ihn aufopfern und plagen würde. Es stellte sich bald heraus, dass er sich an seiner Erwählten stark geirrt hatte. Sie arbeitete ehedem als Hausnäherin, wurde dann ihres Berufes überdrüssig und suchte einen Ernährer. Einen Reichen vermochte sie nicht zu ergattern, deshalb wollte sie sich dann mit dem Kleiwenleicht bescheiden, dem sie so viele männliche Tüchtigkeit, als zur Erhaltung eines einfachen Hausstandes nötig ist, zumutete.

Eine gewöhnliche Liebesleidenschaft hatten sie zwar nebenbei auch füreinander, aber wegen dieser Ursache wäre zwischen ihnen schwerlich jemals eine eheliche Verbindung zustande gekommen. Schon nach einem kurzen Beieinanderleben wurde es offenbar, dass sich hier zufällig zwei Menschen fanden, die einander an Faulheit und Eigennutz gleich waren und die sich auch eines so viel wie das andere zu jenen Eigenschaften für sonderberechtigt hielten.

In der Verteidigung ihrer Standpunkte waren sie einander auch so ebenbürtig, dass keines von ihnen jemals durch die Dienstunwilligkeit oder Aufopferung des anderen einen guten Tag genoss. Sie hätten vielleicht in aller Ruhe mitsammen gefaulenzt, wenn sie nicht arm gewesen wären, aber wegen der leidigen Brotbeschaffung stritten sie ein um das andere Mal.

Anders als in arger Not arbeiteten sie auch dann nicht, als sie schon zwei Kinder hatten. Sie wünschten zwar viel für diese Kleinen, aber ihre Trägheit war doch größer als ihre Elternliebe, sonst wäre ja nun doch eine Lust zum Schaffen und Sorgen in ihnen erwacht.

Zu der Erziehung der zwei armen Geschöpfe wendete das Ehepaar noch weniger Fleiß als zu deren Ernährung an.

Um sich Unruhe und Schererei zu ersparen, ließ Frau Kati die Kinder so viel als möglich auf den Straßen und Gassen der Vorstadt, wo sie die Sitten anderer verwahrloster Kinder annahmen. Einen wahren Freund hatten sie bisher nur an dem Sphändl, den sie Onkel nannten und mehr als ihren Vater liebten.

Der junge Schlosser durchsah das Elend der Kleinen, gegen das ihre Eltern teilweise blind waren, und hatte für sie ein gehöriges Erbarmen. Helfen konnte er ihnen bei seinen geringen Geldmitteln freilich nicht, wie er es gewollt hätte, aber er stillte ihnen doch gar oft den Hunger, und was sie bei ihrer Rohheit an guten Lehren beherzigten, das hatte hauptsächlich er ihnen beigebracht.

Trotz der Frage, die er vorhin an Kleiwenleicht stellte, wusste er es, weshalb dieser jetzt mit den Kindern auf dem Wege war. Der Kleiwenleicht gehörte zu denen, welche am sichersten darauf rechneten, dass ihnen der Baldringer von dem großen Erbe etwas Beträchtliches ausfolgen würde. Den Eltern Kleiwenleichts hatte der Schwemeißer tatsächlich ein altes Bauernhaus abgegaunert, an dessen Stelle er hernach den Gutshof erbauen ließ. Der Vater des arbeitsscheuen jungen Mannes war leichtsinnigerweise zu einer großen Schuldenlast gekommen, hätte sich aber vielleicht doch lebenslänglich auf seinem Anwesen behauptet, wenn nicht gerade der Schwemeißer sein Gläubiger geworden wäre. Mit den Wirtschaften dreier anderer Bauernfamilien »arrondierte« der alte Spitzbube seinen Grundbesitz, und sein diebisches Bestreben gelang ihm deshalb so leicht, weil damals viele Bauern der Gegend durch einen Umstand, den sie zuerst für ein großes Glück hielten, tief unglücklich geworden waren.

Die große Stadt erweiterte sich nämlich schier unversehens nach jenem Landstriche hin und steigerte seine Grundpreise so mächtig, dass sich die dortigen braven Bauern im Nu zu stolzen Herren verwandelten. Viele, die dann gar zu groß Haus führten und denen das Vornehmtun gar zu lieb wurde, hausten eben deshalb ab. Vorbedächtig ließ sich der Schwemeißer zwischen solchen Verarmenden nieder, um sie zu Bettlern zu machen.

Kleiwenleichts Eltern hinterließen außer ihm kein Kind; deshalb erhoffte er sich um desto sicherer einen ganzen Teil, und wegen dieser Anwartschaft borgten ihm auch schon verschiedene Leute, die ihm sonst keinen Heller anvertraut hätten, kleine Geldbeträge. Die Erwartung, in welche er durch den Baldringer versetzt wurde, war eigentlich sein erstes großes Glück. Heute nachmittags sah er in der Schiefringerstraße den ihm ziemlich bekannten Liebrich mit zwei Fahrgästen, und da wusste er gleich, wer die Letzteren waren.

