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I.

In einer tannenschwarzen Höhenrunde ist ein waldfreier Hügel. Der hat eine hellgebleichte Granithaube. Und er trägt ein buntes Kleid, denn alle Feldfleckchen, die auf seinem sanften Gehänge aneinander gestückelt sind, zeigen jetzt ihre Sommerfarben. Vor der Morgenseite des Hügels liegt eine kleine Wiese. Die ist der urbare Teil des sonst wild bewaldeten Talgrundes. Hinten grenzt sie an das grobsteinige Ufer eines breiten Baches. Zwischen ihr und einem blühenden Flachsfelde steht auf einer Stufe des Hügels der Baldringerhof. Dieser hölzerne Bau hat wirklich keine ungeflickte Stelle. Aber die Elendigkeit seiner Wände ist schneeweiß übertüncht. Und seine Strohdächer verbirgt ein blütenreicher Pflanzenwuchs. Am heutigen Vormittag kam auf einem Eisenschimmel ein junger Mensch zu dem Baldringerhofe geritten.

Den Schimmel halfterte er an einen Spreizbaum der alten Bauschaft. Dann ging er zu dem offenen Scheunentore. In der Scheune saß der alte Baldringer rittlings auf einer Schnitzbank. Der große, derbknochige Mann glättete einen beinahe schon vollendeten Holzschuh.

»Ich heiße Egid von Liebrich«, stellte sich der Junge dem Alten vor. »Und ich möchte meinen neuen Gutsnachbarn, den Herrn Markus Baldringer, kennenlernen.« Der Alte stand auf und sagte: »Ich bin der Hans Baldringer, dem Markus sein Vetter. Der Markus ist nicht daheim. Er ist im Greanzalei drüben, dort tut er dem Schlürchten auf die Kinder achtgeben. Wenn du ihn aber einen Herrn und deinen Gutsnachbarn heißt, so tust du ihm einen ungerechten Schimpf an. Der Markus ist zu gut und zu christlich, als dass er jemals ein Herr oder gar ein Gutsherr werden könnt'.«

Dieses Duzen und Zurechtweisen beleidigte den Egid nicht merklich. Er antwortete lächelnd und in einem ruhigen Tone: »Der Markus Baldringer ist trotz Ihrer Behauptung mein Nachbar und Gutsherr. Sein nun gottseliger Großvater, der Herr Ignaz Schwemeiß, vermachte ihm am elften Februar des laufenden Jahres rechtsgültig das Schwemeißergut. Diese Besitzung grenzt in einer fast zwei Kilometer langen Strecke an meine Fluren.«

»Du lügst halt fleißig«, sagte der Baldringer. »Den alten Schwemeiß heißt du einen Gottseligen. Und der ist doch bis zu seinem Tod ein gottloser Kerl gewesen. Das Schwemeißergut hat ihm nicht von Rechts wegen angehört, deshalb hat er es dem Markus nicht rechtsgültig vermachen können.«

Der Egid lächelte wie zuvor. »Markus Baldringer hat sich aber doch auf einer Verlassenschaftsurkunde, an deren Gültigkeit nicht zu zweifeln ist, unbedingt erberklärt«, sprach er.

»Das ist wahr«, sprach der Alte. »Wenn er das nicht getan hätte, so wär' ja der Staat dem Schwemeiß sein Erb' geworden. Der Markus will aber diese Hinterlassenschaft so gerecht als möglich denen zurückerstatten, die sein Großvater beraubt und übervorteilt hat.«

Jetzt machte Egid ein ernstes Gesicht und sagte: »Ich habe meinen alten Nachbarn gekannt, und ich glaube, dass er nichts unrechtmäßig Erworbenes besaß.«

»Du wirst wohl so manches glauben, was du nicht beweisen kannst«, meinte der Baldringer. »Ich hab den Schwemeiß schon als einen schlechten Kerl verachtet, wie du noch ungeboren warst. Er ist einmal unten auf dem Flachland ein Kleinbauer gewesen. Ein Häusl, fünf Joch Grund und zweitausend Gulden hat er gehabt. Er hat reicher werden wollen, deshalb ist er ein Betrüger geworden. Seinen ersten großen Schurkenstreich hat er an einem notigen Bauern, dem Fahrnsinn, verübt. Als Christ hätt' er dem was schenken, aber beileib nichts nehmen sollen. Der Fahrnsinn hat sich auf seiner Gratschen Gratschen = kleine, schlechte Bauernwirtschaft. kümmerlich hingefrettet. Nur einmal ist ihm ein Glück zugedacht gewesen. Da ist nämlich ein reicher Mann in die Gegend gekommen, der hat heimlich einen Baugrund gesucht. Eine große Papiermühl' wollte er bauen. Und da hat er einen Grund gebraucht, bei dem auch eine Wasserkraft zu haben war. Dann war ihm des armen Fahrnsinns Feld der geeignete Platz, denn das ist neben einer gefällsstarken Flussstell' gelegen. In einem Wirtshaus hat er's zuerst verraten, dass er dem Fahrnsinn den Grund zusamt der Hütte abkaufen möcht'. Er hätt' dem armen Bauern so viel gegeben, dass der aus dem Elend in das Glück gekommen wär'. Aber da war zum Unheil just der Schwemeiß in dem Wirtshaus. Der hat dort ganz still dem Reden zugehört. Dann ist er zu dem Fahrnsinn gegangen, der von dem Papiermüller noch keine Ahnung gehabt hat. Der Fahrnsinn war damals gerade nicht weniger im Gefrett als wie sonst. Und deshalb war er froh, dass ihm der Schwemeiß das Anwesen um eintausendachthundert Gulden abgekauft hat. In einer kurzen Zeit darauf hätt' er sich freilich aus Reu und Leid umbringen mögen, denn da hat der Papiermüller dem Schwemeiß viertausend Gulden für das Feld und für die Hütte gegeben. Was sagst du zu diesem ersten Stücklein?«

Der Baldringer sah den Egid erwartungsvoll an. Der junge Mensch zuckte leichthin die Achseln und meinte, dieses Gebaren des Herrn Schwemeiß sei kein Schurkenstreich zu nennen. Gegen ein solches Kaufen und Verkaufen könne ja vom gesetzmäßigen Standpunkte aus nichts eingewendet werden.

