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Buchschmuck

Achtes Kapitel.
Auf dem Balle.

Konzert und Ball! Zwei magische Worte für viele Menschen auf der Welt, fürwahr! Selbst in dem reizenden Interlaken – man sollte es kaum glauben – wo die Natur ringsum ihre großartigsten Schönheiten und Reichtümer in fast verschwenderischer Fülle ausgestreut hat, üben sie noch eine gewaltige Anziehungskraft aus und locken die Menschen an, die sich vorher nicht laut genug rühmen konnten, daß einzig und allein die natürlichen Reize und die gesunde kühle Luft der Berge sie nach dem Mittelpunkt der Schweiz gezogen haben. Diese natürlichen Reize und diese kühle gesunde Luft nun suchen sie in einem von Menschen vollgepfropften Ballsaal auf, und sie würden sich für ausgestoßen aus der menschlichen Gesellschaft halten, wenn sie in dem berauschenden Taumel, der mit einem Mal alle beim ersten Geigenstrich befällt, nicht mittaumeln und wenigstens einige Stunden lang die fast unerträgliche Hitze, den wirbelnden Staub und die schalen Redensarten mitgenießen sollten, die in dem prachtvollen Gesellschaftshause an diesem Abend für teures Geld zu haben sind.

Ja, die Welt ist ein seltsam wunderbares Ding, und man weiß oft wirklich nicht, ob man sich über die närrischen Menschen, die sie bewohnen, ärgern oder halb totlachen soll. Ihre Heimat mit all ihren Bequemlichkeiten verlassen sie, um aus dem Wust und Gelärm übermäßiger Zerstreuungen sich zu retten und in der freien Schweizer Bergluft Genesung und Kräftigung zu suchen, und kaum kündigt ein vergnügungssüchtiger, gelangweilter Kurmacher einen Ball an, so stürzen alle wie wahnsinnig dahin, wo die Geige und die Trompete erklingt, als hätten sie in ihrem ganzen Leben noch kein ähnliches Vergnügen mitgemacht. Aber man will ja kein besonderes Vergnügen daselbst finden, Gott bewahre! Man will bloß die prickelnde Neugierde befriedigen, will sehen, wie die Engländerinnen, Französinnen, Russinnen und Gott weiß welche weiblichen Ausländer sich kleiden und putzen, wie sie tanzen, wie sie springen, wie sie kokettieren und nebenbei auch, wie sie gegenseitig übereinander die Nase rümpfen, sich verspotten, um morgen am hellen Tage auf der Promenade mit übernächtigen Gesichtern und lahmen Beinen zu sagen: Die hatte die schönste Toilette gemacht, jene hat die schönsten Brillanten getragen, der hat am kavaliermäßigsten getanzt, und jener hat am tiefsten in das Glas gesehen!

Ja, so waren auch an diesem gesegneten Balltage alle jungen Leute aus der vornehmen Gesellschaft Interlakens gesinnt, und schon nachmittags um vier Uhr waren alle Spaziergänge leer, und man sah nur noch einige alte Herren und Damen und einige nicht zur feinen Gesellschaft gehörige junge Männer auf den Straßen wandeln, die für sich in aller Behaglichkeit auch einen besonderen Festtag feierten, da sie einmal bequem und ungestört über den Höheweg spazieren konnten, ohne von einem übermütigen Albiontouristen umgerannt oder von dem Staub der Schleppen übereleganter Damen belästigt zu werden.

Auch auf unsern jungen Freund hatte der heutige Festtag eine ganz eigentümliche Wirkung geübt, aber nicht etwa, weil er sich auf jenen Ball und den Tanz freute, sondern weil ihm dieser Ball eine lange ersehnte Gelegenheit bot, einmal ungestört in zwei schöne Augen blicken und von einem reizenden Lippenpaar einige Worte erlauschen zu können, ein Vergnügen, welches ihm seit kurzer Zeit als das Höchste der Welt erschien, während er wenige Wochen vorher noch darüber gelacht haben würde, wenn ihm ein Prophet diesen Geschmacksumschlag vorhergesagt hätte.

Franz befand sich an diesem Tage vom frühen Morgen an in einer fieberhaften Unruhe und geistigen Spannung, die sich schon in seinem äußeren Wesen jedem ruhigen Beobachter gegenüber aussprach. Das fühlte und sagte er sich selbst, und daher vermied er an diesem Tage so viel wie möglich die Gesellschaft seiner Verwandten und zog sich, was ihm durch seine besonderen Verhältnisse so leicht gemacht wurde, sehr bald in sein stilles Künstlerasyl zurück, wo seine Augen so feurig blicken konnten, wie sie wollten, und wo sein Gesicht bald eine blasse, bald eine wärmere Farbe annehmen durfte, je nachdem Sorge oder Hoffnung in ihm um die Oberhand stritten und dunklere oder heitere Bilder vor seiner aufgeregten Phantasie auftauchten.

Aber bei all dieser geistigen Aufregung und Spannung hörte er keinen Augenblick auf, ein Künstler und dabei recht fleißig zu sein, ja er war an diesem Tage erst recht ein Künstler, denn nie hatte er sich zum Malen so aufgelegt gefühlt, nie hatte sein Auge ein so richtiges Urteil, nie seine Hand eine so schwungvolle Fertigkeit entwickelt, wie heute. Gerade heute legte er die letzte Hand an seine auf der Grimsel erfundene Komposition, jene schottische Hochlandschaft, und mit jedem Strich, den er dem fast vollendeten Gemälde zufügte, brachte er einen effektvollen Reiz hervor und Licht, Schatten und Farbe verteilte er mit so richtiger und genauer Abwägung, daß das Bild heute erst seine ganze Schönheit und Abrundung erhielt. Besaß er nun dabei eine seltene und erstaunliche Ausdauer, oder rollten ihm die Minuten und Stunden unter den Fingern dahin, genug, der Vormittag verging ihm wie im Fluge und, nachdem er nur eine halbe Stunde dem Mittagstisch und seinen Verwandten geopfert, eilte er wieder in das Atelier zurück, wo ihn niemand störte und wo heute seine ganze Welt lag, denn die Luft darin schwirrte von süßen Träumen, und goldene Hoffnungen und die guten Geister der Erinnerung waren wachgeworden und flüsterten ihm köstliche Momente aus vergangenen schönen Stunden zu.

Als der Nachmittag aber in den Abend überging, als das Licht in dem kleinen Raum abzunehmen begann, trennte er sich endlich von seinem Werke, das er nun für vollendet erklärte. Er reinigte in aller Ruhe seine Geräte und stellte sie an ihren Platz, und als er alles vollbracht wie an jedem gewöhnlichen Tage, schloß er das Zimmer und trat in den Garten hinaus, um in der wonnigen Sommerluft einige frische Atemzüge zu schöpfen.

Aber dieser kurze Erholungsgang sollte ihm nicht so ungestört verlaufen, wie seine Arbeit den ganzen Tag über. Tante Karoline hatte schon lange auf sein Erscheinen gelauert und war bereits mehrmals um das kleine Häuschen herumgeschlüpft, in das sie nicht eintreten wollte, weil sie ihn in seiner Arbeit zu stören fürchtete. Jetzt aber, als sie ihn, ruhig die Hände auf den Rücken gelegt und eine seine Zigarre rauchend, die er vom Senator zum Geschenk erhalten, im Weingang wandeln sah, trat sie zu ihm heran, warf einen hastigen Blick auf sein belebtes Gesicht und redete ihn mit liebreicher Miene an, um sich nach seinem Bilde zu erkundigen, das er heute, wie sie wußte, zu vollenden sich vorgenommen hatte.

