Ludwig Ganghofer
Der Besondere
Ludwig Ganghofer

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5

Ein Viertelstündchen später war Zäzil mit Vater und Mutter auf dem Weg zur Kirche. Die Leute am See hatten ein tüchtiges Stück zu wandern, um ihrer Christenpflicht genügen zu können. Die Häuser des Dorfes und die dazu gehörenden Höfe und Einöden waren über das ganze, fast zwei Stunden lange Tal zerstreut, in dessen Mitte der eigentliche ›Markt‹ mit der Kirche gelegen war. Da kamen denn an jedem Sonntagmorgen auf allen Seitenwegen und Bergpfaden die einzelnen Kirchgänger herbeigewandert, um sich auf der Landstraße zu kleinen Karawanen zu vereinigen.

Auch die ›Pfrointnerischen‹ blieben nicht lang allein, und erleichtert atmete Zäzil auf, als sich das erste Paar zu ihnen gesellte. Das war von Hause weg ein nicht sehr gemütlicher Spaziergang für sie gewesen. Die Mutter schmollte und machte ein gekränktes Gesicht, der Vater tat noch immer fuchsteufelswild, und wenn Zäzil ein Wörtlein wagte, bekam sie vom Vater nur einen zornigen Blick, von der Mutter ein unverständliches Brummen zur Antwort. Das wurde natürlich anders, sobald sie Gesellschaft erhielten. Die Leute, die sich zu ihnen gesellten, wußten nichts Eiligeres zu tun, als Zäzil zu ihrem mutigen Stücklein vom vergangenen Abend zu beglückwünschen und sich nach allen Einzelheiten jener Rettungsfahrt zu erkundigen. Da spitzte nun der Pfrointner die Ohren, und die Pfrointnerin riß Mund und Augen auf vor Überraschung und in verspätetem Schreck. Mit gruseligen Reden erging sie sich über die Möglichkeit, daß die kühne Fahrt mißlingen und der Zäzil ein Unglück hätte widerfahren können. Was die Pfrointnerin da wohl getan hätte? Ihr einziges Kind! Schrecklich, schrecklich! So lamentierte sie darauf los, bis es dem Pfrointner zu bunt wurde: »Jetzt hör einmal auf mit deim Getu! Is ihr ja nix gschehen!« schnauzte er sie an. »Aber natürlich . . . fremde Leut muß man reden hören, damit man erfahrt, was seine Kinder treiben! Eine schöne Mod . . . das muß ich sagen!« So lautete die einzige Meinungsäußerung, die er in dieser Sache abzugeben beliebte. Dann kümmerte er sich weiter nicht mehr um das Gerede der anderen. Dennoch schien es, als trüge er den Kopf noch höher und stolzer als zuvor; und wenn seine Augen manchmal das Mädel streiften, hatten sie nicht mehr den alten, zornigen Blick.

Auf dem Kirchturm läuteten die Glocken, als die Pfrointnerischen mit der kleinen Schar, die sich zu ihnen gesellt hatte, den Markt erreichten. In der Mitte des Marktplatzes standen einige Burschen, Sepp unter ihnen. Da hielt es die Seebäuerin für ihre Pflicht, der Pfrointnerin einen gelinden Puff mit dem Ellbogen zu versetzen und ihr zuzuflüstern: »Der da drüben, mit die Blümln am Hut, das is er, der mit ihr gfahren is!«

Neugierig betrachtete die Pfrointnerin den Burschen. »Daß ich den noch nie net gsehen hab!« meinte sie. »Is aber ein sauberer Bursch, das muß ich sagen. Und die Schneid lacht ihm aus die Augen aussi!«

Zäzil hörte die Worte der Mutter, und ihre Wangen, die vom raschen Gange glühten, wurden noch um eine Schattierung röter.

Sepp, der wohl zu merken schien, daß von ihm die Rede war, lüftete zum Gruß den Hut und drehte dabei die Blumen recht auffällig nach vorne. Freundlich dankte Zäzil für seinen Gruß; und es war, als hätte es der liebe Herrgott in seiner Vorsehung recht darauf angelegt, ihr einen Gefallen um den anderen zu erweisen – denn just, als sie dem Burschen so freundlich zunickte, trat der junge Bründlbauer aus der Tür des nahen Bürgermeisterhauses, im langen, altvaterischen Flügelrock und über dem krausen Haar den steifen, unförmlichen Sonntagshut des hofgesessenen Bauern. Er tat nun freilich, als fiele ihm unter der Türe plötzlich ein, daß er dem Bürgermeister noch irgendeine wichtige Sache mitzuteilen hätte. Zäzil aber meinte gut zu wissen, was ihn auf der Schwelle so jählings herumgeworfen hatte wie ein Windstoß die Wetterfahne. Und mit heimlichem Lachen schritt sie hinter Vater und Mutter der Kirche zu.

