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Vierundzwanzigstes Kapitel

Im Schattenland

»Jeder von uns hat einen Schatten dort in jenen Häusern – jenen Straßen.«

Dieser Ausspruch Stones, wie so viele andere seiner Aussprüche, bestimmt, im Winde zu verhallen, war vielleicht selbst ›in jenen Tagen‹ nicht ohne Sinn für jemanden, der einen Blick in Joshua Creeds Zimmer in Hound Street tun durfte.

Dieser frühere herrschaftliche Diener lag noch im Bett und wartete auf das unausbleibliche Schlagen einer kleinen Weckeruhr, die mitten auf dem Kaminsims stand. Rechts und links von diesem runden, unerbittlichen Mahner, der Tag um Tag ein Menschenkind, dessen Ruhezeit längst gekommen war, zum Aufstehen zwang, prangten die Wahrzeichen seiner vergangenen Glanzzeit. Auf der einen Seite stand in einem nicht mehr ganz saubern Papprahmen eine Photographie des ›Honorable Bateson‹, in der Uniform seines Regiments. Das Gesicht von Creeds ehemaligem Herrn trug jenen keck-verwegenen Ausdruck, mit dem er zu sagen gewohnt gewesen war: »Hol's der – Creed! – Pump mir ein Pfund! Ich hab' keinen roten Heller mehr!« An der andern Seite zeigte sich in einem grünen Rahmen, der einst Plüsch gewesen war, unter einem Glas, das in der linken Ecke einen Riß hatte, das Porträt der Gräfin-Witwe von Glengower. Das Bild stellte, vom Ortsphotographen aufgenommen, den Moment dar, in dem Creeds frühere Herrin den Grundstein zum Dorfspital legt. Während des Zusammenbruchs von Creeds Karriere, der einer langwierigen Krankheit folgte, und der seiner Errettung durch die Westminster Gazette vorangegangen war, hatten diese beiden Hausgötter auf dem Grund eines alten Blechkoffers gelegen. Dieser Blechkoffer war längere Zeit im Besitz einer Zimmervermieterin gewesen, die ihn als Pfand für unbezahlte Miete zurückbehalten hatte.

Der ›Honorable Bateson‹ war jetzt tot, aber die geliehenen Pfundnoten hatte er nicht zurückgezahlt. Auch Lady Glengower war im Himmel, allwo sie sich zu spät erinnerte, daß sie ihre sämtlichen Dienstboten in ihrem letzten Willen nicht bedacht hatte. Er aber, der ihnen treu gedient hatte, war noch am Leben, und sein erster Gedanke, als er die Stellung bei der ›Westminster‹ erhielt, war, soviel beiseite zu legen, um jene Herrschaften aus ihrer unwürdigen Gefangenschaft zu lösen. Ein halbes Jahr hatte er dazu gebraucht. Er hatte sie dann in Gesellschaft von drei Paar wollenen Unterhosen, einem alten, aber wohlerhaltenen Frack, einer bunten Krawatte, einer Bibel und zwei Paar Socken wiedergefunden, von denen zwei nur Hacken und zwei nur Spitzen besaßen. Daneben fanden sich noch ein Paar Gummizugstiefel, Stopfgarn und eine Nähnadel, ein Kamm, ein Stückchen Rasierseife, zwei Kragen, dessen hohe Spitzen ihrem Herrn bis an die Kinnbacken gereicht hatten; die oben erwähnte Weckuhr und eine Schlipsnadel, die das Bild der Königin Viktoria zur Zeit ihres ersten Regierungsjubiläums darstellte. Wie oft hatte er nicht in Gedanken Heerschau gehalten über diese, seine Schätze, während er getrennt von ihnen war! Wie oft, seitdem sie wieder sein waren, hatte er nicht in stillem, aber immer neuem Grimm über das Fehlen eines Hemdes gegrübelt, das – er hätte es beschwören können – bei den Sachen gewesen war.

