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Zehntes Kapitel

Die Ausstattung

Es war das erste Mal, daß die beiden sich im Freien trafen, und offenbar fühlte sich keines von ihnen behaglich bei der Begegnung. Das Mädchen errötete und sprang hastig von seinem Sitz auf. Hilary, der den Hut gezogen und die Stirn gerunzelt hatte, setzte sich. »Stehen Sie nicht auf,« sagte er, »ich möchte mit Ihnen reden.«

Das kleine Modell nahm gehorsam seinen Platz wieder ein. Eine Pause folgte. Sie trug den alten braunen Rock, das gestrickte Jäckchen, die alte blaugrüne Wollmütze; unter ihren Augen waren Schatten von Müdigkeit sichtbar.

Endlich begann Hilary:

»Wie geht es Ihnen?«

Die Kleine blickte auf ihre Füße nieder.

»Leidlich, danke sehr, Mr. Dallison.«

»Ich bin gestern bei Ihnen gewesen.«

Sie warf ihm einen Blick zu, der in seiner Ausdruckslosigkeit viel oder wenig bedeuten konnte.

»Ich war aus,« sagte sie, »zur Sitzung bei Miß Boyle.«

»Sie haben also wieder zu tun?«

»Jetzt ist's zu Ende.«

»Da verdienen Sie also weiter nichts als die zwei Shillings täglich bei Mr. Stone?«

Sie nickte.

»Hm.«

Das unerwartete, lebhafte Brummen schien die Kleine zu ermutigen.

»Ich hab' dreiundeinhalb Shilling für meine Miete, Frühstück kostet mich beinahe drei Pence – und dabei bloß Brot und Butter – das sind fünfundeinhalb Pence; Wäsche macht mindestens zehn Pence – das sind sechs und für Kleinigkeiten letzte Woche war ein Shilling – sogar wenn ich nicht Omnibus fahre – macht sieben; bleiben fünf Shillings für mein Mittagessen. Bei Mr. Stone bekomme ich immer Tee, aber ich hab' nichts anzuziehen.« Sie zog die Füße weiter unter den Sitz, und Hilary verzichtete darauf, hinunterzublicken. »Meine Mütze ist schrecklich, und ich brauche« – zum ersten Mal sah sie ihm jetzt ins Gesicht. »Ach, wär' ich doch reich!«

»Das glaube ich.«

Die Kleine knirschte mit den Zähnen, und ihre schmutzigen Handschuhe zusammenballend, fragte sie: »Mr. Dallison, wissen Sie, was ich mir zu allererst kaufen würde, wenn ich reich wäre?«

»Nun?«

»Ich würd' mir von Kopf bis Fuß lauter neue Sachen kaufen, und von dem alten Zeug hier würd' ich nie mehr ein Stück anziehen!«

Hilary erhob sich: »Kommen Sie mit; Sie sollen sich von Kopf bis Fuß neue Sachen kaufen!«

»Oh!«

Hilary hatte sofort eingesehen, daß er da eben ein unkluges, ja gefährliches Anerbieten gemacht hatte. Da es ihm jedoch widerstrebte, ihr Geld zu geben – der Gedanke beleidigte sein Zartgefühl –, so war kein anderer Ausweg. Es klang ziemlich barsch, als er sagte: »Kommen Sie!«

Die Kleine erhob sich gehorsam. Hilary bemerkte, daß ihre Stiefel zerrissen waren. Dieser Anblick erweckte in ihm einen Unmut, als hätte er zusehen müssen, wie ein Kind geschlagen wird, und da schwanden auch schon all seine Gewissensbisse. Ja, im Gegenteil, es war jetzt eine Art lebhafter Genugtuung in ihm, wie sie der gebildetste Mensch empfindet, wenn er die konventionellen Sitten ärgern kann.

Er blickte auf seine Begleiterin herab – ihre Augen waren zu Boden gesenkt; was sie sich wohl denken mochte?

»Ich wollte nämlich mit Ihnen über etwas sprechen,« begann er. »Mir gefällt das Haus nicht, in dem Sie sind. Ich meine, Sie sollten wo anders wohnen. Wie denken Sie darüber?«

»Ja, gewiß, Mr. Dallison.«

»Sie sollten umziehen; ein anderes Zimmer wird doch zu finden sein, nicht?«

Die Kleine erwiderte wie vorher: »Ja gewiß, Mr. Dallison.«

»Ich fürchte, dieser Hughs ist – ein gefährlicher Bursche.«

»Ein komischer Kerl ist er.«

»Belästigt er Sie?«

Ihr Gesichtsausdruck verblüffte Hilary; es lag etwas wie leise Belustigung darin. Verständnisvoll sah sie zu ihm auf.

