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Neuntes Kapitel

Hilary auf der Fährte

Die ethischen Lebensanschauungen eines Mannes wie Hilary waren nicht die Anschauungen der Millionen von unkomplizierten Purceys, die sich auf ein Bewußtsein des Besitzes in dieser und in jener Welt gründen. Sie glichen auch nicht ganz den moralischen und religiösen Anschauungen der Aristokratie, die, wenn auch im Einzelnen verfeinert, doch als Ganzes ihre gefestigte Position benutzt, um auf Purcey's Ethik das Prinzip ›Hol' euch alle der Teufel‹ zu pfropfen. In den Augen der Majorität war er wahrscheinlich ein unmoralischer und irreligiöser Mensch. Tatsächlich aber war seine Moral und Religion diejenige seiner besonderen Gesellschaftsgruppe – jener kultivierten Klassen, denen die ›Gelehrten, die Kunstmenschen, neumodische Leute und allerhand so was‹, wie Purcey sich ausdrückte, angehörten – eine Gesellschaftsgruppe aus Leuten zusammengesetzt, die nicht um das Notwendigste zu sorgen brauchten, und die ausschließlich auf intellektuellem Gebiete arbeiteten.

Hätte man von ihm ein Glaubensbekenntnis verlangt, so würde Hilary es etwa derartig formuliert haben: »Ich glaube nicht an kirchliche Dogmen und gehe nicht in die Kirche. Ich habe keine bestimmten Vorstellungen von einem künftigen Leben, und will sie auch gar nicht haben. Aber ganz im stillen versuche ich, mich dem, was ich um mich herum sehe, so viel wie möglich anzupassen, in dem Bewußtsein, daß ich glücklich wäre, wenn ich jemals wirklich eins werden könnte mit der Welt, in der ich lebe. Ich halte es für töricht, meinen Sinnen und meinem Verstand nicht zu trauen. Wenn meine Sinne und mein Verstand mich nicht eines Besseren belehren, so nehme ich an, daß alles ist, wie es sein soll; wenn wir bei allen Dingen das Warum wüßten, dann wären wir die Allmacht. Ich glaube nicht, daß die Keuschheit eine Tugend an sich ist, sondern sie ist es nur insoweit, als sie zur Gesundheit und zum Glücke der Menschheit dient. Ich glaube nicht, daß die Ehe Besitzrechte in sich schließt, und ich hasse alles öffentliche Herumstreiten über diese Dinge; aber meine Natur heißt mich, meinen Mitmenschen jede Kränkung zu ersparen, soweit es sich vernünftigerweise durchführen läßt. Was nun die guten Sitten anbetrifft, so meine ich, daß Skandalgeschichten wiederholen und Klatsch weitertragen ein schlimmeres Unrecht ist als die Handlungen, denen sie ihr Entstehen verdanken. Wenn ich im Geiste einen Menschen verurteile, so fühle ich mich eines moralischen Vergehens schuldig. Ich hasse Anmaßung, und ich würde mich schämen, zu renommieren. Ich hasse jede Art lauten Hervortretens. Wahrscheinlich habe ich einen zu starken Hang zum Verneinen. Oberflächliches Geschwätz langweilt mich zum Davonlaufen; aber ethische und psychologische Fragen könnte ich die halben Nächte lang erörtern. Es würde mir widerstreben, aus der Schwäche eines Menschen Kapital zu schlagen. Ich trachte danach, ein anständiger Mensch zu sein, aber ich kann mich auch nicht allzu ernsthaft nehmen.«

Obgleich er Cecilia gegenüber seine Höflichkeit bewahrt hatte, war er tatsächlich ärgerlich und wurde es von Minute zu Minute mehr. Er war ärgerlich auf sich, auf sie und auf Hughs; und er litt unter diesem Ärger wie nur diejenigen leiden können, die nicht an die groben, häßlichen Verwicklungen des Lebens gewohnt sind.