Aber jetzt lag er in seinem Bett, auf das Schlagen des Weckers wartend, das alte, stachlige Kinn unter der Bettdecke und die alte, buntgefärbte Nase darüber. Er dachte die Gedanken, die ihm gewöhnlich um diese Stunde kamen – daß Mrs. Hughs ihm die Butter nicht so herunterkratzen sollte von seinem Frühstücksbrot; daß sie ihm einen halben Schilling von der Wochenmiete erlassen könnte; daß der Junge, der ihm die neuesten Ausgaben auf seinem Karren brachte, ein bißchen früher kommen könnte, damit ›jener Kerl‹ seine ›Pall Malls‹ nicht immer vor ihm bekäme, wo's doch für ihn, Creed, die einzige Chance am Tage war; daß anstatt dem Schuster die neun Pence zu zahlen, die dieser fürs Besohlen verlangte, er lieber bis zum Sommer warten wollte, wo der ›gemeine Kerl‹ es ihm mit Kußhand für einen halben Schilling machen würde!

Während seine Gedanken so beschäftigt waren, vernahm er einen Aufschrei. Da er von Natur vorsichtig, aber nicht feig war, wartete er, bis er einen zweiten hörte, und stand dann rasch auf. Den Feuerhaken in der Hand und seine Brille auf der Nase, eilte er zur Tür. Viele, viele Mal war er in früheren Zeiten so aufgesprungen, um die Hausschätze des ›Honorable Bateson‹ und der Gräfin-Witwe von Glengower vor periodisch in seiner Phantasie wiederkehrenden Überfällen zu schützen. Leicht zusammenschauernd stand er da in seinem abgetragenen alten Schlafrock, der ihm um die noch älteren Beine schlotterte, dann stieß er die Tür auf und spähte hinaus. Auf der Treppe, gerade über ihm, hielt Mrs. Hughs, die mit einem Arm ihr Baby an sich drückte, den andern Arm weit ausgestreckt zwischen sich und Hughs. Er hörte den Mann sagen: »Du hast mich dazu gebracht; jetzt geht's dir an den Kragen!« Mrs. Hughs' schmale Gestalt flüchtete an ihm vorbei in sein Zimmer; von ihrem Handgelenk tropfte Blut. Creed sah, daß Hughs das Bajonett in der Hand hielt. Mit aller Kraft schrie er den Mann an: »Sie sollten sich was schämen!« wobei er ihm den Feuerhaken verteidigend entgegenhielt. Der Anblick des blanken Stahls entrüstete ihn aufs höchste; und eine lange Strafpredigt strömte von seinen Lippen: Was Hughs einfiele – das Haus so in Verruf zu bringen – gleich früh am Morgen anzufangen? Wo er denn aufgewachsen wär? Nennt sich so was Soldat und bedroht alte Leute und Weiber auf solch 'ne Art? Er sollte sich lieber schämen!

Während diese Worte zwischen den gelben Zahnstümpfen aus dem verwitterten Munde hervorsprudelten, stand Hughs stumm da, mit dem Arm die Augen bedeckend. Da wurden Stimmen und schwere Tritte laut. Creed, der in jenen Tritten den nahenden Schritt des Gesetzes erkannte, sagte kühn: »Wagen Sie's mal, mir was zu tun!«

Hughs ließ den Arm sinken. Sein breites, dunkles Gesicht trug einen verzweifelten Ausdruck wie das einer gefangenen Ratte; seine Augen fuhren wild umher.

»Schon gut, Alter,« sagte er, »Ihnen wollt ich ja nichts tun. Sie hat mich wieder ganz verrückt im Kopf gemacht. Da, nehmen Sie das Ding da; ich trau mir selbst nich!« Er hielt ihm das Bajonett hin.

›Westminster‹ nahm es behutsam in die zitternde Hand.

