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X

Keith ging nicht nach Hause, sondern in seinen Klub; in dem Empfangszimmer für Gäste, das zu dieser Stunde leer war, nahm er Platz und las den Verhandlungsbericht. Die Narren hatten einen Fall daraus gedrechselt, der schwarz genug aussah. Lange Zeit ging er auf dem dicken, weichen Teppich mit unhörbaren Schritten auf und nieder und überlegte. Er konnte vielleicht den Verteidiger aufsuchen, das war unbedenklich, als Sachverständiger, der die Überzeugung gewonnen hatte, hier liege ein Justizirrtum vor. Man mußte das Urteil anfechten – und schlimmsten Falls ein Gnadengesuch einreichen. Man konnte, mußte die Sache in Ordnung bringen, wenn nur Larry und das Mädchen keinen verzweifelten Schritt taten.

Er hatte keinen Appetit, aß aber schließlich doch – Essen ist eine allzu mächtige Gewohnheit. Und während der Mahlzeit warf er ab und zu gereizte Blicke auf seine Klubgenossen. Sie sahen so zufrieden drein. Wie ungerecht! Wie ungerecht, daß diese schwarze Wolke über einem Mann hängen sollte, der keinem von ihnen an Ehrenhaftigkeit nachstand! Freunde, Fachleute, darunter ein Richter, kamen eigens zu seinem Tisch, um ihm zur Führung dieses Erbschaftsprozesses zu gratulieren. Heute abend hätte er mit Recht stolz sein können, aber er war es keineswegs. Doch allmählich wirkte dieser vom Kaminfeuer matt erhellte und gut durchwärmte Raum und diese Menschen, die korrekt aßen und sich korrekt unterhielten, ein wenig tröstend auf ihn. Ganz gewiß, dies hier war Wirklichkeit, das draußen war nur ein düstrer Schatten, war wie das trostlose Heulen des Windes, vor dem man Tür und Fenster schloß – wie vor Armut und Schmutz, die für Menschen mit Erfolg und einer sichern Position gar nicht vorhanden waren. Er trank Champagner. Der ließ die Wirklichkeit noch wirklicher erscheinen, die Schatten noch mehr verblassen. Dann nahm er drunten im Rauchzimmer vor dem Kamin Platz, in einem jener Sessel, in denen man nach dem Speisen so schön träumen kann. Er hatte eine Rast verdient. Bald wurde er schläfrig und stand um elf Uhr auf, um heimzugehn. Aber kaum war er die niedern Marmorstufen hinabgeschritten und durch die Drehtür, die keine Zugluft hereinließ, ins Freie getreten, da ergriff ihn die Angst aufs neue, als habe er sie mit dem Hauch des Januarwindes eingesogen. Larrys Gesicht – und das Mädchen, dessen Blick wie gebannt an seinem Antlitz hing! Warum hatte sie ihn so unverwandt angesehn? Larrys Lächeln und die Blumen in seiner Hand! Blumen zu kaufen in einem solchen Augenblick! Das Mädchen war ihm hörig – was immer er ihr befahl, das tat sie. Sie brachte es wohl nie zuwege, ihn von etwas abzuhalten. In diesem Moment eilte er vielleicht fort, um sich dem Gericht zu stellen!

Plötzlich kam seine Hand, die er tief in die Tasche des Pelzes vergraben, mit etwas Kaltem in Berührung. Ach ja, die Schlüssel, die ihm Larry gleich zu Anfang gegeben hatte! Seit damals trug er sie aus Vergeßlichkeit mit sich herum. Die zufällige Berührung brachte ihn zu einem Entschluß. In großer Eile ging er in die Gegend der Borrow Street. Sollte er nicht Nachschau halten? Er würde besser schlafen in dem Bewußtsein, alles getan zu haben, was in seiner Macht stand. An der Ecke dieser trostlosen Gasse mußte er warten, bis sie menschenleer war, dann erst schritt er auf das Haus zu, vor dem er jetzt Ekel und Abscheu empfand. Er öffnete die Haustür und schloß sie hinter sich. Jenen Fehler von damals würde er nicht zum zweitenmal begehn. Dasselbe matte Gaslicht im Gang, derselbe Geruch nach Linoleum! Er klopfte, doch niemand erschien. Vielleicht waren sie zu Bett gegangen. Er klopfte wieder und wieder, dann öffnete er die Tür, trat ein und schloß sie sorgsam. Kerzen brannten, Feuer loderte im Kamin; auf dem Boden davor lagen Kissen, bestreut mit Blumen! Auch der Tisch war mit Blumen bedeckt, und dazwischen standen die Reste eines Mahles. Durch den nur halb zugezogenen Vorhang sah er, daß auch im Schlafraum Licht brannte. Waren sie ausgegangen und hatten hier alles so zurückgelassen? Ausgegangen! Wo- – wozu? Das Herz schlug ihm zum Zerspringen. Flaschen! Larry hatte wieder getrunken!

