Ludwig Ganghofer
Der Besondere
Ludwig Ganghofer

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6

Am andern Tag, gegen die neunte Morgenstunde, verließ der junge Bründlbauer den Hof, um droben in seinem Wald, wie er am verwichenen Morgen zu seinem Knechte gesagt hatte, nach dem Rechten zu sehen. Jetzt hing der lange, altvaterische Sonntagsfrack wohlverwahrt im Kasten, und mit der leichten, grauen Joppe, mit der kurzen Lederhose schien Martl einen anderen Menschen angezogen zu haben. Und es ging zur Arbeit! Da war der Martl überhaupt ein anderer – nicht mehr der bedächtige ›hofgesessene‹ Bauer, sondern der junge, stramm und sehnig gewachsene Bursch, der den Kopf hoch hielt und mit klaren, resoluten Augen hineinschaute in den herrlichen Morgen. Rüstig schritt er aus, regierte leicht den schweren Bergstock und atmete auch dann ruhig weiter, als er im gleichen Schritt, den er im ebenen Talgrund eingehalten hatte, auf dem schmalen Bergpfad emporstieg durch den leuchtenden Wald.

Es war ein Oktobermorgen mit jenem Glanz und Duft, mit jener Glut der Farben und jenem tiefen, sattblauen Himmel, wie ihn nur das Hochland kennt. Gleich einem zitternden Feuerschein lag es über allen Wipfeln in der Luft. Über das falbe Grün des moosigen Grundes wob die Sonne ein wundersames Mosaik von goldigen Lichtern und zuckenden Schatten; wo sie ihren Weg durch das gelbe und rote Laub der welkenden Buchen und Ahornbäume nahm, schienen alle Zweige in hellem Brand zu stehen, und wenn von den Bäumen, durch die ein leises Rauschen ging, zuweilen ein welkes Blatt langsam zur Erde niederflatterte, so war das anzusehen, als hätte sich von den brennenden Zweigen ein Flämmlein losgelöst, um auf den seidendünnen Fäden zu tanzen, die blitzend und gleißend durch den ganzen Wald gesponnen waren.

Vom Tal herauf klangen die gedämpften Stimmen des dörflichen Lebens: Menschenrufe, die sich in den Lüften verloren, Hundegebell, das ferne Rasseln und Holpern der Fahrzeuge, Peitschenknall, das dumpfe Brüllen eines Rindes und einmal das Knattern fallender Bretter. Doch auch der Bergwald hatte seine Stimmen und sein Leben. Die Meisen huschten mit Gezwitscher zwischen den Wipfeln hin und her, kleine Spechte kletterten an den Stämmen empor und pochten an die schimmernde Rinde, und ein Nußhäher, einer von diesen Papageien des deutschen Waldes, übte seine Zunge. Bald gluckste er wie eine Auerhenne, bald krächzte er wie ein Rabe, dann wieder schmälte er wie ein junges Reh, versuchte den gedehnten Pfiff des Buntspechtes, den gellenden Schrei des Habichts und ahmte sogar das Gurren einer wilden Taube nach, die sich im tieferen Walde hören ließ. Käfer flogen auf und ließen sich wieder niederfallen ins Moos, große, glitzernde Fliegen standen, leise sumsend, regungslos in der Luft, um plötzlich ihren Standort mit blitzschnellem Zickzackflug zu ändern, und zahllose Ameisen kribbelten in emsiger Eile über alle Stöcke und Steine, als wüßten sie, daß sie den schönen Tag mit doppeltem Fleiß zu nützen hätten, da schon der nächste Morgen den Winter bringen konnte.

Und zu all diesen bunten und leisen Stimmen des Waldlebens hallten auf dem steinigen Pfad die gleichmäßigen Schritte des einsamen Wanderers. Ob Martl wohl der bunten Schönheit achtete, die ihn umgab?

Zwischen dem leuchtenden Laub der Ahornbäume und Buchen tauchte zuweilen, um rasch wieder zu verschwinden, das dunkle Grün einer Fichte auf – wie in einem sonnig lachenden Gesicht der träumerische Schatten eines ernsten Gedankens aufdämmert und wieder verfliegt. Aber je höher Martl stieg, desto häufiger drängte sich das ernste Grün der Fichten zwischen das in hellen Farben glühende Laub, immer seltener wurden die sonnigen Kronen und immer zahlreicher die düsteren, wie in schwermütige Träume versunkenen Gesellen, bis endlich der laublose, schattendunkle, melancholisch rauschende Nadelwald den Wanderer umschlossen hielt.