»So 'n Ding da zu gebrauchen!« sagte er. »Und Sie wollen 'n Engländer sein? Ich hol mir den Tod, wenn ich noch lange hier steh,« meinte er, »jawoll, ganz bestimmt!«

Hughs stand an die Wand gelehnt und gab keine Antwort. Der alte Herrschaftsdiener sah ihn strafend an. Er beurteilte ihn nicht von einem einsichtsvollen, philosophischen Standpunkt aus als gemartertes menschliches Wesen, aufgereizt durch die Peitschenhiebe der Leidenschaft in seinem schweren Blut; als ein Geschöpf, dessen Moral wie ein entarteter, verkrüppelter Baum war; als einen armen Teufel, halb zu Grunde gerichtet durch Trunksucht und die Verwundung am Kopf. Der alte Creed hatte eine viel einfältigere und altmodischere Anschauung von diesen Dingen. »Eingesteckt muß er werden!« dachte er. »Mit solchen wilden Kerlen ist nichts Anderes anzufangen! Eingesteckt, bis er winselt!«

Und den alten Kopf wiegend, sagte er laut:

»Da kommt die Polizei! Ich werd' Ihnen nich beistehen; Sie verdienen alles, was Sie kriegen werden, und noch mehr!«

Als er dann in einem alten Bratenrock, den ihm einer seiner Kunden geschenkt hatte, neben Mrs. Hughs auf dem Wege zur Polizeiwache war, verhielt er sich auffallend schweigsam. Sein Gesicht trug einen Ausdruck von Strenge zur Schau, wie er einem Manne zukommt, der sich plötzlich in eine so häßliche Angelegenheit verwickelt sieht. Und die Näherin, das verwundete Handgelenk in einer Binde, hager und vergrämt, mit dem Kind auf dem Arm, das durch den Vorgang am Morgen sehr unruhig geworden war, glitt neben ihm hin, während sie dann und wann scheu zu ihm aufblickte.

Nur ein einzigesmal sagte er etwas, und das mehr zu sich selbst:

»Ich weiß gar nich, was sie bloß in der Expedition dazu sagen werd'n, daß ich so spät antrete – so die Zeit zu vertrödeln – oh, je, so'n Pech! Was is bloß in ihn gefahren, daß er so wild wurde?«

Auf diese Worte hin, obgleich sie keineswegs als Aufmunterung gelten sollten, brach der Redestrom bei Mrs. Hughs los und flutete endlos dahin. Sie hatte Hughs doch bloß erzählt, daß das Mädchen fort wär' und eine Wochenmiete zurückgelassen hätte, mit 'n paar Zeilen, daß sie nicht wiederkäme; sie könnt' doch nichts dafür, daß das Mädel ausgerückt war, so'n Geschöpf, das nichts verstand, als sich zwischen Mann und Frau zu drängen. Sie konnte doch ebenso wenig wissen, wie er selbst, wo das Mädel hingezogen war!

Die langsam hervorquellenden Tränen liefen der Näherin über die Wangen. Ihr Antlitz war jetzt ein ganz anderes als das, mit dem sie Hughs gegenübergestanden, da sie ihn von der Flucht des kleinen Modells unterrichtet hatte. Da war nichts mehr von dem Triumph zu sehen, der aus ihrem wunden Herzen hervorgebrochen war; nichts mehr von jener unbewußten, an Heroismus grenzenden Selbstverleugnung, mit der sie ihr Kind ergriffen und an sich gerissen hatte, als Hughs, durch ihren Hohn aufgestachelt, auf die Waffe losstürzte.

Nichts von all dem lag jetzt in ihrem Gesicht, sondern nur eine jämmerliche Angst vor dem bevorstehenden Verhör – ein stummer, bebender Schmerz darüber, daß dieser Mann, gegen den sie noch vor zwei Stunden eine solche Fülle bitteren Hasses empfunden, dessen mörderischem Angriff sie mit knapper Not entgangen war, sich jetzt in einer so bedrohlichen Lage befand.

Der Anblick ihrer Erregung drang dem alten Herrschaftsdiener durch die Brillengläser bis in seine innerste Seele.

