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I

Um die sechste Abendstunde lag das Zimmer schon im Dunkel; nur eine Petroleumlampe mit grünem Schirm warf einen Lichtkegel auf den türkischen Teppich, auf die den Regalen entnommenen Bände, die Seiten eines aufgeschlagenen Buches, auf das kobaltblaue Kaffeegeschirr mit goldenem Rand, auf den antiken, mit orientalischer Stickerei bespannten Schemel. Die vielen Reihen von Lederbänden und die Eichentäfelung von Wand und Decke ließen im Winter bei geschlossenen Vorhängen das Zimmer ganz dunkel erscheinen. Das Gemach war so groß, daß der Lichtkreis vor dem Kaminfeuer, wo Keith Darrant saß, nur einer kleinen Insel glich. Aber gerade das gefiel ihm. Diese zwei Stunden vor dem Abendessen, mit Büchern, Kaffee, Pfeife, und gelegentlich einem Schläfchen, brachten ihm Ruhe und Entspannung nach dem anstrengenden Aktenstudium des Morgens und den aufreibenden Gerichtsverhandlungen der Amtszeit. In roten türkischen Pantoffeln und einem alten braunen Samtrock paßte er gut in diesen Rahmen, in dieses Widerspiel von Feuerglut und Dunkel. Sein scharfgeschnittenes gelbliches Gesicht hätte einen Maler begeistern können; über Augen von unbestimmbarer Farbe – grau oder braun – wölbten sich schwarze Brauen, das dunkle angegraute Haar war noch immer dicht, obwohl er täglich stundenlang die Amtsperücke trug. Selten nur dachte er an seine Arbeit, während er so dasaß. Geübt, wie er war, fiel es ihm leicht, seine Aufmerksamkeit, die so lang angespannt gewesen, von den vielfach verschlungenen Beweisführungen und den der Lösung harrenden Streitfragen abzulenken – eine meist hochinteressante Arbeit für seinen klaren, geschulten Verstand, der fast instinktiv alles Unwesentliche verwarf und nur die für das Gesetz wesentlichen Punkte herausgriff aus dem Gewirr taktischer und menschlicher Züge, die er zu prüfen hatte. Manchmal war das freilich langweilig und ermüdend. Wie zum Beispiel heute, da er argwöhnte, daß sein Klient einen Meineid geschworen habe, und er sich fast verpflichtet fühlte, die Vertretung niederzulegen. Vom ersten Augenblick an hatte ihm dieser schwächlich aussehende, bleiche Bursche mißfallen, der so erschreckt dreinglotzte und so nervös und ausweichend Antwort gab – ein nur zu häufiger Typus in diesen Tagen heuchlerischer Toleranz und schwächlicher Humanitätsduselei. Da hatte man die Früchte!

Drei Bücher hatte er vom Regal genommen: einen Band Voltaire – welch seltsamen Zauber übte doch dieser Franzose trotz seines zersetzenden Spottes! –, einen Band von Burtons Reisen, Stephensons ›Ein neues Tausend und eine Nacht‹, und hatte das letzte Werk zum Lesen gewählt. An diesem Abend empfand er das Verlangen nach einem Beruhigungsmittel, den Wunsch, alle Denkarbeit auszuschalten. Der Gerichtssaal war überfüllt und stickig gewesen; auf dem Heimweg wehte ein milder Südwest, die Luft, schwer von kommendem Regen, wirkte erschlaffend. Keith Darrant fühlte sich abgespannt, ermüdet, ja überreizt; an diesem Abend schien ihm sein einsames Haus fremd und trostlos.

Er schraubte die Lampe tiefer und kehrte das Gesicht dem Feuer zu. Vielleicht konnte er noch ein wenig schlummern vor diesem langweiligen Dinner bei den Tellassons. Er wünschte, die Ferien wären da und Maisie aus dem Pensionat zurück. Seit vielen Jahren Witwer, war er an die Gesellschaft eines weiblichen Wesens nicht mehr gewöhnt; aber jetzt sehnte er wirklich seine kleine Tochter herbei, mit ihrem lebhaften Wesen und den dunklen, glänzenden Augen. Sonderbar, wie manche Männer keinen Tag ohne Frau sein konnten! Wie hatte sich sein Bruder Laurence an Weiber vergeudet – seine ganze Willenskraft verbraucht! Ein Mann am Rande des Abgrunds, lebte von der Hand in den Mund, ließ seine Begabung total verkümmern! Man hätte denken sollen, die schottische Abstammung müßte ihn retten; und dennoch, wer sank so unaufhaltsam wie ein Schotte, der einmal auf die schiefe Bahn geraten? Seltsam, wie sich das mütterliche Blut in den beiden Söhnen so ganz verschieden äußerte. Er für seine Person hatte immer gefühlt, daß er nur diesem Blut alle seine Erfolge verdanke.

