Ludwig Ganghofer
Der Besondere
Ludwig Ganghofer

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9

Sanft löste Martl die Arme des Mädchens von seinem Hals. »Der liebe Herrgott hat uns gholfen! Die Lahn liegt über der Hütten, aber d' Stuben, mein' ich, is noch ganz.« Da fühlte er, wie Zäzil wankte. »Jesus Maria, Madl, Madl, was is dir denn?« stammelte er. Keine Antwort. Schwer lag Zäzil in seinen Armen; sie mußte die Besinnung verloren haben. Ratlos starrte Martl in der Finsternis umher. Aber dort zur Linken, dort mußte die Fensterwand mit der Holzbank sein. Mit dem einen Arme stützte und trug er die Bewußtlose, mit dem anderen tastete er vor sich hin. Nun fühlte er die Wand, fühlte die Bank und ließ Zäzil darauf niedergleiten. Er saß an ihrer Seite und hielt ihren Kopf an seiner Brust. Wie eine Ewigkeit schien ihm das: bis sie sich wieder regte und sich aufrichtete unter schwerem Seufzer.

»Is dir besser?« fragte er leise.

»Ja . . . ein bißl . . . der Schrecken halt . . . aber komm, Martl, laß uns ein Vaterunser beten, der liebe Herrgott hat's verdient um uns, daß wir ihm ein Vergeltsgott sagen.«

Sie ließ sich niedersinken, Martl kniete neben ihr, und so beteten sie mit lauter Stimme. Als Zäzil das Amen sprach, stand Martl schon wieder auf den Füßen. Er half ihr, sich aufzurichten, und zog sie mit sanfter Gewalt auf die Bank zurück. »Komm, schau, da bleib sitzen! Und tu dich net fürchten, es kann uns nix mehr gschehen. Ein bißl Geduld mußt haben. Dein Vater wird ja wissen, daß heroben bist . . .«

»Mein Vater! Jesus! Und d' Mutter! Den Schrecken, den s' haben müssen wegen mir!« Sie brach in Tränen aus.

»Geh, tu dich net sorgen! Wenn dein Vater kommt, muß er ja gleich sehen, daß d' Hütten ausghalten hat. Und meine Holzknecht sind ja auch net weit . . . die sind gschwind bei der Hand und fangen zum schaufeln an! Freilich, eine Nacht und ein Tag kann's allweil dauern, bis d' Leut uns Luft schaffen . . . aber sag, hast denn ein bißl was für dich zum essen heroben . . . ich brauch ja nix, ich halt schon aus . . . aber du?«

»Ja, ich hab schon ein bißl was.«

»No schau, so fehlt ja gar nix mehr . . . da brauchst den Mut net verlieren. Aushalten müssen wir halt, wir zwei . . .«

»Wir zwei? Und . . .«

Er verstand die Frage, die sie nicht über die Lippen brachte. Doch bevor er noch ein Wort erwidern konnte rief sie: »Sag, Martl, sag!« Und ihre Stimme hatte einen Ton, der ihn erschreckte. »Vor's gschehen is, hab ich im Höfl hinten deine Stimm ghört und die seinig . . . Und ein Schuß hab ich ghört, sag, Martl, wer hat gschossen?«

Er hatte nicht das Herz, ihr die Wahrheit zu sagen, ihr mit der Wahrheit weh zu tun. »Wer gschossen hat? Ich weiß net! Der Schuß is über der Hütten draußen gfallen . . . ein Jager oder sonst wer . . . ich kann's net sagen, wer gschossen hat. Und gleich auf'n Schuß . . . natürlich, der Schnee is ja droben ghängt, daß ihn schon ein Juhschrei hätt ins Rutschen bringen müssen . . . gleich auf'n Schuß hab ich den Schnee schon kommen hören . . .«

»Und du bist eini in d' Stuben, zu mir . . . und der ander, der ist der Tür zu? Und aussi zur Hütten? Ich hab nix gsehen und hab nix ghört, aber ich gspür's in mir, es war net anders . . . gelt?«

»Mußt es ihm net verargen, Zäzil! Im Schrecken weiß einer net, was er tut . . . und . . . gwiß wahr, ich möcht's ihm wünschen, daß seine Füß schneller gwesen sind als wie der Schnee.«

Eine Weile war es still; dann hörte Martl ein dumpfes Schluchzen. Er legte die Hände auf Zäzils Schulter, die er zucken und zittern fühlte. »Ja, Madl, wein dich aus, da wird's dir leichter!«

Es währte lange, bis ihre Tränen versiegten. Martl nahm die Hand nicht von ihrer Schulter, und als er fühlte, daß sie aufstehen wollte, sagte er: »Bleib sitzen, Zäzil, geh, bleib sitzen! Mußt ja den Schreck noch spüren in alle Glieder. Tu dich nur ghörig ausrasten . . . ich schau mich derweil ein bißl um, was d' Hütten macht und wie alles steht.«

Er zog ein Schächtelchen aus der Tasche und entzündete ein Streichholz, dessen kleine Flamme nur einen matten Lichtschein in der Stube weckte. Einen zagenden Blick warf Martl auf seine stumme Kameradin, und es schnürte ihm das Herz zusammen, als er das liebe Gesicht so blaß und verstört sah, noch überronnen von Tränen. Das Flämmchen drohte zu erlöschen, Martls Augen suchten den Herd, und bevor es finster wurde, hatte er auf einem kleinen Brett an der Blockwand ein Bündel jener langen, dünnen Späne gewahrt, die zum Anschüren des Herdfeuers dienen. Rasch entzündete er ein neues Hölzchen, griff nach einem der Späne und brannte ihn an. Eine knisternde, rauchlose Flamme züngelte aus dem trockenen Holze.

