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III

Manche Menschen sind imstande, um acht Uhr Schach zu spielen, wenn sie um zehn gehängt werden sollen. Solche Naturen machen fast ausnahmslos Karriere. Aus ihnen werden hervorragend gute Bischöfe, Zeitungsherausgeber, Richter, Impresarios, Ministerpräsidenten, Geldverleiher und Generäle; in der Tat, sie beweisen in jeder Machtstellung über ihre Mitmenschen eine ungewöhnliche Tüchtigkeit. Ihr kaltes Blut konserviert ihre Nerven. Solchen Menschen ist wenig oder nichts von dem regen Sinn und starken Gefühlsleben eigen, die man in solch vage Begriffe wie Poesie, Philosophie, Spekulation, zu fassen sucht. Männer der Tat und des Entschlusses, die ihre Einbildungskraft nach Belieben ein- und ausschalten, jedes Gefühl der Vernunft unterordnen – wer denkt an sie, wenn er ein im Winde wogendes Ährenfeld betrachtet, oder dem Flug der Schwalben zusieht!

Keith Darrant hatte diese Kaltblütigkeit während des Dinners bei den Tellassons nötig. Als er das große Haus in Portland Place verließ, war es gerade elf Uhr; er ging zu Fuß nach Hause, um besser nachdenken zu können. Welch grausame Ironie in seiner gegenwärtigen Lage! Mitwisser eines Mörders – just er, der Aussicht hatte, bald das Richteramt zu bekleiden! Er, der Verächter menschlicher Schwächen, die zu sicherem Ruin führten, fand die ganze Angelegenheit so schmutzig, so ›unmöglich‹, daß er es kaum über sich brachte, sich überhaupt damit abzugeben. Und doch zwangen ihn ganz starke Beweggründe dazu: Selbsterhaltungstrieb und Blutsverwandtschaft.

Der Wind wirkte noch immer so feucht und erschlaffend wie am Nachmittag, doch der Regen war bis jetzt ausgeblieben. Es war warm, Keith knöpfte seinen Pelz auf. Diese düsteren Betrachtungen vertieften noch die finstere Strenge seines Gesichts, dessen dünne, fein geschwungene Lippen immer fest geschlossen waren, damit ihnen nur ja kein unbesonnenes Wort entschlüpfe. Verstimmt schritt er unter den zahlreichen Passanten auf dem Gehsteig hin. Der festliche Anblick beleuchteter, nächtlicher Straßen verdroß ihn; er fand ihn geradezu aufreizend und bog in eine dunklere Gasse ein.

Diese entsetzliche Geschichte! Freilich, er zweifelte nicht mehr an ihrer Wirklichkeit, konnte sie aber noch immer nicht fassen. Im Geist sah er nie das Bild der Tat vor sich, sondern nur den Gegenstand eines unwiderlegbaren, gerichtlichen Beweisverfahrens. Larry hatte es natürlich nicht absichtlich getan. Aber ein Totschlag blieb es doch. Menschen wie Larry – schwache, impulsive, sentimentale, selbstquälerische Geschöpfe – taten die überhaupt etwas mit Absicht? Um diesen Kerl, diesen Walenn, war es keinesfalls schade, er war nicht wert, daß man auch nur einen Gedanken an ihn verschwendete! Aber ein Verbrechen – ein so abscheuliches – und keine Sühne! Ein verheimlichtes Verbrechen – und er half bei dieser Verheimlichung mit! Dennoch – es war ja sein Bruder! Man konnte doch nicht von ihm verlangen, gegen den Bruder einzuschreiten! Es fragte sich nur, was er Larry raten sollte. Den Mund halten und verschwinden? Bestand dabei Aussicht auf Gelingen? Vielleicht – wenn Larrys Bericht den Tatsachen entsprach. Doch dieses Mädchen! Falls die Beziehungen des Toten zu ihr aufgespürt wurden, konnte man sich dann drauf verlassen, daß sie Larry nicht gefährden werde? Diese Weiber waren alle gleich, unzuverlässig wie die See, leicht erregbar, haltlos, ein Krebsschaden der Gesellschaft. Ferner: ein unaufgeklärtes Verbrechen, ein Geheimnis, das den Bruder sein ganzes Leben lang verfolgen mußte, wohin immer er auch fliehen mochte; das immerzu bedrohend über seinem Haupt hängen würde, um ihn einmal in einem Augenblick der Trunkenheit zu vernichten. Man durfte gar nicht daran denken. Ein Bekenntnis ablegen? Bei dem bloßen Gedanken krampfte sich ihm das Herz zusammen. ›Der Bruder Mr. Keith Darrants, des allgemein bekannten Gerichtsrates, besucht eine Straßendirne, erwürgt mit den Händen ihren Mann! Hatte – allerdings ohne Mordabsicht – einen Menschen umgebracht! Einen Toten aus dem Hause fortgeschleppt und unter einem dunklen Torbogen hingelegt! Freilich, er war gereizt worden! Daher zur Begnadigung empfohlen – lebenslängliches Zuchthaus! Sollte er diesen Rat Larry am nächsten Morgen geben?‹

