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Zwölftes Kapitel

Schiffe unter Segel

Der alte Zeitungsverkäufer hatte recht gehabt, als er Hilary so gut aussehend fand. Hilary fühlte sich wirklich so frisch und jung, daß er, anstatt nach Hause zu gehen, einen Omnibus bestieg und seinen Klub aufsuchte – den ›Tinte- und Feder-Klub‹, der so hieß, weil dem Manne, der ihn ins Leben gerufen hatte, im Augenblick kein anderer Name eingefallen war. Diese literarische Persönlichkeit war bald nach der Begründung, infolge einer plötzlichen Abneigung gegen ihre Schöpfung, aus dem Klub geschieden. Der Klub war wegen seiner schlechten Küche einigermaßen bekannt; auch beklagten sich die Mitglieder zeitweise bitterlich, daß man nie hinkommen könnte, ohne irgend einen Bekannten zu treffen. Er lag in der Dover-Street. Zum Unterschied von anderen Klubs war er hauptsächlich dem Gedankenaustausch gewidmet; auch hatte man besondere Einrichtungen für die Sicherheit der Regenschirme und derjenigen Bücher getroffen, die noch nicht aus der Bibliothek verschwunden waren. Dies hing nicht etwa mit irgendwelchen unredlichen Neigungen der Mitglieder zusammen; aber wenn die Herren nach lebhaftem Gedankenaustausch sich trennten, so mochte jeder einzelne gern irgendetwas greifbar Materielles mit sich nehmen. Auch wurden die rotbraunen Fenstervorhänge nie von den Klubdienern zugezogen, da die Mitglieder in der Hitze der Debatte das selbst besorgten, indem sie an den Schnüren zerrten. Im ganzen genommen waren die Mitglieder einander nicht sonderlich sympathisch gesinnt. Jeder fragte sich, wozu die andern wohl schrieben, und wenn deren geistige Produkte ihm zugeschickt wurden, so las er sie mit einem gewissen Ingrimm. War man wirklich einmal gezwungen, seine Meinung über die Vorzüge des andern zu äußern, so pflegte man zu sagen, der ›So und So‹ sei zweifellos sehr genial, aber gelesen habe man nie etwas von ihm! Denn es war sehr bald fast zum Grundprinzip der Mitgliedschaft geworden, die Werke eines andern nicht zu lesen (wofern er nicht gestorben war), damit man ihm nicht ins Gesicht zu sagen brauchte, daß er talentlos sei. Die Mitglieder hielten nämlich streng auf die Reinheit ihres literarischen Gewissens. Die einzige Ausnahme wurde gemacht bei denen, die vom Kritikenschreiben lebten, indem die Meinungen solcher Leute von allen mit wechselndem Lächeln und einer gewissen inneren Auflehnung gelesen wurden. Dann und wann jedoch geschah es, daß irgend ein Mitglied, jedem Gefühl der Zusammengehörigkeit zum Trotz, sich für das Werk eines andern begeisterte und dieser Begeisterung öffentlich Ausdruck verlieh. Das erweckte stets das Mißfallen der Kollegen, die sich mit einem unbehaglichen Gefühl im Magen fragten, weshalb der Betreffende denn nicht ihre Bücher so lobte!

Fast alljährlich, und zwar meist im März, wagten sich gewisse Forderungen und Ansprüche im Klub hervor; da warfen die Mitglieder wohl einmal die Frage auf, weshalb es eigentlich keine Akademie der britischen Wissenschaften gäbe; weshalb man nicht gemeinsame Schritte täte, um die Bücherproduktion anderer Autoren wirksam einzuschränken, weshalb man nicht einen Preis für das beste Werk des Jahres ausschreibe. Eine kurze Zeit schien es fast, als seien ihre Sonderinteressen in Gefahr; aber eines Morgens waren die Fenster etwas weiter geöffnet worden als gewöhnlich, und da entwichen die Forderungen und Ansprüche wieder, und jedem war heimlich zumute wie einem Menschen, nachdem er den Moskito verschluckt, der ihn die ganze Nacht geplagt hat – erleichtert, aber doch ein bißchen unbehaglich. Im gesellschaftlichen Verkehr rücksichtsvoll miteinander – waren sie doch meist ganz umgängliche Menschen – hielt jeder sich im stillen seinen kleinen Ruhmesapparat, bei dem man ihn allmorgendlich beobachten konnte, wenn seine Zeitungen und Korrespondenzen kamen; da saß er dann und kontrollierte, ob sein Ruhm im Steigen begriffen war.