Dieses wechselnde Gesicht des Waldes war wie ein Abbild des Wechsels, der sich allmählich in dem Gesichte des einsamen Bergsteigers vollzog. Mit ruhig glänzenden Augen hatte er hineingeschaut in den schönen Morgen und in das bunte Farbenspiel der Laubgehänge; zuweilen aber, und dann immer häufiger, hatte er sinnend niedergestarrt auf die Steine des Pfades, und da schritt er nun mit gesenktem Kopfe durch den dunklen Wald, versunken in schwermütige Gedanken. Dabei verlor er die Ruhe seines Schrittes, stieg immer rascher, und als der Pfad in kurzen Wendungen einen steileren Hang überwunden hatte, mußte Martl aufatmend stehenbleiben. Er nahm den Hut ab und fuhr sich mit dem Ärmel über die feuchte Stirn. Dann hob er den Kopf und lauschte. Es war ihm, als hätte er Schritte gehört und das Klirren eines Bergstockes. Das mußte dort drüben gewesen sein, wo eine breite, mit Geröll überschüttete Wassergasse den Wald von der Almenhöhe bis zum Tal durchbrach. Raschen Ganges folgte Martl dem seitwärts ziehenden Pfad, als wäre es ihm lieb gewesen, für den Rest seines Weges einen plaudernden Begleiter zu finden. Als er den Waldsaum erreichte, blieb er stehen und blickte aufwärts nach der Stelle, wo der Steig, der drüben im Wald sich wendete, zurücklenkte über das Geröll. Jetzt hörte Martl die Schritte wieder, und gleich darauf sah er ein Mädel unter den Bäumen hervortreten, das eine leichte Kraxe auf dem Rücken trug und einen dünnen Bergstock führte. Dunkle Röte flog über Martls Gesicht, während er erschrocken zurückfuhr hinter den Stamm einer mächtigen Fichte. Hier oben im einsamen Bergwald der Pfrointner-Zäzil zu begegnen – darauf war er freilich nicht vorbereitet gewesen.

Was hatte sie nur hier oben zu suchen? Aber der Weg, der hinaufführte zum Holzschlag des Bründlbauern, führte ja auch zur Alm des Pfrointners. Die hatten ja einst zusammengehört, Wald und Alm, vor langen, grauen Jahren, als unter dem bischöflichen Regimente die Pfroint und der Bründlhof noch ein einziges großes Pachtgut gewesen waren.

Aber die Alm des Pfrointners lag ja schon verlassen. Gleich am ersten Tag nach jenem unerwarteten Schneefall hatte die Sennerin abgetrieben. Was konnte Zäzil dort droben noch zu schaffen haben? Aber führte der Weg nicht am Windbruch vorüber? Und stand dort oben nicht einer in Arbeit – einer –

Ein bitteres Lächeln zuckte um Martls Lippen. Doch unwillig schüttelte er den Kopf, als möchte er den Gedanken, der in ihm auftauchte, gewaltsam von sich abdrängen. Und doch – doch! Aber hatte er denn ein Recht, zu fragen, was Zäzil dort oben suchen ging? Und eines wußte er gewiß: daß er um alle Welt nicht mit ihr zusammentreffen wollte. Das war aber unvermeidlich, wenn er dem Steige folgte. Denn wenn er auch noch so langsam ging – sie konnte an irgendeiner Stelle rasten –

Mit zitternder Hand zog Martl den Hut tiefer in die Stirn, und als er das Geröll überschritten hatte, verließ er den Weg und stieg in schräger Richtung durch den pfadlosen Wald empor.