Zäzil saß auf der Bank, die Hände im Schoß gefaltet, mit vorgestrecktem Gesichte, regungslos; nur in ihren weit geöffneten Augen war Leben; mit heißen Blicken folgten sie jeder Bewegung des jungen Mannes.

Martl hob den brennenden Span über dem Kopf empor und begann Umschau zu halten. Die Wände schienen unversehrt, wenn auch hier und dort an den Balken eine schmale Lücke klaffte. Auch waren am Fenster die Scheiben zertrümmert, und in dicken Klumpen hing der Schnee zwischen den Stangen des eisernen Gitters. Das alles sah nicht gefährlich aus. Als Martl aber zur Stubendecke blickte, erschrak er. Nur eine leise Bewegung zuckte über sein Gesicht; doch sie entging den Augen des Mädchens nicht. In atemloser Spannung verschärften sich ihre Züge, langsam hob sie den Kopf, und sie schien auf ein Wort von ihm zu warten. Martl aber schwieg und musterte aufmerksam die Decke, die quer durch die ganze Mitte eine starke Senkung zeigte. Die Bretterverschalung war verschoben und gesprengt, und nahe bei der Tür war ein breiter Spalt, durch den zuweilen ein sandfeiner Schnee in dünnen Fäden niederrieselte. Martl entzündete einen neuen Span und untersuchte die zwei niederen Türen, die zu den beiden Kammern führten. Keine dieser Türen war zu öffnen, so energisch sich Martl auch gegen die Bretter stemmte. Entweder waren die Balken zu gewaltsam zusammengepreßt, daß sie die Türen nicht mehr aus ihren Fugen ließen, oder da draußen war das Dach zerschmettert und der Innenraum der Kammern von Gebälk, Felsbrocken und Schnee verschüttet.

»Macht nix! Wir haben ja nix z'schaffen in der Kammer!« sagte Martl. »Gott sei Dank, die Stuben is noch gut beieinander . . . da brauchst kein Sorg net haben! Grad schauen will ich noch, wie's im Hüttengang steht.« Ruhig und ermutigend klang seine Stimme; doch als er der Türe zuschritt, streiften seine Augen wieder mit einem besorgten Blick die knisternde Decke.

Er trat über die Schwelle und hob den brennenden Span. »Da schaut's freilich net zum besten aus!« murmelte er. Die ganze rückwärtige Hälfte des Ganges lag eingestürzt und verschüttet; ein mächtiger Felsblock hatte das Dach durchschlagen und hing nun zwischen den auseinandergekeilten Wänden, zersplitterte Schindeln lagen um ihn her, und grauer, mit Schutt durchsetzter Schnee hielt die Lücke verschlossen, die der stürzende Block durch Dach und Decke gerissen hatte. Auch die ins Freie führende Türe lag vom Schnee verschüttet, der weit in den Gang hereingequollen war. Als Martl diesen schräg verlaufenden Schneewall überblickte, fuhr ihm jäh ein Laut des Entsetzens aus der Kehle.

»Jesus Maria! Martl!« schrie Zäzil auf, und da stand sie auch schon an seiner Seite.

»Da schau! Da!« stammelte er und deutete auf den vom flackernden Spanlicht trüb erleuchteten Schnee, aus dem eine Menschenhand hervorragte, deren Finger sich zuckend bewegten.

Zäzil wankte; Martl aber drückte ihr den brennenden Span in die Hand, warf sich auf die Knie und begann mit beiden Händen im Schnee zu wühlen. Es kam der ganze Arm zum Vorschein, ein Kopf, zwei Schultern – da drohte der Span zu erlöschen, Zäzil mußte in die Stube zurückeilen, um einen neuen zu holen, und als sie taumelnd wieder über die Schwelle trat, hielt Martl die Brust des Verschütteten, der in lallenden Worten sprach, schon mit beiden Armen umschlungen und zog ihn vollends hervor aus dem Schnee, der ihn nur widerwillig lassen wollte.

Sepp hatte nicht die Kraft, sich aufzurichten, und so trug ihn Martl, als wäre für seine Arme das Gewicht dieses langen Menschen kaum eine fühlbare Last, in die Sennstube, legte ihn achtsam auf die Dielen nieder, riß die eigene Joppe herunter, bauschte sie zusammen und schob sie unter den Kopf des Knechtes, der jetzt erst das Bewußtsein verlor.

Auch Zäzil vermochte sich nicht mehr auf den Füßen zu halten. Sie mußte sich auf die Bank niederlassen, mußte die zitternde Hand mit dem Spanlicht auf das Tischchen legen, und so saß sie schweigend, mit verstörtem, blutleerem Gesicht und starrte auf die Gruppe zu ihren Füßen nieder. Und manchmal schloß sie die Augen, als wäre sie einer Ohnmacht nahe.