»Es ist fertig, liebe, gute Tante,« antwortete er auf ihre Frage, »und ich kann es dir wohl vertrauen, es ist mir gelungen. Morgen sollst du und der Vater es in Augenschein nehmen, und dann mögt Ihr mir Eure Meinung sagen.«

»So, das freut mich,« erwiderte Karoline. »Aber ich rate dir, deine schöne Schottin heute abend noch recht ordentlich anzusehen, vielleicht findest du noch etwas an ihr heraus, was dich dein Bild morgen verbessern läßt.«

»Das glaube ich kaum, Tante. Man kann auch des Guten zu viel tun, und ich habe mir dies Gesicht und diese Gestalt so oft betrachtet, daß ich sie dir sogar hier mit dem Stock treffend ähnlich in den Sand zeichnen könnte.«

»Das laß nur lieber bleiben,« mahnte die Tante, die mit einem Male wieder von ihrer Sorge gepackt wurde. »Komponiere und baue deine Göttergestalten auf die Leinwand, aber nicht auf den Sand. Jene sind dauerhafter und diese sehr trügerisch, sie verschwinden gar zu leicht wie chimärische Luftschlösser, wenn der geringste Wind von der unrechten Seite bläst.«

Franz sah die so ernst und fast traurig Redende forschend von der Seite an und umfaßte sie herzlich. »Tante,« rief er, »mache heute um Gottes willen kein mürrisches Gesicht. Sieh, ich bin so glücklich heute, daß ich – ja, daß ich mein Bild vollendet habe, und wenn ich es verkaufen wollte, ich bekäme gewiß wieder hundert Louisdor dafür.«

»Aber du wirst es nicht verkaufen, nicht wahr?«

»Gott bewahre mich! Das bleibt mein Eigen, und wenn ich – wenn ich nach Italien ziehe, dann soll es dein Zimmer schmücken, das verspreche ich dir.«

Karoline liebkoste den Neffen und sagte: »Das wäre ein seltener Schmuck, Franz, solch' einen besitze ich noch nicht von deiner Hand.«

»Nun, so soll es der erste sein, und verlaß dich darauf, es ist nicht der schlechteste, den ich dir bieten kann.«

»Ich weiß es, ich weiß es!« murmelte die Tante vor sich hin, und sie hätte gern noch mehr und laut gesagt, aber sie wagte es nicht, denn sie mochte unter keinen Umständen die glückliche Laune ihres Lieblings stören. Nachdem sie nun noch einige Zeit auf- und abgewandelt, ermahnte sie ihn, nicht die Stunde zu vergessen, die ihm der Senator bestimmt, und lieber beizeiten an seine Toilette zu denken, auf die er doch heute große Sorgfalt verwenden müsse.

»Allerdings,« erwiderte er scherzend, »und ich werde sehr ungeschickt dabei sein, denn ich habe mich lange nicht zu einem Balle geputzt.«

»Soll ich dir helfen?«

Franz lachte laut auf. »Ach nein,« sagte er, »ich bin ja kein junges Mädchen, das einen Friseur, eine Kammerjungfer und eine krittelnde Mutter gebraucht, das macht sich bei mir alles von selbst.« –

Gegen halb sieben Uhr ging er in sein Zimmer und kleidete sich an, was ihm in der Tat keine Mühe verursachte, denn es ging wirklich alles wie von selbst. Bald nach sieben Uhr schon war er fertig, und da es noch zu früh war, um den Wagen des Senators zu erwarten, stellte er sich ans Fenster und schaute nach der Jungfrau empor, die sich eben in ihr herrlichstes Abendkleid zu hüllen begann, als wollte sie auch zu Balle gehen und ihren zahlreichen schönen Gefährtinnen den Rang ablaufen. Schon begann sich ihr mächtiger Sockel mit sanft rötlichem Schimmer zu bedecken, der schneeige Busen prangte bald darauf in glühenden Feuerglanz, und endlich färbte sich auch die erhabene Stirn mit goldenen Farben, so daß sie zuletzt in ihrer ganzen hehren Herrlichkeit vor den Augen des fast geblendeten und entzückten Malers stand.

»O mein Gott,« sagte er still zu sich, »wie groß und mächtig hat Gott seine Welt gebildet, und wie reizend hat er sie geschmückt, das sehe ich alle Tage mehr, je weiter sich mein Auge und mein Herz ihrem Zauber öffnet! So, gerade so, strahlten die Berge vor Grindelwald auch an jenem denkwürdigen Abend, bevor wir den Gletscher erstiegen, und der herrlichen Beleuchtung folgte eine glückliche Nacht. Heute sind die Berge wieder so schön – wird die heutige Nacht ebenso glücklich sein?«

Es war eine Frage, die er an das Schicksal richtete, ohne es selbst zu wissen, aber das Schicksal antwortet nicht immer sogleich, man muß Geduld haben und auf die Stimmen achten, die uns die Antwort leise ins Ohr flüstern, denn oft kleidet das Schicksal, die launenhafte Macht auf der Welt, seine Sprache in ganz eigentümliche Laute, und der Mensch hat nicht immer die rechten Ohren dazu, um in die geheimnisvollen Tiefen zu dringen, die das Verhängnis bei jedem Schritt rings um ihn geöffnet hält.

Als er so dastand und träumerisch nach den glühenden Bergen blickte, streckte Karoline, ungeduldig wie nie, wieder den Kopf durch die Türspalte und fragte, ob sie eintreten könne.

»Komm nur herein,« rief Franz, »und sieh dir die Jungfrau an. So schön wirst du sie lange nicht gefunden haben.«

»Die da?« fragte Karoline, nach dem großen Schneeberge deutend. »O ja – ich habe sie schon draußen mit deinem Vater bewundert – aber nicht der Jungfrau wegen bin ich zu dir gekommen, sondern deinetwegen, und nun laß mich einmal die krittelnde Mutter sein, die ihren Liebling prüft, ob er auch aussieht, wie er aussehen soll.«

Dabei stellte sie sich vor ihn hin und betrachtete ihn lange vom Scheitel bis zu den Füßen, und endlich, als sie ihn lange genug betrachtet, sagte sie: »Ich bin zufrieden mit dir, und andere werden es auch sein.«

Die gute Tante hatte recht, denn lange nicht hatte sich Franz so vorteilhaft dargestellt, wie an diesem verhängnisvollen Abend. Der feine schwarze modische Anzug, die weiße Weste und das schmale Halstuch mit dem kunstgerecht geschlungenen Knoten stand der stattlichen und jugendlich kräftigen Gestalt außerordentlich gut. Sein geistreiches, edles, in der Regel blasses Gesicht war heute von einer warmen Röte angehaucht, und aus seinen großen blauen Augen schossen Strahlen, wie sie nur selten darin leuchteten. Auch sein reiches braunes Haar floß in üppigen Wellen von den Schläfen, und der leicht gekräuselte Bart gab den lebensvollen Zügen einen kräftigen und zugleich charakteristischen Ausdruck.

»Hast du auch Kölnisches Wasser verwandt?« fragte die Tante, aus der Tasche eine Flasche nehmend und sie dem Liebling hinreichend.

Franz lächelte und nahm sie ihr freundlich ab. »Du denkst an alles,« sagte er, »mir wäre jetzt das Wasser nicht eingefallen, selbst das Kölnische nicht.«

»Ich glaube es dir wohl, du hast heute nur mit dem Feuer zu tun, aber spiele nicht damit, man verbrennt sich zu leicht die Finger, wenn man unachtsam ist. – Doch ich will dir keine Lehren mehr geben, du bist heute viel zu kavaliermäßig geputzt, und es ziemt mir nicht, die Sittenpredigerin zu spielen.«

»Sprich nicht von Kavalier, ich bin nur ein Künstler, und weiter will ich nichts sein.«

Die Tante schloß ihn sanft in ihre Arme und küßte ihn herzlich, als ginge er zum gefährlichsten Tournier, und sie müsse Abschied auf Leben und Tod von ihm nehmen.