Und plötzlich hatte er eine Vision von kahlgeschorenen Männern mit lehmfarbenen Gesichtern, total erledigt, wie er sie einmal im Pentonville-Gefängnis beim Besuch eines Sträflings gesehn. Larry! Den er als strampelndes Wickelkind gekannt und als kleinen Jungen fast bemuttert hatte; dem er im ›College‹ aus der Klemme geholfen und später immer und immer wieder Geld und gute Ratschläge gegeben. Larry! Der fünf Jahre jünger war als er, den die Mutter auf dem Sterbebett seiner Fürsorge empfohlen hatte. Und der sollte auf Lebenszeit einer jener Menschen werden, die mit Gesichtern herumgingen wie kranke Pflanzen, mit dichten Bartstoppeln und kahlgeschorenen Schädeln, in gelben, mit Pfeilen gezeichneten Jacken! Larry! Einer jener Menschen, die wie Schafe zusammengepfercht wurden, die dem Wink und Ruf ordinärer Aufseher gehorchen mußten! Ein Gentleman, sein eigener Bruder, sollte ein solches Sklavenleben führen, sich hin- und herkommandieren lassen, Jahr für Jahr, tagaus, tagein. Es gab ihm einen Stich. Nein, das konnte er nicht raten. Unmöglich! Riet er aber etwas andres, dann mußte er festen Boden unter den Füßen fühlen, mußte selber alles prüfen und in Erfahrung bringen. Diese Glove Lane – dieser Torbogen! War er in diesem Augenblick nicht ganz in der Nähe? Er sah sich um, ob er nicht jemanden fragen könnte. An der Ecke stand ein Schutzmann, das regungslose Gesicht vom Laternenschein beleuchtet; zweifellos ein fähiger, wachsamer Mensch, der in seinem Beruf tüchtig war. Keith jedoch wandte den Kopf ab und schritt stumm an ihm vorbei. Seltsam, in Gegenwart dieses Hüters des Gesetzes überlief ihn ein kaltes, unheimliches Gefühl! Auf einmal kam ihm die ganze Tragweite dieser Geschichte erschreckend zum Bewußtsein. Dann sah er, daß die Gasse links Borrow Street selbst war. Er schritt die eine Seite entlang, überquerte den Fahrdamm und ging zurück. Er kam an Nummer 42 vorbei, einem kleinen Hause, dessen trübe Fenster im ersten und zweiten Stockwerk mit Firma-Namen bedeckt waren; die Fenster zu ebener Erde waren dunkel verhangen; oder zeigte sich da in der einen Ecke nicht ein schwacher Lichtschimmer? Welchen Weg war Larry gegangen? Welchen Weg – mit jener grausigen Last? Fünfzig Schritt weit in dieser schmutzigen Gasse – gottlob war sie eng und dunkel und menschenleer! Glove Lane! Da war sie! Ein winziges Gäßchen. Und hier – –! Er war geradewegs auf den Torbogen zugelaufen, einer aus Ziegeln gebauten Verbindungsbrücke eines Lagerhauses; hier war es in der Tat stockfinster. »Ja, hier is es, Herr! Das is die Stelle!« Keith bedurfte seiner ganzen Selbstbeherrschung, um sich dem Sprecher gleichgültig zuzuwenden. »Hier hat man die Leiche gefunden – grad auf diesem Fleck – hier war sie hingelehnt. Sie haben ihn noch nicht erwischt. Die neuesten Nachrichten, gnädiger Herr!«