War das Unheil wirklich geschehn? Mußte er wirklich schmachbeladen heimgehn, als der Bruder eines geständigen, gebrandmarkten Mörders? Rasch schritt er auf den halbgeschlossenen Vorhang zu und warf einen Blick hinein. In der Ecke an der Wand sah er ein Bett, darin schliefen die beiden. Ganz erstaunt und erleichtert fuhr er zurück. Sie schliefen! Schliefen bei offenem Vorhang und brennendem Licht? Schliefen trotz all seines Klopfens? Sie mußten betrunken sein, beide. Das Blut stieg ihm zu Kopf, zitternd stand er da. Sie schliefen?! Plötzlich stürzte er hinein, schrie: »Larry!« und klopfte geräuschvoll an einen Schrank. Nach Atem ringend trat er ans Bett heran und rief noch einmal: »Larry!« Keine Antwort! Keine Bewegung! Da faßte er den Bruder an der Schulter und schüttelte ihn heftig. Die Schulter fühlte sich kalt an. Die beiden lagen umschlungen, Brust an Brust, Lippe an Lippe, die Gesichter ganz weiß im Schein des elektrischen Lichts, das über dem Toilettetisch zu Füßen des Bettes brannte. Keith schüttelte solch ein Schauer, daß er sich an die Messingstange zu ihren Häupten klammern mußte. Dann beugte er sich nieder, benetzte den Finger und hielt ihn dicht an ihre geschlossenen Lippen. Ohnmächtig? Nein, so tief konnte keine Ohnmacht sein, so schwer kein Rausch. An dem feuchten Finger fühlte er nicht den leisesten Hauch, der Puls war nicht zu spüren. Kein Atem! Kein Leben! Des Mädchens Augen waren geschlossen. Wie seltsam unschuldig sie aussah! Larrys offene Augen schienen in ihre geschlossenen zu starren, aber Keith gewahrte, daß sie gebrochen waren. Leise schluchzend zog er ihm die Lider herab. Ein unerklärlicher Impuls trieb ihn, die eine Hand auf des Bruders Haupt zu legen, die andre auf das blonde Haar des Mädchens. Die Decke war von ihrer nackten Schulter ein wenig herabgeglitten; Keith zog sie hinauf, wie um die Tote warm zu halten, und sah dabei einen metallnen Gegenstand schimmern –: ein winziges, vergoldetes Kruzifix, nicht größer als ein Daumennagel, das an einem Stahlkettchen hing, war von ihrer Brust unter den Arm geglitten, mit dem sie Larrys Hals umschlang. Keith schob es unter ihr Nachtgewand. Da bemerkte er einen Brief, der mit einer Nadel an die Bettdecke geheftet war. Er beugte sich nieder und las auf dem Umschlag die Worte: ›Ich bitte, dies sofort der Polizei zu übergeben. Laurence Darrant.‹ Keith riß den Brief an sich und steckte ihn in die Tasche. In diesem Augenblick setzten seine ganze Vernunft, Entschlußkraft, Willen und Überlegung aus. Wie ein Blitz schoß ihm einzig der Gedanke durch den Kopf: ›Ich darf davon nichts wissen. Fort! Nur fort von hier!‹ Fast ohne zu wissen, wie er hinausgekommen war, stand er wieder draußen in der Gasse.