Gleich darauf kam Doktor Marssen herein und sagte: »Ich glaube, der Wagen kommt schon, Franz, mache dich fertig!«

Franz nahm einen leichten Oberrock über den Arm, ergriff seinen Hut, zog die Handschuhe an und sagte: »Ich bin fertig, Vater!«

»So, dann vergnüge dich, mein Junge!« –

»Herr Franz! Herr Franz!« rief Resi von außen. »Der Wagen ist vorgefahren, und die Herrschaften sitzen alle darin!«

Franz sagte rasch den Seinigen Lebewohl, diese begleiteten ihn vor die Tür und begrüßten die Familie des Senators. Zwei Minuten darauf war der Wagen wieder fortgerollt, und Karoline sah ihm mit wehmütigen Blicken nach und sagte zu sich:

»Gott geleite ihn! Er fährt zu einem Vergnügen, aber mir – mir ist zu Mute, als ob er zum Richtplatz geführt würde, und der Senator hatte ein so bleiches spitzes Gesicht, daß ich mich wirklich vor ihm gefürchtet habe. Nun, er ist ja ein guter Freund von uns und von ihm, und so ist er ja in sicheren Händen!«

Damit ging sie ihrem Bruder in das Haus nach, aber sie war den ganzen Abend mit ihren Gedanken nicht zu Hause, sondern mit auf dem Balle und sah im Geiste jede Dame, die in den Saal trat, und hörte im Geiste jedes Wort, was zwischen dem schönen Mädchen aus dem Nachbarhause und ihrem Liebling gesprochen wurde.

Ach! Wenn sie jedes Wort, welches an diesem Abend gesprochen wurde, mit ihren leiblichen Ohren gehört hätte, sie würde noch mehr gebebt und gezittert haben, als sie es so schon tat. –

*

Wer die Gelegenheit gehabt hat, in den höheren Gesellschaftskreisen großer Städte einen prachtvoll erleuchteten Ballsaal voll schön geschmückter Frauen zu sehen, wird schon oft über das bunte Allerlei farbiger Stoffe und die seltsamen Zieraten, die er an denselben wahrgenommen, erstaunt gewesen sein. Aber wenn schon in Paris, London, Wien oder Berlin, wo im ganzen doch immer dieselbe maßgebende Mode, nur je nach dem individuellen Geschmack in verschiedenen Abstufungen herrscht, wenn in diesen großen Städten schon jenes bunte Allerlei einen hohen Grad erreicht, was will das gegen einen Ballsaal an einem reich besuchten Badeorte sagen, wo alle Nationen der zivilisierten Welt zusammenströmen und ihre eigentümlichen Moden, Farben und Formen in allen möglichen Variationen und oft in gesuchtester Weise den Augen der staunenden Welt vorführen?

Interlaken nun, dieser Zentral- und Sammelpunkt aller Schweizerreisenden, wo man sich jedoch verhältnismäßig viel freier und zwangloser bewegt als an irgend einem anderen Luftorte, weil das kühne und abenteuernde Touristenvolk den Versammlungen der feinen Gesellschaft ein viel weniger höfisches Gepräge verleiht, Interlaken bietet bei Gelegenheiten, wie wir sie heute vor Augen haben, eine wahre Musterkarte aller Trachten und Geschmacksrichtungen Europas dar und man kann in der Tat bei der Mannigfaltigkeit und dem bunten Wirrwarr, der hier zutage tritt, bewundernswerte Studien, namentlich an dem schönen Geschlecht machen, welches sich hier aller Welt in besonderer Ungezwungenheit präsentiert.

In dem Jahre, in welches unsere Erzählung fällt, war das beregte Ballfest ungewöhnlich zahlreich besucht und zeichnete sich durch einen daselbst noch nie gesehenen Glanz aus, denn nie hatte die Summe der Gäste, Reisenden und Touristen eine solche Höhe wie in diesem erreicht. An Zahl bei weitem überwiegend waren die Engländer; aber auch alle übrigen Nationen, fast ohne Ausnahme, waren reichlich vertreten, und so begeben wir uns denn in eine Gesellschaft, die sich weit mehr durch Reichtum und nationale Eigentümlichkeiten als durch Schönheit des weiblichen Geschlechts auszeichnete, denn an wirklichen Schönheiten mangelte es, trotz der uns widersprechenden Ansicht des Herrn Senators, gar sehr. Damit soll nicht gesagt sein, daß keine angenehme, liebliche oder an einzelnen Reizen besonders hervorragende Persönlichkeiten vorhanden gewesen wären, o nein, indessen unserm Geschmack, die wir dieser Gesellschaft ebenfalls beiwohnten, sagten die Damen weniger als an anderen Orten, und am wenigsten die vielgerühmten Engländerinnen zu, die in ihren kurzen, schlaff herabhängenden und aller Grazie baren Roben sich auf der Stelle vor allen übrigen eben als Töchter ihrer gepriesenen Nation darstellten.

Sehr elegant, mit ihnen verglichen, traten dagegen die Französinnen auf; ihre weitbauschigen, mehr leichten als schweren Schleppkleider von ungeheurem Umfange und fast weltkugelartiger Rundung machten sie jedoch im eigentlichen Sinne des Worts unnahbar und zum Tanze ungeschickt, wenngleich wir, als ehrliche Beobachter, gestehen müssen, daß die lieben Deutschen sich darin kaum weniger hervortaten.

Was den Kopfputz anlangt, so fanden wir denselben im ganzen bei weitem zu überladen, zu bunt, zu schwerfällig, und die Haartrachten boten sogar ein staunenswertes Bild wahnsinniger Überkünstelung dar, denn wenn die Engländerinnen Scheitellocken trugen, die bei einigen fast bis zur Taille herabreichten, so waren die Französinnen mit einem wahren Turmbau belastet, wogegen die deutschen Frauen in dieser Beziehung sich in weit gefälligeren Schranken hielten.

Einige Russinnen und Polinnen, auch einige ungarische Damen, erschienen in ziemlich vollständigem und kleidsamem Nationalkostüm: eine Spanierin war sogar als lustiger und halbdurchsichtiger Zephyr gekleidet, und eine Amerikanerin glich fast einer phantastisch ausgeputzten Squaw eines berühmten, auf vollständige Bekleidung nicht allzuviel gebenden Indianerstammes und schien bemüht zu sein, bei den verwunderten Zuschauern die Idee hervorzurufen, daß noch manches in ihrem überseeischen Vaterlande in etwas primitivem Zustande begriffen sei, der dicht an die Grenzen des Wilden streifte und noch sehr wenig mit den Sitten der diesseitigen Welt harmonierte.