»Grämen Sie sich nich,« sagte er, »ich halt zu Ihnen. Er soll Sie nich ungestraft schlecht behandeln.«

Für seinen einfachen Verstand war die Sache nur eine Frage der Vergeltung. Mrs. Hughs verfiel wieder in Schweigen. Ihre zerrissene Seele trug Verlangen, die Straftat, die auf sie alle fallen würde, auszulöschen, Hughs vor dem gemeinsamen Feinde – dem Gesetz – zu schützen; aber ein sonderbares Gefühl von Verwirrung und Stolz, und eine unbestimmte Vorstellung, daß man von jedem sich selbst achtenden Menschen ein Verlangen nach ausgleichender Gerechtigkeit erwarte, hieß sie schweigen.

So erreichten sie denn die große Trösterin, die alle menschlichen Wirrnisse löst, die Zufluchtsstätte für Schuldige und Unschuldige – das Polizeigericht. Es lag in einer Seitenstraße. Wie Streifen von Schlamm, die im Sande übrig bleiben, wenn die Flut zurückebbt, so zogen sich hier Streifen von menschlichen Wesen nach diesem Gebäude hin. Die Gesichter dieser dahinschleichenden ›Schatten‹ hatten einen Ausdruck, als trügen sie Masken aus einem harten aber abgenutzten Material – den Ausdruck jener, die das Leben in einen letzten Zufluchtsort gedrängt hat. Ein alter Polizist, der wie ein grauer Leuchtturm dastand, ließ den Eingang zu dem Zufluchtshafen erkennen. In der Nähe dieses Leuchtturms bahnte sich der alte Creed seinen Weg. Seine Vorliebe für alles Gesetz- und Ordnungsmäßige der Dinge, die ihm angeboren war, und die sich noch gefestigt hatte durch die Jahre, die er im Dienste des ›Honorable Bateson‹ und anderer Notabilitäten verbracht, ließ ihn instinktiv die Nähe der einzigen Persönlichkeit in dieser Menge suchen, von der er ganz sicher sein konnte, daß sie auf Seiten des Gesetzes und der Ordnung stand. Irgend etwas in seinem länglichen Gesicht und dem spärlichen, genau in der Mitte gescheitelten Haar, irgend etwas an dem hohen, die hageren Kinnbacken stützenden Kragen, das auf seine Zugehörigkeit zu einer bessern Klasse schließen ließ, veranlaßte den Polizisten, die Frage an ihn zu richten:

»Was wollen Sie denn hier, Papachen?«

»Oh,« entgegnete der alte Mann, »es ist wegen der armen Frau da. Ich soll wegen ihrer Verwundung aussagen.«

Der Polizist ließ einen nicht unfreundlichen Blick über die Gestalt der Näherin gleiten. »Bleiben Sie da stehen,« meinte er, »ich lasse Sie gleich hinein.«

Und dank seiner Gefälligkeit durften die beiden bald darauf den Zufluchtshafen betreten.

Sie nahmen dicht nebeneinander auf der Kante einer langen, harten Holzbank Platz. Creed hielt seine Augen, deren Färbung sich zu einem bräunlichen Ring um die Pupillen verdichtete, auf den Beamten geheftet, etwa wie in alten Zeiten Sonnenanbeter dazusitzen und andächtig in das Sonnenlicht zu blinzeln pflegten; und Mrs. Hughs senkte den Blick in den Schoß, indes Tränen banger Furcht ihr über die Wangen tröpfelten. In ihrem unverwundeten Arm schlummerte das Baby. Vor ihnen zogen unbeachtet, einer nach dem andern, jene Schatten vorüber, die am Tage vorher in allzu vollen Zügen von den Wassern des Vergessens geschlürft hatten. Heute sollte ihnen nun das Wasser des Erinnerns gereicht werden, das ihnen diesmal nicht mit unsicherer Hand eingeschenkt wurde. Und von irgendwo, weit in der Ferne, sah vielleicht Frau Gerechtigkeit mit spöttischem Lächeln zu, wie die Menschen hier über ihre Schatten zu Gericht saßen. Sie mochte sie schon lange bei diesem Geschäft beobachtet haben. Und bei ihrer elementaren Auffassung, daß man Hasen und Schildkröten nicht von demselben Startplatz aus laufen lassen soll, hatte sie wohl die Erwartung so ziemlich aufgegeben, daß man sie holen würde, damit sie ihre Hilfe leihe; man war gar so gut ohne sie fertig geworden.