So schnell wie noch niemals suchte er dann seine Kinder und machte sich mit ihnen auf den Weg nach dem Schwemeißerhofe. Die Kleinen nahm er deshalb mit, um als armer Familienvater auf den Baldringer recht besonders einwirken zu können. Er hielt sich nicht damit auf, indem er etwa seiner Frau Mitteilungen machte, und war auch nicht einen Augenblick darüber mit sich uneins, ob er sie mitnehmen oder zu Hause lassen sollte. Sie sah trotz der Entbehrungen, die sie schon gelitten hatte, zu gut aus, als dass es ihm recht ratsam schien, sie als seine arme Frau dem Baldringer vorzuführen. Dass er nun seinem Freunde begegnete, war ihm sehr unangenehm. Er hatte eine Ahnung dessen, dass ihn der Sphändl nicht nach dem Schwemeißerhofe gehen lassen werde, und es befiel ihn ein lähmender Schrecken, als der junge Schlosser weiterredete:

»Du hast es irgendwo erfahren, dass der Baldringer da ist, und nun möchtest du in deiner Gier gleich einen Schippel Geld von ihm haben. Und wenn er dir nicht gleich aus eigenem Antrieb ein's geben tät, so möchtest du ihn anbetteln. Ich weiß, du brauchst wie immer höchst nötig sofort wenigstens einen kleineren Betrag, aber du wirst von hier aus heimgehen und dich irgendwie weiterfretten. Zu dem Baldringer darfst du mir vorläufig nicht. Es gibt noch andere, die ebenso wie du zu ihm wollen und die ich leider nicht abhalten kann. Aber dich hab' ich in meiner Gewalt. Du weißt, dass ich mein Wort halt' und ich geb' dir mein Wort darauf, dass ich dich niemals mehr auch nur im Mindersten unterstütz', wenn du mir jetzt nicht gehorchst. Es gibt außer mir keinen Menschen, der mit dir bisher immer gern seine Groschen geteilt hat. Ich will auch weiterhin mit dir teilen, aber was du von dem Baldringer – eh' er dir das gäb', was er dir schuldig ist – notigerweis erbitten tät'st, das nähm' ich dir gleich wieder und gäb' es ihm zurück. Und noch mehr tu ich dir an, wenn du mir jetzt nicht folgst. Was ich dir bisher geborgt hab', schenk' ich dir gern genug, aber ich rechne dir's zur Schuld an und lass dich blank auspfänden, wenn du ohne meine Einwilligung zu dem Baldringer gehst.

Er nahm die über ihn staunenden Kinder an den Händen, um sie auf ihrem Wege zurückzuführen, aber da trat der Kleiwenleicht, der so blass geworden war, dass man es in der Finsternis bemerken konnte, vor ihn hin und stammelte: »Du kannst mich doch nicht wirklich so martern wollen. Weshalb soll ich denn nicht zu dem Baldringer? Weshalb denn nicht?«

»Weil du ihn nicht anbetteln sollst«, antwortete Sphändl.

»Das will ich ja eh gar nicht!« rief der Kleiwenleicht.

»Du tät'st es doch, wenn du zu ihm kämst«, sagte der Sphändl. »Weil er nun nicht mehr teilen will, wie er's versprochen hat, so tät'st du ihn halt betteln. Das weiß ich ganz bestimmt.«

»Er will nicht teilen?« schrie der Kleiwenleicht und schien währenddessen einer Ohnmacht nahe zu sein.

Sphändl zuckte die Achseln und erzählte: »Ich hab's g'sehen, wie er daher kommen ist, und bin ihm ja gleich voller Neugier nach. Aber glaub' nicht vielleicht, dass ich deswegen extra neugierig war, weil du was von ihm zu kriegen hast. Du bist ja schier einer von den letzen, denen ich so ein paar Hunderter auf die Hand wünsch', weil ich weiß, dass du und dein Weib davon bald wieder nichts hätten als ein'n grauslichen Katzenjammer. Aber sonst war mir schon längst nicht wenig daran g'legen, dass der Baldringer sein Wort erfüllt. Jetzt will er's brechen. Er sagt, dass er da die Leut' kennen lernen will und erst nachher ausbezahlen. Wen er nicht für hilfsbedürftig erkennen sollt', dem wird er nichts geben, sagt er. Demnach wird das mehr ein G'richt als eine Teilung, ein echt christliches G'richt, bei dem den armen Sündern grausen soll. Wenn er's so macht, wie er sagt, so kriegst du selbstverständlich nichts von ihm und wirst noch obendrein durch diese Übergehung von der Allgemeinheit als ein Verworfener gekennzeichnet.«

Sphändl meinte namens der Wahrheit und Richtigkeit, dem anderen der Schreckensnachricht kaum besser bringen zu können, als er es tat. Wenn Kleiwenleicht Hunger hatte oder ein anderes leibliches Wehtun, das von der Armut herkam, so empfand Sphändl immer ein tiefes Erbarmen für ihn. Wegen des Schreckens, bei welchem dem Armen beinahe die Sinne vergingen, sorgte sich der Schlosser nicht viel. »Diesen Seelenschmerz wirst du bei deinem großen Leichtsinn schnell überwinden«, dachte er. »Wenn dir nur sonst nichts wehtut.« Dem Kleiwenleicht war es aber nicht so zumut, als er sich mit seinem jetzigen Unglück weiterschleppen könnte.

