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Dreiunddreißigstes Kapitel

Hilary setzt sich mit den Dingen auseinander.

Um Hilarys und Biancas Benehmen in dieser, wie ›Westminster‹ es bezeichnet haben würde, ›Krisix‹ zu verstehen, mußte man nicht nur ihre Empfindungen als fühlende menschliche Wesen, sondern auch ihre Ehe-Philosophie in Betracht ziehen. Vermöge ihrer Erziehung und Umgebung gehörten sie zu einer Gruppe der Gesellschaft, die sich in ›jenen Tagen‹ von den mehr veralteten Auffassungen der Ehe losgesagt hatte. Diejenigen, welche jene Gruppe bildeten, waren, da sie sich im Widerspruch nicht nur mit der althergebrachten Eigentumsauffassung – sondern auch mit ihren eignen legitimen Rechten befanden, in ein fast allzu lautes Bekennen ihrer Freiheit gedrängt worden. Wie alle in der Opposition Befindlichen, waren sie einfach grundsätzlich verpflichtet, anderer Meinung zu sein als diejenigen, die die Macht in Händen hatten, und mit verächtlichem Unwillen auf jene Majorität herabzusehen, die da sagt: »Ich glaube, daß die Sache mir gehört, und mein soll sie bleiben« – auf jene Majorität, die kraft ihrer Überzahl diesen Glauben zu einem Gesetz gemacht hatte. Da sie nicht anders konnten, als rechtmäßig im Besitz eines Gatten oder einer Gattin zu sein, je nachdem der Fall lag, mußten sie sich, selbst in der glücklichsten Vereinigung, Mühe geben, ihre eigene Position nicht abgeschmackt zu finden.

Ihr legitimer Ehestand war ihnen gewissermaßen ein Ansporn, ihren Abscheu gegen die Ehe laut zu verkünden. Sie waren wie Knaben, die mit zu kurzen Höschen in die Schule geschickt werden und die da wissen, daß sie ihre Beine weder den Höschen zu Liebe verkleinern, noch die Höschen wachsen machen können. Sie lieferten ein Beispiel für jenen urewigen Wechsel von Form zu Form, dem Stone den Namen ›Leben‹ gegeben hatte. In einem vergangenen Zeitalter haben Denker, Träumer und ›Kunstmenschen‹ die überlieferten Formen verwerfend, diesem Ehegesetz unbewußt seine jetzige Gestalt gegeben. Nachdem es sich in dieser Form überlebt hatte, mußten in einer späteren Zeit die gleichgearteten Naturen, dieselbe Gattung geistig unabhängige Denker, Träumer und ›Kunstmenschen‹ sich wider gegen jenes Gesetz auflehnen, das seinen ursprünglichen Sinn verloren hatte. Und sie, die nun jene alten Anschauungen verbannten, wurden selbst in den Bann getan.

Diese in die Acht erklärte Anschauung spielte in eine Unterredung hinein, die am folgenden Dienstag, nachdem Stone, auf seinem Bett sitzend, den Mond beobachtet hatte, zwischen Hilary und Bianca stattfand.

Ruhig begann Bianca: »Ich möchte auf einige Zeit verreisen.«

»Möchtest du nicht lieber, daß ich statt deiner gehe?«

»Deiner bedarf man, meiner nicht.«

Diese eiskalte, eisklare Bemerkung enthielt den Kern des ganzen Konfliktes; und Hilary sagte:

»Du willst doch nicht sofort abreisen?«

»Gegen Ende der Woche, denke ich.«

Seinen prüfenden Blick fühlend, fügte sie hinzu:

»Ja, wir sehen beide nicht zum besten aus.«

»Es tut mir leid.«

»Das weiß ich.«

Das war alles gewesen. Es hatte genügt, um Hilary noch einmal die Lage klar vor Augen zu führen. Die wesentlichen Elemente waren dieselben geblieben; die relativen Werte hatten sich sehr geändert. Die Versuchungen des heiligen Antonius wurden stündlich quälender. Er hatte ihnen keine ›Prinzipien‹ gegenüberzustellen; nur die tief eingewurzelte Abneigung, irgend Jemanden zu kränken, und ein Gefühl, daß, wenn er seiner Neigung nachgab, er damit eine schlimmere Situation herbeiführen würde, als sie je bisher gewesen war. Es war ihm nicht möglich, sich den Dingen so gegenüberzustellen, wie etwa Purcey es getan hätte, wenn dessen Frau sich von ihm zurückgezogen oder irgend ein Mädchen ihm in den Weg gekommen wäre. Weder ein Zögern wegen der schutzlosen Stellung des Mädchens, noch ein Zögern aus Furcht, wie sich die Zukunft mit ihr gestalten würde, hätte Purcey je gehindert. Er mit seiner einfachen Natur hätte sicherlich nur an die Gegenwart gedacht – ohne jeden Gedanken an eine gemeinsame Zukunft mit einer jungen Person aus jenen Ständen. Auch Rücksicht auf die Frau, die sich ihm freiwillig entzogen, würde bei Mr. Purceys Erwägungen keine Rolle gespielt haben. Daß Hilary sich über derartige Fragen Gedanken machte, war ein Zeichen seiner fin de siècle-Natur; inzwischen aber verlangten die Tatsachen eine Entscheidung.