Eine Viertelstunde mochte ihm bei dieser nicht sonderlich bequemen Wanderung vergangen sein, als er plötzlich eine lachende Stimme hörte: »Martl! He! Wo schiebst denn hin, und was suchst denn daherin im Holz? Gehst am End gar aufs Pirschen aus?«

Martl blickte auf und sah den Förster stehen. »Ja, kann schon sein, daß ich dir ein Hirsch davontrag«, sagte er mit gezwungenem Lächeln und hob den Bergstock zielend an die Wange, »paß nur auf, mein Stecken wird gleich losgehn!«

»Laß nur krachen! Die Hirschen, die du erschießt, die ghören alle dein! Aber sag im Ernst, wo willst denn hin?«

»Ein nähern Weg hab ich gsucht in mein Holzschlag auffi.«

»Aber, Martl! Wo hast denn deine Augen ghabt! Du gehst ja um, gwiß eine halbe Stund weit!«

»Ja, ja, ich merk's jetzt selber, daß ich mich weiter rechts hätt halten sollen. Aber no . . . für 's Probieren muß man zahlen. Ein andermal bleib ich auf'm Weg. Und somit bhüt dich Gott für heut!« Martl rückte den Hut und wollte weitersteigen.

Der Förster aber hielt ihm den Bergstock vor und lachte: »Geh, pressiert's dir denn gar so? Setz dich ein bißl her zu mir, ich hab ein guten Enzian im Flaschl!«

Und während sich der Förster zu Füßen einer Fichte ein schönes, moosiges Plätzchen aussuchte, zog er schon das ›Flaschl‹ aus dem Rucksack. Martl ließ sich an der Seite des Alten nieder, und während sie eine Weile über das merkwürdige Wetter hin und her redeten, brachten sie es bei dem durstigen Eifer, den der Förster entwickelte, richtig so weit, daß der letzte Tropfen aus der Flasche mußte. Martl sprach von den Sorgen, die ihm das warme Wetter und der Schnee auf den Bergen gleich am vergangenen Morgen eingeflößt hätten. Der Förster nickte dazu und sagte: »Hast schon recht! An so was hab ich auch schon denkt, und drum bin ich in aller Früh schon droben gwesen und hab mich ein bißl umgschaut. Bis jetzt hat sich nix grührt, aber der Schnee hängt so lahnig droben im Gwänd, daß man jeden Augenblick meint, es fallt die ganze Bscherung abi. Da dürfte jetzt bloß einer auffisteigen und ein Juhschrei machen, daß d' Luft ein bißl zittrig wird . . . ich gratulier . . . da könnt's ein Rumpler geben! So einer hätt aber ausjuchezt und ausgschnauft auch!«

»Hörst, so leichtsinnig wird ja doch keiner sein! Hat ja keiner was z'suchen droben!«

»Wer weiß . . .« brummte der Förster in seinen grauen Bart, während er die Stirn runzelte. Und als ihn Martl fragend ansah, knurrte er vor sich hin: »No ja, weil schon einmal d' Red drauf kommen is . . . es taugt mir schon nimmer den ganzen Sommer! Allbot find ich eine Schweißspur, allbot merk ich, daß einer droben auf Bsuch war in meim Gamsrevier, der net auffighört!«

»Geh! . . . Hast denn ein Verdacht auf wen?«

»Ah ja! Ich hab erst gestern ein gsehen, der ein paar Federln am Hut tragt, die er net gfunden und net kauft hat. Aber Verdacht? Ich pfeif auf ein Verdacht! Treffen, das is 's einzig richtige, und nacher krachen lassen. Aber ich weiß schon . . . ein Hiesiger kann's net sein! Die kennen mich und meine Ghilfen und wissen, daß ich kein Spaß net versteh . . . da traut sich schon lang keiner mehr auffi. Es muß ein Fremder sein . . . und ganz ein feiner dazu! Und wo er sein Schlupf ghabt hat den ganzen Sommer über, das weiß ich auch seit gestern.« Der Förster schwieg, zog sein Pfeiflein aus der Joppentasche und begann es zu stopfen.

Martl saß wortlos und hielt die Hände über dem aufgezogenen Knie verschlungen. Es muß ein Fremder sein, hatte der Förster gesagt – und da war dem Martl gleich ein Name durch den Kopf geschossen. Er wußte selbst nicht, wie es nun kam, daß er gerade an diesen einen dachte – es gab ja doch im Dorf noch andere fremde Knechte – und gewiß, er war ungerecht in seinem Verdacht, denn während des ganzen Sommers hatte er vom Holzmeister nicht die leiseste Klage über den Sepp gehört, niemals ein Wörtlein, als hätte sich der Bursch auch nur an einem einzigen Morgen bei der Arbeit verspätet, an einem einzigen Abend den Arbeitsplatz vor der üblichen Feierstunde verlassen. Und die Arbeit begann doch bei grauendem Tageslicht und endete bei sinkender Dämmerung – und helle, blitzende Augen hatte er wohl, der Sepp, aber doch keine Luchsaugen, daß er pirschen könnte in finsterer Nacht.