Martl allein fühlte kein Schwinden seiner Kräfte, verlor keinen Augenblick die sichere Besonnenheit. Er hatte dem Knecht die Joppe geöffnet und am aufgequollenen Halse den Hemdkragen entzwei gerissen. Und mit Schnee, den er geholt hatte, rieb er nun dem Bewußtlosen die Brust und das Gesicht. Der Schweiß troff ihm von der Stirn, sein Atem flog bei dieser ruhelosen Mühe – und endlich stammelte er: »Da, Zäzil, schau . . . er rührt sich schon, er kommt schon zu ihm selber.«

Zäzil aber regte sich nicht; wie versteinert saß sie auf der Bank.

Da versuchte Sepp den Kopf zu heben. Mit glasigen Augen blickte er um sich und lallte: »Teufel noch einmal . . . Teufel, eine schöne Metten!«

Martl furchte die Brauen; aber er schlang den Arm um die Schultern des Burschen und sagte ruhig: »Komm, schau, leicht kannst dich schon ein bißl aufheben! So, schau, es geht ja! Und da komm her, da, zum Herd! So, und jetzt setz dich nieder und lehn dich fest gegen d' Wand . . . da hast du den besten Sitz.«

Zäzil ließ den Span fallen, der bis auf ihre Finger niedergebrannt war. Das kleine Flämmchen zuckte noch einmal auf, dann erlosch es, und Finsternis füllte die Stube.

»Was is denn? Is denn schon Nacht? Und . . . wo bin ich denn?« lallte Sepp.

»In der Hütten . . . und d' Hütten is verschütt!« erwiderte Martl, der sich an der Seite des Knechtes auf den Herdrand niedergelassen hatte.

»Aber . . . so zündts doch ein Spanlicht an! . . . Man sieht ja d' Hand net vor die Augen.«

»Jetzt mußt schon eine Weil aushalten im Finstern. Wir müssen sparen mit die Span, kann ja keiner von uns net sagen, wie lang wir aushalten müssen unter der Lahn.«

»Eine schöne Metten . . . ja . . . das muß ich sagen! Kreuzteufel . . . und schier kein Rührer kann ich machen. Alles am Leib is mir wie zerschlagen. Es hat mich aber auch hingeworfen, wie wann ich ein Haubenstock wär! Kaum daß ich draußen war zur Hütten, da hat's auch schon links und rechts von mir den Schnee und d' Steiner abi gfeuert. Und ich hab mir sagen müssen, daß auf meine Füß jetzt kein Verlaß nimmer is. Da hab ich umgeschlagen wie der Wind, bin wieder auf d' Hütten zu . . . wie ich eini will zur Tür, da hat's mich von hinten packt, hat mich hergworfen über d' Staffeln, und so bin ich glegen, Schnee um und um, und schier kein Schnaufer nimmer hab ich gfunden. Aber . . . was is denn . . . wie war's denn herin in der Hütten? Madl? Wo bist denn, Madl? Wird dir doch nix gschehen sein?«

»Sorg dich net!« klang Zäzils Stimme. »Und es wär mir lieber gwesen, wenn statt deiner Frag ein Vergeltsgott für den ghabt hättst, der dir aus'm Schnee gholfen hat.«

»Aber geh«, zürnte Martl, »was sich von selber versteht, dafür verlangt ja doch kein Mensch ein Dank.«

»No ja . . . natürlich . . . Vergeltsgott halt!« murrte Sepp. »Aber sagen muß ich's deswegen doch, daß kein anderer am ganzen Unglück schuld is als wie der Bauer . . .«

»Sepp!« fuhr das Mädchen mit gereizter Stimme auf. Und Martl fiel begütigend ein: »Geh, verarg's ihm net, leicht weiß er noch gar net, was er redt!«

»O ja! Was ich red, das weiß ich noch allweil. Hat dich mein Büchsl leicht was angangen? Und wenn auch mein Holzherr bist, so hast noch lang kein Recht, daß mir mein Stutzen abforderst. Und hättst deine Hand davon lassen, so wär's mir net passiert, daß der Schuß . . .«

Sepp verstummte, denn an seinem Arm fühlte er den eisernen Griff einer Faust; und er hörte eine Stimme, so leise, daß nur sein Ohr allein sie vernehmen konnte: »Red net weiter, du . . . und wenn schon dir selber z'lieb net schweigen kannst, so schweig der Wabi z'lieb.«

Zäzil saß auf der Bank und drückte die Hand an ihre Stirn. Träumte sie, oder waren ihre Gedanken verwirrt? Sie hatte nicht begriffen, was der Bursche gesprochen – und nun verstand sie dieses Schweigen nicht.

Da hörte sie ein häßliches Lachen. Es kam vom Herde her. Aber so konnte Martl nicht lachen! Das mußte der andere sein.

Dann wieder war es still. Nur ein mattes Knistern, das aus den Wänden oder von der Decke zu kommen schien, unterbrach zuweilen das dumpfe Schweigen, das in der Stube herrschte. Wie lange diese Stille währte, eine Stunde oder länger, sie alle wußten es nicht; erschien ihnen doch jede Minute wie eine Ewigkeit.