Mit diesen Worten hielt ihm ein zerlumpter Junge eine gelbliche, zerrissene Zeitung hin. Seine Luchsaugen guckten unter langen, dünnen Haarsträhnen hervor, die Stimme klang so, als besitze er ein Monopol über diese Nachrichten. Keith nahm die Zeitung und gab ihm zwei Pence. Er fand sogar etwas wie Trost darin, daß der Junge hier wie ein Nachtgespenst herumlungerte. Offenbar waren schon vor ihm andere aus krankhafter Neugier gekommen, sich die Stelle anzusehn. Im trüben Laternenlicht las er: ›Mysteriöser Leichenfund in der Glove Lane. Die Identität des Erwürgten ist bisher noch nicht festgestellt; der Schnitt seiner Kleider läßt auf einen Ausländer schließen.‹ Der Junge war verschwunden und Keith sah die Gestalt eines Schutzmannes langsam die verwahrloste Gasse daherkommen. Einen Augenblick zögerte er, dann blieb er stehn. Der Polizist erriet gewiß, was ihn hergeführt hatte, Keith stand also da und starrte ruhig auf den Torbogen. Der Schutzmann kam auf ihn zu. Keith erkannte ihn, es war derselbe, an dem er eben vorbeigekommen. Er sah die kalte, beleidigende Frage aus dem Blick des Mannes schwinden, als dieser das glänzende weiße Frackhemd unter dem geöffneten Pelzkragen gewahrte. Da hielt ihm Keith die Zeitung hin und fragte:

»An dieser Stelle hat man den Mann gefunden?«

»Ja, Sir.«

»Noch immer nicht aufgeklärt, wie ich sehe?«

»Na, die Zeitungen sind nicht stets zuverlässig. Aber bis jetzt, scheint mir, hat man nicht viel herausgebracht.«

»Ein finsterer Platz. Nächtigt manchmal jemand unter diesem Torbogen?«

Der Schutzmann nickte. »In ganz London gibt es keinen Brückenbogen, unter dem wir nicht ab und zu Vagabunden aufgreifen.«

»Wenn ich nicht irre, hat man bei ihm nichts gefunden?«

»Keinen roten Heller. Die Taschen waren nach außen gekehrt. In diesem Viertel treibt sich so allerhand herum. Griechen, Italiener, und so weiter.«

Wie sonderbar, daß ihn der vertrauliche Ton dieses Schutzmanns freute!

»Also, gute Nacht!«

»Gute Nacht, Sir! Gute Nacht!«

Von der Borrow Street aus sah er zurück. Der Schutzmann stand noch immer dort und hielt die Laterne hoch, so daß ihr Licht unter den Torbogen fiel, als suche er dessen Geheimnis zu ergründen.

Nun, da Keith diesen dunklen, verlassenen Fleck in Augenschein genommen, schienen ihm die Aussichten für seinen Bruder bedeutend günstiger. ›Die Taschen nach außen gekehrt!‹ Entweder hatte Larry die Geistesgegenwart gehabt, etwas sehr Kluges zu tun, oder jemand andrer hatte sich über den Leichnam hergemacht, ehe ihn die Polizei fand. Dies letztere kam ihm wahrscheinlicher vor. Hier sagten die Hunde und Füchse einander gute Nacht! Wohl möglich, daß um drei Uhr nachts, der stillsten aller Stunden, Larrys grauenvoller, hin und zurück nur fünf Minuten währender Gang unbemerkt geblieben war. Nun hing alles von dem Mädchen ab; ob man sich, wenn ihr Verhältnis zu dem Ermordeten aufgedeckt würde, auf ihr Stillschweigen verlassen könnte, ob Larry beim Kommen oder Gehn von niemandem beobachtet worden. In der Borrow Street war jetzt keine Seele zu sehn, kaum irgendwo ein erleuchtetes Fenster; da faßte Keith, der an rasches, verantwortungsvolles Handeln gewohnt war, einen ziemlich verzweifelten Entschluß. Er wollte zu ihr gehn und sich selbst überzeugen. So kam er zur Tür des Hauses Nummer 42, das offenbar nur des Nachts geschlossen wurde, und probierte den größeren Schlüssel, der auch wirklich paßte. Keith fand sich in einem gasbeleuchteten Flur mit linoleumbelegtem Fußboden und einer einzigen Tür zur Linken. Unschlüssig blieb er stehn. Er mußte ihr klar machen, daß er alles wußte. Schließlich brauchte er ihr ja nur zu sagen, er sei Larrys Freund. Er durfte sie nicht erschrecken, mußte sie jedoch dahinbringen, ihm ihr ganzes Wesen zu enthüllen. Ein feindlicher Zeuge, der aber nicht als Gegner behandelt werden durfte – da hieß es vorsichtig sein! Keith klopfte, aber niemand rührte sich.