Von den Herren erschienen die meisten im modernen Frack, nur einige Engländer hatten sich in Phantasieröcke von leichtem Sommerstoff geworfen, und einige exzentrische Touristen sogar, die ebenfalls aus jenem gepriesenen Insellande stammten, aber wahrlich nicht die noch mehr gepriesene Kultur desselben mit sich herumtrugen, waren dreist genug, in einer Art phantastischer Gletschermaskerade zu erscheinen, und sie erreichten ihren Zweck vollkommen, wenn sie geglaubt hatten, daß man sie als mit dem Gletscherspleen behaftete Individuen belächeln würde, der zu ihrem übrigen unheilbaren Spleen noch hinzugekommen war. –

Als der Senator mit seiner Gesellschaft in den glänzend erleuchteten und mit stark duftenden Blumen und Gewächsen geschmückten Konzertsaal trat, fand man den größten Teil der Ballgäste schon versammelt. Die Damen saßen in Familiengruppen an einzelnen Tischen, die vor der erhöhten Tribüne der Sänger und Musiker in weitem Kreise aufgestellt waren, mit Grazie ihren Tee schlürfend, die von Erwartung strahlenden Augen bald auf die Eingangstür gerichtet, um mit Hilfe aller Sorten von Gläsern die Eintretenden zu mustern, bald auf benachbarte Personen, die so glücklich gewesen waren, ihnen irgend einen kleinen Beifall, oder so unglücklich, ein spöttisches Lächeln abzugewinnen. Auch einige ältere Herren saßen schon bei den Damen, gemütlich plaudernd, witzelnd und die frisch Anlangenden mit spitzigen Redensarten bekrittelnd; die jüngeren jedoch hatten sich so dicht wie möglich um die Eingangstür gruppiert, teils aus purer Neugierde, teils um die ersten zu sein, die noch erwartenden Damen mit einem geheimnisvollen Gelispel zu empfangen und den längst vorbereiteten Strauß mit der Bitte zu überreichen, ihnen das Glück und die Ehre des ersten oder zweiten Tanzes zu gewähren.

Unter diesen Herren, obwohl nicht ganz von denselben Impulsen getrieben, finden wir auch den Senator und Franz Marssen auf. Ersterer, sobald er seine Damen an einen günstig gestellten Tisch gebracht, um den schon mehrere ihrer Bekannten saßen, hatte seinen jungen Gast unter die Arme gefaßt und indem er sagte: »Kommen Sie, wir wollen auch einmal neugierig sein!« zog er ihn beinahe bis an die Tür heran, wo er ihm nun viele eintretende Herren und Damen mit Namen bezeichnete, denn Herr von Dannecker gehörte zu den seltsam begabten Wesen, die gleich überall orientiert sind und jedermanns Namen und Charakter wie von den Winden zugeflüstert erhalten.

Franz, der schon lange vorher, ohne daß der Senator es merkte, einen raschen Blick über die anwesenden Damen hatte schweifen lassen, um unter ihnen die eine zu erspähen, die ihn zu einem so eifrigen Ballgänger gemacht hatte, stand anscheinend ruhig an der Seite des Freundes, nur dehnte er seinen Körper von Zeit zu Zeit in seine ganze Länge aus, um über die Köpfe der Vorstehenden fort die auf den Korridor sich sammelnden Gäste schon aus der Ferne zu rekognoszieren. Wenn er dabei voller Erwartung und Spannung war, daß der rechte Moment bald kommen werde, so mußte er sie etwas lange im Zaume halten, denn es kamen der schönen und eleganten Damen zwar noch viele, blaue und schwarze Augen strahlten ihr Licht, ihren freudigen Glanz vor ihm aus, aber die eine, die einzige, nach der er Verlangen trug, sie ließ sich noch immer nicht blicken, wie ja die Hauptpersonen überall und stets das Vorrecht haben, die Geduld ihrer unruhigen Verehrer auf die Probe zu stellen.

Endlich aber sollte Franz die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches naherücken sehen. Sein Auge flammte höher auf, seine Brust hob sich über dem laut pochenden Herzen, denn eben hatte er schon draußen auf dem Korridor den dicken Holländer und seine gute Frau wahrgenommen, die sich nur noch nach jemanden umzublicken schienen, der hinter ihnen war und sichtbar zu werden zögerte. Da aber kamen sie endlich heran: der General-Konsul führte seine Gemahlin, hinter Ihnen Herr Jan van der Hooft seine niedliche Braut, und hinter diesen beiden schritt ein Paar einher, wie es für Franz in diesem Augenblicke kein bedeutungsvolleres auf der Welt geben konnte.

Das holländische Ehepaar schritt mit vergnügten, rechts und links hin nickenden Gesichtern herein und auch Franz und sein Nachbar bekamen einen freundlichen Gruß. Das Brautpaar beglückte die Versammlung weniger mit seinen Blicken, es hatte nur Augen und Ohren für sich, denn Herr van der Hooft war mit seiner Geliebten eben in einem süßen Geplauder begriffen, welches in dem Augenblick begann, als sie seinen Arm ergriff und den voranschreitenden Eltern in den Konzertsaal folgte.

Aber die geheimnisvolle Exzellenz, Baron Bolton, wie sah die heute aus? Franz erschrak fast, als er den nie besonders geliebten Mann nach längerer Zeit wiedersah. Wo war die stolze, herausfordernde Haltung mit dem hochmütig erhobenen Kopfe, wo die gebieterische Miene mit der trotzigen Stirn und dem eiskalten, wegwerfenden Lächeln geblieben? War der Mann in Wochen um Jahre gealtert? Welche unsichtbare schwere Last drückte seine Schultern nieder, welche Entbehrung und Sorge hatte seine frühere Körperfülle so rasch verzehrt, daß er in den viel zu weit gewordenen Kleidern jetzt nur noch saft- und kraftlos zu hängen schien? Und welcher Kummer hatte die Schatten herbeigerufen, die um seine Mundwinkel, um seine Augen und auf seinen fast abgehärmten Wangen lagen? Ja, auch sein starkes, dunkles Haar hatte unter allen diesen äußeren Einwirkungen leiden müssen, denn, so schien es Franz wenigstens, es war fast aschenbleich geworden und auch der braune Vollbart zeigte bereits eine Farbenmischung, die an jenem Tage auf der Furca noch nicht so deutlich hervorgetreten war.

Doch alle diese Beobachtungen stellte der Maler nur im Fluge an, und jedes einzelne Merkmal erfaßte sein scharfes Auge gleichsam blitzschnell; viel länger dagegen ruhte es auf der frischen, ungebrochenen Gestalt der Dame, die am Arm des mächtigen Mannes langsam einherschritt, und auf ihrem durchsichtig klaren Gesicht, welches eine ruhige, obwohl gespannte Miene zeigte und dessen blitzendes Auge sich stolz senkte, als es, kaum in den Saal getreten, aller Augen mit fast starrender Neugierde auf sich gerichtet sah.

Miß Edda trug an diesem Abend ein schneeweißes Atlaskleid mit glatt anliegender Taille, über welches ein duftiges, mit dunkelroten Blumenbuketts durchwebtes Kleid von weißer Seidengaze gezogen und am linken Knie mit einer Kamelie aufgenommen war. Vor der Brust, am tiefsten Ausschnitt des Kleides, prangte eine wundervolle frische Rose; das kurz geschnittene, hinten nach innen umgewellte, vorn aber schief gescheitelte Haar, schmückte ein dunkelroter Kamelienkranz, der erst vor wenigen Augenblicken aus der Hand des Gärtners auf diesen herrlichen Kopf übergegangen zu sein schien. In der linken Hand hielt sie ein großes prachtvolles Bukett von Kamelien, Rosen und Granatblüten. Die ganze Gestalt, als sie in den Saal trat, umgab eine lichte, durchsichtige Spitzenmantille, sonst aber waren Schultern, Nacken und Arme vollkommen entblößt und kein einziger Schmuck an ihrem Körper sichtbar, außer einem schmalen Halsbande von echten Perlen, die gegen die blendende Weiße ihrer Haut fast gelb erschienen.