Er hatte seit dem Tage der Beerdigung mit dem Mädchen nicht gesprochen. Aber mit jenem langen Blick vom Garten aus hatte er ihr gewissermaßen gesagt: »Du lockst mich zu jener Vereinigung, die einzig zwischen uns möglich ist!« Und sie hatte ihm in derselben Weise geantwortet: »Tue mit mir, was du willst!«

Es waren noch andere Tatsachen, mit denen gerechnet werden mußte. Morgen sollte Hughs freigelassen werden. Das kleine Modell hätte wahrscheinlich nur unter einem Zwange ihre Besuche aufgegeben; Stone konnte nicht gut ohne sie fertig werden; Bianca hatte gewissermaßen erklärt, daß sie aus ihrem eigenen Hause hinausgetrieben würde. Diese Lage der Dinge nun war es, die Hilary, während er unter der Büste des Sokrates saß, immer wieder und wieder in seinen Gedanken erwog. Eine lange und schmerzliche Überlegung brachte ihn immer wieder zu der Überzeugung, daß er selbst und nicht Bianca fortgehen sollte. Er hatte ein Gefühl von Bitterkeit und Verachtung gegen sich, weil er es nicht längst getan hatte. Er machte gegen sich selbst von all' den Bezeichnungen Gebrauch, die Martin ihm gegeben hatte. ›Hamlet‹, ›Dilettant‹, ›haltloser Mensch‹. Leider tröstete ihn das wenig.

Am Nachmittag erhielt er einen Besuch. Stone kam herein mit seinem Weidenkörbchen in der Hand. Er nahm nicht erst Platz und begann sofort:

»Ist meine Tochter glücklich?«

Bei dieser unerwarteten Frage ging Hilary nach dem Kamin hinüber.

»Nein,« sagte er endlich; »ich fürchte, sie ist nicht glücklich.«

»Weshalb nicht?«

Hilary blieb still, dann sagte er, mit einem Blick auf den alten Mann:

»Ich hoffe, sie wird aus gewissen Gründen froh sein, wenn ich für einige Zeit fortgehe.«

Stones sehnsüchtig leuchtende Augen versuchten anscheinend, durch dichten Nebel zu blicken.

»Sie kam zu mir, dünkt mich,« sagte er. »Ich glaube mich ihres Weinens zu erinnern. Sind Sie gut zu ihr?«

»Ich habe versucht, es zu sein,« sagte Hilary.

In Stones Antlitz stieg eine leise Röte. »Sie haben keine Kinder,« sagte er mühsam. »Leben Sie mit einander?«

Hilary schüttelte den Kopf.

»Sie sind einander entfremdet?« fragte der alte Mann weiter.

Hilary nickte. Ein langes Schweigen entstand. Stones Augen waren nach dem Fenster gewandert.

»Ohne Liebe ist kein Leben,« sagte er endlich. Und seinen nachdenklichen Blick auf Hilary heftend, fragte er:

»Liebt sie einen andern?«

Wieder schüttelte Hilary den Kopf.

Als Stone wieder sprach, geschah es offenbar zu sich selbst. »Ich weiß nicht, warum ich froh bin. Lieben Sie eine andere?«

Bei dieser Frage zogen sich Hilarys Augenbrauen zu einem Runzeln zusammen.

»Was verstehen Sie unter Liebe?« fragte er.

Stone antwortete nicht gleich; offenbar dachte er angestrengt nach. Dann begannen seine Lippen sich zu regen: »Unter Liebe verstehe ich das Vergessen des eigenen ›Ich‹. Es gibt häufig Verbindungen, in denen nur der Geschlechtstrieb oder die Erinnerung an das Ich geweckt wird.«

»Das ist wahr,« murmelte Hilary.

Stone blickte auf. Spuren schmerzlicher Verwirrung lagen auf seinem Antlitz. »Wir haben eben etwas erörtert.«

»Ich hatte Ihnen gesagt,« meinte Hilary, »daß es für Ihre Tochter besser wäre, wenn ich für einige Zeit fortginge.«

»Ja,« sagte Stone, »Sie sind einander entfremdet.«

Hilary ging wieder zurück an den Kamin. »Ich habe noch etwas auf dem Gewissen, das ich Ihnen sagen möchte, ehe ich gehe, und ich muß Ihnen die Entscheidung überlassen. Das kleine Mädchen, das zu Ihnen kommt, ist nicht mehr da, wo sie früher wohnte.«

»In jener Straße ...« – sagte Stone.

Hilary fuhr hastig fort: »Sie mußte ausziehen, weil der Mann jener Frau, bei der sie wohnte, sich in sie vernarrt hatte. Er ist im Gefängnis gewesen und kommt morgen heraus. Wenn sie weiter hierherkommt, wird er sie natürlich ausfindig machen. Ich fürchte, er wird sie verfolgen. Begreifen Sie das?«

»Nein,« entgegnete Stone.