Sepp war es, der zuerst wieder sprach. »Eine Kälten hat's, schier net zum aushalten«, murrte er, »frieren tut's mich wie ein Hund, und völlig schauern muß ich jeden Augenblick. So zündt's doch ein Feuer an! Und wenn kein Holz net herin is, so schlagts ein Kastl zamm oder d' Stubentür!«

»Nix da! Ich kann dir net helfen!« fiel Martl mit hart klingender Stimme ein. »Ein Feuer darf net gmacht werden. Über der ganzen Hütten muß der Schnee liegen, da hätt der Rauch kein Abzug net. Und 's Feuer zehrt von der guten Luft. Die paar Spanlichter, die schaden nix, aber ein Feuer am Herd, das möcht keine halbe Stund net dauern, so müßt's verlöschen, weil's kein Brennluft nimmer hat.« Er wollte Zäzil nicht erschrecken, und so verschwieg er ein anderes Bedenken, das für seine ruhige Überlegung noch weit schwerer wog. Die Hitze des Feuers hätte die Decke erwärmt und den darüber liegenden Schnee zum Schmelzen gebracht; es hätten sich Höhlungen gebildet, die oberen Schneemassen mußten nachrutschen und dann um so wuchtiger auf die ohnehin gefährdete Decke drücken.

Da hörte Martl, daß Zäzil sich von der Bank erhoben hatte. Sie tastete sich an der Wand entlang zu einem Kasten, auf dem sie, wie sie sich erinnerte, eine wollene Decke hatte liegen sehen. Diese Decke warf sie dem Burschen zu. »Da kannst dich einwickeln!« Dann nahm sie ihren Platz auf der Bank wieder ein, und in der Stube herrschte das alte, drückende Schweigen, das nur Sepp zuweilen störte, wenn er eine bequemere Lage einzunehmen suchte und sich enger in die Decke wickelte. Auch die Mäuse schienen sich manchmal zu rühren; man meinte sie am Holze nagen und über die Dielen trippeln zu hören. Zäzil schauerte zusammen, so oft sie dieses Geräusch vernahm. Aber das waren keine Mäuse – es war das müde Knirschen des Gebälks, es war das leise Rieseln des Schnees, der durch die Lücke an der Decke niederrann auf den Boden.

Nun plötzlich ging ein gedehntes Ächzen durch die Stube, und ein dumpfer Klatsch ließ sich vernehmen. Mit stammelndem Laut fuhr Zäzil auf, Sepp fluchte und wickelte sich aus der Decke; nur Martl schwieg. Hastig zündete er ein Streichholz an und steckte einen langen Span in Brand. Er hob das brennende Holz, und da starrten sie alle drei zur Decke hinauf, die sich um ein merkliches Stück gesenkt hatte. Eines der Bretter hing losgerissen in die Stube nieder, und durch die stark erweiterte Lücke war ein dicker Schneeklumpen niedergefallen auf die Dielen.

Angstvoll hingen Zäzils Augen an Martls Lippen. Doch ehe der junge Bauer redete, kreischte Sepp: »Höll, Teufel, da is ja kein Bleiben nimmer in der Stuben! Die Decken kann ja einfallen mit jeder Minuten! Da muß was gschehen, sag ich . . . was gschehen! Wir müssen's probieren, ob wir uns net aussidrucken können! Gar so tief kann er net liegen, der Schnee. Mach weiter, Bauer, mach weiter! Ich freilich, ich kann mich ja schier net rühren . . . aber du! Du bist ja frisch und gsund! Mach weiter, sag ich! Mach weiter!«

Martl streifte den Burschen mit einem kurzen Blick; und forschend spähte er wieder hinauf zur Decke. Da faßte Zäzil seinen Arm. Halb erschrocken und halb verwundert blickte Martl in ihr verwandeltes Gesicht. Ihre Augen funkelten, ihre Wangen glühten vor Zorn, und schneidende Schärfe war in der Stimme, mit der sie rief: »He, Martl, hörst es denn net? So rühr dich doch, so schaff ihm doch Luft, deim Knecht! Er kann sich ja net helfen in der Angst! Aber du bist ja da! Du bist ja frisch und gsund! Du hast ja noch nix z' leiden gehabt unter der Lahn, bist ja grad erst aufgstanden vom Schlaf!«

Jähe Röte flog über Martls Gesicht. Freundlich sah er das Mädel an. Dann schüttelte er den Kopf. »Darfst es glauben, daß ich den Ausweg, den er meint, schon lang versucht hätt, wenn davon was z' hoffen wär. Aber der Schnee könnt 's Graben von unten net derleiden. Und wenn so ein Brocken 's Rutschen anfangt, kann alles über ihm wieder ins Rühren kommen . . . und so ein Ruck möcht d' Hütten nimmer aushalten.«

»So? So? Natürlich weißt du alles, du Allerweltsgscheiter!« kreischte Sepp. »Aber meinst, wegen deiner Gscheitheit laß ich mich daherin von die Balken zammdrucken? Tu, was d' willst! Ich schau, daß ich aussikomm durch'n Schnee, und wenn ich mir d' Nägel von die Finger kratzen muß.« Er sprang zur Türe.

Aber Martl vertrat ihm den Weg. »Da bleibst, sag ich, und mit keiner Hand net rührst mir an den Schnee! Du bist net allein in der Hütten, und solang ich noch frisch und gsund bin, will ichs wehren, daß du in deiner narrischen Angst neben deim eigenen Leben noch ein anders in Gfahr bringst!«

»Oho du! Wenn eim 's letzte Stündl überm Kopf hängt, da hats ein End mit Herr und Knecht, da bin ich mir grad so viel wie du. Und drum möcht ich grad sehen, ob ich mich nimmer wehren dürft um mein Leben!« Mit grobem Stoß versuchte der Bursche den Weg zur Tür freizumachen.