Einem so zurückhaltenden Manne wie Hilary bot sich selten Anlaß, von seiner Ritterlichkeit Gebrauch zu machen. Seine Lebenshaltung ließ es zu solchen Situationen nicht kommen. Und die Ritterlichkeit, wie er sie bewies, war mehr negativer Natur. Nun er plötzlich von Hughs' Benehmen erfuhr, der offenbar seine Frau mißhandelte und die Schritte eines schutzlosen Mädchens belauerte, stieg ein starkes Mitgefühl in ihm auf.

Als das kleine Modell wie gewöhnlich den Gartenweg heraufkam, schien ihm ihr Gesicht bekümmert. Er beruhigte Miranda's Knurren, die von Anfang an von dem Mädchen nichts hatte wissen wollen, und setzte sich mit einem Buch hin, um abzuwarten, bis sie wieder ging. Nachdem er etwa eine Stunde gesessen und die Seiten umgeblättert hatte, ohne recht zu wissen, was er las, bemerkte er, wie ein Mann über das Gartentor lugte. Er stand nur ein paar Sekunden da, dann schlenderte er über den Straßendamm und verbarg sich hinter einem Zaun.

»Steht's so?« dachte Hilary. »Soll ich hinausgehen und dem Burschen raten, sich davon zu machen, oder soll ich abwarten, was geschieht, wenn die Kleine fortgeht?«

Er entschloß sich für das letztere. Gleich darauf trat sie aus dem Haus und schritt mit der ihr eigenen Haltung davon, die jugendlich und anmutig, aber allzu selbstverständlich und doch wiederum gewissermaßen zu lässig für eine Dame war. Sie blickte noch einmal nach Hilarys Fenster zurück und wandte sich dann der Straße zu.

Hilary nahm Hut und Stock und blieb abwartend stehen. Nach einer halben Minute kam Hughs aus seinem Versteck hinter dem Zaun hervor und folgte dem Mädchen. Nun machte auch Hilary sich auf den Weg.

Nachdem er sich überzeugt hatte, daß Hughs dem Mädchen wirklich nachging, hatte er nichts weiter zu tun, als ihn im Auge zu behalten und sich nicht sehen zu lassen. Unter dem Schutz von Schaufenstern, Omnibussen, Fußgängern und anderer Deckung folgte er den beiden die steile Straße von Campden Hill hinauf; aber bald mußte er halt machen. Denn als er zufällig seinen Blick von Hughs abwandte, gewahrte er, daß das kleine Modell kehrt gemacht hatte und den eben gekommenen Weg wieder zurückging. Da er in schwierigen äußeren Lagen immer Geistesgegenwart genug besaß, sprang Hilary auf einen vorüberfahrenden Omnibus. Von hier aus sah er, wie die Kleine vor dem Schaufenster einer Bilderhandlung stehen blieb. Dem Ausdruck ihres Gesichts und ihrer Haltung nach zu urteilen, hatte sie offenbar keine Ahnung, daß sie verfolgt wurde, sondern sie stand lässig da, in bewunderndes Anstaunen eines bekannten Bildes versunken. Hilary hatte sich oft gefragt, welcher Art von Leuten dieses Bild wohl gefallen mochte – jetzt wußte er es. Offenbar wirkte es stark auf den ästhetischen Sinn des Mädchens.

Während ihm das durch den Kopf ging, gewahrte er, wie Hughs vor einer Kneipe stehen geblieben war. Das dunkle Gesicht des Mannes erschien niedergeschlagen und finster; er sah aus, als ob er leide. In Hilary stieg etwas wie Mitleid auf.

Der Omnibus setzte sich in Bewegung, und durch den plötzlichen Ruck fiel Hilary elegant auf den Schoß einer Dame. Es war der Schoß von Mrs. Tallents Smallpeace, die ihn mit freundlichem Lächeln begrüßte und ihm Platz machte.

»Eben ist Ihre Schwägerin bei mir gewesen, Mr. Dallison, sie ist so lieb – interessiert sich so sehr für alles. Ich wollte sie so gern in meine Versammlung mitnehmen.«

Hilary zog den Hut und runzelte dabei die Stirn. Dies eine Mal ließ ihn seine Höflichkeit im Stich. Er sagte: »Ah, so! Entschuldigen Sie!« und hinaus war er.