»Sphändl, wenn es so ist, kann ich nimmer leben«, sagte er.

»Du wirst dennoch leben«, entgegnete der Sphändl. »Gar viel Fleißige wird man früher begraben als dich. Sobald du nur wieder ein'n Krug Wein und ein'n Kranz Würst' vor die hast, wirst du gleich wieder leben wollen.«

Kleiwenleicht schüttelte den Kopf.

»Nein«, versicherte er. »Wenn es so ist, wie du sagst, dann weiß ich mir auf der Welt kein'n Weg mehr. Drum muss ich zum Baldringer gehen. Du musst mich zu ihm gehen lassen.«

»Du darfst nicht zu ihm gehen«, entgegnete der Sphändl ruhig und fest. »Ich hab' vor ihm gegen alle gewettert, die demütig zu ihm kriechen wollen. Dass du so vor dem Baldringer sein' Tür kommst, wie du es möchtest, du, mein nächster Freund und der einzige Mensch, über den ich Gewalt hab', das darf nicht g'schehen. Wenn du mir diesmal trotz'st, dann bist du freilich mein Freund nicht mehr, und dann spiel' ich dir so mit, wie ich dir's vorhin g'sagt hab'. Es ging' sich gar traurig an dir aus, wenn ich dir für den geringen Betrag feil wär', den du heut von dem Baldringer kriegen könntest und den ich dir doch justament nicht lassen tät'. Füg' dich nur, es bleibt dir sonst nichts übrig.«

Kleiwenleicht knickte nun zusammen, als ob ihm die Beine allzugleich lehmweich würden. An dem größeren seiner Knaben hielt er sich aufrecht. »Es ist gut«, sagte er. »Ich will den Baldringer um nichts bitten. Nur überzeugen möcht' ich mich, ob er jetzt wirklich so ist, wie du sagst. Es ist nicht zu glauben, dass er so ist.«

Nun brauste der Sphändl auf. »Meinst du, dass ich lüg'?«

Kleiwenleicht knickt tiefer zusammen. »Nein, das nicht, verzeih' mir«, entschuldigte er sich. »Ich mein' nur, dass du dich vielleicht doch an ihm irren könnt'st.«

»Verlass dich drauf, dass ich dich nicht zurückhalten möchte', wenn ich's nicht sicher wüsst', dass du jetzt zu dein'm Schaden als zu dein'm Nutzen hingehen tät'st. So, und jetzt will ich euch bis heim begleiten.«

Er schritt mit den zwei Kindern voraus. Kleiwenleicht ging hintennach und redet dabei in wehklagenden Tönen: »So muss ich's halt glauben, dass es so ist. Und da ist jetzt mein letztes Glück dahin. Wie werd' ich's denn daheim aushalten, wenn ich meine einzige Hoffnung nimmer hab'? All die Geschäftsleut' werden über mich herfallen, die mir wegen dieser letzten Hoffnung was geliehen haben. Der Hausherr wird mich gleich auf die Gasse setzen, und mein Weib wird's treiben, mein Weib! Wenn ich jetzt noch arbeiten könnt', aber der jetzige Schrecken hat mir den Rest geben, das g'spür ich. Und wenn ich auch noch zu einer Arbeit fähig würd', aufhelfen könnt' ich mir dabei doch bei aller Plag' nimmer so weit, dass sich nachher das Leben noch ein bissl verlohnen tät. Keine erträgliche Stund' werd' ich mehr haben, wenn es so ist, wie du sagst. Und es ist so. Wenn du's nicht sicher wüsst'st, so tät'st du's nicht sagen. Ja, es ist so. Nimmer ein bissl darf ich hoffen, nimmer ein bissl.« Dann weinte er.

Der Sphändl wandte sich nun nicht mehr nach ihm um und dachte: »Es wird dir bald leichter werden. Und wenn dir auch deine Hoffnung in Erfüllung ging, in einer kurzen Zeit hätt'st ja doch wieder nichts von allem, was dir der Baldringer geben könnt'.«

Ein ziemliches Bedauern empfand er deshalb, weil er diesmal den Kleiwenleicht vor den beiden Knaben erniedrigen musste, denen er schon öfter eine Elternliebe gepredigt hatte, welche sie freilich deshalb nicht annehmen konnten, weil sie von ihren Eltern nicht danach behandelt wurden. Wenn die Kleinen immer Zeugen dessen gewesen wären, was zwischen den beiden Freunden ausgetragen wurde, so hätten sie gewiss meistens ihrem Wunionkel, den sie ohnedem für ganz besonders einsichtsvoll hielten, recht gegeben.

Jetzt begriffen sie zwar nicht völlig die Ursache, aus welcher Sphändl sie alle zur Umkehr zwang, aber sie fühlten es, dass er gegen ihren Vater zu grausam war und sich allzu viel über ihn anmaßte.

»Gelt«, fragte nun Franzl, der Ältere, bei seinen Tränen in einem vertrauensvollen Tone: »Weil du uns zurückführst, so gibst du uns halt nachher was? Uns geht's ja miserabel.«

»Ja, so viel ich kann, geb' ich euch«, tröstete der Schlosser.

