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VIII

Am Nachmittag des 28. Januars, an dem Keith in einem Erbschaftsprozeß nach verzweifeltem Kampf den Sieg davongetragen, las er auf dem Heimweg vom Gericht ein Zeitungsplakat mit den Worten: ›Der Mord in der Glove Lane: Verhandlung und Urteil.‹ In heftigem Schreck dachte er: ›Herrgott! Ich hab' heute gar nicht die Zeitung gesehn!‹ Noch eine Sekunde zuvor war er in gehobener Stimmung gewesen über den mit so schwerer Mühe gewonnenen Prozeß, der zwei Tage hindurch sein ganzes Denken in Anspruch genommen; nun schien ihm alles widerlich und banal. Wie zum Teufel hatte er auch nur einen Augenblick diese schreckliche Sache vergessen können? Regungslos blieb er inmitten der zahllosen Passanten stehn, gänzlich unfähig, eine Zeitung zu kaufen. Als er schließlich einen Schritt nach vorn tat und einen Penny hinhielt, schien sein Gesicht wie aus Erz gegossen. Da stand es, da unter den letzten Nachrichten: ›Der Mord in der Glove Lane. Schuldspruch der Geschwornen. Der Angeklagte zum Tod verurteilt.‹

Seine erste Empfindung war Ärger, nichts weiter. Wie konnten die Geschwornen nur einen solchen Blödsinn begehn? Ungeheuerlich! Die Beweise – –! Plötzlich traf ihn wie ein Schlag die Erkenntnis, es sei ja ganz gleichgültig, wie dies Urteil zustande gekommen, er brauche die Begründung nicht einmal zu lesen. Es war nun einmal gefällt und was immer er auch tun oder sagen mochte, konnte nichts mehr daran ändern; seine Empörung über diesen idiotischen Schuldspruch würde ihn nicht umstoßen. Die Lage war in der Tat verzweifelt! Nie war ihm ein Weg so lang geworden wie diese fünf Minuten vom Gerichtsgebäude bis zu seiner Wohnung.

Menschen von rascher Entschlußkraft wissen im voraus nie genau, was sie unter bestimmten Umständen tun werden. Denn einem entschlossenen Menschen malt die Phantasie Zufälligkeiten, die seinen Plan gefährden könnten, nie genug bildhaft aus. Keith hatte sich niemals ernstlich die Frage vorgelegt, was er tun solle, wenn die Geschwornen jenen Menschen schuldig sprächen. In den verflossenen Wochen hatte er sich oft gesagt: ›Wenn sie ihn verurteilen, dann natürlich ist es etwas andres.‹ Nun, da sie es wirklich getan hatten, waren seine alten Argumente und Gefühle dennoch nicht anders geworden, sein Beschützerinstinkt und seine Sorge um Laurence und sich selbst schienen durch die unmittelbare Gefahr nur noch verstärkt. Und doch, dieser Mann sollte an den Galgen, für eine Tat, die er nicht begangen hatte! Darüber half kein Grübeln hinweg! Aber der Kerl war doch ein Leichenräuber, ein nichtswürdiger Strolch. Wäre es wirklich ein geringerer Fehlgriff der Justiz, wenn Larry an seiner Statt verurteilt würde? War es denn ein ärgeres Verbrechen, einen Kerl zufällig zu erwürgen, nur weil die Hände einige Sekunden zu lang an seiner Kehle gehalten, war dieses Verbrechen ebenso groß wie ein wohlüberlegter Leichenraub? Die Ehrfurcht vor Ordnung und Gerechtigkeit und der Sinn für feststehende Tatsachen gehn bei Männern des Erfolges oft Hand in Hand mit jesuitischer Denkweise.

Auf dem schmalen, steinernen Gang, der zu seiner Treppe führte, hatte ein Kollege ihm zugerufen: »Bravo, Darrant! Das ist mit knapper Not geglückt! Gratuliere!« Und mit leisem, bitterm Lächeln dachte Keith: ›Gratulieren! Mir!‹

Sobald wie möglich eilte er zum ›Strand‹ zurück, rief einen Wagen und befahl dem Lenker, an einer Straßenecke nächst der Borrow Street zu halten.

Auf sein Klopfen öffnete das Mädchen und schlug vor Schreck die Hände zusammen. In ihrem schwarzen Rock und der mattrosa Samtbluse machte sie auf Keith einen fremdartigen Eindruck. Ihr runder, ziemlich langer Hals war bloß, das kurze blonde Haar im Nacken gelockt, und verdrossen gewahrte Keith, daß sie goldene Ohrringe trug. Die Augen, die in dem blassen Gesicht pechschwarz schienen, sahen forschend und flehend drein.

»Mein Bruder hier?«

»Er ist nicht zu Hause, Sir, noch nicht.«

»Wissen Sie, wo er ist?«

»Nein.«

»Er wohnt jetzt hier bei Ihnen?«

»Ja.«

»Sie haben ihn also noch immer so lieb wie früher?«

Als fehlten ihr die Worte, preßte sie stumm die Hände aufs Herz.

»Schon gut,« sagte er.

Ihn überkam dasselbe sonderbare Gefühl wie bei seinem ersten Besuch und wie damals, als er sie hinter dem Vorhang beim Gebet erspäht hatte – Mitleid und leises Begehren. Er trat zum Kamin und fragte:

»Darf ich auf ihn warten?«

»Ach bitte! Nehmen Sie doch Platz!«

Keith aber schüttelte den Kopf. Und nach Atem ringend sagte sie:

»Sie werden ihn mir doch nicht nehmen! Es wär' mein Tod!«

Rasch wandte er sich nach ihr um.