Franz Marssen hatte Miß Edda noch nie im Ballkostüm gesehen und es war also das erste Mal, daß er ihren klassischen Wuchs und ihren Formenreichtum in so vollkommener Gestalt erblickte. Und in der Tat, er war fast erschrocken über die Fülle aller Schönheiten, die er sich jetzt so nahe gerückt sah. Ihm kam diese Pracht der geschmeidigen Glieder, diese volle Rundung der Schultern und Arme wie aus Marmor gebildet vor, über den sich Ströme warmen Lebens und Lichtes ergossen, und wir dürfen es erklärlich finden, wenn der bescheidene Künstler bei diesem Anblick beinahe verzagte und die Wagschale der Hoffnung, von einem solchen Weibe geliebt werden zu können, auf einmal tief, tief sinken sah. Aber doch war er wiederum so mutig und kühn, daß er, bevor er ganz verzweifelte, seinem Schicksal noch einmal die Stirn bot und mit blitzschnellem Auge nach dem Ausdruck des schönen Antlitzes fuhr, das sich ihm, da das Paar nur sehr langsam schritt, auf längere Zeit darbot.

Als Miß Edda allmählich herankam, glaubte er zu bemerken, daß sie ein von innerer Erregung bleiches Gesicht habe, das aber immer noch ruhig und mit sich beherrschender Spannung gerade vor sich hinblickte. Als sie aber ganz in seine Nähe gekommen, hob sie die halb gesenkten und mit langen schwarzen Wimpern besetzten Augenlider auf, und aus ihrem Feuerauge funkelte ihm ein Blick entgegen, der mit einem leisen, rasch vorübergehenden Lächeln um die zuckenden Lippen gepaart war.

Das war ihr Gruß, als er sich tief vor ihr verneigte, und er verstand ihn auf der Stelle, denn er sagte ihm: »Sie sind mir willkommen, und ich hoffe, es Ihnen auch zu sein!«

Als aber dieser rasche Blick abgesandt, war sie an ihm vorübergerauscht, und Franz wie alle übrigen, die ihn umstanden, konnten nur noch auf einen Augenblick den fremdartigen lieblichen Duft einatmen, auf den schon Tante Karoline ihren Liebling aufmerksam gemacht hatte.

Dieses letzte Paar hatte augenscheinlich eine allgemeine Sensation erregt. Lautere und leisere Worte wurden rechts und links geflüstert, und ein alter, sechs Fuß hoher Engländer, mit eisgrauem Haar und bis auf die Schultern herabhängendem Backenbart, war von der unbekannten Erscheinung so hingerissen, daß er sich verleiten ließ, mit fest zusammengebissenen Zähnen die seiner Umgebung verständlichen Worte zuzumurmeln:

»Gott verdamme mich! Das ist ein schönes Weib!«

Aber Franz war nicht der einzige Beobachter gewesen, der mit haarscharfem Auge dies seltene Paar betrachtet hatte; es stand noch jemand, mit guten Sinnen begabt, neben ihm, der sich jetzt, als der Baron mit seiner Tochter vorübergerauscht war, mit einem leisen sarkastischen Zug um die Lippen, der unserm Freunde wie ein Schnitt durch das Herz fuhr, zu ihm wandte und sagte:

»Nun – also das war Ihre Schottin und deren Vater, nicht wahr?«

»Ja,« stammelte Franz, »kennen Sie sie?«

Der Senator zuckte lächelnd die Achseln und erwiderte mit einem seiner funkelndsten Blicke: »O ja! Und wenn ich auch eigentlich nur den Vater von früher her oberflächlich kannte, so haben Sie doch dafür gesorgt, daß ich heute die Tochter, die ich zum ersten Male sehe, erkannte. Und hier, mein lieber Freund, muß ich Ihnen gleich auf der Stelle ein Kompliment machen, das Sie in Wahrheit verdienen. Sie haben die schöne Person – denn schön ist sie bei Gott! – vortrefflich getroffen und, ich sehe es jetzt mit eigenen Augen, Sie haben ihr auf dem Bilde nicht im geringsten geschmeichelt. Offenbar ist sie die schönste Dame in ganz Interlaken in diesem Augenblick, und Ihr Auge hat sich in meinen Augen bewährt, daß es gerade diese von allen herausgefunden und sich einen so würdigen Gegenstand für Ihren Pinsel gewählt hat.«

Franz befiel ein leises Zittern, denn es lag unleugbar ein absichtlicher Spott in den Worten des Sprechenden. Er wollte eben eine Frage an ihn richten, aber er kam nicht dazu, denn soeben ließen sich die ersten Töne des Orchesters vernehmen. Der Senator, als sähe er diese Unterbrechung ihres Gespräches nicht ungern, nahm mit freundlicher Miene seinen Gast unter den Arm und zog ihn von der Tür fort nach einer Stelle im Saal, wo sich die zuhörenden Herren gesammelt hatten, um nun auch ihren Ohren einen kurzen Genuß zu vergönnen.

In einer Ecke, unter einem blühenden Granatbaum, fand Franz seinen Platz, aber er sah und hörte nur wenig, was um ihn her vorging. Sein brennendes Auge war allein auf einen Tisch in der Mitte des großen Saales gerichtet, an welchem die holländische Familie und der Baron Bolton mit seiner Tochter Stühle gefunden, in deren Nähe sich soeben Baron Tekeli aufgestellt hatte. Dieser erwies mit ungewöhnlich heiterer Miene den Damen alle Aufmerksamkeit, und als er sich endlich setzte, nahm er neben dem Baron Platz, in dessen regungslosem, kaltem Gesicht sich indessen kein Muskel bewegte, wenn er es dann und wann auf den mit ihm redenden Ungar richtete, der seinerseits an diesem Gesicht wie an einem gute Witterung verkündenden Barometer hing.

*

Obgleich Franz ein großer Freund von guter Musik war und ihm in den nun folgenden Vorträgen sogar eine sehr gute geboten wurde, so hatte er doch gerade heute nur sehr geringe Aufmerksamkeit dafür, und sowohl die Leistungen des kleinen Orchesters wie die einer italienischen Sängerin und eines französischen Violinisten gingen fast spurlos an seinem Geiste vorüber. Einer besonderen Erklärung dieser Zerstreutheit bedarf es hier wohl nicht mehr, denn des Malers Seelenzustand liegt uns klar genug vor Augen. Wenn das Herz eines jungen Mannes in heißer Liebe für ein weibliches Wesen schlägt, gleichviel ob sie schon gekrönt oder nur hoffnungslos ist, und wenn dieses Wesen ihm nach längerer Trennung zum ersten Mal wieder vor Augen tritt, so hat er eben nur Augen und Gefühle für sie, und so waren Franz Marssens Blicke immer nur nach dem Tische gerichtet, den er von seinem Standpunkt aus bequem überschauen und von dem aus man auch ihn ohne Mühe ins Auge fassen konnte, da er von den andern Zuhörern ziemlich abgesondert und nur in unmittelbarer Nähe des Senators stand.

Aber auch dieser sein Nachbar, der ein warmes Interesse an dem einzigen Sohn seines Freundes und denselben nach allem, was ihm nach und nach von der Familie des Schleswigers bekannt geworden war, auf einer falschen Fährte glaubte, als er ihn leidenschaftlich dem schönen Weibe da drüben sich hingeben sah, auch dieser Nachbar hatte heute keine Ohren für die Musik, vielmehr faßte sein scharfes Auge nur jedes Zeichen, welches sich ihm an diesem Abend als Beweis einer gegenseitigen entstehenden Neigung zwischen Miß Edda und Franz Marssen darbieten sollte, mit haarscharfer Aufmerksamkeit auf. So beobachtete er sowohl den neben ihm stehenden Maler wie die Personen an jenem Tisch unausgesetzt, und bald sollte ihm enthüllt werden, daß in der Tat schon eine leise, aber doch kaum verkennbare Wechselwirkung zwischen Franz und einer Person an jenem Tische stattfand.