Das hatte nun der Kleiwenleicht erhorcht. »Wie viel kannst du denn heut für uns erübrigen?« fragte er. »Wie viel?«

»Gegenwärtig hab' ich nur fünf Kronen bei mir«, antwortete der Sphändl wahrheitsgemäß. »Die kannst du gleich haben. Ich werd' mir schon irgendwie durchhelfen bis zum Samstag. Und am Samstag kriegst du eine Hilfe von mein'm Wochenlohn – zweiundzwanzig Kronen. Mehr kann ich dir leider nicht geben.«

»Das hilft mir nicht«, jammerte der Kleiwenleicht. »Grad jetzt tät' ich ein'n größeren Betrag brauchen, noch nie hätt' ich so viel Zahlungen auf einmal zu leisten gehabt als wie grad jetzt. Wie heut der Liebrich mit dem Baldringer daher g'fahren ist, hab' ich mir gedacht: ›Da trifft das Glück just zur äußersten Zeit ein.‹ Keinen einzigen Tag länger könnt' ich mehr in dieser Not und in dieser Drangsal sein. Die Kinder hab' ich antrieben auf dem Weg: ›Schnell, schnell, mir zersprengt ja die Erwartung alle Adern, wenn ich nicht bald die Gewissheit krieg, dass mein Glückstag wirklich da ist.‹ Und dann bist mir du entgegen gekommen, Wunibald. Glaub' mir's, tausend Mal lieber, als ich dir jetzt so nachgeh', ließ ich mich gleich von dir niederschlagen. Gar keine Aussicht auf eine baldige Rettung mehr haben, gar keine Hoffnung mehr – und doch noch dabei weiter gehen, das ist hart und – zahlt sich nicht aus. Heut hätt' mir noch geholfen werden müssen oder vielmehr in dieser Stund' noch, just in der jetzigen Stund'. Und weil das nicht ist, möcht' ich keinen Schritt mehr machen, keinen einzigen mehr.«

Der Sphändl scherzte nun: »Jetzt weiß ich, dass du ein bissl faul bist. Aber geh nur, wenn du wieder zu liegen kommst, wird dich das Leben schon wieder freuen.«

Dann redete er den noch immer leise schluchzenden Kindern begütigend zu: »Alles wird sich ausgehen. Seid nur still. Wenn ihr jetzt nicht verweint wärt, so täten wir gleich da in der Donaunixe nachtmahlen. Aber drüber der Au, bei der Haslwirtin, tun wir uns ganz sicher ein'n guten Abend an. Schaut nur dazu, dass man euch's bis dann nimmer ankennt, dass ihr geweint habt.« Dabei kamen sie an der Donaunixe vorüber in die finstere Au, in welcher ihnen nur ein auf der großen Teichfläche liegender Widerschein des Sternenhimmels ein wenig den Weg beleuchtete.

Eine Weile ging Sphändl mit den Kindern still dahin, dann fiel es ihm auf, dass der Kleiwenleicht hinter ihnen gar nicht mehr klagte. Er kehrte sich um und sah seinen Freund nicht.

»Jetzt ist uns der Vater doch davon!« rief er. »Jetzt rennt er halt doch zu dem Baldringer!« Da stieß der kleinere der Knaben einen gellenden Schrei aus und zeigte nach den weißen Händen seines Vaters, die eben ganz nahe von hier über der Wasserfläche sichtbar waren und dann plötzlich verschwanden.

»Rührt euch nicht vom Fleck!« schrie Sphändl die Kinder an. »Ich hol' ihn heraus!« Er ging etliche Schritte weit in das Wasser hinein, das ihm dann schon an den Hals reichte. Knapp vor sich sah er noch einmal drei zuckende Finger des Freundes auftauchen, er wollte sie ergreifen, aber es gelang ihm nicht.

Bei einem Versuche, noch ein wenig weiter zu kommen, entdeckte er, dass sich unmittelbar vor seinen Fußspitzen der Boden jählings vertiefte. Ein Vorwärtsbewegen hätte für ihn, da er nicht schwimmen konnte, einen Selbstmord bedeutet. Es war nun nichts so stark in ihm als der Wille, den Ertrinkenden zu retten, deshalb bot er seine ganze Kraft auf, um so schnell als möglich gegen das Wirtshaus hinzukommen, und während des Rennens schrie er immerzu, damit er vielleicht früher gehört als gesehen werde. Die Kinder liefen ihm schreiend nach.

Aus dem Wirtshause kamen schnell nacheinander mehrere Menschen, und ihnen allen voraus stürmte ein junger, riesenhafter Schankbursche, dem Sphändl zuerst die Stelle wies, an welcher der Kleiwenleicht versunken war. Von allen, die herzukamen, stieg außer dem Schankburschen niemand in das Wasser, aber dieser junge Mensch legte, ohne dass ihn dabei jemand unterstützt hätte, den Kleiwenleicht bald auf das Ufer hin. Die Hilfe kam ein Weilchen zu spät. Man gab sich viele Mühe, um den Kleiwenleicht zu sich zu bringen. Er war tot.

Der Sphändl half bei den Wiederbelebungsversuchen, ohne auf diese Mühe noch eine Hoffnung zu setzen.