Eine solche Rede erzürnte den Hans Baldringer. Er maß den Städtischen mit verachtungsvollen Blicken und sagte: »Weil du dich über ein solches Geschäft nicht empören kannst, so mag ich nimmer mit dir reden.« Dann ging er über die Tenne in den Hof hinein. Egid hätte von dem Alten gerne mehr erfahren; deshalb ärgerte ihn diese Beendigung des Gespräches. Er war auf die Baldringer schon lange neugierig. Sie waren ihm so geschildert worden, dass sie in seiner Meinung gerade jenen Sonderlingsarten zugehörten, welche er am liebsten verspottete. Aber er kam heute weniger seiner Neugier und Spottlust als ernster Ursachen halber hierher. Auf dem Schwemeißergute mehrte sich nämlich seit dem Ableben des Alten eine Verwahrlosung, welche teilweise schon der Musterwirtschaft Egids gefährlich wurde. Deshalb wollte Egid dem Markus Mahnungen und Ratschläge erteilen.

Er besah nun eine Taschenlandkarte, um zu erfahren, wo das Greanzalei liegt. Aber auf dieser Karte waren gute, altbayerische Ortsbenennungen verhochdeutscht. Das Greanzalei Granzalei. Greanz'n = Gerinnse, Bachrinnt. Alei = Rodung, Waldwiese. hieß auf ihr Grenzallee, und diese wenig treffende Umbenennung verwirrte den Egid. Da hörte er von dem Hofraume her eine starke Frauenstimme, die dort in einem guten Deutsch zu dem Baldringer sprach: »Ich habe euer Gespräch gehört. Jetzt will ich mit Herrn Liebrich reden.«

Darauf antwortete der Baldringer so laut, dass ihn der Egid leicht verstand: »Rede, wie's dich gelüstet, meine liebe Nanni. Man soll die Weiber reden lassen und soll dabei wissen, was man zu tun hat.«

Das Weib entgegnete: »Du weißt nicht, was du zu tun hast. Deshalb bist du ein Narr.«

Gleich darauf sah der Egid sie vor sich. Sie war groß und sehr fett. Ihr Gesicht war trotz vieler Falten ebenmäßig, und auf ihm blieb auch dann der Ausdruck eines großen Selbstbewusstseins vorherrschend, wenn sie so wie jetzt freundlich lächelte. Wie eine Waldbäuerin sah sie nicht aus, denn sie trug falsche Haare und ein feinzeugenes, lichtes Gewand.

Egid lüftete vor ihr den Hut, und sie sagte: »Ich bin die Frau des Baldringers. Wenn Sie jetzt nach der weiten Reise in meiner schlechten Behausung ein wenig Rast halten würden, so wäre mir das ein Vergnügen.«

Egid fragte: »Glauben Sie denn, dass mich Herr Baldringer Ihre Gastfreundschaft genießen ließe?«

Jetzt sahen es die beiden, dass der Baldringer von einem Seitentürlein des Hauses gegen den Wald hinschritt. Die Frau meinte schmunzelnd: »Er geht. Damit will er Sie zum Eintreten bewegen. Mehr dürfen wir von ihm nicht verlangen.«

Nun gingen die beiden in das Haus. Das war innen schöner als außen. Seinen viereckigen Hof nahm freilich größtenteils ein Düngerhaufen ein. Aber der war ordentlich geschichtet, und er roch nicht übel, weil er zumeist aus kurzgehacktem Fichtenreisig bestand. Zur Sommerszeit wurde nämlich in den Ställen des Baldringerhofes kein Stroh gestreut.

Zwischen der Düngerstelle und den Hofwänden lag ein sorgfältig gefügtes Granitplattenpflaster. Und diese Steinplatten waren reiner gescheuert als in manchem Hause die Küchenschüsseln. Der Baldringerhof hatte drei niedrige, kleinfensterige Stuben, die sich links von dem Flure aneinanderreihten.

Die erste Stube war bäuerisch eingerichtet. Aber ihre drei größten Schränke erfüllte ein wertvoller Bücherschatz. In ihrer linken Vorderecke stand auf einem zwei Ellen hohen Kalksteinsockel einen marmorne Abbildung des Praxitelischen Hermes.

In der rechten Vorderecke hing ein großes, hölzernes Kreuz. Bilder oder sonstigen Zierat gab es an den vier lichtblau gefärbten Wänden nicht. Die Baldringerin veranlasste den Egid dazu, an einem Tisch Platz zu nehmen. Dann ging sie in die Küche, kam aber gleich wieder zu dem Gaste zurück. Während sie den Tisch auf eine Art deckte, die nur in den Häusern der Reichen üblich ist, sprach sie sehr viel. Zur Einleitung sagte sie: »Seit fünf Jahren war kein gebildeter Mensch bei uns. Sie werden mir es daher nicht verübeln, wenn ich nun einen ungewöhnlichen Vertrauenseifer zeige.« Dann übergab sie ihm mancherlei von ihrer Herkunft und von ihrem Lebenslaufe zu wissen. Dabei log sie gar viel, obgleich sie davon überzeugt war, dass sie fast lauter Wahres erzähle. Sie hielt eben alle Menschen, von denen sie sprach, für ganz anders, als sie waren. Und sie irrte sich deshalb so viel, weil sie sich selbst am allerwenigsten kannte. Sooft es ihr möglich war, zeigte sie auch bei dem Reden ihre neuzeitliche Bildung. Deshalb verlängerte sie die Erzählung mittelst eines undeutschen Wortwustes auf eine unvernünftige Weise. Es war ihr nun hauptsächlich darum zu tun, dass sie der Egid für eine Frau halte, die in ein großstädtisches Leben gepasst hätte. Er bekam ihrer Redensart wegen wahrhaft eine höhere Achtung vor ihr. Ging er doch meistens mit Menschen um, die sich auch so neugebräuchlich wie die Baldringerin ausdrückten.

Das Wesen des Baldringers schien ihm zwar einer größeren, aber durchaus nicht so ernsthaften Betrachtung wert als wie dasjenige der Frau Nanni. Er glaubte, dass ihr ein feinerer Ehemann gebührte. Aber da hatte er unrecht, denn der Baldringer war für die Nanni immer zu gut gewesen.