Martl aber, der in der Rechten das Spanlicht hielt, packte ihn mit der linken Faust an der Brust und schleuderte ihn so wuchtig von sich, daß Sepp zurücktaumelte bis an den Herd. »So, bleib nur gleich sitzen da!« meinte Martl. »Und laß deine Füß rasten. Hast ja gmerkt, daß dir 's Stehen noch ein bißl hart ankommt.«

»No also, meintwegen«, keifte Sepp mit widerwärtigem Gelächter, »wenn mich der Teufel schon holen muß, kann's mich ja trösten, daß er mich net allein holt.« Er kauerte sich in den Herdwinkel und zog die wollene Decke über seinen Körper.

Martl überhörte diese Worte. Er wandte sich an Zäzil, die in zitternder Erregung an seiner Seite stand. »Komm, Zäzil, tu mir du 's Licht halten! Und wenn der Span verlöschen will, so zünd ein frischen an! Ich will derweil schauen, was zum machen is. Und laß dich net anstecken von seiner Angst, es ist noch allweil nix zum fürchten.«

»Na, Martl, ich fürcht mich auch net!« sagte sie, und wie ein Lächeln ging es über ihre blassen Züge. Sie holte den Rest der Späne zum Tischchen, ließ sich ruhig nieder und behütete die kleine Flamme, daß sie immer hell und gleichmäßig brannte. Und ein stiller Glanz verschönte ihre Augen, so oft sie den Blick über das züngelnde Flämmchen hinweg auf Martl richtete, der sich schweigend an die Arbeit machte. Er kniete vor dem Herde nieder und löste vom Rande der Feuerstatt die lockeren Ziegel; mit seinem Messer zersprengte er den Mörtel, um weitere Steine zu gewinnen. Unter dem Brette, das losgerissen von der gesenkten Decke hing, schichtete er die Ziegel auf dem Boden zu einem Sockel, und damit sie unter dem Drucke des Pfostens, der auf ihnen ruhen sollte, nicht auseinanderfallen möchten, zwängte er den mächtigen, aus dickem Kupferblech zusammengelöteten Käsekessel als feste Kappe über die aufgebauten Steine. Den runden Boden des Kessels drückte und quetschte er so lange mit den Knien, bis das Blech eben wurde und nicht mehr hohl erklang. Dann währte es geraume Weile, bis es ihm gelang, den schweren, tief in den Boden eingesetzten Pfosten, der den Kessel getragen hatte, zu lockern und hervorzuziehen. Mit Zäzils Bergstock maß er die Länge des Balkens, dann die Höhe vom Kessel bis zur Decke, und er atmete erleichtert auf, als die beiden Maße stimmten. Mit dem Bergstock, dessen Stachel er schräg in die Holzwand bohrte, stemmte er das von der Decke niederhängende Brett, damit er es mit dem Pfosten leichter unterfangen konnte, langsam in die alte Lage zurück. Nun hob er die in den Gang führende Tür aus den Angeln, legte sie in ihrer Mitte quer über den stehenden Balken und preßte ihn mit der schwebenden Platte langsam gegen die Decke. Gleich einem großen Riegel legte sich die flache Tür unter die gesenkte Decke, vor den drohenden, schneerieselnden Spalt und unter die zersprengten Bretter der Verschalung. Und nun schob und drückte Martl mit aller Wucht das untere Ende des Balkens über den knirschenden Kessel. Es strafften sich alle Muskeln seines schlanken Körpers, von der gewaltsamen Anstrengung färbte sich sein Gesicht mit dunkler Röte, und an seinem Halse schwollen die Adern zu dicken Striemen. Aber was er wollte, gelang ihm – als feste Stütze saß der Balken zwischen Decke und Kessel. Tief atmend richtete sich Martl auf, wischte mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn und betrachtete prüfend sein Werk.

Mit spottenden Worten hatte Sepp die Arbeit Martls begleitet. Doch als er merkte, wie wenig sich Martl von diesem Spott beirren ließ und wie wenig Zäzil, die nur Augen für Martl und für das flackernde Spanlicht hatte, auf diese bissigen Reden hörte, war er schließlich verstummt und hatte sich gähnend in seine Wolldecke gewickelt. So lag er nun schon geraume Zeit und rührte sich nicht.

Martl hatte sich im stillen eingestanden, daß Sepp mit seinen spottenden Worten nicht ganz im Unrecht war; denn wenn die Schneemassen dort oben in Bewegung kämen, würden sie den stützenden Balken knicken wie einen Strohhalm; das wußte Martl. Und seine ganze Mühe hatte nur den einen Zweck, die langsam rinnenden Stunden mit Arbeit auszufüllen – und Zäzil zu beruhigen. Und diese Hoffnung sah er erfüllt, als er sich nun, nach vollbrachtem Werke, zu dem Mädel wandte, das mit feuchten, dankbaren Augen zu ihm aufblickte.

Er klopfte mit der flachen Hand an den Balken und sagte: »So, Nachbarin! Der halt schon ein bißl was aus! Und ohne Sorgen kannst drauf warten, bis deine Leut und meine Knecht ein Weg zur Hütten graben.«

Zäzil erwiderte keine Silbe. Ihre Augen aber sprachen beredter, als ihre Lippen es vermocht hätten. Aus diesem Blick schien auch auf Martl eine warme, behagliche Stimmung überzugehen. Er griff nach seiner Joppe, die noch immer auf der Erde lag, zog daraus seine kleine Pfeife hervor, die er gestopft von Hause mitgenommen, und setzte sich an die andere Seite des Tischchens. Mit einigen Zügen versuchte er, ob die Füllung der Pfeife auch Luft hätte – doch hastig legte er sie wieder beiseite.