Der alte Herrschaftsdiener aber dachte nicht an Dame Gerechtigkeit: ihn fesselten Vorstellungen einfacherer Art. Er dachte darüber nach, daß er einst Diener beim Neffen des verstorbenen Vizepräsidenten Hawthorn gewesen war, und inmitten dieser häßlichen Affäre hatte diese Erinnerung etwas Auffrischendes für ihn. Immer wieder und wieder lernte er die Worte auswendig: Ich intervenierte zwischen ihnen und ich sagte: »Sie sollten sich was schämen; Sie woll'n 'n Engländer sein, sag' ich, fallen über 'n alten Mann und 'n Weib her mit dem kalten Stahl, sag' ich!« Und plötzlich gewahrte er, daß Hughs auf dem Platz der Angeklagten war.

Der finstere Mann stand da, die Hände an die Hosennaht gelegt, wie beim Appell. Sein Profil, dessen Blässe nur durch die schwarze Linie des Schnurrbartes unterbrochen wurde, war alles, was ›Westminster‹ von jenem regungslosen Gesicht wahrnehmen konnte, dessen Augen, auf den Beamten gerichtet, allein die inneren Gluten verrieten. Die Näherin begann so heftig zu zittern, daß Joshua Creed eine gewisse Verwirrung in sich aufsteigen fühlte, und als er bemerkte, daß das Baby die schwarzen Augen aufschlug, stieß er sie leise an, indem er flüsterte: »Sie haben das Kleine aufgeweckt!«

Als Erwiderung auf diese Worte, die vielleicht die einzigen waren, denen sie in solch einem Moment Beachtung schenken mochte, begann Mrs. Hughs den kleinen, stummen Zuschauer des Dramas hin und her zu wiegen. Wieder stieß der alte Mann sie leise an:

»Sie soll'n vorkommen,« sagte er.

Mrs. Hughs erhob sich und nahm ihren Platz auf der Zeugenbank ein.

Wer in den Herzen dieses Ehepaares lesen wollte, das sich hier gegenüberstand, um seine Wunden vom Gesetz heilen zu lassen, der hätte hunderttausend Stunden ihres Zusammenlebens beobachtet, hätte Millionen Worte und Gedanken gehört und erfahren haben müssen, die durch den trüben Lauf ihres Daseins gezogen waren. Ihm hätten die Millionen Gründe bekannt sein müssen, weshalb es keinem von beiden zum Bewußtsein kam, daß er anders hätte handeln können, wie er gehandelt hatte. Wer im Lichte solcher Erkenntnis in ihren Herzen gelesen hätte, der wäre kaum erstaunt gewesen, daß sie, an diesen Ausgleichsort gebracht, ein unvermutetes Bündnis einzugehen schienen. Einen einzigen Blick nur wechselten sie miteinander. Er war nicht sanft; er enthielt keine Bitten; aber er genügte. Es schien in ihm das aus urdenklicher Erfahrung und urdenklicher Zeit begründete Wissen ausgedrückt: »Dieses Gesetz, vor dem wir stehen, ist nicht von uns geschaffen!« Wie Hunde sich ducken, sobald sie fernen Peitschenknall vernehmen und in ihrem ganzen Gebaren schärfste Aufmerksamkeit verraten, so sagten Hughs und seine Frau jetzt, als sie vor dem Richter standen, nur das aus, was man mühsam aus ihnen herausholte. Mit einer Stimme, die sich kaum über ein Flüstern erhob, erzählte Mrs. Hughs ihre Geschichte. Sie waren in Streit geraten. Weshalb? Das wußte sie nicht mehr. Hatte er sie angegriffen? Er hatte die Waffe in der Hand gehabt. Und dann? Sie war ausgeglitten und hatte sich das Handgelenk an der Spitze verletzt. Bei dieser Aussage wandte Hughs ihr den Blick zu, der zu sagen schien: »Du hast mich dazu getrieben, ich werd's nun büßen müssen, wenn du dir auch noch soviel Mühe gibst mich 'rauszuhauen. Ich hab's nun mal getan, und ich brauch' deine Hilfe nicht. Aber 's freut mich, daß du zu mir hältst gegen dieses verd- Gericht!« Dann stand er, den Blick gesenkt, während ihres kurzen, leidenschaftlichen Ausbruchs, der nun folgte, regungslos da. Er sei ihr Ehemann; fünf Kinder habe sie ihm geboren; er sei im Krieg verwundet worden. Sie hätte weiß Gott nicht gewollt, daß man ihn hierherbrachte.