Sollte er diesen quälenden, grotesken Versuch, sich selbst ein Urteil zu bilden, nicht lieber aufgeben? Weggehn und Laurence einfach sagen, er könne ihm nicht raten? Und – was dann? Etwas mußte ja doch geschehn. Er klopfte nochmals. Wieder keine Antwort. Ungeduldig wie immer, wenn ihm etwas in die Quere kam – er war von Natur so und sein bisheriges Leben hatte ihn darin noch bestärkt –, probierte er den andern Schlüssel. Auch dieser paßte und Keith öffnete die Tür. Innen war alles dunkel, aber aus einiger Entfernung sagte eine fremdartige Stimme offenbar sehr erleichtert:

»O! Du bist es, Larry! Warum hast du geklopft? Ich bin so erschrocken! Dreh' doch das Licht auf, Liebster. Komm herein!«

Während er im Stockfinstern bei der Tür den Schalter suchte, fühlte er plötzlich zwei Arme seinen Hals umschlingen und einen warmen, leicht bekleideten Körper sich an seinen schmiegen. Doch im nächsten Augenblick spürte er, wie sie mit einem leisen Schreckenslaut zurückfuhr, und vernahm ihr von Todesangst halb ersticktes Flüstern:

»Jesus! Wer sind Sie?«

Keith überlief es eiskalt.

»Ein Freund von Laurence,« erwiderte er. »Nur keine Angst!«

Es herrschte so tiefe Stille, daß er das Ticken einer Uhr vernahm und das Geräusch seiner eigenen Hand, die nach dem Schalter tastend, über die Wand glitt. Er fand ihn und sah im aufflammenden Licht ein Mädchen stehn, hochaufgerichtet gegen einen dunklen Vorhang, der offenbar einen Schlafraum dem Blick entzog. Sie hielt einen langen schwarzen Mantel am Hals zusammen, so daß ihr Gesicht mit dem hellbraunen, kurzen, in die Stirn geschnittenen, gelockten Haar schier unheimlich aussah, als schwebe es körperlos im Raum. Ihr Gesicht war so alabasterweiß, daß die erschrocken dreinstarrenden Augen von dunklem Blau oder Braun und das Mattrosa der geöffneten Lippen Farbflächen auf einer weißen Maske glichen. Dieses Antlitz war ergreifend, eigentümlich zart und aufrichtig, das Antlitz eines Menschen, der schon viel Leid erfahren. Wenn Keith auch im allgemeinen für ästhetische Eindrücke wenig empfänglich war, konnte er sich diesmal einer seltsamen Rührung nicht erwehren. Er sagte sanft:

»Fürchten Sie doch nichts! Ich bin nicht gekommen, um Ihnen zu schaden – ganz im Gegenteil. Darf ich Platz nehmen und mit Ihnen sprechen?« Er hielt die Schlüssel empor und fügte hinzu: »Laurence hätte mir wohl nicht diese Schlüssel gegeben, wenn er mir nicht vertraute.«

Sie aber regte sich noch immer nicht; ihm war's, als sehe er ein Gespenst vor sich – ein blutloses Gespenst. Und dieser absonderliche Einfall schien ihm in diesem Augenblick nicht einmal seltsam. Er blickte sich im Zimmer um – es war reinlich, wirkte aber geschmacklos durch den trüben, goldgerahmten Spiegel, die Konsole mit Marmorplatte und das Plüschsofa. Mehr als zwanzig Jahre war es her, seit er zum letzten Mal an einem solchen Ort gewesen.