»Weswegen rauchst du denn net?« fragte Zäzil, die ihm schon den brennenden Span geboten hatte.

»Mein, ganz vergessen hab ich . . .« sagte er verlegen. »Ich bin's halt so gwohnt, daß ich nach der Arbeit mein Pfeifl anzünd. Aber ich werd doch jetzt net rauchen . . . und da herin!«

»Aber gwiß, Martl, gwiß! Der Pfeifenrauch schadt ja nix, ich kann ihn auch ganz gut verleiden. Der Vater dampft ja oft die ganze Stuben voll. Geh, Martl, zünd dein Pfeifl an! Hast es verdient.«

»Na, na, Madl . . . schau . . . es muß ja net sein!«

Sie drängte nicht weiter, sondern kurz entschlossen griff sie nach der Pfeife, schob die Beinspitze zwischen die Lippen, hielt den brennenden Span über den kleinen Porzellankopf und zog. Sie mußte husten – aber sie zog und paffte – und dann reichte sie ihm die qualmende Pfeife. »So, Martl, wann mich jetzt net beleidigen willst, so mußt dein Pfeifl rauchen.«

Lächelnd griff er zu – es war das erste Lächeln, das sie an ihm sah. Und es paßte gut zu seinem freundlichen Gesicht!

Er kreuzte die Arme, schmauchte und blickte ruhig vor sich hin.

Zäzil entzündete einen frischen langen Span, steckte ihn in die Klunse der Blockwand und lehnte sich behaglich zurück. Auch sie guckte unter sinnenden Gedanken ziellos in die von dem zuckenden Flämmchen dämmerig erhellte Stube. Und was sie dachte, machte ihre Wangen glühen, daß sie die Kälte nicht spürte, die mehr und mehr durch die vom Schnee umlagerten Balken drang. Manchmal hob sie die Augen und streifte mit heimlichem Blick ihren stillen Tischgesellen. Dann wieder versank sie in ihre Träume. Sie saß am Tische und Martl ihr gegenüber, sein Pfeifchen schmauchend – dieses wirkliche Bild sah sie auch in ihrem Traum. Aber alles ringsumher war völlig anders: nicht die halb zerstörte Hütte, sondern die liebe gemütliche Stube auf der Pfroint. Vor den Fenstern lag die stille Winternacht mit ihren tausend funkelnden Sternen und ihrem glitzernden Schnee; und in der Stube leuchtete die kleine Lampe, und der mächtige Kachelofen strahlte eine sanfte Wärme aus. Zäzil hatte fleißig geschafft den ganzen Tag; nun war sie müde und sehnte sich nach Schlaf. Aber sie mußte ja auf den Martl warten, dessen Pfeiflein noch immer brannte. Und sie geduldete sich gern – es konnte ja so lange nicht mehr dauern, bis er die Pfeife in die Fensternische hängen und sagen würde: »Geh, Mutterl, komm, 's is Schlafenszeit!« Mutterl – das hatte Martl vom Pfrointner angenommen, der seine Bäuerin in guter Laune so zu rufen liebte. Und nun wartete Zäzil – immer wartete sie auf dieses kleine, liebe Wort. Warum es nur der junge Bauer heute nicht sagen wollte? Oder war Martl am Ende gar über dem Schmauchen eingenickt? Wahrhaftig, er schnarchte!

Aber das war ja nicht mehr Traum! Zäzil hörte dieses Schnarchen wirklich – es kam aus dem Herdwinkel – und als sie mit zerstreutem Blick zu Martl aufschaute, flüsterte er über den Tisch herüber: »Was sagst . . . jetzt kann der schlafen?«

»Weswegen denn net? Is ja einer da, der für alle wacht!«

Da rührte sich Sepp. Man hörte ihn gähnen, er warf sich unter der Wolldecke hin und her, nun richtete er sich auf und starrte, auf die rückwärts gestemmten Arme gestützt, mit weit aufgerissenen Augen umher. »Was is denn? Wie steht denn alles? Und wie weit is denn mit der Zeit? Es muß ja d' Nacht schon lang vorbei sein! Aber mit'm Kaffee, freilich, da wird's schlecht ausschauen da heroben. Und mich hungert's, daß alles kracht in mir!«

Zäzil erhob sich, löste das kleine Bündel von der Kraxe und warf es dem Burschen in den Schoß. »Da hast was zum essen . . . kannst alles bhalten. Wir zwei, Martl, gelt, wir halten's schon so noch aus?«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da ging ein leises Zittern durch die Wände. Martls erster Blick flog zur Decke; dort oben war alles unverändert, nichts rührte sich an den Brettern; aber das Zittern der Wände wiederholte sich, und ein dumpfes, wie aus weiter Ferne klingendes Geräusch ließ sich vernehmen.