Mrs. Tallents Smallpeace sah ihm nach und blickte dann im Omnibus umher. Sein Benehmen war fast das eines Mannes, der zum Rendez-vous mit einer Dame in den Omnibus steigt und findet, daß eben diese Dame neben seiner Tante sitzt. Sie nahm aber niemanden wahr, auf den ihre Vermutung gepaßt hätte, und meinte im stillen, daß er doch ›recht interessant‹ sei. Da fielen plötzlich ihre dunklen, flinken Augen auf die Gestalt des kleinen Modells, das draußen vorüberschlenderte. »Aha!« dachte sie, »also das war's! Wie interessant!«

Hilary, der es vermeiden wollte, dem Mädchen so direkt zu begegnen, hatte sich in eine Seitenstraße gewandt und blieb, nachdem er einen passenden Winkel gefunden, abwartend stehen. Er kannte sich nicht aus. Wenn dieser Mensch das Mädchen mit seinen Aufmerksamkeiten verfolgte, weshalb war er nicht zu ihr hinübergegangen, als sie an dem Bilderladen stehen geblieben war?

Sie schritt über den Damm der Querstraße immer noch in der lässigen Haltung eines Menschen, dem das Schlendern in den Straßen Vergnügen macht. Nun konnte er sie nicht mehr sehen; Hilary blickte suchend umher, ob Hughs ihr folgte. Er wartete ein paar Minuten; der Mann erschien nicht wieder. Der Pürschgang war zu Ende. Und plötzlich fiel ihm ein, daß Hughs ihr nur nachgegangen sein mochte, um zu sehen, ob sie eine Verabredung mit irgend jemanden hätte. Sie hatten also beide dasselbe Spiel gespielt! Er wurde plötzlich rot, während er da in der düsteren, kleinen Straße stand, in der er der einzige Mensch war. Cecilia hatte recht! Es war eine schmutzige Angelegenheit.

Tief in Nachdenken versunken, schritt er die schattige Straße, die zwischen hohen Zäunen von Notting Hill nach Kensington führt, hinan.

Sie lag so fern ab vom Verkehr, daß jeder Baum auf beiden Seiten des Weges vom Frühlingsgesang der Vögel tönte; der Duft von rinnendem Harz stieg leise auf, als die Sonne niederging. Ein sonderbarer Friede, ein sonderbares Sichoffenbaren der alten Mutter Erde war da oberhalb der Stadt; lautes Klingen und der stille Anblick der Wolken. Hier mochte der Mensch seinen quälenden Gedanken Ruhe gönnen, für eine Weile der gütigen Vorsehung, die ihm das Leben gab, und der Schönheit jedes Tages vertrauen, der sich in die Nacht hineinlacht oder düster seines Weges zieht. Ein paar knospende Fliedersträuche hauchten den Duft von Zitronen aus; eine gelbe Katze wärmte sich auf dem Mauersims eines Gartens in der untergehenden Sonne.

In der Straße breitete eine Reihe von Buchen ihre knorrigen, verzweigten Wurzeln aus. Menschliche Wesen saßen darunter, denen wirres Haar um die müden Gesichter hing. Ihre hageren Glieder waren in Lumpen gehüllt; jeder hatte einen Stock und eine Art schmutzigen Bündels daran geknüpft. Sie waren eingeschlafen. Ein Stück weiter auf einer Bank saßen zwei zahnlose alte Weiber, deren Augen nach allen Richtungen hingingen, und eine Frau mit dunkelrotem Gesicht schnarchte daneben. Unter dem nächsten Baum hatte sich ein Stadtjüngling Seite an Seite mit seinem Mädel niedergelassen – bleiche, junge Menschenkinder mit schlaffem Mund, hohlen Wangen und ruhelosem Blick. Sie hielten sich still umschlungen. Ein wenig weiter ab blickten zwei junge Leute im Arbeitsanzug mit verzweifelt müden Gesichtern starr vor sich hin. Auch sie waren still. Auf der letzten Bank stieß Hilary auf das kleine Modell, das da lässig allein saß.


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