Was er damals auf dem Heimweg gedacht, war später aus seinem Gedächtnis völlig ausgelöscht. Erst beim Eintritt in sein Arbeitszimmer kam er wieder zu sich. Dort goß er mit zitternder Hand ein Glas Whisky ein und leerte es auf einen Zug. Wäre er nicht zufällig hingegangen, so hätte die Scheuerfrau des Morgens die beiden gefunden und den Brief der Polizei übergeben! Er zog ihn aus der Tasche. Er hatte ein Recht, ein Recht darauf, zu wissen, was der Brief enthielt! Er erbrach ihn.

 

›Ich, Laurence Darrant, im Begriff durch eigene Hand zu sterben, lege hiemit ein feierliches und aufrichtiges Geständnis ab. Ich habe die Tat begangen, die als ›Mord in der Glove Lane‹ bekannt ist, und zwar am Abend des 27. November folgendermaßen:‹ – und so weiter bis zu den letzten Worten –: ›Wir sterben nicht gerne; aber wir können es nicht ertragen, getrennt zu werden, und ich kann nicht mitansehn, daß ein Unschuldiger an meiner Statt gehenkt wird. Es gibt keinen andern Ausweg. Ich bitte darum, unsere Leichen nicht zur öffentlichen Totenbeschau zu bringen. Der Rest des Gifts, das wir genommen, ist auf dem Toilettetisch zu finden. Wir bitten, uns gemeinsam zu begraben.

Laurence Darrant.

Am 28. Januar, gegen zehn Uhr abends.‹

 

Volle fünf Minuten stand Keith, die Blätter in der Hand, da, während die Uhr tickte, der Wind in den Bäumen draußen leise stöhnte und die Flammen an den Scheiten emporzüngelten, knisternd und knatternd, mit demselben geheimnisvollen Eigenleben wie in Larrys Kamin. Dann raffte er sich zusammen und setzte sich nieder, um das Ganze noch einmal zu lesen.

Da stand alles genau so, wie Larry es ihm erzählt hatte – nichts weggelassen, vollkommen klar; sogar die Adressen der Leute fehlten nicht, die bezeugen konnten, daß das Mädchen einst Walenns Gattin oder Lebensgefährtin gewesen. Es wirkte überzeugend. Jawohl, überzeugend.

Die Blätter fielen ihm aus der Hand. Ganz langsam begriff er die entsetzliche Tatsache, daß da auf dem Boden neben dem Sessel die Entscheidung über eines Menschen Leben oder Tod liege; daß er zugleich mit diesem Brief auch das Schicksal des zum Tode verurteilten Vagabunden in die Hand genommen habe, daß er, wenn er ihm das Leben rettete, sich selbst in Schande, ja in Gefahr verstrickte. Überließ er dieses Geständnis den Behörden, so konnte er dem schweren Verdacht nicht entgehn, daß er schon während dieser zwei Monate um die ganze Sache gewußt habe. Er würde der gerichtlichen Untersuchung beiwohnen müssen und würde von dem Polizisten als der Mann erkannt werden, der zum Torbogen gegangen war, um nachzusehen, wo der Leichnam gelegen; als der Mann, der das Mädchen noch am Abend des Mordes besucht hatte. Niemand würde dem Bruder des Mörders glauben, daß er nur zufällig dorthin gekommen. Doch abgesehn von diesem Verdacht, der furchtbare Skandal, den eine solche Sensation erregen mußte, würde seine Laufbahn, sein Leben, das Leben seiner kleinen Tochter zerstören! Der Doppelselbstmord dieser beiden würde genug Aufsehn machen; doch was war das im Vergleich mit der Mordaffäre! Ein solcher Tod war romantisch und für ihn selbst ganz und gar nicht belastend, er war dabei nur Leidtragender, konnte vielleicht sogar die nähern Umstände vertuschen! Das andere jedoch – wer konnte das verheimlichen, wer verhindern, daß die Spatzen es von den Dächern pfiffen? In heftiger Erregung erhob er sich von seinem Sessel und schritt lange im Zimmer auf und ab, unfähig, sein Denken auf die Hauptsache zu konzentrieren. Eine lange Reihe von Bildern stieg vor ihm auf. Das Gesicht des Menschen, der ihm jeden Morgen Perücke und Talar reichte, aufgedunsen und neugierig, boshaft grinsend, wie er es früher nie gesehn; das Antlitz seines Töchterchens mit hochgezogenen Brauen, weinerlichem Mund und traurigen Augen; das winzige goldene Kruzifix, das unter des Mädchens Arm geschimmert; Larrys offene, erloschene Augen; sein eigner Daumen und Zeigefinger, die diese Augen schlossen. Er sah eine Straße mit zahllosen Passanten, die sich alle nach ihm umwandten und ihn anglotzten. Da hielt er in seinem Wandern inne und sagte laut: »Zum Teufel mit allen! Ja, zum Teufel!« Hatte er es nicht in der Hand, über dieses Bekenntnis zu verfügen? Zu verfügen! Alles in allem hatte er nichts getan, dessen er sich schämen mußte, wenn er auch sein Mitwissen verschwiegen hatte. Ein Bruder! Wer konnte ihn tadeln? Und er hob die Blätter auf. Dann aber griff mit schmutziger Riesenhand der Skandal nach ihm; eine rohe, boshafte Stimme schien zu rufen: ›Neueste Nachrichten! … Neueste Nachrichten! … Der Mord in der Glove Lane! … Selbstmord und Geständnis des Bruders des bekannten Königlichen Gerichtsrats … des bekannten Königlichen Gerichtsrats … Mord- und Selbstmord … Zeitung! Zeitung!‹ Sollte er diese Flut der Gemeinheit über sich ergehen lassen? Sollte er, der nichts verbrochen, das Leben seines Töchterchens in den Schmutz zerren, seinen toten Bruder, seine tote Mutter, sich selbst? Seine wertvolle, wichtige Zukunft zerstören? Und all das für diesen Strolch, diese Kanalratte! Baumeln sollte der Kerl, wenn es sein mußte! Aber das war ja noch nicht ganz entschieden. Berufung! Gnadengesuch! Er konnte – würde gerettet werden! Bisher war alles gut gegangen, und nun sollte Keith sich selbst den Strick drehn?