Eine Weile konnte er sich fast gar nicht des Bewusstseins erwehren, dass er an dem Tode des Freundes schuldig sei. Am liebsten hätte er nun gleich sein eigenes Leben gelassen, das ihm bei dem reuevollen Leid, welches nun in ihm war, und bei dem Grausen, das er vor sich selbst empfand, nicht für die Dauer erträglich schien.

So gewaltig befiel ihn die Verzweiflung, dass er sich zu jedem Versuche, sich aus ihr zu befreien, für ohnmächtig hielt. Während dieses erstlichen Gemütszustandes glaubte er auch nicht daran, dass er sich nur halbwegs erheblich vor sich selbst rechtfertigen und somit beruhigen könnte. Vorübergehend war er einer Ohnmacht nahe, und da schien es ihm während seiner Betäubung so, als ob sich seine Seelenqual in ein wirkliches Feuer verwandelt hätte, in welchem er nun jählings sterben zu können hoffte. Dann gelangte er doch wieder zur Besinnung, und sein Schuldbewusstsein tat ihm gleich wieder mehr weh als das Feuer, von dem er geträumt hatte. In dieser verstärkten Pein suchte er nun doch nach den Linderungsmitteln, auf die er vorhin nichts hielt, nämlich nach allen Entschuldigungsgründen, welche sich dagegen anführen ließen, dass er den weichlichen Kleiwenleicht so hart und eigenwillig behandelt hatte. Zunächst dachte er: »Ich hab' ihm doch nichts Unrechtes gesagt. Was ich ihm von dem Baldringer gesagt hab', ist doch wahr. Oder nicht? Ja doch. Es wird sich ganz gewiss herausstellen, dass ich mich an dem Baldringer nicht geirrt hab'.«

Und da wünschte er es nun, dass er sich um seiner Gewissenserleichterung halber an dem Baldringer nicht geirrt haben möchte. An das Schlechte dieses Wunsches dachte er in der jetzigen Eile seiner Gedanken gar nicht. »Die Drohung, dass ich ihn sauber auspfänd' und grausam mit Feindschaft verfolg', wenn er zum Baldringer betteln geht, die war doch auch gerechtfertigt«, dachte er weiter. »Hätt' ich ihn vielleicht ganz gegen mein Einsehen doch zu dem Baldringer gehen lassen sollen? Nein. Und anders als mit dieser Drohung hätt' ich ihn doch nicht zurückhalten können. Gewiss nicht. Ausgepfänd't hätt' ich auch nicht und sein Feind hätt' ich auch nie werden können, dazu hab' ich ihn doch seit Jugend her zu gern gehabt. Das von der Pfändung und der Feindschaft wär' also die einzige Lug, die ich getan hab'. Eine Notlug. Hab' ich mich also bei meiner wahren Überzeugung viel anders gegen ihn verhalten können, als ich's getan hab'? Nein. Und das alles miteinander wär' nicht, wenn der Baldringer sein Wort g'halten und die Teilung vorgenommen hätt'.«

Obwohl sich der Sphändl das sagte, blieb er doch davon überzeugt, dass er den Freund in den Tod getrieben hatte. Nur bei dem Gedanken, dass zumeist der Baldringer an diesem Selbstmorde schuldig sei, fühlte er sich etwas entlastet.

Die Schlussfolgerung seines jetzigen Nachdenkens war die: »Der Kleiwenleicht tät' leben, wenn ich nicht so grausam gegen ihn gewesen wär'. Und für diese Grausamkeit gibt's keine volle Entschuldigung. Vom irdischen Gericht würd' ich freilich für das nicht gestraft, was ich da verbrochen hab', aber vor mir selber kann ich mich davon nimmer frei sprechen, und deshalb bleib' ich, solang' ich noch leb', ein unglücklicher Mensch. – Ang'richt't hat aber doch der Baldringer dieses Urteil, und ihm hab' ich mehr als mir vorzuwerfen.«

Nun begann er den Markus als den Urheber seines Unglückes zu hassen. Ehe er mit seinem Denken und Empfinden so weit kam, wurden ihm verschiedene Fragen gestellt, die er jedoch nicht hörte. Seine Aufregung machte ihn bis jetzt taub gegen das Stimmengewirr, welches ihn umgab. Mit seinem Schweigen steigerte er die Neugier der Leute; sie wagten es aber nicht, ihm mit ungeduldigen Fragen zudringlich zu werden, denn sie kannten und achteten ihn. Der Ertrunkene erschien zunächst keinem von ihnen bekannt, und die zwei Knaben, die unterdessen immer ganz nahe hinter Sphändl standen, sah vorläufig niemand besonders aufmerksam an.