Bedächtig hatte der Förster mit Stahl und Feuerstein ein Stücklein Zunder angebrannt, das er nun mit dem Daumen in die Pfeife drückte. Mit schiefen Augen schielte er nieder auf den Glutfunken, der in dem aufquellenden Tabak rasch um sich griff, und während der Alte in kurzen Zügen paffte, plauderte er dazwischen: »Dem Pfrointner . . . sein Almhüttl . . . das kennst ja! Und weißt . . . seltsam war's mir oft, daß ich die Fährten und Schweißspuren schier nirgends gfunden hab als wie eine Stund um d' Almhütten ummi. Der Bachhuberin ihr Wabi is droben Sennerin gwesen . . . kennst es ja! So ein bravs und ein traamhaptes Madl . . . ja . . . von der hätt ja nie kein Mensch nix Übles net denken mögen. Und was sagst, gestern nach der Kirchen lauf ich im Zufall an die alte Bachhuberin hin . . . und wie ich schon bin, daß ich mit die alten Leut gern ein bißl hin und her diskier, die mit mir jung gwesen sind . . . so stell ich mich halt hin zur Alten und frag s', wie's geht daheim. Und da hab ich gleich von Anfang gmerkt, daß 's Weibl eine recht verdrossene Pappen macht. Aber lang können sie's ja net halten, die alten Weiber, wenn s' was am Herzen haben. Grad ein bißl auf d' Stauden hab ich klopfen müssen, so hat s' zum greinen anfangt, die Alte, die nassen Tropferln sind ihr abikugelt aufs Tüchl, und narrisch gjammert hat s', was für ein Kreuz daheim mit ihrem Madl wär, mit der Wabi. Weißt, 's Madl is halt nimmer so von der Alm heimkommen, wie's auffigangen is . . . ja, und da sagen d' Leut allweil: Auf der Alm gibt's kei Sünd!«

Mit großen Augen schaute Martl dem Förster ins Gesicht. Seine Brauen zuckten, und eine seltsame Erregung sprach aus seinen Zügen.

Der Förster aber plauderte weiter und zeichnete dazu mit der Pfeifenspitze allerlei bedeutungsvolle Schnörkel in die Luft. »Gwiß wahr, 's alte Weibl hat mich völlig dauert, wie ich's gar so lamentieren hab hören. Auf einmal aber, Bub, da hab ich d' Ohren gspitzt . . . weißt, wie die Bachhuberin verzählt hat, daß die Wabi net aussirucken will mit der Sprach . . . kein Wörtl und kein Nam net . . . und auf jede Frag hätt 's Madl kein andere Antwort als weinen und weinen. Ich weiß net, aber da is mir auf der Stell eingfallen, daß ich dieselbigen Fährten und Spuren allweil in der Näh von der Wabi ihrer Hütt gfunden hab. Und ich hab so zum studieren angfangt und hab mir gesagt: Erstens einmal, wenn's ein richtiger Bursch wär, einer vom Ort, an den sich das arme Madl jetzt halten könnt, so wäre ja kein Grund net da, sein Nam zu verschweigen. Zweitens einmal, weil 's Madl jetzt, wo man d' Hauptsach doch schon weiß, weiter gar nix einbstehen will, so muß noch was anders dahinterstecken als bloß eine schief ausgschlagene Liebschaft. Und drittens einmal, weil man den ganzen Sommer nix ghört und gmerkt hat, als wann d' Wabi ein Schatz hätt, so muß das einer gwesen sein, der's besonders heimlich trieben hat und der zu seim heimlichen Treiben auch ein ganz bsondern Grund ghabt hat. Verstehst?«

In Gedanken verloren, nickte Martl langsam vor sich hin.