»Wollen Sie sich nicht setzen?« fragte er. »Es tut mir leid, Sie erschreckt zu haben.«

Doch das Mädchen regte sich noch immer nicht, sondern flüsterte nur:

»Wer sind Sie, bitte?«

Dies ängstliche Wispern ergriff ihn plötzlich so sehr, daß er alle Vorsicht vergaß und sagte:

»Larrys Bruder.«

Sie stieß einen leisen Seufzer der Erleichterung aus, der Keith zu Herzen ging, dann trat sie näher, setzte sich aufs Sofa und hielt dabei noch immer den schwarzen Mantel am Hals zusammen. Sie war mit bloßen Füßen in Pantoffel geschlüpft; das Haar und die treuherzigen, erschrockenen Augen gaben ihr das Aussehen eines großen Kindes. Keith zog einen Stuhl heran:

»Verzeihen Sie, daß ich zu so später Stunde komme, er hat mir nämlich alles gesagt.«

Keith hatte erwartet, sie würde entsetzt zurückfahren und nach Luft ringen; doch sie schlang nur die Hände ums Knie und sagte fragend:

»Ja?«

Unbehagen und Grauen überschlichen ihn aufs neue.

»Gräßlich – diese Geschichte!«

Wie ein Echo kam es leise zurück:

»Ja, o ja! Gräßlich – gräßlich!«

Plötzlich fiel es Keith ein, daß der Mann gerade an der Stelle, wo er saß, tot hingefallen sein mußte; stumm und verstört starrte er auf den Fußboden.

»Ja,« flüsterte sie, »genau an dieser Stelle. Ich seh' ihn noch immer vor mir, wie er hinfällt.«

Welch seltsame stille Verzweiflung aus diesen Worten sprach. Was hatte dieses liederliche Mädchen, die Ursache der ganzen Tragödie, nur an sich, daß sie gegen seinen Willen Mitleid in ihm wachrief?

»Sie sehn sehr jung aus,« sagte er.

»Ich bin zwanzig.«

»Und Sie haben – meinen Bruder lieb?«

»In den Tod geh ich für ihn!«

Der Ton ihrer Stimme klang unleugbar echt; und dazu diese aufrichtigen Augen, treue, tiefe Slawenaugen, dunkelbraun, nicht blau, wie sie ihm zuerst geschienen. Wirklich ein anmutiges Gesicht, noch zeigte es keine Spuren ihres Lebenswandels; oder hatte das Leid der letzten Stunden, vielleicht auch ihre Liebe zu Larry diese Spuren getilgt? Ungewöhnlich hilflos fühlte er sich diesem zwanzigjährigen Kind gegenüber, er, ein Mann über vierzig, der die Welt kannte und den sein Beruf mit allen Seiten der menschlichen Natur vertraut gemacht. Ein wenig stammelnd erklärte er:

»Ich – ich bin hergekommen, um herauszufinden, was Sie für seine Rettung tun können. Merken Sie auf und antworten Sie nur auf die Fragen, die ich Ihnen stelle.«

Sie hob die Hände, preßte sie gegeneinander und flüsterte:

»O, ich werde alles beantworten.«

»Dieser Mann – Ihr – Ihr Gatte – war also ein schlechter Mensch?«

»Ein entsetzlicher Mensch.«

»Wie lange hatten Sie ihn nicht gesehn, ehe er gestern abend herkam?«

»Anderthalb Jahre.«

»Wo wohnten Sie, als Sie ihn zuletzt sahn?«

»Im Pimlico-Viertel.«

»Kennt Sie irgendein Nachbar als Mrs. Walenn?«

»Nein. Erst nach dem Tode meines kleinen Mädchens zog ich hieher, um einen schlechten Lebenswandel zu führen. Kein Mensch kennt mich. Ich bin mutterseelenallein.«

»Wird man nicht nach seiner Frau forschen, sobald man seine Identität festgestellt hat?«

»Ich weiß nicht. Er ließ kaum jemanden auf den Gedanken kommen, daß ich seine Frau sei. Ich war noch so jung; wahrscheinlich hat er noch vielen andern so mitgespielt wie mir.«

»Glauben Sie, daß er der Polizei bekannt war?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er war ein Gerissener.«

»Wie heißen Sie jetzt

»Wanda Livinska.«

»Waren Sie vor Ihrer Ehe unter diesem Namen bekannt?«

»Wanda – so bin ich getauft. Den Namen Livinska hab' ich mir selbst beigelegt.«

»Aha, seit Sie hier wohnen?«

»Ja.«

»Hat mein Bruder diesen Menschen je vorher gesehn?«

»Nie.«

»Sie hatten ihm erzählt, wie der Kerl Sie behandelt hat?«

»Ja. Und dieser Mensch hat ihn zuerst angegriffen.«

»Ich hab' den blauen Fleck gesehn. Glauben Sie, daß jemand meinen Bruder zu Ihnen kommen sah?«