Die zwei Alten waren nun schon seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Sie hatten einander in einer großen Stadt gefunden. Der Baldringer war aber nicht auf der Weibersuche dorthin gekommen, sondern einer berühmten Hochschule wegen. Er war sehr lernbegierig gewesen, und er stillte diese Gier einigermaßen. Eine Brotstelle, die ihm damals angetragen worden war, überließ er einem ärmeren, der sie besser brauchen konnte; denn er war bei seinem Lernen zu der Meinung gekommen, dass derjenige am leichtesten gerecht sein kann, der sich sein Brot selber erbauert und der dazu sonst keinen Helfer braucht als den lieben Herrgott. Und er wollte ein Gerechter werden. So ging er denn heim in seine Bergrunde und wurde ein Bauer.

Die Weiber würde er in der Stadt nicht viel angesehen haben, wenn die sich ihm nicht vorbedächtlich bemerkbar gemacht hätten. Die Nanni hatte sich eher in ihn verliebt, als sie ihm aufgefallen war. Sie gebrauchte ihre Augen viel munterer als wie der ernste Baldringer, der bei seinem Denken meistens geradewegs vor sich hinsah. Mit Mühe und Kunst brachte sie es so weit, dass auch er sich in sie verliebte. Aber trotz ihrer Verliebtheit kam es zwischen den beiden zu keiner rechten gegenseitigen Achtung.

Als es die Nanni vernahm, dass er ein Bauer werden sollte, hielt sie ihn nicht mehr für recht gescheit. Sie aber wurde in seiner Meinung eine eitle Törin, als er sah, wie sie an dem großstädtischen Wesen hing. Und so heirateten sie einander nur der Sinneslust wegen.

Noch ehe sie ihm dann in den Baldringerhof folgte, gab es manchen argen Streit zwischen ihnen, und das ging hernach so weiter. Langsam leuchtete es ihnen aber doch ein, dass sie einander die Gesinnungen nicht verkehren konnten. Schließlich lebte ein jedes der beiden seiner eigenen Überzeugung gemäß, und sie stritten dann hauptsächlich nur noch, um sich gegenseitig zu ärgern, und weil zwischen ihnen ein übereinstimmungsvolles Reden schwer möglich war.

Ihrer Ehe war ein Mädchen, die Benna, entsprossen. Die war jetzt zwanzig Jahre alt. Eine Zeitlang hatten die zwei gemeint, die Benna werde sich für eines von ihnen entscheiden müssen; aber sie entschied sich für sie beide. Und sie verfügte sehr bald derart über sich selbst, dass die Eltern um sie nicht viel streiten konnten.

Nun lebte aber auch noch Markus, ein Brudersohn des Hans Baldringer, bei dem Ehepaar. Er hatte in seinem elften Jahre beide Eltern verloren. Sein Vater, der Joseph Baldringer, war ein guter Mensch und ein tüchtiger Arzt gewesen. Dumme und schlechte Leute hielten ihn für leichtsinnig, weil er so gut war, dass er seiner vielen bettelarmen Kundschaft keine Zahlung abnehmen konnte, und weil er infolgedessen selber arm blieb. In der Stadt, in welcher er lebte, ließen ihn die Reichen deswegen fast nichts verdienen, weil er sich so viel mit den Armen abgab. Da er wirklich vornehm war, wurde er nicht zu den Feineren seines Standes gezählt. Seine Frau hatte ihm bei seinen guten Werken wacker geholfen. Sie war das einzige Kind des Schwemeiß. Als sie den Arzt geheiratet hatte, war das ihrem Vater recht gewesen, aber dann gefiel dem Alten das christliche Tun der beiden nicht. Er wollte, dass sie so wie er geizen sollten. Weil sie ihm nicht gehorchten, sagte er sich von ihnen los und bezahlte seiner Tochter auch die Mitgift nicht völlig aus, die er ihr versprochen hatte.

Als die zwei tot waren, wollte Schwemeinß seinen Enkel haben. Aber der Arzt hatte gewünscht, dass sein Bruder Hans die weitere Erziehung des Jungen übernehmen sollte. Diesem Werke widmete sich Hans Baldringer dann auch sehr eifrig, und es wurde ihm leicht genug, denn er und der Markus liebten einander. Die Nanni hatte der Baldringer nicht befragt, ob er den Markus annehmen solle. Aber der schöne Junge gefiel ihr gar bald. Sie hätte denn auch gerne an seiner Erziehung mitgewirkt, aber der Baldringer ließ sich keine Mühe verdrießen, ihr diese Lust zu vertreiben. Das gelang ihm jedoch nicht ganz. Als der Markus sah, wie es zwischen den beiden Eheleuten stand, ließ er sich von der Muhme nicht viel beeinflussen.

Jetzt war sie schon längst davon überzeugt, dass ihn der Baldringer zu einem Narren gemacht hatte, und sie empfand deshalb ehrliches Mitleid mit dem Markus. Darum redete sie ihm in der letzten Zeit so oft als möglich zu, dass er das Schwemeißergut übernehme; aber sie redete zu einem Tauben. Das klagte sie nun am Schlusse ihrer Erzählung dem Egid so eindringlich, dass sich dieser in seinem Empfinden mit ihr zugleich gegen die zwei Baldringer ereifern musste.

Während sie noch klagte, ging die Türe auf, und Benna kam herein. Sie brachte ein großes Anrichtbrett, auf dem kalter Rehbraten, Obst und Wein waren.

Der Mutter sah die Tochter fast nicht ähnlich. Sie war so blühschön und kräftig, wie das nur Menschen sein können, die ihre Kost nicht vom Zwischenhändler haben und die auch in einer Luft wachsen, in der nur recht wenige andere atmen. An ihrem prächtigen Leibe hatte Benna ein blaugefärbtes Leinengewand, das nimmer einfacher sein konnte, als es war.

Egid von Liebrich wurde es gleich sehr heiß, als er die Benna erblickte, was sich an seinem Gesichte verriet. Er wurde rot. Trotzdem kehrte er die Augen lange nicht von ihr ab. Ihr Anblick war ihm ein gar zu lustvoller Genuss.

Benna bemerkte es, obgleich sie ihn zunächst nur flüchtig ansah, und Frau Nanni bemerkte es nicht minder. Die Tochter wurde von seinen Blicken auf eine ganz neue Art erregt und verwirrt. So war sie bisher noch nicht betrachtet worden. Sie kannte nur bäuerische Männer, und denen verbot schon allein die Scham ein solches Schauen.