»Verstehst?« wiederholte der Förster. Er hatte seine Gründe mit der Pfeifenspitze an den Fingern hergezählt. Nun tat er einen langen Zug und blies den Rauch durch die Nase. »Ich wenigstens, ich kann mir's denken, wie alles zammpaßt bis aufs Haar. Z'erst hat er sich 's beste Revier ausgsucht, derselbig. Nacher hat er gmerkt, daß er da kein bessern Unterschlupf net finden könnt als wie in der Pfrointnerhütten. So hat er sich an d' Sennerin anpirscht, und weil er sich wohl denken hat können, daß ihm d' Wabi seine Lumpereien so gradweg net angehn laßt, drum hat er 's Madl verliebt gmacht, hat ihr den Kopf verdreht und hat's am End so weit bracht, daß 's Madl wohl oder übel alles hat leiden müssen, was ihm taugt hat: daß er sein Gwehr und sein Sach in der Hütten versteckt hat, daß er drin sein Unterstand ghabt hat zu jeder Stund, bei Tag und Nacht und daß er leicht gar die Gams und 's Wildbret beim Mondschein vom Hüttenfenster aus erschossen hat! Und natürlich . . . aufs Madl wird er allweil druckt haben und wird ihr allweil fürgesagt haben, sie sollt nur ja, wenn's drauf und dran kommt, keiner Menschenseel sein Nam verraten . . . da könnt man von eim aufs ander denken, es könnt was aufkommen von seiner Lumperei, eingsperrt könnt er werden, und 's Madl sitzet nacher da in der Schand und im Elend. Ja! Es wird ihm aber net viel helfen, dem, daß er gar so fein gesponnen hat . . .«

Ein dumpf brüllender Laut, der aus dem tieferen Walde klang, brachte den Förster zum Schweigen – es war der zornige Brunstschrei eines Hirsches. Unwillkürlich hatte der alte Jäger nach der Büchse gegriffen, und während er mit erhobenem Kopf in den Wald hineinlauschte, flüsterte er: »Da schau, der schreit jetzt gar am Tag!« Nun wieder ein Schrei, und merklich näher. »Heilig, der schreit ja grad auf uns zu!« raunte der Alte. »Martl, wenn 's Glück jetzt will, nacher kannst was sehen!« Um den Wind zu prüfen, blies er ein Rauchwölkchen in die Höhe, nickte befriedigt und erhob sich rasch. Doch im gleichen Augenblick bog er wieder das Knie und spannte lautlos den Hahn. »Jetzt nur kein Rührer nimmer, Martl!« Da hörte man das Brechen von Ästen und den gedämpften Sprung eines flüchtenden Wildes. Kaum zwanzig Schritte entfernt, stob ein geringer Hirsch von sechs Enden an den beiden vorüber. Im tiefen Schatten einer alten, moosbehangenen Fichte verhielt das schlanke Tier einige Sekunden und äugte unter sichtlichen Zeichen von Erregung nach rückwärts, um dann in lautloser Flucht zwischen den Bäumen zu verschwinden. Hastig legte der Förster die Büchse über das Knie, höhlte die Hände um den Mund und ahmte täuschend das gurgelnde Röhren eines schwachen Hirsches nach. Ein zorniger Schrei hallte zur Antwort, wieder hörte man die Äste brechen, und aus dem Dunkel des Waldes tauchte ein kapitaler Recke heraus, das Haupt mit dem mächtigen Kronengeweih suchend niedergesenkt auf die Fährte des verscheuchten Rivalen. Jetzt schien er irgendein Geräusch vernommen zu haben. Kampfmutig hob er das Geweih, äugte mit funkelnden Lichtern umher, und als er den Jäger gewahrte, der das Gewehr bereits im Anschlag hatte, wandte er sich mit hohem Satz zur Flucht. Schon aber krachte die Büchse, und von der Kugel aufs Blatt getroffen, brach der Hirsch zusammen, im Feuer verendend.

Während das Echo des Schusses durch den Bergwald rollte, schwang der Alte sein Hütlein und lachte: »Martl? Was sagst? Ein alter Krampl bin ich freilich, aber hinhalten kann ich allweil noch!«

Martl sagte kein Wort. Er nickte nur, erhob sich und folgte dem Förster, der auf seine Beute zuging und das Geweih des Hirsches mit beiden Händen unter den kichernden Worten faßte: »Gelt, Manderl, heut hat sich dein Eifersucht schlecht auszahlt. Ja, d' Lieb hat ihre Mucken!«

Schweigend stand Martl dabei, während der Förster sich daran machte, den Hirsch aufzubrechen. Wohl folgte Martl mit den Augen jeder Bewegung des Alten, aber nach dem zerstreuten Ausdruck seines Gesichtes zu schließen, schien er mit den Gedanken weit von der Stelle zu sein. Und endlich, nach einem schwer bedrückten Atemzuge sagte er: »Jetzt muß ich aber gehn! Lang gnug hab ich mich verhalten!«

»Du, da könntst mir ein rechten Gfallen erweisen, wenn mir zwei von deine Holzknecht schicken tätst, die mir den Hirsch heimschaffen helfen! Aber schick mir zwei vom Ort . . . kein Fremden net!«

»Is schon recht!« erwiderte Martl, und es zuckte dabei ganz merkwürdig über sein Gesicht.