»Ich weiß nicht. Er verneint es.«

»Können Sie mir sagen, ob jemand ihn die Lei – das Ding forttragen sah?«

»In dieser Gasse niemand – ich hab' achtgegeben.«

»Auch beim Zurückkommen nicht?«

»Keine Seele.«

»Auch nicht des Morgens beim Fortgehn?«

»Ich glaube nicht.«

»Haben Sie ein Dienstmädchen?«

»Nur eine Frau, die um neun Uhr morgens für eine Stunde kommt.«

»Kennt diese Person Larry?«

»Nein.«

»Haben Sie Freunde, Bekannte?«

»Nein, ich lebe sehr zurückgezogen. Und seit ich Ihren Bruder kenne, sehe ich überhaupt sonst niemanden. Außer ihm besucht mich niemand, schon lang nicht mehr.«

»Wie lange nicht?«

»Fünf Monate.«

»Waren Sie heute außer Haus?«

»Nein.«

»Was haben Sie gemacht?«

»Geweint.«

Sie sagte das in erschütternd schlichtem Ton; mit zusammengepreßten Händen fuhr sie fort:

»Um meinetwillen ist er in Gefahr. Ich hab' solche Angst um ihn.«

Beschwichtigend hob Keith die Hand und sagte:

»Sehn Sie mich an!«

Sie heftete die dunklen Augen auf ihn; das Zucken ihres bloßen Halses, von dem der Mantel zurückgeglitten war, verriet ihm, daß sie ihre Aufregung entschlossen hinunterwürgte.

»Gesetzt den schlimmsten Fall, man verfolgt die Spur dieses Menschen bis zu Ihnen, trauen Sie sich zu, daß Sie festbleiben und meinen Bruder nicht verraten?«

Ihre Augen leuchteten. Sie erhob sich und trat zum Kamin.

»Sehn Sie, da hab' ich alles verbrannt, was er mir gegeben hat – sogar sein Bild. Nun hab' ich nichts mehr von ihm.«

Auch Keith war aufgestanden.

»Sehr gut! Noch eine Frage: Sind Sie der Polizei bekannt wegen – wegen Ihres Lebenswandels?''

Die traurigen, treuen Augen blickten ihn fest an, sie schüttelte den Kopf. Er fühlte sich fast beschämt.

»Ich mußte danach fragen. Wissen Sie, wo er wohnt?«

»Ja.«

»Sie dürfen nicht hingehn. Und auch er darf nicht zu Ihnen herkommen.«

Ihre Lippen bebten, doch ergeben neigte sie den Kopf. Plötzlich stand sie ganz nah bei ihm und sprach fast flüsternd:

»Bitte, nehmen Sie ihn mir nicht ganz weg. Ich werde so vorsichtig sein! Ich will ja alles vermeiden, was ihm gefährlich ist, aber wenn ich ihn nicht manchmal sehen darf, werd' ich sterben. Bitte, nehmen Sie ihn mir nicht weg.« Mit beiden Händen ergriff sie seine Rechte und drückte sie verzweifelt. Einige Sekunden verstrichen, ehe Keith erwiderte:

»Überlassen Sie das mir. Ich werde ihn besuchen und alles in Ordnung bringen. Sie müssen es mir überlassen.«

»Aber Sie werden gut zu ihm sein?«

Auf seiner Hand fühlte er den Kuß ihrer Lippen. Diese sanfte, feuchte Berührung ließ ihn seltsam erschauern; er fühlte sich nicht nur als Beschützer, für einen Augenblick zuckte jähes Begehren in ihm auf. Er entzog ihr die Hand. Und als habe sie gespürt, sie sei zu weit gegangen, wich sie demütig zurück. Plötzlich aber wandte sie sich um, blieb wie erstarrt stehn und flüsterte fast lautlos: »Horchen Sie! Draußen – es ist jemand draußen!« Sie schoß an ihm vorbei und drehte das Licht ab.