Etwa in der Mitte des Konzerts trat eine längere Pause ein, und diese Pause benutzte Baron Bolton, sich von dem Kreise der holländischen Familie zu verabschieden und einen anderen Aufenthaltsort zu suchen, da es ihm in dem übervollen Saale zu unerträglich heiß werden mochte. Kaum aber hatte er sich entfernt, so beugte sich Miß Edda zu dem Ungar hin, dem es durch ein kluges Manöver schon vor längerer Zeit gelungen war, einen Stuhl zwischen den beiden jungen Damen zu erobern. Sowohl der Senator wie Franz sahen, wie die junge Dame dem Ungar einige Worte zuraunte und daß dieser gleich darauf seinen Kopf nach dem Granatbaum wandte, unter welchem die Männer standen, woraus zu ersehen war, daß dieser Platz ihm genau von Miß Edda bezeichnet worden war.

Kaum hatte Baron Tekeli Franz wahrgenommen, so erhob er sich von seinem Stuhl und bewegte sich langsam und gemessen, wie er immer ging, durch die eng aneinander gereihten Tische den beiden Männern zu, die zu erreichen ihm auch endlich mit einiger Mühe gelang.

»Sehen Sie da,« flüsterte der Senator Franz leise zu, als er den Ungar herankommen sah, »was Sie glücklich sind. Man schickt einen diplomatischen Agenten von Rang und Vermögen an Sie ab, wahrscheinlich in einer höchst vertraulichen Mission, und Sie können sich immer auf eine angenehme Nachricht vorbereiten.«

Franz behielt keine Zeit mehr, dem halb spöttisch redenden Beobachter an seiner Seite eine Antwort zu geben, denn soeben erreichte ihn Baron Tekeli, und indem er dem alten Bekannten vertraulich die Hand bot, begrüßte er ihn mit einigen seiner wenigen ihm zu Gebote stehenden deutschen Worte.

»Guten Abend, Herr Baron,« erwiderte Franz leise, »ich freue mich, Sie zu sehen. aber ich kann nicht unterlassen, zu bemerken, daß Sie Ihr Wort nicht gehalten und mich nicht besucht haben, wie es in Grindelwald in Ihrer Absicht zu liegen schien.

Der Ungar hob sein kohlschwarzes Auge mit einer gewissen Verwunderung gegen den Maler auf und entgegnete: »Ah ja, aber dieser Besuch war glücklicherweise noch nicht nötig.«

»Er war noch nicht nötig? Wie soll ich das verstehen?« fragte Franz lächelnd, der auf der Stelle erkannte, daß der Ungar sich nicht ganz nach seinem Wunsch ausgedrückt hatte.

»Ich meine – wie soll ich sagen – ich bin nicht so unglücklich gewesen, als ich damals zu werden fürchtete, und ich bedurfte Ihres freundlichen Rates noch nicht.«

»Ach so, jetzt verstehe ich Sie. –«

»Ja,« unterbrach ihn der Ungar etwas leiser, »aber sprechen wir hier nicht davon. Ich habe in diesem Augenblick einen andern Auftrag für Sie,« setzte er hinzu, indem er einen forschenden Blick auf das kalte Gesicht des so nahe stehenden Senators warf, der sein Auge nach einer anderen Seite des Saales gerichtet hielt, als sei er mit seinen Gedanken weit von dem Orte abwesend.

»Einen Auftrag?« fragte Franz mit hochatmender Brust und selbst viel leiser sprechend. »Von wem?«

»Von Miß Edda, die heute nicht gut gelaunt ist und mir den ersten Tanz abgeschlagen und nur eine Mazurka zugesagt hat.«

»Warum hat sie Ihnen denn den ersten Tanz abgeschlagen?« fragte Franz, der kaum noch seine innere Bewegung bewältigen konnte.

»Weil sie bereits von Ihnen dazu engagiert ist, und sie läßt Sie durch mich daran erinnern. Auch soll ich Sie bitten, sich schon während des Konzerts ihrem Tische zu nähern, damit Sie sie nachher in den Ballsaal führen können. Mir hat sie auch dies rund abgeschlagen.«

Franz atmete auf, als wäre kein Atom Luft in seiner Brust mehr. Die Art dieser Aufforderung zum ersten Tanz war ihm neu, aber er hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken, denn das Glück überstürzte ihn fast wie mit einer berauschenden Woge, und so nickte er dem Ungar bloß freundlich zu, der sich sogleich an seine Seite stellte, gleichsam um ihm den Platz am Tische, den er vorher eingenommen, frei zu lassen.

»Halten Sie sich nicht auf!« flüsterte unserem Freunde da die Stimme seines Nachbars auf der anderen Seite zu. »Einer solchen Aufforderung muß man auf der Stelle nachkommen, selbst wenn ein so wenig geschulter Diplomat wie dieser sie überbringt. Ein günstiger Moment geht rasch vorüber und kommt so bald nicht wieder; noch können Sie den Tisch vor dem Beginn des Gesanges erreichen. Hundert andere, die an Ihrer Stelle wären, würden sich schon in Lauf gesetzt haben. Sie sind wahrlich zu beneiden!«

»Beneiden auch Sie mich vielleicht?« fragte Franz, während er sich anschickte, seinen Weg anzutreten.

»Ich? Ach nein, ich habe mein Teil in Deutschland gefunden und bin damit zufrieden.«

Wenige Minuten später hatte Franz Marssen mit hochschlagendem Herzen den leeren Stuhl zwischen den beiden jungen Damen erreicht, jedoch behielt er nur noch so viel Zeit, die Gesellschaft mit kurzen Worten zu begrüßen, als die Musik wieder begann und ihm so Muße genug ließ, seine wirren Gedanken zu sammeln, die ihm, wie Wolken von einem heftigen Winde getrieben, unter den Händen entschlüpfen zu wollen schienen. Aber man halte in solchen Momenten, wie Franz eben einen zu bestehen hatte, die lieben Gedanken fest! Denn kaum hatte er nur einen Blick in die zaubermächtigen Augen geworfen, die sich, wie ehemals in der Eisgrotte des Grindelwaldgletschers mit einer unbeschreiblichen Forscherkraft begabt, in die seinigen senkten, so war schon ein neuer und viel gewaltigerer Wind gekommen und drohte sie in alle Weltrichtungen zu zerstreuen. Aber nein, eine Richtung hielt Franz diesmal mit allen seinen Kräften fest, ohne daß er es selbst wußte, und mit unsäglicher Wonne durchforschte er die geliebten Züge, die er nun so dicht vor sich hatte, und vergaß dabei alles übrige in der Welt, nicht nur die schöne Stimme, die sich eben wieder hören ließ, sondern auch den Senator, dessen Sarkasmus ihm heute abend mehr denn jemals aufgefallen und zuletzt geradezu peinlich geworden war.