Die Mutter, der es schmeichelte, dass er ihre Tochter so besah, stellte die beiden einander vor. Benna reichte ihm die Hand und dachte, dass er ihr die mehr oder minder stark schütteln oder drücken würde. Er küsste sie wollüstig und mit einem Schein von Ehrfurcht auf die Finger. Sein Benehmen stürmte förmlich überwältigend auf ihre Sinne ein. Sie hätte ihm gerne gesagt: »Das war der erste Handkuss, den ich bekam. Und der ist nicht höflich gewesen.« Aber sie wusste, dass daraufhin die Mutter zu viel geredet hätte. Deshalb schwieg sie, lächelte aber ganz unwillkürlich ein bisschen wehmütig.

Die zwei sahen dieses Lächeln, aber sie verstanden es nicht.

Egid begann zu essen. Er hatte Hunger und blickte trotzdem begehrlicher auf die Benna als auf den Braten.

Benna nahm nun das Anrichtbrett und ging in die Küche. Als sie draußen war, seufzte Egid und sagte: »Genehmigen Sie mir ein ehrliches Geständnis!«

Frau Nanni nickte.

»Mir ist der Gedanke entsetzlich, dass so ein Menschenkind in dieser Einsamkeit verblühen soll, ohne gesehen worden zu sein und ohne eigentlich gelebt zu haben.«

Frau Nanni jammerte: »Und ich darf kaum mehr darauf hoffen, dass ich sie aus dieser Wildnis fort und in das richtige Leben bringen könnte.«

»Sehnt sie sich von hier fort?« fragte Egid.

»Nein, leider nicht«, antwortete Frau Nanni. »Sie fühlt sich hier unglücklicher Weise glücklich. Schreiben Sie das nicht der Unbildung des Mädchens zu. Ich habe Benna so erzogen, dass sie gewiss nicht in diese Wildnis passt, aber sie nahm auch einige Meinungen ihres Vaters an, und von denen wird sie hier festgehalten. Wenn sie die Stadt kennen lernen möchte, so könnte er ihr das nicht verwehren, aber sie bildet sich ein, dass sie die Welt so weit aus den Büchern kennt, als das für ein Weib nötig ist. Dass hier in diesem Bergloche nicht einmal der ihr vom Schicksal zugedachte Mann sie finden könnte, das darf ich ihr nicht sagen, denn sie will ja jetzt überhaupt keinen, und sie ist entrüstet, wenn man von derlei spricht. Später wird sie vielleicht einer unserer halbwilden Bergbewohner kriegen. Dann wird sie es freilich einsehen, dass sie mir hätte gehorchen sollen. Wenn der Markus das Schwemeißergut übernähme, so ginge sie als seine Haushälterin mit ihm, und da würde sie auch zu Menschen kommen, denn das Schwemeißergut liegt ja knapp vor einer großen Stadt. Aber der Narr wird ja die schöne Erbschaft verschenken.«

»Ich werde mich um sein Vertrauen bemühen«, sagte Egid in einem eifrigen Tone. »Vielleicht kann ich ihn dann dazu überreden, dass er das Gut behält.«

Frau Nanni wollte ihm diesen Vorsatz herzlich gutheißen, da erschien jedoch die Benna wieder in der Türe. Drei Schritte weit vor der Schwelle blieb sie stehen und fragte freundlich zu Herrn Liebrich gewandt: »Darf ich Ihrem Rosse Hafer und Wasser geben lassen?«

Er antwortete: »Ihr braves Sorgen entzückt mich, aber ich hab' mein Ross vorhin im Walde gefüttert und getränkt.«

Benna machte eine kleine Verbeugung und wollte wieder hinausgehen, aber die Mutter bat: »Sei so gefällig, Benna, und hole, so schnell es sein kann, den Markus.«

»Recht gerne«, sagte Benna und eilte hinaus.

Egid stand rasch auf und sagte: »Ich kann es nicht dulden, dass Ihr Fräulein Tochter meinetwegen diesen Weg macht.«

Frau Nanni meinte aber, der Weg schade der Benna nicht. Sie laufe so leicht wie ein Reh. »Und vielleicht bringt sie den Markus zu ihrem eigenen Heile zu Ihnen«, fügte sie mit Nachdruck hinzu.

Egid fügte sich jedoch den Worten der Frau nicht, nahm vielmehr hastig seine Kappe und lief in den Hofraum und rief mehrmals Bennas Namen, denn er meinte, dass sie noch irgendwo im Hause sei.

Als sie sich aber auf sein Rufen nicht meldete, ging er zum Scheunentore hinaus. Da sah er, dass sie schon auf einem Raine des Hügels dahin lief. Er stürmte ihr nach. Sobald sie ihn hinter sich nachkommen hörte, blieb sie stehen. »Sie dürfen sich für mich nicht zu einem Boten erniedrigen«, sagte er. »Als meine Führerin möchte ich Sie aber dankbar annehmen. Ich allein fände wohl den Herrn Markus nicht leicht.«

Benna antwortete: »Sie könnten in der Schlürchthütte nicht mit ihm reden. Er pflegt dort drei Scharlachkranke, und er möchte niemand einer Ansteckungsgefahr aussetzen. In unser Haus kommt er dann so wohlgereinigt, dass er hier des Scharlachs wegen nicht zu fürchten sein wird. Wenn ich ihn wie jetzt zu rufen habe, so tue ich das fünfzig Schritte weit von der Schlürchthütte.«

Benna meinte ihm das vernunfthalber sagen zu müssen. Lästig war ihr seine Nähe durchaus nicht. Der Egid gefiel ihr trotz seiner zudringlichen Höflichkeit nicht übel.

Er sagte nun: »Ich gehe mit Ihnen bis zu jener Stelle, von welcher Sie den Markus rufen.«

Dabei bot er ihr seinen Arm.