Fast im selben Augenblick klopfte es an die Tür. Er spürte des Mädchens Angst im Dunkel, spürte sie am eignen Leib. Und auch er hatte Angst. Wer konnte es sein? Außer Larry komme niemand zu ihr, hatte sie gesagt. Wer konnte es also sein? Wieder klopfte es, diesmal lauter! Er fühlte ihren Hauch auf seiner Wange, wie sie flüsterte: »Am Ende ist es Larry! Ich muß öffnen.« Er drückte sich an die Wand, hörte sie die Tür öffnen und mit schwacher Stimme fragen: »Ja, bitte? Wer ist da?«

Ein schmaler, weitergleitender Lichtstreif fiel auf die Wand gegenüber und eine Keith nicht unbekannte Stimme sprach:

»Schon recht, Miß. Ihre Haustür steht offen. Sie muß nach Einbruch der Dunkelheit geschlossen sein.«

Herrgott! Jener Schutzmann! Und es war seine eigene Schuld, er hatte ja beim Kommen die Haustür offen gelassen. In ihrem fremden Akzent hörte er sie schüchtern sagen: »Besten Dank, Sir!«, hörte, wie die Haustür ins Schloß fiel und die Schritte des Schutzmanns verhallten, dann fühlte er sie wieder dicht neben sich. Wohlwollen und Rührung, die des Mädchens Jugend und eigenartige Anmut in ihm erweckt hatten, verflogen im Augenblick, da er sie nicht sehen konnte; sein Groll regte sich wieder. Diese Frauenzimmer waren doch alle gleich, sie konnten nicht die Wahrheit sagen! Barsch versetzte er:

»Sie erklärten mir doch, Sie seien hier unbekannt.«

Wie ein Seufzer kam die Antwort:

»Ich hätt' nicht gedacht, daß man mich kennt, Sir. Ich bin schon so lange nicht mehr auf die Straße gegangen, nicht seit ich Larry habe.«

Diese Worte riefen plötzlich in Keith all den Abscheu wieder wach, der die ganze Zeit in ihm geschlummert hatte. Sein Bruder, der Sohn seiner Mutter, ein Gentleman – das Eigentum dieses Mädchens, mit Leib und Seele an sie gekettet durch dieses ungeheuerliche Ereignis! Doch da drehte sie das Licht wieder an. Hatte sie gefühlt, daß das Dunkel ihr Feind war? Ja, sie war unleugbar hübsch, mit ihrem bis auf die Lippen und dunklen Augen ganz weißen Gesicht; so rührend war es, unbegreiflich rein, das Antlitz eines Kindes.

»Ich gehe jetzt,« sagte er. »Vergessen Sie nicht: er darf nicht herkommen und Sie dürfen nicht zu ihm gehn. Morgen besuche ich ihn. Wenn Sie ihn wirklich so lieb haben, wie Sie sagen – dann Vorsicht! Vorsicht!«

Wieder seufzte sie: »Ja, ach ja!« und Keith ging zur Tür. An die Wand gelehnt stand sie da und folgte ihm allein mit dem Blick – ein taubensanftes Gesicht, in dem nur die Augen lebten und zu sagen schienen: ›Blick in uns hinein! Wir verbergen nichts, alles, alles liegt offen vor dir!‹

Und er schritt hinaus.

Im Flur blieb er zögernd stehn, ehe er die Haustür öffnete. Er wünschte keine neuerliche Begegnung mit dem Schutzmann, der mußte doch auf seiner Runde jetzt schon ganz wo anders sein. Keith drehte vorsichtig den Türknopf um und spähte ins Freie. Niemand zu sehn. Einen Augenblick war er unschlüssig, ob er sich nach rechts oder links wenden solle, dann überquerte er entschlossen die Straße. Eine Stimme zu seiner Rechten sagte:

»Gute Nacht, Sir!«

Dort im Schatten einer Haustür stand der Schutzmann. Der Kerl mußte ihn beim Herauskommen gesehn haben. Unwillkürlich zuckte Keith zusammen, murmelte »Gute Nacht!« und eilte weiter.