Unvermittelt fiel ihm ein Prozeß ein, der sein juridisches Gewissen beunruhigte. Wie gewöhnlich hatte er sich ohne Scheu Allwissenheit angemaßt, war aber durchaus nicht überzeugt, den richtigen Rat erteilt zu haben. Freilich, wem es an Entschlußfähigkeit gebrach und der Kraft, trotz aller Bedenken auf dem Entschlüsse zu beharren, taugte ganz und gar nicht fürs Gericht, taugte überhaupt für nichts! Je älter er wurde, um so deutlicher erkannte er, das erste Erfordernis in allen Lebenslagen sei mannhaftes, entschiedenes Handeln. Ein Wort, ein Schlag – den Schlag zuerst! Zweifeln, zagen, sentimental werden – all das Winseln und Wehklagen dieses dekadenten Zeitalters – –! Über sein männlich-schönes Gesicht huschte ein fast teuflisches Lächeln; oder war's bloß Täuschung, bloß der Widerschein der flackernden Flammen? Denn gleich darauf sah er nur mehr schläfrig aus; er nickte ein …

Mit einem Ruck fuhr er in die Höhe – war nicht jemand im Zimmer außerhalb des Lichtkreises? Ohne den Kopf zu wenden, fragte er: »Was gibt's?« Da vernahm er einen Laut, einen tiefen Atemzug. Er schraubte die Lampe höher.

»Wer ist da?«

Von der Tür her erwiderte eine Stimme:

»Nur ich – Larry.«

Der eigenartige Tonfall, vielleicht auch das jähe Aufschrecken aus dem Schlafe ließ ihn zusammenschauern. Er sagte:

»Ich war eingeschlafen. Komm herein!«

Nun, da er wußte, wer es war, erhob er sich nicht, was für ihn bezeichnend schien; er wandte nicht einmal den Kopf, sondern harrte, mit halbgeschlossenen Augen ins Feuer starrend, auf das Nähertreten des Bruders. Ein Besuch Laurences brachte gewöhnlich keine ungetrübte Freude. Er konnte ihn atmen hören und spürte den Geruch von Whisky. Konnte denn der Kerl nicht wenigstens, wenn er herkam, nüchtern sein? Es war so jämmerlich, ließ so sehr allen Anstand und guten Geschmack vermissen! Mit scharfer Stimme fragte er:

»Na, Larry, was ist los?«

Es war ja immer etwas los. Oft staunte er selbst über sein starkes Verantwortungsgefühl, das ihn für die Anliegen des Bruders zugänglich machte und nachsichtig gegen dessen peinliche Affären. Oder war es nur die Stimme des Blutes, die Anhänglichkeit des Hochländers an seine Sippe? Eine Neigung aus alten Tagen, die ihn noch immer an diesen Unheilsmenschen band, obwohl ihm Überlegung wie Instinkt sagten, diese Neigung sei Schwäche? Blieb Larry nur darum so scheu an der Tür stehn, weil er betrunken war? In etwas milderem Ton sagte Keith:

»Tritt doch näher und setz' dich!«

Larry kam näher, wich aber dem Lichtkreis der Lampe aus und schlich die Wand entlang, Füße und Beine bis zur Körpermitte hell beleuchtet, das Gesicht jedoch verschwamm im Schatten, wie das Antlitz eines Geistes der Finsternis.

»Mensch, bist du krank?«

Noch immer keine Antwort, nur ein Kopfschütteln, während eine Hand dem Bereich des Lichts entschwand und an die gespenstische Stirn unter dem zerwühlten Haar fuhr. Nun war der Whiskygeruch noch deutlicher zu spüren.