Da lächelte sie ein bisschen spöttisch und sagte: »Sie wollen mir eine Ehre nach der anderen erweisen. Die letztere kann ich aber doch nicht annehmen. Es ist Ihnen wohl unbekannt, dass in der hiesigen Gegend so ein Arm-in-Arm-Gehen nicht zu den ehrsamen Gebräuchen gezählt wird. In dieser Landschaft hängen sich nicht einmal zwei Leute, die zu ihrer Trauung gehen, so aneinander; nur Alte und Bresthafte lassen sich hier derart führen. Hier gilt noch manches andere von dem, was draußen in der Welt zu den sogenannten feinen Sitten gehört, gar nicht für fein. Sie werden es mir als einer Hiesigen nicht verübeln, dass mir so ein Aneinanderhängen auch nicht gefällt.«

Egid, dem es leid tat, dass er um das Vergnügen dieser Zutraulichkeit gekommen war, sagte: »Ihr Geschmack wird sich ändern, und es hat keinen rechten Zweck, wenn Sie sich länger nach den Gebräuchen richten, die auf diesem Gebirge üblich sind. Sie werden ja keinen hiesigen Bauern heiraten.«

Benna schupfte die Achseln und schwieg. Hernach sagte sie: »Ich weiß es, dass mich Ihnen meine Mutter anders geschildert hat als ich bin. Sie hat Ihnen gesagt, dass ich infolge meiner Erziehung in die Stadt gehöre und dass ich zu einem neuweltlich denkenden Manne passen würde, und jetzt sehe ich, dass Sie ihr glauben. Sie sollten es aber schon wissen, dass die Gute in einem Irrtum ist. Ich will es ihr deshalb nicht erklären, wie ich erzogen bin, weil ihr das zu viel weh täte. Ihnen kann ich es sagen, dass ich mit Stadtleuten schier über alles streiten müsste.«

»Kennen Sie Stadtleute?« fragte Egid in einem etwas spöttischen Tone.

Benna antwortete: »Nein. Aber was ich davon weiß, das hält mich ihnen fern.«

»Ich bin ein Städter«, sagte Egid. »Was missfällt Ihnen an mir? Antworten Sie aufrichtig! Sie zählen sich ja gewiss zu den Aufrichtigen.«

Sie antwortete ihm zuerst auf die letzten Worte seiner Rede: »Nein. So hoch denk' ich nicht von mir. Aber ich will jetzt aufrichtig sein, weil Sie es verlangen. Als ich Sie zum ersten Male sah, missfiel mir zunächst Ihr Anzug. Betrachten Sie mein Gewand; an diesem ist kein unnützes Säumchen oder Bändchen. Meine Vernunft verbietet es mir, so etwas Unnützes zu tragen. Sie sind ein Mann, und ich würde gerne in Demut daran glauben, dass Sie vernünftiger sind als wie ich. Aber da ist nun Ihr Anzug auf eine gar lächerlich umständliche Weise zugeschnitten, und es sind sogar Ziernähte und Bügelfalten daran. Ein ernsthafter Mann entwürdigt sich, wenn er solches Putzwerk an sich trägt.«

Egid entgegnete: »Vor der heutigen Allgemeinheit entwürdigt man sich beinahe am meisten, wenn man auf solches Putzwerk verzichtet.«

»Das weiß ich wohl«, sagte Benna grimmig. »Und wer dieser närrischen Allgemeinheit gehorcht, der gehört zu ihr und ist ein Narr. Es tut mir leid, dass ich Ihnen das sagen muss.«

Egid lachte. »Weil Ihnen das leid tut, so glaube ich nun, dass Ihnen doch etwas an mir gefällt«, sagte er. Dann fragte er in einem Tone der fröhlichen Zuversicht: »Nicht wahr, aber sonst gefalle ich Ihnen?« Dabei wollte er ihr in die Augen sehen. Aber Benna schritt nun rasch vor ihm her.

Sie kamen soeben auf ihrem Gange an das Ende des Raines und in das bewaldete Tal. Hier unten führte zwischen großen Steinen und dichtem Templholze Templholz = der bei hohen Bäumen stehende junge Aufwuchs. ein Steig dahin, auf dem nicht zwei nebeneinander gehen konnten. Egid ließ ihr den Vortritt. Reden konnte er nicht, denn er musste zu fleißig auf den holperigen Weg achten. Als er aber auf ein weniger raues Bodenfleckchen gelangt war, rief er: »Weshalb wollen Sie mir die schöne Wahrheit nicht eingestehen?«

Benna antwortete, ohne sich nach ihm umzuwenden: »Sie fragen mich jetzt, als ob ich eine der Damen wäre, an deren Schmeichel Sie, wie ich merke, gewöhnt sind. Ich könnte Ihnen aber vorderhand nicht mit der mindesten Schicklichkeit etwas Schmeichelhaftes sagen.«

Dann ging sie so schnell über den schroffigen Waldgrund hin, dass ihrem Begleiter das Nachfolgen schwer genug wurde.

Sie kamen nun bald zu einem abgeholzten Teile einer steinigen Bergrunse. Zwischen dem Gesteine wand sich ein schmales Wiesenband hin. An dem unteren Wiesenende stand das kleine, hölzerne Schlürchthäusl.

Benna blieb am Waldrande stehen. Dann nahm sie einen Stein und klopfte damit an einen dicken Föhrenstamm, dass es einen starken Hall gab.

Egid folgte ihr nicht bis zu der Lichtung, denn er dachte: Wenn mich der Markus hier sieht, so möchte er sich vielleicht den Gang zum Baldringerhofe ersparen und hier mit mir reden. Und dann könnte es geschehen, dass auf dem Rückwege zu dem Baldringerhofe die Benna nicht mehr bei mir wäre. Es lag ihm jetzt an nichts so viel als an dieser Begleitung.

Zu dem Mädchen sprach er: »Der Herr Markus soll mich erst in Ihrem Hause sehen.«

Benna erriet aber die Gedanken Egids und sagte: »Ich werde dem Markus Ihr Hiersein nicht verheimlichen. So einer Falschheit wäre ich nicht fähig. Es tut mir leid, dass Sie sich schon jetzt an ihm versündigen wollen.«

Egid fühlte sich ein wenig beschämt und trat an die Seite Bennas. Nun ging die Türe des Schlürchthäusels auf, und der Markus Baldringer wurde den beiden in dem Türrahmen sichtbar. Dabei neigte er sich nach vorwärts, denn er war länger als die Türe. Seine Gestalt hatte trotz ihrer Größe das schönste Ebenmaß und trug jetzt keine anderen Hüllen als ein weißes Leinenhemd und kurze Bocklederhosen. Markus war beinahe dreißig Jahre alt, aber wiewohl schon ein richtiger Mannessinn aus seinem Gesichte sprach, blühte er doch noch so wie ein Achtzehnjähriger. Er hielt den Egid zunächst für irgendeinen wegen der Erbschaft kommenden Staatsdiener.