»Und was ich noch sagen will . . . gelt, bhalt's für dich, was ich dir verzählt hab!«

»Hab keine Sorg!«

»Ah na, ich weiß ja, mit dir kann man reden! Also, bhüt dich Gott halt!«

»Behüt dich Gott, Förstner!«

Martl rückte den Hut und stieg durch den Wald empor. Er starrte wohl immer zu Boden, und dennoch achteten seine Augen nicht des Weges, den er ging. Sie hatten einen seltsam verlorenen Blick, diese Augen, und schauten finster unter den gefurchten Brauen hervor. In unruhiger Bewegung waren seine Hände, und immer wieder stieß er den Bergstock so heftig auf, daß unter dem Moos die Steine klirrten. Immer rascher wurde sein Gang, und sein Gesicht begann zu brennen. An einer lichteren Waldstelle traf er auf den breiten Almensteig. Einige Augenblicke besann er sich, dann schritt er über den Pfad hinweg und stieg wieder, statt dem bequemen Steige zu folgen, in gerader Richtung durch den Wald empor. Er konnte dabei nur die eine Absicht haben, seinen Weg abzukürzen. Denn nach der geraumen Weile, die er mit dem Förster verplaudert hatte, brauchte er eine gewisse Begegnung auf dem Steig nicht mehr zu fürchten. Er konnte leicht berechnen, daß Zäzil, selbst wenn sie sich gemächlich Zeit gelassen hatte, das Ziel seines Weges, den Holzschlag, längst passiert haben mußte. Vielleicht hatte sie das offene Almfeld schon erreicht.

So meinte Martl. Aber seine Rechnung stimmte nicht.

Denn eine beträchtliche Wegstrecke vor dem Holzschlag hatte Zäzil ein schönes Plätzchen gefunden, das eine prächtige Aussicht über das weite Tal und die jenseitigen Berge bot. Sogar ein Stück des grünen Seespiegels blitzte da durch die Baumwipfel herauf. Hier hatte sich Zäzil zur Ruhe niedergelassen, und während sie träumend hinausblickte in die schöne Weite, hatte sie so viel und so lange mit ihren Gedanken zu tun, daß sie ungefähr um die gleiche Zeit, in welcher Martl den Förster verließ, zum Weitersteigen sich anschickte.

Inmitten des ernsten Grüns, von dem sie umgeben war, bot sie in ihrer farbigen Tracht ein schmuckes Bild. Sie trug das gleiche Gewand wie vor zwei Tagen bei jener verwegenen Kahnfahrt. Leise vor sich hinträllernd, den langen Bergstock bald als Stütze führend, bald spielend mit ihm die welkenden Gräser streifend, folgte sie leichten Ganges dem Pfad. Die Kraxe, die sie trug, war keine Last; denn nur ein kleines Körbchen mit Mundvorrat war auf das Brett gebunden.

Schon mehrmals hatte sie unruhig aufgehorcht. Die fleißigen Axtschläge, die immer näher hallten, schienen ihre Gedanken zu beschäftigen. Da schlug nun gar eine singende Stimme an ihr Ohr. Unter verlegenem Lächeln blieb sie unschlüssig stehen. Dann nahm ihr hübsches Gesicht einen trotzigen Zug an, und energisch wanderte sie weiter. Nach etwa fünfzig Schritten begann sich der Wald zu lichten – noch eine Wendung des Steiges – und Zäzil stand vor dem offenen, weit ausgedehnten Holzschlag, auf dem die Axthiebe klangen, die Sägen knirschten und die geschälten, wirr durcheinander liegenden Stämme in der Sonne blinkten. Und hart am Wege schlug ein hochgewachsener, schlanker Bursch unter lustigem Gesang mit flinkem Beil die Äste von einem frisch gefällten Stamm.

Es war der Holzersepp.

 


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