»Zäzil? Hörst es?« stammelte Martl. »Deine Leut und meine Knecht sind da . . . sie graben schon!«

In jäh aufwallender Freude schlug Zäzil die Hände vors Gesicht und brach in Schluchzen aus. Sepp aber sprang auf, warf die Decke in einen Winkel und schrie mit gellender Stimme: »Hoho! Leut! Da! Hoho! Leut! Hoho!«

Zornig faßte ihn Martl an der Schulter. »Was hast denn! Bist denn narrisch worden?«

»No ja, d'Leut müssen doch wissen, daß alles gut steht in der Hütten . . . müssen doch wissen, daß alles noch am Leben is!« Und von neuem begann der Bursche sein Geschrei.

Mit hartem Lachen wandte sich Martl von ihm ab, ging auf Zäzil zu und zog ihr sanft die Hände vom Gesicht. »Jetzt heißt's, den Kopf in der Höh und die Augen offen halten!«

Wieder zitterte das ganze Haus, und ein dumpfes Knirschen ließ sich vernehmen. Als Martls Augen zur Decke flogen, erblaßte er. Die Türplatte hatte sich verschoben, der Pfosten hatte sich gerührt und stand nicht mehr gerade. Mit banger Sorge dämmerte in ihm die Befürchtung auf, daß die draußen arbeitenden Leute beim Ausgraben des Schnees die richtige Stelle verfehlt und den Schacht um ein Dutzend Schritte zu hoch begonnen hätten, so daß sie beim Weitergraben statt auf die äußere Tür auf das zertrümmerte Hüttendach und auf die schwer bedrohte Decke der Sennstube stoßen mußten. Und was er fürchtete, fand er auch gleich durch die niederdringenden Geräusche bestätigt, die sich immer deutlicher vernehmen ließen. Man unterschied bereits die schreienden Stimmen der Leute, dumpf hörte man jeden Pickelschlag, das Stampfen der Füße und das Kollern der aus dem Schachte geworfenen Felsbrocken. Und immer wieder zitterten die Wände, immer häufiger knirschte und ächzte die Decke.

Da reckte sich Martl auf wie ein Ringkämpfer vor dem Angriff. Er wußte, daß die Gefahr, die seit dem Sturz der Lawine über ihren Köpfen gedroht hatte durch all die langen Stunden, nun erst lebendig wurde. Was dort oben sich rührte, es konnte die Rettung sein, aber auch das Ende. Martls Blicke flogen durch die Stube. Er suchte die Stelle, die am wenigsten gefährdet war, wenn die Decke ins Stürzen kam und den Stubenraum mit Balkentrümmern, Schnee und Steinen füllte. Prüfend hingen seine Augen an der starken Blockwand, die den Gang von der Stube trennte, an der Türöffnung, deren Rahmen aus plumpen, schweren Pfosten gefügt war. Hierher trug er den niederen Herdschemel und stellte ihn über die Schwelle. »Komm, Zäzil, da setz dich her!« Wortlos tat sie, was er verlangte. »Und du, Sepp, wenn ich dir im guten raten darf, so laß dein Umrennen und dein Schreien sein und stell dich neben 's Madel her!« Es klang ein so tiefer Ernst aus seiner bebenden Stimme, daß der Bursch erschrocken zu ihm aufschaute und dann schweigend den Platz einnahm, der ihm angewiesen war.

Martl entzündete einen frischen Span – es war der letzte. »Da, Zäzil, nimm du 's Licht . . . auf dich kann ich mich verlassen.« Mit seinem Messer sprengte er ein langes Scheit von der Holzbank, und zerschnitt es hastig zu dünnen Spänen, die er dem Mädel in den Schoß legte. »Gelt, Zäzil, tu mir folgen! Laß 's Licht kein Augenblick net ausgehn . . . und was auch gschehen mag, rühr dich net vom Fleck, tu kein Schritt in Gang aussi und kein in d' Stuben eini!«

Mit feuchten Augen blickte sie zu ihm auf. Der Klang seiner Stimme ging ihr ins Herz, aus dem Klang dieser Stimme fühlte sie die quälende Sorge heraus, die ihn um sie bewegte, um sie allein! Sie merkte ihm an, daß er gerne noch was gesagt hätte, etwas, das aus seinem Herzen empordrängte auf die Lippen. Aber sein Blick streifte den Burschen unter der Tür, und er schwieg. Da richtete auch Zäzil die Augen auf Sepp; sie hob den brennenden Span, als möchte sie das Gesicht des Burschen heller erleuchtet sehen, und ein bitteres Lächeln zuckte um ihren Mund, während sie leise vor sich hinraunte: »Ein Bsonderer!« Wie lange war es her, daß sie zu diesem Menschen gesagt hatte: ›Ja, Sepp, ich will's net leugnen, daß ich dir gut bin!‹ Was aber jetzt aus ihren Augen sprach, das sah sich an wie Haß. Nicht Haß – nein, Verachtung! Noch verstand sie ihn nicht ganz, diesen Heuchler, noch wußte sie nicht, weshalb er seine Maske so plötzlich hatte fallen lassen. Eines aber wußte sie: Diese stille, finstere Gefahr, die einen ganzen Mann erforderte, hatte ihr gezeigt, welcher von diesen beiden der ›Besondere‹ war. Daß Sepp im ersten Todesschreck völlig des Mädchens vergessen hatte, dem er eine Minute früher sein Leben und den letzten Blutstropfen verschworen, das konnte sie ihm verzeihen. Aber wie er sich gebärdet hatte in all den folgenden Stunden! – Als überkäme sie ein Gefühl des Ekels, so wandte sie das Gesicht von ihm, und mit diesem Blicke war für Zäzil das Leben dieser zwei vergangenen Tage abgeschlossen, und ein neues Leben nahm seinen Anfang in ihrem Herzen. Sie sah zu der knirschenden, zitternden Decke hinauf und schüttelte lachend den Kopf. Diese Balken durften nicht brechen und stürzen, wenn es einen gütigen Herrgott im Himmel gab! Sie mußte ja nun Zeit haben, Zeit für das neue Leben, das ihr leuchtend aufgegangen im Dunkel dieser schneeumlagerten Stube.