›Besoffen ist er, wahrhaftig!‹ dachte Keith. ›Schöne Geschichte, wenn das mein neuer Diener merkt! Larry soll sich anständig aufführen, oder – –‹

Da stieß die Gestalt an der Wand einen Seufzer aus, so qualvoll und gepreßt, daß es Keith unbehaglich zumute ward bei dem Gedanken, er habe die Ursache dieses unheimlichen Schweigens noch immer nicht ergründet. Er erhob sich und fragte, den Rücken dem Feuer zugekehrt, mehr aus Nervosität als mit Absicht in brutalem Ton:

»Was ist los, Mensch? Hast du einen Mord begangen, daß du so dastehst, stumm wie ein Fisch?«

Einen Augenblick gar keine Antwort, nicht einmal Atemholen, dann nur ein Flüstern:

»Jawohl.«

Keith empfand dies alles als unwirklich – eine Täuschung, die uns bei einem plötzlichen Schicksalsschlag aufrecht hält; aus diesem Gefühl heraus sagte er energisch:

»Zum Teufel, du bist besoffen!«

Aber seine Stimmung schlug sogleich in Angst und Grauen um.

»Was meinst du nur? Komm her, laß dich anschaun! Kerl, hast du den Verstand verloren?«

Da tauchte Larry unerwartet aus dem schützenden Schatten auf und sank in einen Stuhl innerhalb des Lichtkreises. Und wieder entfuhr ihm ein langer, verzweifelter Seufzer.

»Ich bin bei klarem Verstande, Keith! Es ist wahr!«

Keith trat rasch einen Schritt vor und starrte seinem Bruder ins Gesicht; und sofort erkannte er, daß es Tatsache war. Dieser Blick war echt, so konnte niemand heucheln – dieser Ausdruck des Entsetzens – diese Augen, die so fremd und verstört dreinsahn! Ihr Anblick krampfte einem das Herz zusammen, wirkliches Elend sprach aus ihnen. Dann wandelte sich jenes augenblickliche Mitleid in zornige Verwirrung.

»Was in Dreiteufelsnamen soll dieser Unsinn?«

Und er dämpfte die Stimme, ein bezeichnender Zug für ihn, trat zur Tür und sah nach, ob sie geschlossen sei. Laurence hatte seinen Stuhl nähergerückt, die hagere Gestalt beugte sich über das Feuer: das erschöpfte Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen, tiefliegenden blauen Augen und welligem, zerrauftem Haar verriet noch immer Spuren von Schönheit. Keith legte ihm die Hand auf die knochige Schulter und mahnte:

»Also, Larry, nimm dich zusammen! Du phantasierst ja!«

»Es ist wahr, sag' ich dir! Ich hab' einen Menschen umgebracht.«

Er hatte diese Worte so heftig herausgeschrien, daß es Keith eiskalt überlief. Was fiel dem Kerl nur ein – bei einer solchen Mitteilung so zu brüllen! Da hob Laurence die Hände und rang sie. Diese Bewegung verriet so tiefe Qual, daß ein Beben über Keiths Antlitz zuckte.

»Warum kommst du her und erzählst das gerade mir?«

Larrys Züge hatten manchmal einen geradezu unirdischen Ausdruck, leuchteten oft so seltsam auf!

»Wem sonst könnte ich es erzählen? Was soll ich tun? Rate mir doch, Keith! Mich dem Gericht stellen oder nicht?«

Diese unerwartete Erwähnung der praktischen Seite ließ Keith zusammenschauern. Es war also doch Wirklichkeit? Ganz ruhig sagte er:

»Erzähl' mir doch – wie hat sich diese – Geschichte eigentlich zugetragen?«

Seine Frage ließ den unheimlichen, wirren Alptraum zu wachem Erleben werden.

»Wann ist es geschehn?«

»Gestern nacht.«

Aus Larrys Antlitz sprach wie immer kindliche Wahrhaftigkeit. Nie würde er sich vor Gericht herauswinden können! Keith fragte weiter:

»Wie? Wo? Am besten, du erzählst es mir ruhig von Anfang bis zu Ende. Nimm die Tasse Kaffee da; dann wirst du wieder klar denken können.«

Laurence nahm die kleine blaue Tasse und leerte sie auf einen Zug.

»Höre, Keith, es kam so,« begann er. »Seit einigen Monaten kenne ich ein Mädchen – –«

Schon wieder die Weiber! Keith stieß zwischen den Zähnen hervor: »Nun?«

»Ihr Vater war ein Pole, er starb hier in London und ließ sie mit sechzehn Jahren ganz allein zurück. Ein amerikanischer Mischling namens Walenn, der im selben Hause wohnte, heiratete sie oder schloß mit ihr eine Scheinehe – sie ist sehr hübsch, Keith. Dann ließ er sie im Stich; sie hatte damals ein sechs Monate altes Kind und erwartete ein zweites. Das zweite starb und sie beinahe auch. Sie hungerte, bis ein anderer sie zu sich nahm. Mit dem lebte sie zwei Jahre. Da erschien Walenn wieder und zwang sie, zu ihm zurückzukehren. Der Schurke prügelte sie braun und blau, ohne jeden Grund. Dann machte er sich wieder aus dem Staub. Als ich sie kennen lernte, hatte sie auch das erste Kind verloren und ging mit jedem, der gerade kam.«

Er sah Keith plötzlich ins Gesicht.