Endlich war der Gesang zu Ende, und noch während das Publikum seinen Beifall spendete, wandte sich Miß Edda zu Franz und sagte mit leiser und doch ihm in jeder Silbe verständlicher Stimme:

»Guten Abend, Herr Marssen! Wir haben uns lange nicht gesehen. Sie scheinen mich vermieden zu haben?«

Franz antwortete hierauf allerdings mit hörbaren Worten, aber dennoch sprachen seine Blicke, ohne daß er es selbst wußte und wollte, eine viel beredtere Sprache. »Ach nein,« sagte er, »ich habe Sie nicht vermieden, wenigstens nicht mit meinem Willen; Sie vielmehr scheinen den Apfelbaum im Obstgarten vergessen zu haben.«

Miß Eddas blendende Schultern hoben sich sanft in die Höhe, als atme sie tief auf, und dann erwiderte sie mit ruhiger Miene: »O nein, der Wunsch, ihn zu besuchen, war wohl vorhanden, aber Sie dürfen nicht vergessen, daß es zwingende Verhältnisse in der Welt gibt, die uns manchen Wunsch vereiteln. Mich zwang mancherlei, von meinen Gewohnheiten Abstand zu nehmen. Indessen haben Sie an Gesellschaft keinen Mangel gelitten, es haben sich andere Freunde bei Ihnen eingefunden, nicht wahr?«

» Andere Freunde!« Wie sie sprach, und wie sie Franz damit beglückte, daß sie ihn offen zu ihren Freunden oder vielmehr sich zu den seinigen rechnete! O, o, und hier fielen dem armen Maler die Worte Michels, des Gemsjägers, ein und jagten ihm das verräterische Blut so heftig ins Gesicht, daß er es selber fühlte. »Ja,« sagte er, »ich habe Freunde gefunden, aber die neuen verdrängen bei mir nie die alten, und nun lassen Sie mich rasch meine Freude aussprechen, mich endlich wieder mit Ihnen unterhalten zu können.«

»Diese Freude muß auch bei mir in einigem Grade vorhanden sein, sonst hätte ich Sie wohl nicht zu mir rufen lassen. Sie sind doch mit meiner Aufforderung zum Tanze einverstanden?«

»Von ganzem Herzen!« dachte Franz, aber er verneigte sich bloß bejahend, da ihm die Worte vor überströmendem Glück in der Brust stecken blieben.

»Doch jetzt still davon!« begann Miß Edda wieder rasch und eifrig zu reden. »Wir haben heute wichtigere Dinge miteinander zu verhandeln, als über das Vergnügen des Tanzes, der mir nur zur Folie dienen soll. Ich habe schwere Tage verlebt, seitdem wir von jener – schönen Reise zurückgekehrt sind. In unserm Hause ist viel Kummer und Sorge gewesen. Meine Mutter will nicht genesen und mein Vater hatte so viel Trübes und Niederbeugendes zu ertragen, daß ich ihn notgedrungen mit meinen schwachen Kräften unterstützen mußte. Hier haben Sie meine ganze Geschichte seit jener Reise.«

»Ihre ganze?« fragte Franz mit einer ihm selbst fast unverschämt vorkommenden Kühnheit.

Sie wollte eben, höher errötend, etwas erwidern, als das Violinspiel der Virtuosen begann, welches das letzte Konzertstück war.

Während dieses Solovortrags nickten der alte Holländer und seine Frau dem Maler mit vertraulicher Herzlichkeit zu und beide gaben durch wiederholte taktmäßige Neigung der Köpfe ihren Beifall über die Kunstfertigkeit des Spielers zu erkennen. Franz nickte ihnen auch wieder zu, aber seine Augen folgten dabei einer ganz anderen Richtung, als würden sie von einer geheimnisvollen Kraft beherrscht und, wie die Magnetnadel vom Nordpol, so von einer unbekannten Potenz nach einem und demselben Punkte hingezogen.

So wußte er auch nicht, was und wie der Geiger gespielt hatte, als er zu Ende war; er hörte nur mit einem Mal ein lautes Händeklatschen und sah gleich darauf alle sitzenden Personen von ihren Stühlen sich erheben. Als er dabei seine Augen, den Senator suchend, umherschweifen ließ, fand er ihn schon mit seinen Damen am Arm auf dem Wege nach dem Tanzsaale, und so blieb er wie gefesselt neben Miß Edda stehen, die, als sich alles um sie her in Bewegung setzte, ihren Arm in den seinen legte und neben ihm langsam der Tür zum großen Ballsaal zuschritt.

Als man in den für den Augenblick kühleren und gelüfteten Raum gelangte, in dem sich das Hauptfest für die jüngeren Teilnehmer der Gesellschaft abwickeln sollte, herrschte ein großes und anfangs kaum entwirrbares Gewühl darin, das sich erst legte, als die älteren Personen an den Wänden herum und auf einer erhöhten Tribüne ihre Plätze gefunden hatten. Die jüngeren dagegen blieben in einzelnen Gruppen plaudernd stehen, die Herren behielten ihre Damen am Arm, und so tat es auch Franz, wobei er die Wärme des schönen Armes, der seltsam vertraulich auf dem seinigen ruhte, bis in das Herz hinein zu fühlen glaubte. Sprechen konnte er in diesem Augenblick nicht mit ihr, denn auf der einen Seite stand die scherzende Elise, auf der anderen Baron Tekeli dicht neben ihr und bald flüsterte ihr die eine, bald der andere ein paar Redensarten zu, die sie mit lächelnden Blicken oder einzelnen Silben erwiderte, welche für Franz weiter keine Bedeutung hatten.

Endlich aber hatten sich die nicht Tanzenden auf ihren Plätzen eingebürgert und das Orchester begann eine Polonaise zu spielen, die ein alter, sehr elegant gekleideter Franzose mit einer majestätischen Engländerin eröffnete. Allmählich setzten sich nun die Paare in Bewegung und auch an Miß Edda und ihren Tänzer kam die Reihe, vorzuschreiten. Letzterer hatte das hinter ihm gehende Paar für ein fremdes erkannt und da das vor ihm hüpfende Brautpaar mit sich allein genug zu tun hatte, war seinen Lippen endlich wieder das Wort gestattet.

»Miß Edda,« sagte er rasch, hiermit eine Anrede gebrauchend, die er noch nie vorher gewagt, »ich habe es mir noch gestern morgen nicht träumen lassen, mit Ihnen heute schon tanzen zu dürfen.«

»O,« erwiderte sie, mit einem ihrer alten trotzigen Blicke hastig nach seinen Augen fahrend, »wir tanzen ja nicht, wir gehen ja bloß.«

»Schlagen Sie den alten Widerspruchsgeist in Fesseln,« bat er flüsternd, »und seien Sie so gütig und freundlich, wie Sie sein können – ich weiß es wohl. Sie tanzen gern, nicht wahr?«

»Warum nicht, das ist unter Umständen ein unschuldiges Vergnügen. Ja, ich tanze gern, wenn ich einen guten Tänzer habe, aber vom wilden Rasen bin ich keine Freundin. Doch ich muß mit Ihnen von wichtigeren Dingen sprechen.«

»Sprechen Sie, ich höre.«

Sie wollte eben mit heftiger innerer Anstrengung, wie es schien, einige Worte sagen, als das Orchester die Polonaise abbrach und einen nicht zu raschen Walzer zu spielen begann. Die wichtigen Dinge blieben also abermals in der Luft schweben. »Es soll wieder nicht sein,« sagte sie, halb und halb erleichtert, »nun, man muß Geduld haben. Sie walzen doch?«

»Wenn Sie es mit mir versuchen wollen, so werde ich mein Möglichstes tun, um Sie zufrieden zu stellen.«

Als die Reihe des Tanzens sie traf, legte Franz seinen Arm fest um ihre Taille, ihre linke Hand ergriff die seine und so schwebten sie, von vielen Augen beobachtet, dahin, und wie Franz von vielen beneidet ward, so wurde Miß Edda noch von mehreren bewundert, denn sie walzte mit einer Grazie und Ruhe, die nur selten ein feuriges Wesen, wie sie es war, beim Tanze behält.