Nun rief Benna: »Hier ist ein Herr, der mit dir reden will!«

Darauf rief der Markus dem Egid zu: »Schreien Sie halt das, was Sie mir sagen möchten!«

Egid schrie zurück: »Ich möchte mich traulicher mit Ihnen verständigen, als das schreiend möglich ist. Kommen sie in den Baldringerhof! Ich erwarte Sie dort!«

Markus antwortete: »Ich kann nicht so weit von hier fort. Warten Sie hier am Walde! Ich komme bald frisch gebadet und frisch angezogen zu Ihnen.« Darauf trat er schnell in die Hütte zurück.

»Ich gehe!« wandte sich Benna zu Egid. »In der Gegenwart eines Weibes können zwei Männer einander nicht richtig vertraut werden.«

Mit diesen Worten lief sie davon. Egid wäre ihr lieber nachgerannt, als dass er auf den Markus wartete. Ohne sich noch einmal umzukehren, eilte sie auf dem steinigen Waldpfade heimwärts. Während Egid, ungehalten über sich selber, weil er sie nicht dringlicher zurückgehalten hatte, noch nach jenen Baumstämmen sah, hinter welchen sie entschwunden war, erschien Markus wieder im Türrahmen und rief: »Ich kann nun doch nicht zu Ihnen. Die Kinder geben mir keinen Urlaub. Wenn Sie aber zu uns wollen, so legen Sie das Übergewand an, das hinter dem Häusl auf der Wäschstang' hängt!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, zog Markus sich in das Innere der Hütte wieder zurück. Dem Egid behagte es zwar nicht recht, dass er so vor die Wahl gestellt war, aber er versäumte nun doch eines Entscheidens wegen keine Zeit, sondern ging gliche zu der Wäschestange hin. Dort hingen ein blaugefärbter Zwillichkittel, zwei große, hirschlederne Handschuhe und zwei mächtige Flößerstiefel. Egid besah diese Sachen, und als sie ihm rein erschienen, zog er sie an. Er brauchte sich nicht zu plagen, um mit seinen Schuhen in die Stiefel zu kommen. Dann schleppte er freilich die Beine so schwer wie der ungeschlachteste Bauer, und er hoffte dabei, dass ihm der Markus dieses gefügige und mühselige Entgegenkommen nicht zu gering schätzen werde. In dem dunklen, kühlen Flur klopfte er so sanft an die Stubentüre wie einer, der beileibe niemand schrecken möchte und gern zum Warten gewillt ist. Markus öffnete. Egid wollte recht leise eintreten, aber da bemerkte er es, dass die Stube einen weichen Lehmboden hatte und dass hier deshalb ein fester Tritt noch weniger zu hören gewesen wäre als auf dem dicksten Fußbodenbelage eines Herrschaftszimmers.

Durch drei Fensterchen empfing jetzt der kleine Raum viel Sonnenlicht, welches hier an den rauchfangschwarzen Holzwänden und an der armseligen Einrichtung nichts zu verschönern fand.

Rechts von der Türe stand ein kleinfältig mit Lehm verpickter Kachelofen, und neben diesem war ein auf vier Zaunpfählen und etlichen unbehobelten Läden zusammengezimmertes Bett. Unter einer weiß überzogenen Tuchent lag hier ein blondköpfiger, junger Mensch. Der war vom Fieber rosenrot. Die goldig bewimperten Augenlider hatte er fast ganz geschlossen, und er vermochte sie nicht zu öffnen, weil sie entzündet und angeschwollen waren.

»Markus!« rief er nun, ehe die zwei jungen Männer einander anreden konnten. »Bleib da!«

Markus ging rasch an das Bett und sagte: »Ich will ja gar nicht fortgehen.« Egid trat neben den Markus hin. Er sah zuerst ehrlich besorgt auf den Kranken und dann dem Markus fragend in das Gesicht. Markus verriet es auf keine Weise, dass auch er um den Jungen voller Sorgen war, und sagte in einem fast lustigen Tone: »Etliche kalte Wickeln muss er halt noch kriegen, oftet Oftet = nachher. ist er gesund. So einen großen Kampl Kampl = Kämpe. wie unseren Gallei wird doch so eine Kinderkrankheit nicht lang fuchsen können.«

Dann ging er mit dem Egid zu der nächsten Liegestelle, die zwischen dem Bette und der Fensterwand zu ebener Erde aus Stroh, Leintüchern und Kotzen hergerichtet war. Auf den Kotzen saßen halb angekleidet zwei blasse, magere Kinder, ein fünfjähriger Bub und ein dreijähriges Mädchen. Um die beiden herum lag allerlei Spielzeug, das ihnen der Markus angefertigt hatte. Jetzt sahen sie mit ihren großen, blauen Augen den Egid furchtsam und den Markus vertrauensvoll an.

»Der Andresl und das Tinerl«, stellte Markus die beiden vor. »Es hat ein kleines gefehlt, so wären uns die zwei fortgegangen. Jetzt bleiben sie wieder.«

»Aber der Peperl ist zu der Mutter gangen«, erzählte der Andresl.

Es lag dabei der Ausdruck eines hoffnungslosen Jammers in dem weichen Kindergesichte.

Den Egid erschreckte und entsetzte es wahrhaftig, dass diese Kleinen keine Mutter mehr hatten. Er sah nach der anderen Seitenwand, an welcher in einer aufgeklappten Siedl Siedl = ein als Bett und als Sitzbank benützbares Einrichtungsstück. mit dick verbundenem Kopfe, leise wimmernd, ein neunjähriger Bub lag.

»Das ist der Hansi, dem ist vom Scharlach ein Kopfleiden zurückgeblieben«, sagte Markus.

Dann bot er dem Egid neben dem Tische, der in der linken Fensterecke stand, einen Stuhl an.

»Gehört der Große dort auch zu den Geschwistern?« fragte Egid, indem er nach dem fiebernden Gallei zeigte.