Hilary blieb bis halb zehn im Klub; dann entzog er sich eilig einer eben einsetzenden Debatte, nahm seinen eignen Regenschirm und begab sich auf den Heimweg.

In Piccadilly herrschte augenblicklich Stille; die Menschenflut, die den Theatern zugeströmt war, hatte noch nicht zurückzuebben begonnen. Die stillen Bäume streckten ihre Zweige weit hin an den Ufern dieses breiten Lebensstromes. Eine Weile ruhten sie aus vom Beobachten der Tragödien, die sich da unter den Menschen, ihren kleinen Gefährten, auf seiner Oberfläche abspielten. Die zarten Seufzer, die von ihren fedrigen Zweigen ausgingen, schienen Äußerungen der mildesten Weisheit. Nicht weit über ihre Stämme hinaus war alles wie dunkler Sammet, in dem sich einzelne zufällige Gestalten verloren, wie wilde Vögel im Weltenraum entschwindend oder wie Menschenseelen, zurückgekehrt an der Mutter Herz.

Hilary schritt vorwärts, ohne die Seufzer der Weisheit zu hören, ohne das milde Dunkel zu bemerken, tief in Gedanken versunken. Die einfache Tatsache, jemandem Freude gemacht zu haben, genügte, um in einem von Natur so gütigen Menschen eine lebhafte Erregung zu erwecken. Aber wie bei allen grüblerischen, wenig selbstsicheren Naturen dauerte diese Erregung nicht lange. Es blieb nur ein Gefühl von Leere und Enttäuschung in ihm übrig, als ob er sich ohne Grund eine gute Zensur erteilt hätte.

Auf seinem Wege war er die Zielscheibe für die Blicke vieler Frauen, die rasch an ihm vorüberglitten wie Schiffe unter Segel. Die eigentümlich zurückhaltende Schüchternheit im Ausdruck seines Gesichts hatte etwas Anziehendes für diese Frauen, die an eine andere Art Gesichter gewöhnt waren. Und obgleich er sie kaum direkt ansah, weckten sie in ihm wiederum jene mitleidvolle, passive Neugier, wie sie Menschen von verlorenem Dasein in beobachtenden, nachdenklichen Gemütern hervorrufen. Eine dieser ›Damen‹ näherte sich ihm lässig aus einer Seitenstraße. Obgleich größer und voller, das Gesicht röter gefärbt, die Haare bauschig unter einem Federhut, war sie doch das Ebenbild des kleinen Modells; dieselben Linien des Gesichts, die breiten Backenknochen, der Mund ein wenig geöffnet; dieselben blütenblauen Augen und kurzen, schwarzen Wimpern, alles nur vergröbert und stärker hervortretend, wie die Kunst des Lebens wahre Linien verdeutlicht und hervortreten läßt. Hilary keck ins Gesicht blickend, lacht sie ihn an. Hilary zuckte zusammen und schritt rascher weiter.

Als er heimkam, war es halb elf. In Stones Zimmer brannte die Lampe, und das Fenster stand, wie gewöhnlich, offen; nicht gewöhnlich war es jedoch, daß Hilary in seinem Schlafzimmer Licht sah. Leise ging er hinauf. Durch die Tür – sie stand halb offen – gewahrte er zu seiner Überraschung die Gestalt seiner Frau. Sie saß in einem Sessel, die Ellbogen auf die Armlehnen gestützt, die Fingerspitzen gegeneinander gepreßt. Auf ihrem Antlitz mit seinen lebhaften Farben, dem scharfen Profil und dem dunklen Haar, spielten Schatten; ihr Kopf war abgewandt, als neigte er sich jemandem an ihrer Seite zu; ihr Hals schimmerte weiß. So – regungslos, fast schattenhaft – glich sie einer Frau, die neben ihrem eigenen Leben sitzt, prüfend, abwägend, seinen Lauf beobachtend, ohne Teil daran zu haben. Hilary wußte nicht, ob er nähertreten oder seinem seltsamen Besuch leise entschlüpfen sollte.