»Ich achte gar nicht auf ihn – er wird mir schon nichts tun. Mr. Dallison, was meinen Sie, soll ich blau oder grün nehmen?«

Hilary antwortete kurz: »Blaugrün.«

Sie klatschte in die Hände, wechselte mit einem Aufhüpfen den Schritt und ging dann wie vorher neben ihm weiter.

»Hören Sie mich an,« meinte Hilary; »hat Mrs. Hughs schon einmal mit Ihnen über ihren Mann gesprochen?«

Die Kleine lächelte wieder.

»Na, immerzu.«

Hilary biß sich auf die Lippen.

»Mr. Dallison, ach bitte – wegen meines Huts ...«

»Was ist's mit Ihrem Hut?«

»Soll ich einen großen oder einen kleinen nehmen?«

»Um alles in der Welt,« entgegnete Hilary, »einen kleinen – und ja keine Federn!«

»Oh!«

»Können Sie mir nicht eine Minute folgen? Hat Hughs oder seine Frau etwas darüber gesagt, daß Sie in mein Haus kommen – oder – über mich?«

Das Gesicht des kleinen Modells blieb regungslos; aber an der Bewegung ihrer Finger sah Hilary, daß sie aufmerkte.

»Is mir ganz egal, was sie sagen.«

Hilary blickte fort; ein unwilliges Erröten stieg langsam in sein Gesicht.

Die Kleine sagte hastig: »Natürlich, wenn ich 'ne Dame wär', würd' mir's nich egal sein!«

»Reden Sie nicht so!« entgegnete Hilary; »jedes weibliche Wesen ist eine Dame.«

Die stumpfe Verständnislosigkeit ihres Ausdrucks zeigte ihm, wie nichtssagend seine Worte waren.

»Wenn ich 'ne Dame wär,« wiederholte sie naiv, »dann tät ich doch nich dort wohnen, nich wahr?«

»Nein,« entgegnete Hilary, »und es wäre gut, wenn Sie dort nicht länger blieben.«

Da die Kleine keine Antwort gab, wußte Hilary nicht recht, was er noch sagen sollte. Es wurde ihm allmählich klar, daß sie die Situation von einem ganz andern Standpunkte aus betrachtete, und daß er von diesem Standpunkt nichts begriff.

Er fühlte sich ganz ratlos; sah er doch ein, daß das Leben dieses Mädchens tausenderlei Dinge barg, von denen er nichts wußte, tausenderlei Ansichten, die er nicht teilte.

Ihre beiden Gestalten erregten in der belebten Straße einige Aufmerksamkeit; denn Hilary, groß und schlank, mit dem schmalen, bärtigen Gesicht und dem weichen Filzhut war, was man einen ›vornehm aussehenden Mann‹ nennt; und die Kleine, obwohl sie in ihrem alten, braunen Rock und der Wollmütze durchaus nicht ›vornehm‹ aussah, hatte doch etwas, was sowohl Männer wie Frauen veranlaßte, sich nach ihr umzusehen. Für die Männer war sie ein Geschöpf von eigentümlichem, nicht alltäglichem Reiz; und für die Frauen war sie eben das, was die Männer sich nach ihr umzusehen veranlaßte. Dann und wann aber stieg wohl in einem Vorübergehenden auch eine unpersönlichere Empfindung auf, als hätte der Gott des Mitleids droben die Flügel geschüttelt und ein kleines Federlein herabfallen lassen.

Während sie so dahingingen und eine gewisse Aufmerksamkeit erweckten, kamen sie zum ersten der zahlreichen Eingänge des Kaufhauses von Rose und Thorn.

Hilary hatte gerade diesen gewählt, weil ihm mit der fortschreitenden Entwicklung des Abenteuers auch dessen Gefahren lebhafter zum Bewußtsein kamen. Daß er die Kleine in denselben Laden führte, den seine Frau und seine Bekannten häufig aufsuchten, mochte unbedacht scheinen; aber dieselbe Ursache, die sie veranlaßte, dort zu kaufen – nämlich die Tatsache, daß kein ähnliches Geschäft nur halbwegs in der Nähe war, bildete den Grund, weshalb auch Hilary jetzt seinen Schritt hierher lenkte. Er hatte aus einer plötzlichen Eingebung heraus gehandelt; und er wußte, wenn er dieser Eingebung nicht sofort folgte, würde er ihr überhaupt nicht folgen. Der kühne Weg war der klügste; deshalb hatte er diesen Eingang gewählt. Während er zur Seite trat, um sie vorangehen zu lassen, bemerkte er die leuchtenden Augen und Wangen der Kleinen; noch nie hatte sie so hübsch ausgesehen. Hastig blickte er um sich; in dieser Abteilung hatten sie nichts zu suchen; denn sie enthielt nur Pyjamas. Er fühlte eine leise Berührung seines Armes. Das kleine Modell blickte, ein bißchen rot geworden, zu ihm auf.