»Nein, das ist dem Sclürcht sein Bruder«, antwortete Markus. »Ein fester Holzknecht ist er schon und hilft dem armen Witwer brav werken. Wie im Vorjahr die Schlürchtin gestorben ist, waren fünf Kinder da. Das Jüngst' hat sie sich gleich geholt, den Peperl hat vor drei Wochen der Scharlach hingerafft.«

»Wie hat denn diese garstige Krankheit in diese Gegend gefunden?« fragte Egid.

»Das weiß man nicht«, antwortete Markus. Er wusste es wohl, dass der Hansi den Scharlach aus der Dorfschule nach Hause gebracht hatte, aber er wollte das nicht laut werden lassen.

Hansi hatte den beiden zugehört. Jetzt kehrte er sich auf seinem Lager der Wand zu und weinte. Markus ging zu ihm. »Was ist's denn?« fragte Egid.

»Es kommt ihm zeitweis' um den Peperl so ein heißes Weh«, sagte der Markus.

Der Gallei rief nun: »Er quält sich auch derart mit der dummen Einbildung, dass er uns krank gemacht hat, als ob er den Scharlach ganz aus seiner eigenen Niedertracht und nicht aus der Schul' her hätt' und als ob es auch nicht Gottes Willen gewesen wär', dass der Peperl gestorben ist. Und dem kleinen Dickschädel ist nichts auszureden.«

Bei dem Sprechen hatte sich der Gallei stark ereifert und war nun arg erschöpft.

Der Markus hatte unterdessen sanft und leise zu dem Hansi gesprochen und ihm dabei den Kopf gestreichelt. Jetzt sagte er: »Grein' nicht, Gallei! Er ist ja eh schon wieder ganz gescheit.« Dann setzte sich Markus dem Egid gegenüber und sah ihn so an, als ob er sagen wollte: »Jetzt kannst du dich zu erkennen geben.«

Egid lächelte ein bisschen und sagte: »Ich hoffe, dass Sie nun schon ein wenig neugierig auf mich sind.«

Während diesen Worten bat er auch mit der Sprache seiner Mienen förmlich um Vertrauen, und er glaubte selbst daran, dass sein Bestreben, sich den Markus geneigt zu machen, den besten Gründen entsprang. Markus antwortete ihm wahrheitsgemäß: »Ich hab' Sie vorhin aus der Weite für einen Steuereinsammler oder für so etwas Ähnliches gehalten. Es war nämlich schon mancher derartige Gestrenger wegen dieser Erbschaft, die ich noch nicht gesehen hab', bei mir. Seit ich Sie aber näher seh', glaub' ich wirklich, dass ich Ihnen zuerst Unrecht getan hab', und werd' wirklich allweil neugieriger auf Sie.«

Egid sagte: »Das freut mich so sehr, dass ich mich wirklich vor Ihnen gar nicht vorstellen will. Ich bin deswegen zu Ihnen gekommen, weil Sie nicht zu mir gekommen sind. Sie schulden mir als Ihrem Gutsnachbarn Egid Liebrich seit etlichen Monaten einen Besuch, und ich wartete seither täglich auf Sie. Das Schwemeißerhaus ist dem meinen das nächste, es ist mir seit meiner Kindheit lieb, und ich möchte einen mir lieben Menschen dort haben. Ich war sehr neugierig auf Sie; wenn ich aber geahnt hätte, wie Sie mir gleich gefallen würden, dann hätte ich Sie nicht so lange in diesem Walde gelassen.«

»Sie werden mich dengerst hier lassen müssen«, sagte Markus. »Es tut mir aber leid, dass Ihr Haus nicht in unserem Wald ist. Eine Zeitlang werd' ich allerdings in Ihrer Nachbarschaft leben. Ich will das Schwemeißergut und diejenigen, denen es gehört, kennenlernen, weil ich es ja ehrlich verteilen will. Ich hätt' die Teilung schon vollbringen sollen, denn es sind einige, die das nötig brauchen, was auf sie entfällt. Aber da hat mich der Schlürcht zu den Kindern gerufen.«

»Weshalb denn gerade Sie?« fragte Egid ein bisschen spöttisch lächelnd.

»Nun, weil halt grad niemand in der Näh' ist, der zum Krankenpflegen geeigneter wär' als ich«, entgegnete Markus.

»Könnte denn der Schlürcht nicht selbst seine Kinder pflegen?« fragte Egid.

»Nein«, antwortete Markus, »dazu wär' der wirklich zu ungeschickt. Er muss täglich in die Holzarbeit gehen, sonst käm' eine Not in das Häusel, die vielleicht noch grausamer als die Krankheit wär'.«

»Hat denn der Schlürcht keine weiblichen Verwandten, die sich da annehmen könnten?« forschte Egid weiter.

»Nein«, entgegnete Markus. »Zwei verheiratete Schwestern hat er wohl, aber die können aus ihrem eigenen häuslichen Elend nicht fort. Wenn jetzt die Dorfweiber nicht grad den Flachs zu jäten und die Erdäpfel zu harken hätten, könnt' er ja vielleicht eine finden, die ihm aus Mitleid hierher ging, aber jetzt glaubt doch eine jede, das Flachjäten sei wichtiger als alle christliche Barmherzigkeit.« Dann fügte Markus leise flüsternd hinzu: »Es stünd' freilich manche gleich hier ein, wenn er sie dafür heiraten möcht'. Er ist einer, den die Weiber trotz seiner zerrissenen Hose gerne sehen. Aber unter allen, die ihn möchten, ist keine, die auch seine Kinder wahrhaftig gerne haben könnt' und die ehrlich der Meinung wär', dass er den Kleinen die meiste Lieb' schuldig ist. Nur seinetwegen täten sich die der Kinder annehmen, und das wär' nicht das Rechte. Er sieht das auch ein, und deshalb heiratet er der Kinder wegen nicht. So pfleg' ich auch deshalb die Kranken, damit ihm das Ausharren nicht gar zu schwer wird. Wenn wieder alle gesund sind, dann treibt ihn seine Hauswirtschaft nicht zum Heiraten. Der Hansi betraut dann die zwei Kleinen wirklich besser, als das manche Stiefmutter tät'.«