»Ah – bist du da?« fragte sie.

Hilary näherte sich ihr. Mochte sie selbst ihrer Vorzüge auch spotten, so besaß diese seine Frau doch eine wundersame Anmut. Nach neunzehn Jahren, während deren er Zeit gehabt, jede Linie ihres Gesichts und Körpers, jedes Geheimnis ihrer Natur kennen zu lernen, entglitt sie ihm noch immer; und jenes Entgleiten, das ihm anfänglich so anziehend erschienen war, hatte ihn schließlich nervös gemacht und die Flamme gelöscht, die es einst entzündet. Er hatte so oft versucht, ihr innerstes Wesen zu ergründen und hatte es nicht ergründet. Weshalb war sie so geschaffen? Weshalb hatte sie beständig ihren Spott bereit über sich selbst, über ihn und über alles andere? Weshalb war sie so streng gegen ihr eigenes Leben, eine so bittere Feindin ihrem eigenen Glück? Leonardo da Vinci hätte sie gemalt haben mögen, weniger sinnlich und grausam als seine Frauenbildnisse, doch unruhiger und unausgeglichener; physisch und seelisch voller Zauber, aber durch das starre Widerstreben, ihrer Seele oder ihren Sinnen nachzugeben, den eigenen Zauber wieder zerstörend.

»Ich weiß nicht, wozu ich eigentlich hereinkam,« sagte sie.

Hilary wußte nichts zu entgegnen, als: »Entschuldige, daß ich nicht zu Tisch da war.«

»Hat der Wind sich gedreht? In meinem Zimmer ist's kalt.«

»Ja, wir haben Nordost. Bleib hier!«

Er fühlte die Berührung ihrer Hand; ihr warmer, unruhiger Druck hatte etwas Erregendes.

»Es ist gut von dir, daß du mir das sagst; aber wir wollen lieber nicht anfangen, was wir doch nicht aufrecht erhalten können.«

»Bleib' hier,« bat Hilary noch einmal, neben ihrem Stuhl niederknieend.

Und plötzlich begann er, ihr Gesicht und ihren Hals mit Küssen zu bedecken. Er fühlte, wie sie seine Küsse erwiderte; einen Augenblick hielten sie sich in leidenschaftlicher Umarmung umschlungen. Dann, wie in gegenseitigem Einverständnis, lösten sich ihre Arme; ihre Augen bekamen etwas Scheues, wie bei Kindern, die einander zum Naschen angestiftet haben; und auf ihren Lippen erschien der Schatten des leisesten Lächelns. Es war, als ob jene Lippen sagten: »Nein, so ganz Tier sind wir denn doch nicht!«

Hilary stand auf und setzte sich auf sein Bett. Bianca blieb in ihrem Sessel, starr vor sich hinsehend, willenlos, den Kopf weit zurückgeneigt, der weiße Hals schimmernd, auf ihren Lippen und in den Augen ein flackerndes Lächeln. Kein Wort, kein Blick mehr von einem zum anderen.

Dann erhob sie sich, glitt geräuschlos an ihm vorbei und verließ das Zimmer.

Hilary hatte ein Gefühl im Mund, als hätte er Asche gekaut. Und ein Wort – wie es einem wohl manchmal durch den Sinn geht, ohne eigentliche Bedeutung und ohne Zusammenhang – formte sich ihm auf den Lippen: »Das Haus der Eintracht!«

Kurz darauf ging er an ihre Tür und blieb horchend davor stehen. Aber er vernahm keinen Laut. Wenn sie geweint – wenn sie gelacht hätte, es wäre besser gewesen als dieses starre Schweigen. Und die Hände an die Ohren gepreßt, lief er die Treppe hinab.


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