Mit einem plötzlichen Ruck schleuderte er den Brief ins Feuer. Ein Lächeln huschte über sein dunkles, durchfurchtes Gesicht, als die Blätter, von den Flammen ergriffen, sich jetzt krümmten und schwärzten. Mit der Schuhspitze trat er die verkohlten Reste nieder. Niedergetreten! Niedergetreten das Leben dieses Menschen! Verbrannt! Kein Zweifel mehr, keine nagende Angst mehr! Verbrannt? Ein Mensch – ein Unschuldiger – – Eine Kanalratte! Gift! Er trat vom Feuer zurück und griff sich an die Stirn. Sie war glühend heiß, alles schien sich im Kreis zu drehn.

Nun war's getan! Nur willensschwache Narren ohne Ziel kannten Reue. Und plötzlich lachte er auf. So war Larry also vergebens gestorben! Vergebens! Er hatte keinen Willen und kein Ziel gehabt, und nun war er tot! Er und das Mädchen könnten jetzt leben, fern von hier, am andern Ende der Welt, könnten in einer warmen Nacht einander lieben, statt im kalten Dunkel tot zu liegen! Nur Narren und Schwächlinge bereuten, kannten Reue und Gewissensbisse. Ein Mann aber trat fest auf, schritt ohne jede Rücksicht auf sein Ziel los.

Er ging zum Fenster, zog den Vorhang zur Seite. Ha – was war das? Ein Galgen ragte in die Luft, ein Leichnam hing daran? Ah! Nur die Bäume – die dunklen Bäume – die nackten Äste, die Gerippe der Bäume! Er schrak aber doch zurück, ging wieder zu seinem Lehnstuhl und setzte sich ans Feuer. So hatte es auch an jenem Nachmittag geleuchtet, vor zwei Monaten, als Larry hereinkam; der Feuerschein, die niedergeschraubte Lampe – ja auch der Sessel stand genau so am Kamin. Unsinn! Larry war ja gar nicht gekommen! Das alles war ein böser Traum. Er hatte geschlafen. Wie sein Kopf nur glühte! Er sprang empor und sah nach dem Kalender auf seinem Schreibtisch. 28. Januar! Kein Traum! Kein Traum! Sein Gesicht wurde hart und finster. Aber hinweg darüber! Anders als Larry! Hinweg darüber!

 


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