Ein paar hundert Schritt war er so gewandert, dann gingen sein Schreck und Mißbehagen in höhnischen Ingrimm über; ihn, Keith Darrant, hielt man für den Besucher einer Straßendirne! Wie ekelhaft doch diese ganze Geschichte war – wie gemein! Er fühlte sich total erschöpft und in den Schmutz gezerrt; er war ganz außer sich und fand erst allmählich zu seiner gewohnten Sammlung und Urteilsfähigkeit zurück. Zweifellos, er hatte herausbekommen, was er wissen wollte. Die Gefahr war geringer, als er gedacht. Die Augen dieses Mädchens! Ihre Ergebenheit war unverkennbar. Sie würde Larry nicht preisgeben. Larry mußte verschwinden, jawohl – nach Südamerika – nach dem Osten – ganz gleich wohin. Doch er empfand keine Erleichterung. Das billige, geschmacklose Zimmer mit seiner Atmosphäre schmutziger Liebe ließ seine Phantasie nicht mehr los; was für Leidenschaften mochten diese vier gelben Wände und diese roten Polstermöbel schon gesehn haben! Das Gesicht dieses Mädchens! So ergeben, aufrichtig und schön, seltsam ergreifend in jenem Rahmen von Dunkel und Grauen, in jener Höhle des Lasters und der Unzucht! … Der dunkle Torbogen; der Gassenjunge mit seinem heitern Ruf: ›Sie haben ihn noch nicht erwischt‹; die weichen, nackten Arme um seinen Hals; das entsetzte Flüstern in der Dunkelheit; und alles andere verdrängend, immer und immer wieder ihr kindliches Gesicht mit den treuherzigen Augen! Plötzlich stand er mitten auf der Straße still. Um Himmelswillen, was hatte er nur vor? Welch grotesker, schattenhafter Spuk trieb da mit ihm sein Spiel! Welch unheimliche Überspanntheit! In diesem Augenblick liefen sein Ordnungssinn und seine Erfahrung, die Wirklichkeit des täglichen Lebens mit aller Kraft gegen die neuen Eindrücke Sturm und fegten sie über den Haufen. Es war ein Traum, ein Fieberwahn – nicht waches Erleben! Er, gerade er sollte in so dunkle, phantastische Geschehnisse verwickelt sein – einfach lächerlich!

Er war jetzt bis zum ›Strand‹ gekommen, zu der Straße, durch die er seinen täglichen Weg zum Gericht nahm, zu seiner Arbeit, zu seiner würdevollen, regelmäßigen, untadeligen und gediegenen Arbeit. Nein, das alles war ein wahnwitziger Fiebertraum! Er würde schwinden, sobald Keith die Gedanken auf die vertrauten Gegenstände ringsum konzentrierte, die Firmenschilder läse, die Gesichter der Passanten besähe. Weit unten, gegen das Ende dieser Verkehrsstraße, erblickte er die alte Kirche und dahinter die Umrisse der Gerichtsgebäude. Die Glocke der Feuerwehr ertönte, Pferde jagten im Galopp vorüber – glänzendes Metall, klappernde Hufe, ein heiseres Geschrei. Diese Wirklichkeit schien ihm harmlos, alltäglich und ganz in Ordnung. Ein Dämchen strich um die Ecke, warf ihm einen Blick zu und rief keck: »Guten Abend!« Selbst das war nicht ungewöhnlich, war erträglich. Zwei Schutzleute kamen vorbei, einen Betrunkenen in ihrer Mitte, der fluchend um sich schlug; der Anblick wirkte beruhigend, alltäglich, rief für einen Augenblick Interesse, Verdruß und Ekel wach. Es begann zu regnen, vergnügt spürte er die Tropfen auf seinem Gesicht – nichts Außergewöhnliches, eine Tatsache, ein alltägliches Ereignis!

Er ging daran, die Straße zu kreuzen. Nun, da kein Omnibus mehr fuhr, jagten Droschken in rasender Eile vorüber; diese tatsächliche, unmittelbare Gefahr des Alltags lenkte ihn ab. Während er die Straße überquerte, der Regen ihm ins Gesicht schlug und die Droschken vorübersausten, gewann er zum ersten Mal seine Sicherheit wieder, schüttelte er das Gefühl der Unwirklichkeit ab, das Gefühl, er stehe im Bann einer unbekannten Macht; entschlossen schritt er auf die Seitengasse zu, in der er wohnte. Doch in dieser schwächer beleuchteten Gegend stand er wieder still. Auf der andern Seite war ein Schutzmann ebenfalls in diese Gasse eingebogen. Es war doch nicht – bestimmt nicht –! Lächerlich! Sie sahen alle gleich aus – diese Kerle! Lächerlich! Rasch ging er weiter und schloß die Haustür auf. Aber während er die Treppe emporstieg, konnte er der Versuchung nicht widerstehn, vom Treppenhaus hinter einem Fenstervorhang hinunterzuspähn. Gewichtig schritt der Schutzmann etwa zwanzig Meter weiter, ohne daß irgendetwas seine Aufmerksamkeit zu erregen schien.


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