»Ich will ihn Ihnen nicht nehmen. Im Gegenteil, ich will Ihnen dazu helfen, daß Sie ihn behalten. Sind Sie jederzeit bereit abzureisen?«

»Ja, ach ja!«

»Und er?«

Sie erwiderte fast flüsternd:

»Ja, schon; aber dieser arme Mensch –«

»Dieser arme Mensch ist ein Leichenräuber, eine Hyäne, ein Vampir – der verdient doch keine Rücksicht.« Er war über den rauhen Klang seiner Stimme selbst überrascht.

»Ach!« seufzte sie, »er tut mir aber doch leid. Vielleicht war er hungrig. Ich hab' auch schon Hunger gelitten – da tut man Dinge, die man sonst nie täte. Und vielleicht hat er niemanden, den er lieben kann; wer niemanden zum Lieben hat, kann sehr schlecht werden. Ich denke oft an ihn – wie er im Gefängnis sitzt.«

Keith stieß zwischen den Zähnen hervor: »Und Laurence?«

»Wir sprechen nie darüber, wir fürchten uns.«

»Er hat Ihnen also nichts von der Verhandlung gesagt?«

Sie riß die Augen auf.

»Die Verhandlung! Ach! Er war so sonderbar gestern abend. Und heut früh stand er so zeitig auf. Ist es – ist es vorüber?«

»Ja.«

»Und – das Urteil?«

»Schuldig.«

Einen Augenblick fürchtete Keith, sie werde in Ohnmacht fallen. Sie hatte die Augen geschlossen und schwankte, so daß er einen Schritt vortrat und sie an beiden Armen festhielt.

»Aufgepaßt!« gebot er. »Helfen Sie mir; lassen Sie Laurence nicht aus den Augen. Wir müssen Zeit gewinnen. Ich muß sehn, was das Gericht vorhat. Hängen kann man diesen Menschen nicht, ausgeschlossen. Ich brauche aber Zeit, verstanden? Sie müssen Larry dran hindern, sich selbst zu stellen.«

Bei diesen Worten hatte sie die Augen aufgeschlagen und sah ihm starr und stumm ins Gesicht, während er sie noch immer mit festem Griff gepackt hielt, so daß er durch die Samtärmel hindurch ihre weichen Arme spürte.

»Verstehn Sie mich?«

»Ja – aber wenn er's schon getan hat?«

Keith fühlte, wie sie zu beben begann. Und der Gedanke schoß ihm durch den Kopf: ›Mein Gott! Wenn die Polizei herkäme, während ich hier bin!‹ Er ließ ihre Arme los. Wenn Larry wirklich auf die Polizei gegangen war, hatte er – Keith – allen Grund, sich nicht überflüssig zu kompromittieren! Wenn jener Schutzmann, der ihn in der Nacht nach dem Mord gesehn, ihn gerade nach der Urteilsverkündigung wieder hier fände! Er fragte fast grimmig:

»Kann ich mich drauf verlassen, daß Sie Larry nicht aus den Augen verlieren? Rasch! Antworten Sie!«

Die Hände an die Brust drückend, erwiderte sie demütig:

»Ich will's versuchen.«

Er durfte sich nicht rühren lassen und fuhr noch barscher fort:

»Wenn er's noch nicht getan hat, bewachen Sie ihn wie ein Luchs! Er darf nicht allein ausgehn. Morgen komme ich zeitig früh. Sie sind Katholikin, nicht wahr? Schwören Sie mir, daß Sie ihn inzwischen keinen Schritt tun lassen.«

Sie gab keine Antwort, sondern sah an ihm vorbei nach der Tür; Keith hörte einen Schlüssel im Schloß umdrehn. Da stand Laurence; in der Hand hielt er einen großen Strauß roter Lilien und weißer Narzissen. Sein Gesicht war blaß und abgehärmt. Er sagte ruhig:

»Du bist's, Keith?«

Das Mädchen hatte sich nicht gerührt, ihr Blick hing unverwandt an Larrys Gesicht; Keith blickte von einem zum andern und begriff, daß hier größte Vorsicht geboten war.

»Weißt du es schon?« fragte er.

Laurence nickte. Seine Miene, die sonst jede seiner Stimmungen verriet, schien Keith undurchdringlich.

»Nun?«

»Ich hatte es erwartet.«

»Das Urteil kann nicht bestehen bleiben – das ist gewiß. Aber ich brauche Zeit, die Akten durchzusehn. Ich brauche Zeit, um zu überlegen, was sich tun läßt. Verstehst du mich, Larry – ich brauche Zeit.« Er wußte, seine Worte waren in den Wind geredet. Das einzig Richtige war: die beiden augenblicklich fortzuschaffen und so jedes Geständnis unmöglich zu machen; doch mit diesem Plan wagte er sich jetzt nicht hervor.

»Versprich mir, daß du vor meinem Besuch morgen früh nichts tust, nicht einmal ausgehst.«

Wieder nickte Laurence. Keith sah prüfend das Mädchen an. Konnte, wollte sie ihn dazu bringen, daß er sein Versprechen hielt? Noch immer hing ihr Blick unverwandt an Larrys Gesicht. Mit dem Gefühl, er könne hier nichts weiter tun, wandte sich Keith zum Gehen.

»Versprich mir's!« forderte er.

Laurence gab zur Antwort:

»Ich versprech' dir's.«

Er lächelte. Dies Lächeln schien Keith rätselhaft, ebenso der Ausdruck in den Augen des Mädchens.

»Ich verlasse mich auf dein Versprechen,« sagte er und ging.


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