»Der Mann,« begann Hilary geduldig von neuem, »ist ein armer, leidenschaftlicher Mensch und infolge einer Verwundung am Kopf nicht zurechnungsfähig. Er könnte dem Mädchen ein Leid zufügen.«

»Was für ein Leid?«

»Er hat schon versucht, seine Frau zu erstechen.«

»Ich will mit ihm sprechen,« sagte Stone.

Hilary lächelte. »Ich fürchte, Worte werden da kaum etwas ausrichten. Sie müßte einfach verschwinden!«

Ein Schweigen entstand.

»Mein Buch!« sagte Stone.

Hilary sah mit Schmerz, wie bleich er plötzlich geworden war. »Es ist besser,« dachte er, »sein Verantwortungsgefühl zu Hilfe zu rufen; sie würde ja doch nicht mehr herkommen, wenn ich fort bin.«

Es tat ihm zwar weh, die Trauer in den Augen des alten Mannes zu sehen, aber er mußte die Sache zu Ende führen. So berührte er leise seinen Arm.

»Vielleicht nimmt sie die Gefahr auf sich, wenn Sie sie darum bitten, Schwiegervater.«

Stone antwortete nicht. Und da er nicht wußte, was er noch sagen sollte, trat Hilary wieder ans Fenster. Draußen in dem gesprengelten Schatten, wo es nicht zu warm und nicht zu kühl war, hielt Miranda ihr Schläfchen, mit dem Kopf auf der einen Pfote und ihre weißen Zähne zeigend.

Da erhob Stone wieder die Stimme:

»Sie haben recht; ich kann nicht von ihr verlangen, daß sie soviel für mich wagt!«

»Da kommt sie gerade durch den Garten,« sagte Hilary heiser. »Soll ich sie rufen?«

»Ja,« sagte Stone.

Hilary winkte, das Mädchen kam herein. Sie hielt einen kleinen Busch Maiblumen in der Hand; ihr Ausdruck veränderte sich, als sie Stones ansichtig wurde; sie blieb stehen und hob die Blumen an ihre Brust. Wundersam war dieser Wechsel von zitternder Erwartung zu herber Enttäuschung im Ausdruck ihres Gesichts. Kleine, rote Flecke erschienen auf ihren Wangen. Sie blickte von Stone auf Hilary und wieder zurück. Beide sahen sie starr an. Keiner sprach. Der Busen der Kleinen begann sich schwer zu heben, als ob sie gelaufen wäre; mit leiser Stimme sagte sie: »Da, da sehen Sie, Mr. Stone, das habe ich Ihnen mitgebracht!« Und sie hielt ihm den Busch Maiblumen entgegen. Aber Stone blieb regungslos. »Mögen Sie sie nicht?«

Stones Augen blieben starr auf ihr Gesicht geheftet.

Für Hilary war dieses stumme Zögern offenbar peinvoll. »Wollen Sie es ihr nicht sagen,« begann er, »oder soll ich es tun?«

Da sprach Stone:

»Ich muß versuchen, mein Buch ohne Sie fertig zu machen. Sie dürfen sich nicht dieser Gefahr aussetzen. Ich kann es nicht erlauben!«

Die Kleine ließ ihre Augen von einem zum andern wandern.

»Aber ich schreib' Ihr Buch gern ab,« sagte sie.

»Der Mann wird Ihnen ein Leid antun,« erklärte Stone.

Das kleine Modell blickte Hilary an.

»Is mir ganz egal; ich hab' keine Angst vor ihm. Ich geb' schon acht auf mich; bin ja dran gewöhnt.«

»Ich reise fort,« sagte Hilary ruhig.

Nach einem verzweifelten Aufblicken, das zu sagen schien: »Soll ich auch fort?« stand die Kleine wie erstarrt.

Da er die peinvolle Szene zu beendigen wünschte, ging Hilary zu Stone heran und sagte:

»Wollen Sie ihr heute nachmittag diktieren, Schwiegervater?«

»Nein,« erwiderte dieser.

»Auch morgen nicht?«

»Nein.«

»Wollen Sie mit mir ein wenig spazieren gehen?«

Stone nickte zustimmend.

Hilary wandte sich zu dem kleinen Modell. »So sage ich Ihnen Adieu,« sprach er.

Sie nahm die dargebotene Hand nicht. In ihren abgewandten Mienen zuckte es. Ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe. Sie ließ die Blumen fallen, blickte unvermutet auf zu ihm, schluckte heftig und glitt dann hinaus. Im Vorübergehen hatte sie die Maiblumen mit ihrem Fuß zertreten.

Hilary hob die Überreste der Blumen auf und schüttete sie in den Kamin. Aber der Duft der zertretenen Blüten blieb in der Luft.

»Wollen wir uns für den Spaziergang fertig machen?« fragte Hilary.

Stone ging matt auf die Tür zu, und bald darauf schritten sie schweigend dem Park entgegen.


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