Nun kamen aber vom Schwemeißergute her zwei der Hofknechte, die vorhin bei der Begrüßung des Baldringer gewesen waren, und einer von ihnen schrie gellend lachend:

»Der Kleiwenleicht! Der hat sich gewiss ertränkt, weil der Baldringer nur Tugendhafte beteilen will!«

Da richtete sich nun der Sphändl zwischen zwei anderen, die den Toten noch immer rieben und kneteten, empor, sah den lachenden Knecht an und sagte: »Da draußen vor der Au hat er mir begegnet. Zum Baldringer wollt' er wegen sein'm versprochenen Teil. Ich hab's ihm gesagt, dass der Baldringer umschlägig worden ist. Er wär' trotzdem hin und hätt' den Wortbrüchigen gebettelt, wie das andere auch schon getan haben. Von diesem Gang hab' ich ihn abgehalten. Völlig gezwungen hab' ich ihn zum Umkehren. Ihr zwei dort wisst es schon, wie ich dagegen bin, dass man dem Baldringer demütig um das kommt, was er zu geben schuldig ist. Also wollt' ich mit meinem Freund heimzu. Ich und die Kinder sind vorausgegangen, er hintennach. Wie wir uns dann einmal umsehen, ist er im Wasser. Ich hab' geglaubt, dass ich gegen meinen Freund gerecht bin, jetzt, wo er tot ist, glaub' ich, dass ich gegen ihn grausam war. Wer mich verdammt, der mag es laut sagen, und wer mich totschlagen will, der mag es tun!«

Da lachten nun die beiden Hofknechte zugleich, als ob sie den Sphändl für gar übertrieben gefühlvoll hielten. Der, welcher früher gesprochen hatte, trat auf den jungen Schlosser zu und rief:

»Wie sollt'st denn du in deiner Gradheit als ehrlich g'sinnter Mann anders g'handelt haben als so? Und wer wird denn dich für deine gute Meinung strafen wollen? Der Baldringer, der's verschuld't hat, dass der arme Teufel in den Tod gangen ist, wird sich gewiss nicht so viel drüber grämen wie du in der G'fühligkeit.«

Sphändl sah nun erst, dass sein Beruhiger einer von denen war, deren Beifall er vorhin verachtet hatte, weil er sie für schlechte Menschen hielt. In seiner jetzigen Trostesbedürftigkeit wies er aber die Lobspende nicht zurück und gab sich allzu willig der Hoffnung hin, dass dieser Mann, den er als einen Unaufrichtigen kannte, diesmal aus Überzeugung sprach.

Nun wurden die zwei Knechte mit Fragen bestürmt. Sie erzählten viel von dem, was sich früher auf dem Schwemeißergute abgespielt hatte. Über den Baldringer redeten sie ungefähr so, wie der Sphändl über ihn dachte.

Dann erhob Hawechl, der Wirt, ein großes Geschrei. Er hatte es aus Geschäftsgründen innig gewünscht, dass der Baldringer Geld unter die Gutsarbeiter bringen möge, und gerade die minderwertigsten der Hofknechte hätte er gerne groß beteiligt gesehen, weil diese bei ihm am stärksten angekreidet standen.

»Da wär' ja nachher bei dieser ganzen G'schicht ich derjenige, der am meisten für ein'n Narren gehalten worden ist!« rief er. »In mein'm guten Glauben, dass der Baldringer ein Ehrenmann ist, borg' ich seit Monaten diesen elenden Gramaßlingen Gramaßlingen = Herabgekommenen., die sein Ehnl so himmelschreiend ausg'hungert hat; sie fressen und saufen bei mir drauf los, wie halt eben solche Leut', die sich aus Furcht vor der morgigen Not noch nie recht gesättigt haben und dann auf einmal eine Erbschaft machen. Und jetzt möcht' er sie in den Schulden lassen, in die er sie gebracht hat?! Arme, schwache Leut' verführen und sie dann im Elend lassen! Wenn er dabei noch von seiner Christlichkeit red't, da spott't er entweder, oder er ist verrückt.«

Ein alter Fabrikarbeiter, der mit den anderen Leuten aus dem Wirtshause gekommen war, rief nun aus: »Bringt ihm doch den Toten! Lasst ihn den ersten Erfolg seines christlichen Bestrebens nur gleich sehen, vielleicht wird ihm dann anders. Bringt ihm nur gleich sein erstes Todesopfer!«

Der Wirt schlug diesem Ratgeber auf eine Achsel und sagte: »Bravo, Bachler. Da hast du die richtige Idee. Wenn wir die G'schicht der Behörde anmelden, wird's g'wiss morgen, eh' sie den Toten von da wegführen. Und ich mag ihn nicht da auf meinem Grund liegen lassen. So was macht ein'm die ganze Gegend unheimlich und schad't mein'm Geschäft. Ja, wir führen dem Baldringer sein Opfer auf den Schwemeißerhof.« Dann wandte er sich an einen jungen Burschen: »Poldl, zieh' das Streifwagl aus dem Schuppen. Und dann g'schirr die Schimmeln an.«

Die meisten Anwesenden hießen den Entschluss Hawechls gut. Sphändl sprach nun keine Meinung aus, aber er war darauf begierig, den Markus vor dem Ertrunkenen zu sehen.

Die beiden Hofknechte erklärten jetzt, dass es für sie doch zu viel gegen den Baldringer gewagt wäre, wenn sie da mittun würden.