»Mr. Dallison, darf ich mehr als eine Garnitur Wäsche nehmen?«

»Drei – drei,« sagte Hilary leise; und plötzlich bemerkte er, daß sie schon an der Schwelle dieses Heiligtums standen.

»Suchen Sie sich alles aus,« fuhr er fort, »und bringen Sie mir den Kaufzettel.«

Er blieb wartend stehen, dicht neben einem Herrn mit rosigem Gesicht, Schnurrbart und einer geradezu vollendeten Gestalt, der merkwürdig unbeweglich und von Kopf bis Fuß blauweiß gestreift war. Er schien der Inbegriff der Mannesvollkommenheit; in dem Gesicht mit seinem leblosen Lächeln lag etwas wie: »Lange, lange hat die Welt sich gemüht, aber schließlich hat die Zivilisation mich hervorgebracht. Mehr kann sie nicht erreichen. Einer weiteren Entwicklung bin ich nicht mehr fähig. In mir ist der Gipfelpunkt erreicht. Betrachten Sie meinen Rücken: Der Amateur. Höchster Schick. 8 sh. 11. Ausnahmepreis.«

Da er Hilary nicht ansprach, blieb diesem nichts andres übrig, als die Verkäufer zu beobachten. Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Geschäftsschluß; die Ladenjünglinge gingen lässig umher oder zankten sich in Abwesenheit der Kunden wohl auch ein bißchen untereinander – wie Fliegen auf der Fensterscheibe, die nicht in die Sonne hinaus können. Zwei kamen auf ihn zu, um ihn zu fragen, womit sie ihm dienen könnten; sie machten einen so gebildeten und angenehmen Eindruck, daß Hilary schon im Begriff war, ihnen irgend etwas abzukaufen, was er absolut nicht brauchen konnte. Da kam die Kleine gerade zur rechten Zeit.

»Dreißig Shilling macht's; fünf Shilling elf war das billigste, und dazu noch Strümpfe und ein – –«

Hilary holte hastig das Geld hervor.

»Ein schrecklich teurer Laden,« meinte die Kleine.

Nachdem sie die Rechnung bezahlt und Hilary ihr ein großes, braunes Paket abgenommen hatte, gingen sie weiter. Er hatte seine Empfindungen jetzt hinter der Maske belustigter Verwunderung versteckt, als ob er persönlich gänzlich unbeteiligt das Abenteuer aus der Ferne beobachte.

Auf dem mittelsten Sammetsitz in der Schuhwarenabteilung hielt eine Dame mit einem Silberreiher auf dem Hut ihren schlanken Fuß im seidenen Strumpf ausgestreckt zur Stiefelanprobe hin. Sie betrachtete mit einer etwas hochmütigen Ironie die Kleine und ihren sonderbaren Begleiter. Und dieser Blick schien einen gewissen Einfluß auf die Verkäuferinnen zu üben, denn keine dachte daran, die Kleine nach ihrem Begehr zu fragen. Hilary sah, wie sie auf ihre Schuhe guckten, und er vergaß seine Zuschauerrolle in einem plötzlich aufwallenden Ärger. Seine Uhr herausziehend, ging er auf die Älteste der Verkäuferinnen zu.

»Wenn die junge Dame hier nicht innerhalb einer Minute bedient wird,« sagte er, »werde ich mich persönlich bei Mr. Thorn beschweren!«

Der Minutenzeiger hatte noch keine Umdrehung vollendet, als sich auch schon eine Verkäuferin bei der Kleinen befand. Hilary sah, wie sie den Schuh herunterstreifte, und einem plötzlichen Impuls folgend, stellte er sich zwischen sie und die mokante Dame. Dabei vergaß er sein Zartgefühl so weit, daß er den Blick auf den Fuß des kleinen Modells richtete. Und das Gefühl physischen Unbehagens, das ihn zuerst erfaßt hatte, wurde fast zum Schmerzempfinden. Jener braune, schmutzige Strumpf schien so gestopft, daß kein Gewebe mehr zu sehen war, sondern nur Gestopftes und zwei kleine weiße Fleckchen vom Fuß selbst, der da herauskam, wo die Fäden nicht mehr zusammenhalten wollten. Die Kleine schlenkerte unbehaglich mit dem Fuß; offenbar hatte sie gehofft, er würde nicht zu sehen sein – dann versteckte sie ihn unter ihrem Rock. Hilary drehte sich hastig um; als er den Blick wieder hinwandte, war er nicht auf die Kleine, sondern auf die Dame gerichtet.