Sepp schien es mit der Andacht nicht so eilig zu haben. Als seine Kameraden ihn verließen, um in die Kirche zu treten, ging er in entgegengesetzter Richtung über den Marktplatz hinunter. An der Ecke einer Gasse begegnete ihm der alte Förster. Die Hände in die Joppentaschen vergraben, pfeifend, mit den Augen wie nach Himmel und Wetter ausschauend, ging Sepp an dem Jäger vorüber; aber er schien es zu fühlen, daß ihn der Alte vom Kopf bis zu den Füßen musterte und mit besonderer Aufmerksamkeit den geschmückten Hut betrachtete; denn als sie aneinander vorüber waren, schmunzelte Sepp: »Ja, schau mich nur an . . . schaust mir meine Federln nimmer abi vom Hütl!« Nun hielt er vor dem Krämerhaus und trat in den Laden. Obwohl es die paar Kunden, die noch zugegen waren, mit ihren Einkäufen recht eilig zu haben schienen, ließ sie der Krämer stehen und wandte sich an den Burschen mit der Frage, was er wünsche. Sepp kniff die Augen ein und sagte: »Ein Packl Zigorikaffee und ein halb Pfund Zucker.«

Der rege Kundenverkehr der sonntäglichen Frühstunden hatte wohl den Krämer ein wenig zerstreut gemacht; denn was er für den Burschen unter dem Ladentisch in dickes Papier wickelte, glich aufs Haar einem Päcklein Schießpulver und einem Brocken Stangenblei. »So! Da hast! Und koch dir nur am Berg ein recht ein guten Kaffee, daß er dich warm halt bei der Arbeit!«

Sepp legte ein Zweimarkstück auf den Ladentisch, und als der Krämer wechseln wollte, sagte er: »Laß nur gut sein! Wir kommen schon wieder auf gleich. Bhüt Gott für heut!«

»Bhüt Gott! Ein andermal die Ehr!« schmunzelte der Krämer und ließ die Münze in die Lade fallen.

Für Sepp war es noch immer nicht Zeit zur Kirche. Er sprach für eine ›Stehmaß‹ im Wirtshaus vor, und als ihn die Kellnerin lachend ausschalt, daß er die Predigt versäume, meinte er: »Der Pfarrer kann mir ja eh nix Neus mehr sagen.« Sobald man aber drüben die Predigt aus- und das Hochamt einläutete, dachte er doch an seine ›Christenpflicht‹. Und so dicht auch in der Kirche die Gänge zwischen den Bankreihen mit Menschen angepfropft waren, Sepp wußte sich doch mit seinen gesunden Ellbogen noch bis zu einem Plätzchen vorzudrängen, an dem er einem gewissen frommen Dirnlein, sooft es die Blicke vom Gebetbuch hob, in die Augen fallen mußte.

Allzu häufig hob Zäzil die Blicke nun freilich nicht. Aber das ist eine harte Sache, sich eine lange Stunde mit den winzigen Buchstaben zu beschäftigen. Da fängt es nach und nach vor den Blicken so merkwürdig zu flimmern an, und man muß die Augen ein klein bißchen ausruhen lassen. Wohin aber soll man schauen, um in seiner Andacht nicht gestört zu werden? Wohin? Wenn man zur Rechten nur immer einem lächelnden Gesicht und zwei lustig blitzenden Augen begegnet – und wenn man zur Linken nur immer einen langgewachsenen Menschen im Flügelrock auf den Knien liegen sieht, dessen brauner Krauskopf so seltsam müde über die gefalteten Hände gesunken ist.

Da Zäzil in dieser Zwangslage sonderbarerweise nicht auf den Gedanken kam, daß sie, um die Augen rasten zu lassen, auch gradeaus nach dem Altar hätte schauen können, atmete sie wie eine Erlöste auf, als der hochwürdige Herr mit einer gewagten Koloratur seiner Kopfstimme das ›Ite, missa est‹ verkündete.