»Aber in meinem ganzen Leben hab' ich noch kein Weib getroffen, so lieb und treu wie sie, das schwör' ich dir. Ein Weib! Sie ist ja erst zwanzig. Als ich gestern abend zu ihr ging, hatte Walenn, dieses Vieh, sie wieder aufgespürt; und wie er so frech und herausfordernd auf mich losging – sieh her!«, er wies auf einen blauen Fleck auf der Stirn, »da fuhr ich ihm mit beiden Händen an die Kehle, und als ich losließ –«

»Nun?«

»Tot. Erst nachträglich wurde mir klar, daß sie sich mit ihrem ganzen Gewicht an ihn gehängt und ihn nach hinten gerissen hatte.«

Wieder rang er die Hände.

Hart und trocken fragte Keith:

»Was habt ihr dann getan?«

»Wir saßen neben – neben ihm – sehr lange. Dann trug ich ihn auf dem Rücken die Straße hinunter, um die Ecke zu einem Torbogen.«

»Wie weit?«

»Etwa fünfzig Schritt.«

»War jemand – hat es jemand gesehn?«

»Nein.«

»Wie spät war es?«

»Drei.«

»Und dann?«

»Ging ich zu ihr zurück.«

»Um Himmels willen – warum?«

»Sie fühlte sich einsam und hatte Angst; ich auch, Keith.«

»Wo wohnt sie?«

»Borrow Street 42, Soho.«

»Und der Torbogen?«

»An der Ecke der Glove Lane.«

»Herrgott! Ich – ich hab' es ja in der Zeitung gelesen!«

Keith ergriff das Blatt, das auf seinem Schreibtisch lag, und las zum zweitenmal folgende Zeilen: ›Heute morgen wurde unter einem Torbogen in der Glove Lane, Soho, der Leichnam eines Mannes gefunden. Würgspuren am Hals lassen auf Ermordung schließen. Der Leichnam wurde offenbar ausgeraubt, denn man fand nichts bei ihm, was seine Identifizierung ermöglicht hätte.‹

Es war also blutiger Ernst. Mord! Sein eigener Bruder! Er wandte sich um und sagte:

»Du hast diesen Bericht in der Zeitung gelesen und davon geträumt. Es war ein Traum – verstanden?«

In traurigem Ton kam die Antwort:

»Ich wollt', es wär' ein Traum – ein Traum!«

Nun war Keith nahe daran, die Hände zu ringen.

»Hast du dem – dem Leichnam etwas weggenommen?''

»Als er sich wehrte, fiel das da zu Boden.«

Es war ein leerer Briefumschlag mit einer südamerikanischen Briefmarke und der Anschrift ›Patrick Walenn, Simons Hotel, Farrier Street, London‹. Wieder schauerte Keith zusammen und gebot:

»Ins Feuer damit!«

Plötzlich beugte er sich nieder, um das Kuvert herauszureißen. Durch diesen Befehl – war er ja mit- – mitschuldig geworden an diesem – diesem – –.

Aber er riß es nicht heraus. Es färbte sich schwarz, krümmte sich und zerfiel. Und zum zweitenmal fragte er:

»Was zum Teufel kommst du her und erzählst das gerade mir

»Du kennst dich in diesen Dingen aus. Ich hab' ihn ja nicht mit Absicht umgebracht. Ich liebe das Mädchen. Was soll ich anfangen, Keith?«

Einfältige Frage! Was er anfangen sollte! Das sah Larry ähnlich.

»Du glaubst, man hat dich nicht gesehn?« forschte Keith.