Der Ausdruck ihres Gesichts hatte sich geändert; er war nicht mehr hochmütig oder ironisch, sondern tief gekränkt. »Unerhört,« schien er zu sagen, »solch ein Mädchen in solch ein Geschäft zu bringen! Nie wieder gehe ich hierher!« Ihre Miene war der sichtbare Ausdruck jenes inneren physischen Unbehagens, das Hilary selbst empfunden, als er zuerst den Strumpf des kleinen Modells gesehen hatte. Das diente aber natürlich nicht dazu, seinen Ärger zu dämpfen, besonders da er sah, wie die Feindseligkeit der Dame sich mechanisch auf den Gesichtern der Verkäuferinnen wiederspiegelte.

Er ging zu der Kleinen hin und nahm an ihrer Seite Platz.

»Paßt er? – Sie sollten auf- und abgehen, um ihn zu probieren!«

Die Kleine ging ein paarmal hin und her.

»Er drückt,« erklärte sie.

»Dann versuchen Sie ein andres Paar,« sagte Hilary.

Die fremde Dame erhob sich jetzt, blieb einen Augenblick mit hochgezogenen Brauen und leichtgeblähten Nasenflügeln stehen, dann ging sie fort und ließ einen eigentümlich angenehmen Duft von Veilchen zurück.

Da das zweite Paar Stiefel sie nicht mehr drückte, war die Kleine bald zum Gehen bereit. Sie hatte die ganze Ausstattung – bis auf das Kleid – jetzt beisammen und auch bezahlt; das letztere wollte sie, wie sie Hilary erklärte, morgen anprobieren, wenn sie – offenbar hatte sie sagen wollen, wenn sie das neue Unterzeug anhätte. Sie war jetzt mit einem großen und zwei kleinen Paketen beladen, und in ihren Augen war ein fast feierlicher Ausdruck.

Als sie draußen waren, blickte sie zu ihm auf.

»Na, sind Sie nun zufrieden?« fragte Hilary.

Unter den schwarzen, kurzen Wimpern blickten zwei leuchtende, feuchtschimmernde Augen zu ihm auf; ihre leicht geöffneten Lippen begannen zu beben.

»Guten Abend denn,« sagte Hilary unvermittelt und ging davon.

Als er sich aber noch einmal umwandte, sah er, wie sie, hinter ihren Paketen halb versteckt, still dastand und ihm nachstarrte. Er lüftete den Hut, dann bog er in die High Street ein, um nach Hause zu gehen...

Der alte Mann, den jene ordinäre Sorte von Burschen, mit denen er jetzt gezwungenermaßen zu tun hatte, ›Westminster‹ nannte, hatte eben ein paar Züge aus seiner alten Tonpfeife getan in dem Bemühen, seine kranken Füße zu vergessen, als er Hilary kommen sah, und rasch hielt er ihm eine Nummer der letzten Ausgabe entgegen.

»'n Abend! Schöner Tag heut für diese Jahreszeit! Ja woll! Westminster!!«

Seine Augen folgten Hilary, der eben weiter ging. Und er dachte:

»Oh jeh! 'ne halbe Krone hat er mir gegeben, Und wohl sieht er aus! Das laß ich mir gefallen! Ordentlich jung! Oh je!«

Die Sonne – dieser dunstige, lodernde Ball, der in seinem Lauf schon so viele letzte Ausgaben der ›Westminster Gazette‹ gesehen hatte, ging langsam hernieder, um in ›Shepherds Bush‹ zu übernachten. Sie machte des ehemaligen Dieners Augen blinzeln, als er sich wandte, um zu sehen, ob die Münze eine echte halbe Krone, oder ob es nur ein holder Trug sei.

Und all die Türme und Dächer und die Räume darüber und darunter glitzerten und glühten, und die kleinen Menschlein und Pferdlein sahen aus wie mit Sonnengoldstaub überschüttet.


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