Die Pfrointnerischen traten aus der Kirche ins Freie, und der Bauer diktierte mit energischer Knappheit den Armeebefehl für die nächste Stunde: Die Bäuerin sollte in aller Schleunigkeit ihre Einkäufe besorgen und sich dabei von Zäzil begleiten lassen; alsodann hätten sie den Pfrointner im Gasthaus zur Post abzuholen, wo er sich inzwischen mit einem Schöpplein für den Heimweg stärken wolle.

So geschah es auch; nur mit der ›Schleunigkeit‹ wollte die Sache nicht vollkommen stimmen; der Zufall schien es darauf angelegt zu haben, der Pfrointnerin just heute alle Basen und Gevatterinnen vom ganzen Tal in den Weg zu führen. Als die Bäuerin nach vielen Hindernissen endlich in der Post anlangte, hielt der Pfrointner statt beim ersten Schöpplein schon bei der dritten Maß. Er hieß seine Weiberleute Platz nehmen und schob der Bäuerin den Steinkrug mit der Aufforderung zu: »Trink aus, Alte, und laß einschenken, daß wir bald heimkommen!« Dieses geflügelte Wort weckte helles Gelächter am Tisch. Es ging überhaupt lustig zu in der überfüllten Wirtsstube. Das war die richtige Sonntagsstimmung. Nebenan um eine runde Tafel saßen an die zwölf Bauern vom schwersten Schlag und politisierten darauf los, daß der Tisch krachte und die Gläser wackelten. Nur ein einziger unter ihnen spielte den wortlosen Zuhörer, und das war der junge Bründlbauer, der mit seinem stillen Wesen inmitten dieser schneidigen ›Politikaner‹ sich ansah wie ein schüchternes Hühnchen zwischen den alten Gockeln. Er hielt die Augen gesenkt, tauchte ab und zu einen Finger in das verschüttete Bier und zeichnete die merkwürdigsten Schnörkel auf die weiße Tischplatte. Doch schien er weniger der politischen Weisheit zu lauschen, die sich rings um ihn mit so kräftigen Stimmen laut machte, als den lustigen Weisen, die zuhinterst in der Stube am Ofentisch der Holzersepp auf der Zither zum besten gab.

In die wirbelnden Tänze, die Sepp mit unermüdlicher Gewandtheit aus den Saiten klingen ließ, flocht er zuweilen mit heller Stimme ein keckes Schnaderhüpfel ein, dessen treffender Witz nicht nur die Burschen, die mit Sepp am gleichen Tische saßen, sondern auch die aufhorchenden Gäste an den anderen Tischen zu hellem Lachen brachte. Und ob er spielte, ob er sang, immer behielt er Zäzil in den Augen, die wortlos zwischen Mutter und Vater saß. Und als der Bursche sah, daß der Pfrointner sein ›Schöpplein‹, das heißt seine fünf Maß Bier, bezahlte und sich zum Gehen anschickte, ließ er die Saiten kräftiger schwirren und sang mit hoch geschraubter Stimme:

»Es gfallen die Blümeln
Eim jeden so gut,
Aber's allerschönst Blümerl
Blüht heut auf meim Hut!

Das Blümerl is gwachsen
Am heimlichsten Platz,
Und dort, wo ich's gfunden hab,
Such ich mein Schatz!

Und geht der Tag schlafen,
Und d' Stern blitzen auf,
So klopf ich ans Fensterl:
Liebs Schatzl, mach auf!«

Ein gellender Jauchzer schloß die letzte Strophe, just als Zäzil, ihren Eltern folgend, in den Flur hinaustrat und hinter sich die Tür der Wirtsstube zufallen ließ.

»Gelt, Zäzil, sei gscheit und tu mit'm Vater ein bißl schön am Heimweg!« flüsterte die Pfrointnerin ihrer Tochter zu; doch als sie dabei in das Gesicht des Mädels schaute, fragte sie bestürzt: »Du brennst ja im ganzen Gsicht! Was hast denn? Wird doch net von deiner gestrigen Wasserfahrt noch was nachkommen, ein Fieber oder sonst was?«

»Ah mein . . . gar nix!« stotterte Zäzil. »Es is halt ein bißl heiß gwesen, da drinn in der Stuben!«

»Ja, ja, hast schon recht! Mir hat's auch völlig den Schnaufer verlegt . . . so eine Hitz und ein Dampf!«

Hurtig wanderten die beiden hinter dem Pfrointner her, der nach der ausgiebigen Wegstärkung, die er genossen, in langen Schritten heimwärts trachtete zu den sonntäglichen Knödeln.

 


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