»Wenn ihr so feig seid, dann ist es eh' besser, ihr geht nicht mit«, sagte der Hawechl. »Ich will frei herausreden zu dem Baldringer. Könnt' nicht schlafen, eh' ich dieser G'schicht nicht auf den Grund g'sehen hätt'. Für mich hängt da mehr gutes Geld d'ran als für einen jeden von euch. Und ich getrau' mich für mein Geld aufzutreten.«

Der jüngere der beiden Knaben hatte unterdessen den Sphändl an der Hand gefasst und ihm zugeflüstert: »Jetzt möchten wir aber doch schon was essen, Wunionkl.«

»Ja, das sollt ihr auch«, sagte Sphändl, und hernach redete er den Wirt an: »Zuerst wollen wir die Kinder sättigen. Seine Kinder.«

Jetzt wurden erst den zwei Knaben überschwängliche Beileidsbezeigungen zuteil. Die Wirtin fing dabei sogar hellauf zu weinen an.

»Also einen Familienvater hat der Baldringer auf dem Gewissen«, sagte der Wirt. »Arme Waiserln! Trotzdem jetzt mein Geld in Gefahr ist, will ich euch nicht hungern lassen. Ihr sollt essen und nachher mit uns vor den Baldringer hintreten!«

Indessen der Wirt so redete, fragten etliche Leute den Sphändl allzu-gleich nach der Mutter der beiden Knaben. Nachdem es der junge Schlosser bekannt gegeben, wo die Frau Kati wohnte, gingen gleich zwei Männer hin, um sie zu benachrichtigen.

»Wenn die arme Frau näher wär', müsst' sie auch mit uns zu dem Baldringer«, sagte der Wirt. Dann ging er in den Stall, um dem Poldl die Pferde aufzäumen zu helfen, mit welchen er den Kleiwenleicht nach dem Schwemeißerhofe fahren wollte.

Sphändl und die Wirtin führten die zwei Kinder in das Haus. Ein altes Weib, welches bei den Wirtsleuten Kuhmagd war, stellte eine brennende Stalllaterne vor den Kopf des Toten hin, dann fing sie laut zu beten an. Etliche andere beteten mit, die übrigen und auch die zwei Hofknechte begaben sich in die Schankstube.

Sphändl und die zwei Knaben aßen nun an einem weiß gedeckten Ecktische des großen Raumes. Die Wirtin gab den Kindern zuerst Suppe, dann frisch gebackene Kalbsschnitzeln mit Dunstobst und schließlich einen Kaiserschmarrn. Die beiden aßen mit einer solchen Lust wie noch nie in ihrem Leben. Sphändl wunderte sich ein wenig über ihre Genussfreude, aber es war ihm doch recht, dass sie nun keine Trauer zeigten. »Je leichter ihr es verschmerzt, um desto weniger hab' ich euch angetan«, dachte er. Die zwei hatten vorhin Schrecken und Grauen verspürt, aber ein großes Leid empfanden sie nun um den Toten nicht. Weil sie ihn wenig geliebt, wohl aber viel gefürchtet hatten, war ein Gefühl der Befreiung in ihnen.

Es währte nun nicht lange, dann tönte durch die offenen Fenster die Stimme des Wirtes herein:

»Wenn die Kinder gelabt sind, so können wir die Fahrt beginnen.«

Außer den zwei Hofknechten gingen alle Leute, die in der Stube waren, hinter dem Sphändl und den zwei Kindern vor das Haus. Der Ertrunkene lag nun schon, mit einem Kotzen bedeckt, auf dem Streifwagen. Der Wirt hielt die zwei Schimmel, und hinter dem Fuhrwerk stand betend das Häuflein jener Frommen.

Vor dem Sphändl und den Kinder trat man zurück, um sie als die ersten hinter dem Wagen gehen zu lassen; hernach zogen die Pferde langsam an. Sphändl schritt eine Weile schweigend neben den Kindern, dann wurde er von zwei Fabrikarbeitern angesprochen, die sich lediglich neugierdehalber dem Zuge anschlossen und denen das Mitbeten nicht behagte. Während der junge Schlosser diesen Männern verschiedene Auskünfte gab, führten die zwei Knaben ein leises, von niemand belauschtes Zwiegespräch.

»Gelt, Franzl, fad ist's, dass wir da mithatschen müssen?« fragte Edi, der jüngere der Brüder.

»Na freilich«, antwortete Franzl. »Niederhauen Niederhauen = Schlafenlegen. tät' ich mich schon lieber nach dem guten Papperl Papperl = Essen., aber es nützt einmal nichts, wir müssen da schon mitmachen.« Dann fügte er eine Ermahnung hinzu: »Eine wurstige Leaschen Wustige Leaschen = gleichgültige Miene. darfst aber dem g'scherrten G'scherrten = bäuerischen. Baldringer nicht zeigen. Blatzen Blatzen = weinen. müssen wir vor ihm.«

»Hat das wer g'schafft?« fragte Edi.