Von dem kleinen Modell kein Wort. –

– Der alte Creed konnte sich über diese Verschwiegenheit der Frau gar nicht beruhigen, als er zwei Stunden später, treu seiner instinktiven Anhänglichkeit für die oberen Klassen, bei Hilary vorsprach.

Dieser saß eben, inmitten von Büchern und Papieren – denn seitdem er das Mädchen fortgeschickt, arbeitete er mit großer Emsigkeit – beim Mittag, das ihm in seinem Arbeitszimmer auf einem Tablett serviert wurde.

»Ein alter Mann wünscht den gnädigen Herrn zu sprechen; er sagt, der gnädige Herr kennt ihn; Creed heißt er.«

»Lassen Sie ihn eintreten,« gebot Hilary.

Hinter dem Diener in der Tür auftauchend, trat der Alte mit behutsamen Schritten ein; er blickte um sich, und als er einen Stuhl entdeckte, stellte er seinen Hut darunter; dann näherte er sich Hilary mit hochgehobener Brille und Nase. Als er das Tablett gewahrte, hielt er inne; er fühlte sich in dem sichtlichen Verlangen, seine Seele zu entlasten, plötzlich gehemmt.

»Oh je,« sagte er, »da fall' ich dem gnädigen Herrn gerad' ins Mittag. Aber ich kann ja warten; ich werd' mich draußen in den Korridor setzen.«

Hilary jedoch wehrte ihm mit der zu Haut und Knochen abgemagerten Hand und wies ihm einen Stuhl an.

Creed setzte sich auf die Kante und begann von neuem:

»Ich stör' den gnädigen Herrn.«

»Durchaus nicht. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«

Creed nahm seine Brille herunter, wischte sie ab, als ob sie ihm helfen sollte, deutlicher zu sehen, was er zu sagen hatte, und setzte sie wieder auf.

»Es ist wegen der häuslichen Angelegenheiten, wodrum es sich handelt,« sagte er. »Ich bin hergekommen, um's Ihnen zu erzählen, wo ich doch weiß, daß Sie sich für die Leute interessieren.«

»Nun, was ist geschehen?« fragte Hilary.

»Es ist alles wegen dem Mädchen, weil die nu weg is, wie Sie vielleicht wissen.«

»So – so!«

»Ja – das hat die Sache zur Katarstrophe gebracht,« erklärte Creed.

»Nicht möglich; wieso denn?«

Der alte Mann erzählte die Einzelheiten des Vorfalles.