Egid hielt es für unklug und für lächerlich, dass sich hier Markus so aufopferte, aber er gab ihm mit keinem Worte unrecht und dachte: »Jetzt könnt' es dich zu viel erschrecken, wenn ich dir meine Ansicht offenbaren würde; aber bis du auf dem Schwemeißergut sitzt, dann will ich dich in die Schule nehmen. Und ich will es schon machen, dass dir dein Gut lieb wird.«

Egid hatte nun schon drei Gründe, aus welchen er den Markus als Gutsherrn sehen wollte. Sein erster und stärkster Wunsch war es, dass die Benna auf dem Schwmeißergute wohnen möchte. Hernach lag ihm auch sehr viel daran, dass er durch die Verteilung der Schwemeißergründe nicht etliche Kleinbauern zu Nachbarn bekam, und dann wollte er den Markus wirklich auch deshalb in seiner Nähe haben, weil ihm dieser gefiel. Zu den Worten des Markus nickte er nur, als ob er sie für selbstverständlich hielte. »Wann hoffen Sie von hier fort zu können?« fragte er dann.

»Etliche Wochen werd' ich schon noch hier bleiben müssen«, meinte Markus.

»So lange mag ich nicht auf Sie warten«, sagte Egid. »Ich habe in meinen Diensten eine sehr brave alte Frau, die würde solange, als es nötig ist, die armen Kinder pflegen. Ja, so machen wir's; morgen Abend kann die Frau Brädling schon hier eintreffen.«

Die drei Kinder und der Gallei hatten nun den Egid gehört und gerieten in große Aufregung. Gallei und Hansi fuhren allzugleich von ihren Betten empor.

»Ich lass mir von keinem Weib nachwarten!« rief Gallei. »Nicht mit einem Handgriff lass ich mir von so einem Weib helfen!«

»Ich auch nicht!« rief Hansi ganz verzweifelt und verzagt. »Wenn du nicht dableibst, Markus, so…«

Er fiel laut weinend in seine Polster zurück.

Jetzt begriff auch der Andresl, was da vorging, und schrie aus Angst um den Markus, so viel er konnte. Der jämmerliche Lärm erschreckte Tinerl, dass sie ihn mit ihrer ganzen Stimmkraft vermehrte.

»Da sehen Sie es selbst, dass ich Ihr gütiges Angebot ablehnen muss«, sagte Markus, indem er aufstand und zunächst zu den zwei Jüngsten hinging, um sie zu beruhigen.

Egid war nun über die vier Kranken nahezu entrüstet und sagte in einem belehrenden Tone: »Wenn man auf gute Menschen angewiesen ist als wie ihr, da muss man sich schön fügen und bescheiden und darf nicht eigensinnig sein.«

Dann fügte er hinzu. »Sie haben Ihre Pfleglinge zu sehr verwöhnt, Herr Baldringer.«

»Nicht doch«, sagte Markus, der unterdessen Tinerl auf seine Arm genommen hatte. »Die armen Hascherln steifen sich ja eh auf nichts. Dass sie mich so gern haben, das ist schon recht und freut mich auch. Sie sollen sich deswegen keine rechte Lieb' und Gefühligkeit abgewöhnen müssen, weil sie so arm sind.«

Aus diesen Worten hörte Egid eine Bitterkeit, die ihn daran denken ließ, dass ihn der junge Baldringer ähnlich wie der alte abfertigen könnte. Er wollte nur etwas Begütigendes sagen, aber da schrie ihn der Gallei an: »Geh fort! Du willst eh nichts Gutes da! Ich kenn' dir's an, dass dich der Teufel hergeschickt hat! Den Markus willst du versuchen! Geh'!«

»Geh'!« schrien auch der Hansi und der kleine Andresl allzugleich.

Der Gallei bot nun in seinem Fieber und in seinem Zorne einen beängstigenden Anblick. Egid erschrak und geriet in Verlegenheit, so dass er nicht gleich etwas zu sagen oder zu tun wusste.

Markus setzte Tinerl nieder und eilte zu dem Gallei. Der Fiebernde kniete auf dem Bette. Die Tuchent hatte er bei seinem Anfahren zu Boden geworfen, und der nasse Wickel war von ihm abgefallen.

»Jetzt hast du dich aber dumm vergessen, Gallei!« rief Markus. »Wenn wir uns nicht tummeln, kriegst du gewiss gleich einen Schüttelfrost!«

Er wollte den Gallei in die Tuchent wickeln und auf den Tisch setzen, um nachher das Unterbett in Ordnung bringen zu können. Aber der junge Mensch fügte sich nun nicht und schrie: »Eh' er nicht fort ist, geb' ich keine Ruh'!«

»Ich auch nicht!« schrie der Hansi.

Markus sah den Egid lächelnd an und sagte: »Die zwei sind wirklich nur jetzt in ihrer Krankheit so grob.«

»Ich will Ihnen das glauben, und damit sich Ihre Pfleglinge nicht zu sehr selbst schaden, so will ich denn weichen«, antwortete Egid und reichte dem Markus die Hand. Markus merkte es wohl, dass sich Egid von ihm gekränkt fühlte. »Sie sollten es mir nicht verübeln, dass ich gegen diese Armen nicht ungerecht sein kann«, sagte er.

Egid entgegnete: »Sie sind nun gegen die Kinder und auch gegen mich ungerecht. In der Strenge, welche Sie nun diesen Kindern gegenüber haben müssten, wäre die mir gebührende Liebenswürdigkeit gelegen. Aber ich verzeihe Ihnen. Wenn Sie nur sobald als möglich in Ihrer neuen, schöneren Heimat eintreffen, in welcher Sie gewiss dringender zu tun haben als hier.«

Er ging nun schnell hinaus, weil er sah, dass den Gallei wirklich schon der Schüttelfrost anfiel.

Nachdem er sich der erborgten Kleidungsstücke entledigt und an einem Brunnentroge, der vor der Scheune stand, gewaschen hatte, ging er wieder zu dem Baldringerhofe. Er glaubte, dass er dort die Benna wiedersehen werde; als er aber zu dem offenen Tore kam, erblickte er den Hans Baldringer, der gerade über den Hofraum zu der Flurtüre schritt.

Egid tat einen leisen und doch schweren Fluch. Dann setzte er sich auf sein Pferd und ritt heim.


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