»Es ist eine dunkle Gasse. Niemand war in der Nähe.«

»Wann gingst du von dem Mädchen zum zweitenmal fort?«

»Gegen sieben Uhr.«

»Wo bist du hingegangen?«

»In meine Wohnung.«

»In der Fitzroy Street?«

»Jawohl.«

»Hat dich jemand heimkommen gesehn?«

»Nein.«

»Was hast du seither getan?«

»Ich blieb zu Hause.«

»Gar nicht mehr weggewesen?«

»Nein.«

»Hast das Mädchen nicht gesehn?«

»Nein.«

»Du weißt also nicht, was sie inzwischen getan hat?«

»Nein.«

»Würde sie dich verraten?«

»Niemals.«

»Würde sie sich selbst verraten – aus Hysterie?«

»Nein.«

»Weiß jemand etwas von deinen Beziehungen zu ihr?«

»Niemand.«

»Gar niemand?«

»Ich wüßte niemanden, Keith.«

»Sah dich gestern abend jemand ihr Haus betreten, als du das erste Mal zu ihr gingst?«

»Nein. Sie wohnt im Erdgeschoß. Ich habe die Schlüssel.«

»Gib sie mir. Hast du sonst etwas bei dir, was euer Verhältnis verraten könnte?«

»Gar nichts.«

»In deiner Wohnung?«

»Nein.«

»Keine Photographien? Keine Briefe?«

»Nein.«

»Denk' gut nach!«

»Nichts.«

»Sah dich niemand das zweite Mal zu ihr kommen?«

»Nein.«

»Sah dich niemand des Morgens von ihr weggehn?«

»Nein.«

»Du hast Glück gehabt. Setz' dich wieder, Mensch. Ich muß mir alles überlegen.«

Überlegen! Diese verwünschte Sache überlegen – die sich gar nicht ausdenken ließ, die man nicht fassen konnte! Aber er war ja unfähig, zu überlegen. In seine Gedanken kam nicht der geringste Zusammenhang. Und neuerlich hob er an:

»Tauchte er zum ersten Mal wieder bei ihr auf?«

»Ja.«

»Hast du das von ihr erfahren?«

»Ja.«

»Wie hat er ihre Adresse aufgespürt?«

»Weiß nicht.«

»Warst du stark betrunken?«

»Ich war überhaupt nicht betrunken.«

»Wieviel hattest du getrunken?«

»Etwa zwei Flaschen Rotwein – so gut wie nichts.«

»Du behauptest, du hattest nicht die Absicht, ihn zu töten?«

»Nein – Gott ist mein Zeuge!«

»Auch schon was! Warum suchtest du dir just den Torbogen aus?«

»Es war der erste dunkle Winkel.«

»War er blau im Gesicht, wie ein Erwürgter?«

»Hör auf!«

» Sah er so aus?«

»Ja.«

»Arg entstellt?«

»Ja.«

»Sahst du nach, ob seine Wäsche gezeichnet war?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Warum nicht! Mein Gott! Wenn du so was getan hättest – –!«

»Du sagst, er sah entstellt aus. Entstellt bis zur Unkenntlichkeit?«

»Weiß nicht.«

»Wo wohnte sie denn mit ihm zuletzt?«

»Ich weiß es nicht bestimmt. In Pimlico, glaub' ich.«

»Nicht in Soho?«

»Nein.«

»Wie lang lebt sie schon in Soho?«

»Fast ein Jahr.«

»Immer in derselben Wohnung?«

»Ja.«

»Wohnt jemand in dem Haus oder in der Gasse, der sie vielleicht als Walenns Frau erkennen würde?«

»Ich glaube nicht.«

»Welchen Beruf hatte er?«

»Wenn ich nicht irre, war er Mädchenhändler.«

»Aha. Lebte also meist im Ausland?«

»Ja.«

»Weißt du, ob er der Polizei bekannt war?«

»Ich hab' nichts davon gehört.«

»Jetzt paß' auf, Larry! Du gehst von hier geradewegs heim und rührst dich nicht aus dem Haus, ehe ich bei dir gewesen bin; ich komme morgen früh. Versprich mir's!«

»Ich verspreche dir's.«

»Ich muß jetzt zu einem Dinner. Ich werd' alles gründlich überlegen. Trink nicht! Laß dich in keine Gespräche ein! Raff' dich zusammen!«

»Laß mich nicht länger warten, als unbedingt nötig, Keith!«

Dieses fahle Antlitz, diese Augen, diese zitternde Hand! Trotz heftigster Empörung, trotz Angst und Ekel legte Keith mit einem Anflug von Mitleid dem Bruder die Hand auf die Schulter und sagte:

»Mut!«

Und plötzlich fiel ihm ein: ›Herrgott! Mut! Den werd' ich ja bald selbst nötig haben!‹


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