»Nein, g'schafft hat's niemand, aber das versteht sich doch von selbst. Wir können ja den Männern das G'spiel nicht verpatzen. Das wirst du ja doch bei ihrem Reden kneist Kneist = begriffen. haben, dass sie dem Baldringer schwül Schwül = bange. machen wollen.«

»Na freilich, so blöd bin ich nicht, dass ich das nicht g'spannt hätt'«, sagte Edi. »Aber blatzen tu' ich nur, wenn ich muss – oder wenn ich damit was erreichen will. Glaubst du, dass uns der G'scherrte da oben was brennt Brennt = schenkt., wenn wir ihn anheulen?«

»Nein«, antwortete Franzl. »Wenn wir nicht extra bei ihm anhalten, brennt er und kein' Flins Flins = Nickelstück.. Aber für unsere Mutter wird er vielleicht etwas springen lassen. Da haben nachher wir zwei freilich ein'n Pfifferling davon. Weißt du es noch, wie sie unlängst von der Herrschaft, die bei uns im ersten Stock wohnt, den Fünfer g'schenkt kriegt hat? Eine andere hätt' für das Geld doch wenigstens einmal ihr Brut abg'füttert. Aber sie ist gleich direkt ins Wirtshaus pfnurrt Pfnurrt = gestürzt. und hat sich eine halbe Ente und ein'n Liter Gumpoldskirchner kauft. Vier Kronen hat's von der Zech herauskriegt, die hat ihr der Vater blitzt Blitzt = abgenommen. und ist dann auch ins Wirtshaus gangen. Und wie wir hernach am Abend wolfshungrig heimkommen sind, hat's für uns nicht einmal eine Einbrennsuppe g'habt. Dann haben wir aufbegehrt. Und da hat's uns hinausg'schmissen.«

»Ich weiß's eh' noch«, sagte Edi. »Wir sind nachher umeinander g'strawanzt. Beim Eckgreißler haben wir Birn' mitgehen lassen. Auf dem Wassererplatzl Wassererplatzl = Platz, wo die Wagen der Fiaker gewaschen werden. haben wir eine Wagenketten g'schnurrt Gschnurrt = gestohlen., für die hat uns der Eisentandler eine Krone geben. Da war nachher für uns ein Guljas auf der Welt. Übernacht't haben wir im Stadtpark, und am nächsten Tag hat uns der Wachter heim bracht.«

Hier seufzte Franzl.

Edi setzte die Erinnerung fort: »Dann haben uns der Vater und die Mutter im Duett g'wachelt G'wachelt = geschlagen., als ob sie selber an allem unschuldig wären. Und so in derer Dicken Derer Dicken = auf diese Weise. geht's bei uns allweil dahin. Ein Sauleben ist's.«

Hier spie der Kleine aus, und Franzl sagte:

»Jetzt wird es sich ja wenden.«

»Ich denk' mir's auch«, gestand Edi. »Siehst, und deswegen kann ich halt nicht weinen. Er hat ja auch eine gute Seiten gehabt, unser Alter – aber sein wir ehrlich – z'danken haben wir ihm außer diesem Leben, auf das wir ja husten, gar nichts. Und droschen hat er uns, gelt?«

Franzl nickte. »Ja, das ist wahr. Die Nachbarin sagt eh' allweil: »Euch hat euer Vater nur deswegen noch nicht derschlagen, weil er zu faul dazu ist.«

»Von der Mutter lass ich mich jetzt auch nimmer müllen Müllen = misshandeln.«, erklärte Edi.

Da lächelte Franzl. »Die wird sich jetzt auch gar nimmer mit dir abgeben. Das weiß ich schon, was die jetzt tun wird. Fangen wird sie sich ein'n. Fesch g'stellt ist's ja noch. Von uns wird sie sich losmachen. Die kenn' ich!«

Edi sagte nun: »In ein'n Knabenhort oder in ein Waisenhaus geh' ich nicht. Eh' ich mich so wie ein Gimpel in ein Häusl sperren lass, such' ich schon lieber wie ein Spatz mein Brot auf der Straße.«

»Mit uns täten's in solchen Häusern kein' Ehr' aufheben«, meinte auch Franzl. Sie blinzelten nun einander bedeutungsvoll an.

»Recht leid wär' eigentlich nur dem Wunionkel, wenn er all's von uns wüsst'«, flüstere hernach Franzl. »Er möchte' uns dann vielleicht auch gar nimmer.«

»Er soll uns aber mögen«, wünschte Edi. »Sonst hat uns eh' niemand gern. Er wird auch für uns so viel als möglich tun.«

»Weißt du aber, was dumm ist von ihm?« fragte Franzl.

»Nun?«

»Dass er sich jetzt wegen unsern Vater so abrannt Abrannt = abquält.. Er bereut's, dass er ihn ausgreint hat.«

»Das sollten wir ihm ausreden können«, meinte Edi.

Dann kehrte sich ihnen der Sphändl wieder zu und erkundigte sich nach ihrem Befinden.

»Vom Magen aus ist mir noch gar nicht so gut gewesen wie heut'«, antwortete Franzl. »Und sonst…« In dem Scheine des Lichtes, das die alte Stallmagd hinter ihnen her trug, sahen nun die beiden den Sphändl beiläufig so an, als ob sie sagen wollten: »Und sonst ist uns auch schon gar oft viel schlechter zumut' gewesen als wie jetzt.«

Der junge Schlosser war über diesen Bescheid fast etwas entsetzt. Dann dachte er an ein Sprichwort von der Jugend, der man es verzeihen soll, wenn sie sich über Schweres leicht tröstet. Er ahnte es nicht, dass es die beiden auch ein wenig darauf abgesehen hatten, ihn zu trösten.


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