Ein Geräusch von splitterndem Holze ließ sie aufblicken. Sie sah, wie Martl den Klapptisch aus den hölzernen Angeln riß, die an der Blockwand befestigt waren. Und den beweglichen Fuß des Brettes brach er über dem Knie entzwei, so daß nur ein kurzer Stumpf an der Platte verblieb. Zäzil begriff nicht, was Martl damit bezweckte. Sie sah ihm fragend ins Gesicht, als er mit dem Brett an ihre Seite trat. Martl aber hatte jetzt keine Augen für Zäzil. Sein Blick hing unverwandt an der schwankenden Decke. Immer deutlicher ließ sich das dumpfe Poltern und Gestampf über dem Gebälk vernehmen, fast schon verständlich klangen die wirr durcheinanderschreienden Stimmen, und jetzt verstummte das Pochen und Kollern, eine einzelne Stimme überklang die andern, dann hörte man, von mehreren Stimmen zugleich, jenen eintönigen Ruf, den die Holzknechte beim Wälzen oder Heben einer schweren Last auszustoßen pflegen.

Immer größer wurden Martls Augen, seine Lippen klafften, in atemloser Spannung schienen seine Züge wie versteinert – wieder vernahm er jenen gezogenen Ruf – nun eine kreischende Stimme, ein wirres, angstvolles Geschrei, ein Poltern, Stürzen und Schmettern – die Wände bebten, es krachte die Decke, und splitternd flog der auf dem Kessel ruhende Pfosten gegen den Herd.

Schon aber hatte Martl mit der Linken Zäzils Arm ergriffen, und das Mädel mit seinem Körper deckend, schwang er die Tischplatte gleich einem Schilde über den Kopf empor. Und vor den beiden brach es nieder mit dröhnendem Geschmetter, ein tischhoher Felsblock stürzte mitten in die Stube – aber der die Decke stützende Pfosten hatte die Wucht des Falles gedämpft, so daß die niederbrechenden Balken den Halt über den Wänden nicht völlig verloren und gegen die Stube einen von Lücken durchrissenen Krater bildeten, den das nachstürzende Geröll und der nachrollende Schnee fast zur Hälfte füllten. Und hinter dem Schnee einher flutete das helle grelle Tageslicht in den halb verschütteten Raum.

Balkensplitter, Brettstücke und Felsbrocken waren gegen den Schild geflogen, den Martl zum Schutz erhoben hatte. Aber die Platte und Martls Arm, sie hatten standgehalten. Nun warf er das Brett beiseite und hob das an allen Gliedern zitternde Mädchen mit beiden Händen vom Schemel empor.

»Nachbarin! Schnauf aus! Alles is gut!« Ein lautes Gerappel machte ihn aufblicken, und ein müdes Lächeln glitt um seine Lippen. »Da schau, dem pressiert's aber, daß er aussikommt!« Er deutete dem Burschen nach, der sich an den hängenden Balken emporgeschwungen hatte, durch eine Lücke hinausschlüpfte auf den Schnee und mit katzenartiger Behendigkeit emporkletterte über Schutt und Balkentrümmer.

In der Höhe verstärkte sich das wirre Geschrei; doch neben dem aufwärts kletternden Burschen glitt eine schwere Mannsgestalt über den steilen Rand der Grube nieder. Es war der Pfrointner.

»Zäzil! Madl! Wo bist denn?«

»Vater . . . Vater . . . Vater . . ..!« Und schluchzend streckte Zäzil die Hände.

Hastig erweiterte Martl eine der Lücken zwischen den Balken, hob das Mädel mit raschen Armen hinaus auf den liegenden Schutt und Schnee – der Pfrointner riß sein Kind an seine Brust, und von oben streckten sich den beiden ein Dutzend helfender Hände entgegen.

Stammelnde, lachende, weinende Menschen umringten Zäzil, als sie droben stand, befreit, über dem schiefen Dach der Lawine, die sich breit hinunterdehnte bis an den Waldsaum. Zäzil aber hörte keines der hundert Worte, die ihre Ohren umklangen, und hatte keinen Blick für die Gesichter, die sie umringten. Ihre Augen glitten an den Leuten vorüber zu einem wunderlichen Bild – dort drüben – das war der Holzersepp, und ihm zu Füßen lag ein schluchzendes Weibsbild, das seine Knie umklammert hielt – das war die Sennerin des Pfrointners – und der Bursche stieß das verstörte Geschöpf mit roher Faust von sich und rannte dem Waldsaum entgegen.

Nun verstand Zäzil – alles! Ein erleichternder Seufzer löste sich aus ihrer Brust, und ein Lächeln glitt um ihre blassen Lippen. »Martl! Wo is der Martl!« stammelte sie noch, dann griff sie mit beiden Händen an ihre Schläfe, und ohnmächtig sank sie ihrem Vater in die Arme.

 


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