»Ich hab' ihm den Säbel fortgerissen,« schloß er; »mir hat er damit keinen Schreck eingejagt.«

»Ist er denn nicht ganz bei Verstand?«

»Das könnt' ich nich mal sagen,« entgegnete Creed. »Seine Frau, die hat's nich richtig mit ihm angefangen, meiner Meinung nach; aber das hab'n die Frauen so an sich. Sie is von ihm auch aufgehetzt auf gewisse Leute. Ich möcht' bloß gesagt haben, daß das junge Mädel wohl nich so is, wie's sein sollte; was sie bloß für'n Beruf hat – und is doch eine vom Lande! S' is wohl nich alles ganz in Ordnung mit ihr. Aber er is auch nich die Art von Mann, die man so behandeln darf. Man kann nich Feigen von Disteln lesen; das is nu mal bei den unteren Klassen nich anders. Sie hab'n ihm bloß einen Monat gegeben, in Anbetracht davon, daß er im Krieg verwundet worden is. Er wär' nich so gut davongekommen, wenn sie gewußt hätten, daß er immer um das Mädel 'rumlungert – 'n verheirateter Mann, wie er is – meinen Sie nich auch, gnädiger Herr?«

Hilarys Gesicht hatte wieder seinen verschlossensten Ausdruck angenommen. »Ich kann mich mit dir darauf nicht einlassen,« schien er zu sagen.

Creed, der die Veränderung sofort bemerkte, stand rasch auf. »Aber ich stör' den gnädigen Herrn beim Essen,« sagte er. »Die Frau regt sich noch immer über ihn auf; is doch kein Wunder, sie is doch nun mal seine Frau. Ach, so'n Malheur! Bald is er wieder da, und was wird dann? Besser wird er nich davon werden, daß sie ihn in so'n niederträchtiges Gefängnis einsperren.« Und das alte Gesicht zu Hilary emporrichtend, fuhr er fort: »Oh je! Es is gerad, als ob man so in die schwarze Nacht reingeht, und nich sehen kann wo man is und wohin man geht.«

Hilary vermochte keine passende Antwort auf diesen Vergleich zu finden.

Der Eindruck, den ihm die Erzählung des Alten gemacht hatte, war ein seltsam zwiespältiger; der empfindlichere Teil seines Ich fühlte eine entschiedene Erleichterung, daß er mit einer Episode abgeschlossen hatte, die so häßliche, skandalöse Entwicklungen im Gefolge haben konnte. Aber jene Seite seines Ich – und Hilary war eine komplizierte Natur, die Mitgefühl für die Hilfsbedürftigen empfand – sein unterdrückter Edelmut hatte auch sein Teil abbekommen. Die Andeutungen des alten Creed über das Mädchen zeigten klar, wie sich die Meinung aller Männer und Frauen gegen sie richtete. Sie war eben eine Paria – dieses junge Ding, ohne Mittel und ohne Freunde, einfältig von Gemüt, aber von physischem Reiz.

Hilary wagte nur, ›Westminster‹ für den verlorenen Tag zu entschädigen und etwas nichtssagend zu bemerken, daß die Nächte nie so schwarz seien wie sie schienen. Creed blieb an der Tür noch einmal stehen.

»Oh je,« sagte er, »da is noch 'ne Sache, die die Frau gesagt hat, und die ich zu erzählen vergessen hab'. Es ist von wegen dem, womit ihr Mann in seiner Wut gedroht hat. »Die soll'n sich hüten,« hat er gesagt, »die Schuld dran sind, daß sie weggezogen is,« hat er gesagt, »mit denen bin ich noch lange nich fertig!« Das ist ja die reine Verschwörung, jawoll!«

Hilary versuchte, diese Deutung von Hughs' Worten hinwegzulächeln, schüttelte dem alten Manne die welke Hand und schloß hinter ihm die Tür. Dann setzte er sich wieder an den Schreibtisch und vergrub sich fast ärgerlich in seine Arbeit. Aber das wunderliche, halb angenehme, fiebrige Gefühl, das ihn erfüllte seit jenem Abend, da er Picadilly entlang gegangen war, schien seiner ernsten Gedankenarbeit nicht günstig.


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