Als sie zweimal den großen Kreis durchmessen hatten und an ihre alte Stelle gekommen waren, sagte Miß Edda, nachdem sie ihren Tänzer mit einem freundlich dankenden Blick beglückt: »Sie tanzen gut. Aber nun müssen Sie auch gleich einmal mit Elise walzen.«

»Warum das? Die hat ja ihren beständigen Tänzer.«

»Ich will Sie tanzen sehen und zwar sogleich. Elise, bitte, nehmen Sie Herrn Marssen zum Tänzer außer der Reihe an und lassen Sie mich sehen, ob Sie auch ohne Ihren Bräutigam so niedlich hüpfen können.«

Fräulein van der Swinden war auf der Stelle bereit und einen Augenblick darauf drehte sich das Paar im Kreise herum, von den beiden Zurückbleibenden mit aufmerksamen Blicken verfolgt. Als sie aber einmal herumgewalzt, hielten sie an und Miß Edda sagte nun, indem sie den Arm ihres Tänzers wieder ergriff:

»Ich bin zufrieden, Sie tanzen mit Anstand und Ruhe, das ist die Hauptsache in meinen Augen, und daß Sie leichtfüßig und doch sicher sind, habe ich schon an gefährlicheren Orten erfahren. Wissen Sie aber wohl, daß Sie nie so wie heute das Gepräge eines Künstlers trugen? Mein Vater, der für weniges auf der Welt Augen hat, was nicht in seinen nächsten Kreis gehört, sagte vorher zu mir: Da ist ja auch der Maler. Er sieht gut aus. Warum besucht er dich nicht?«

Miß Edda schwieg und blickte Franz erwartungsvoll dabei an.

»Darf ich denn das?« fragte er mit vor Entzücken hochschlagendem Herzen.

»Warum denn nicht? Herr von Tekeli kommt ja auch zu uns. Aber Ihr Porträt fesselt Sie wohl noch immer an die Staffelei?«

Franz lächelte überglücklich. »An die Staffelei fesselt es mich nicht mehr, wenigstens die Reiterin unter dem Baume nicht, denn sie ist heute fertig geworden.«

»Also wirklich! Nun, das muß ich sehen. Aber das andere!«

»Es ist auch seiner Vollendung nahe und nur noch einmal möchte ich Sie eine halbe Stunde lang ungestört vor mir haben –«

»Sie haben mich ja jetzt – sehen Sie mich genau an –«

»Aber die Staffelei und die Farbe fehlt – und hier hätte ich außerdem mehr Zuschauer als mir lieb sein können.«

»Sie sind ein Egoist wie alle Männer, Sie wollen alles für sich allein haben. Doch jetzt, mein Herr, danke ich Ihnen, da – die Musik hört auf. Auf Wiedersehen nach Tische, denn eher lassen Sie sich nicht wieder bei mir blicken, darum bitte ich. Vielleicht finden wir dann Zeit, ein Wort im Ernst zu sprechen, was schwerer auf einem solchen Balle ist, als ich erwartet habe. Leben Sie wohl.«

Sie verneigte sich anmutig, als er sie nach einem Stuhl in der Nähe der alten Holländerin geführt, und nachdem er noch mit dieser einige Worte gewechselt hatte, verließ er sie und suchte den Senator auf, den er sehr bald in der Nähe seiner Frau fand, zu der er sich jetzt begab und einen Stuhl an ihrer Seite einnahm, der zufällig leer stand.

Sehr bald jedoch wurde die Aufmerksamkeit aller sich nicht am Tanze Beteiligenden auf den nächsten Tanz gelenkt. Es war eine Mazurka, welche Franz nicht zu tanzen liebte, da er kein Geschick dazu zu haben glaubte. Es hatten sich unter den vielen jungen Leuten auch nur sieben Paare dazu gefunden, die meist aus Polen bestanden, und zu denen nur noch der Ungar mit seiner schönen Tänzerin, Miß Edda, als das achte trat.

Die Polen tanzten ihren beliebten und anmutigen Nationaltanz vortrefflich, aber am besten von allen tanzte ihn der Ungar. Hier schritt der stille Mann, der seinen Charakter in diesem Augenblick fast verleugnete, sicherer als auf dem Gletscher einher und wenn sein sonst so träges Blut noch durch etwas befeuert werden konnte, so war es durch seine Tänzerin, die mit unnachahmlicher Grazie sich bewegte und ihre herrlichen Körperformen in ihrer ganzen Schönheit zeigte.

»Ja,« sagte da eine ernste Stimme an Franz Marssens Seite, als auch dieser Tanz beendigt war und ein allgemeines Beifallsgemurmel ringsum laut wurde, »sie ist nicht allein schön wie eine Göttin, sie tanzt auch wie eine solche, aber nun kommen Sie und nehmen Sie sich endlich einmal meiner armen Frau an und führen Sie sie zu Tische. Ich habe uns schon einen hübschen Platz in einer Ecke ausgesucht, wo wir alles übersehen können.«

Franz ließ sich diese Einladung nicht zweimal sagen. Einen Augenblick später hatte er die hübsche Frankfurterin am Arm, während der Senator die alte Dame führte, und alle vier begaben sich nach dem Konzertsaal zurück, der unterdes zu einem Speisesaal umgewandelt war, wo an einzelnen größeren und kleineren Tischen die Tafel serviert wurde, je nachdem sich befreundete Familien gruppenweise vereinigt hatten.

*

Nach einer guten halben Stunde hatten alle Hungrigen und Müden ihre Plätze an den Tischen gefunden und es kam einige Ruhe in den vorher so aufgeregten Menschenschwarm. Allmählich wurden auch die leckeren Speisen aufgetragen und endlich nach einiger Geduldsprüfung hatten alle das nötige erhalten, um ihren Appetit zu befriedigen. Gleich von Anfang an hörte man von allen Enden und Ecken die Champagnerpfropfen knallen und auch an des Senators Tisch wurde nur dieser perlende und die Zunge lösende Stoff getrunken, obgleich sich die nacheinander folgenden Flaschen ohne alles Geräusch enthaupten ließen. Als Franz aber eben das erste Glas an seine Lippen setzen wollte, hielt der Senator ihm den Arm fest und flüsterte:

»Sie sind doch ein höchst materieller Mensch, lieber Marssen. Sie essen und trinken, ohne sich am Ende etwas Angenehmes dabei zu denken, was doch eigentlich der Hauptgenuß bei Tafel ist. Wenigstens das erste Glas muß man stets mit einem guten Gedanken leeren, dann bekommen die folgenden um so besser. Und da – da haben Sie die beste Gelegenheit dazu. Rücken Sie gefälligst Ihren Stuhl um einen Zoll links, dann haben Sie auf wenige Schritte die Dame vor Augen, auf deren Gesundheit, wie ich nun wohl sehe, Sie doch am liebsten dies Glas leeren werden.«

»Ja,« erwiderte Franz, seinem Stuhl den empfohlenen Ruck gebend und nun Miß Edda vor sich sehend, die ihm bisher der große Blumenstrauß auf dem Kopfe einer Dame verdeckt hatte, »ja, das tue ich gern und ich trinke von ganzem Herzen auf ihr Wohl!«

Und kaum hatte er es gesagt, so war sein Glas leer und der Frankfurter Senator goß ihm sogleich das zweite mit heimlich lächelnder Miene ein.

Da die beiden Damen, die unserm Freunde und dessen Wirte gegenübersaßen, anhaltend in vertraulicher Unterhaltung begriffen waren, so konnten sich auch die beiden Herren ungestört ihren Mitteilungen hingeben und nachdem der Senator den jungen, von Glück strahlenden Mann wiederholt von der Seite angeblickt und dabei mit sich selbst eine Zeit lange zu Rate gegangen, ob er ihm endlich mitteilen solle, was ihm schon lange auf der Seele brannte, sagte er plötzlich, indem er näher an ihn heranrückte und die Hand vertraulich auf seinen Arm legte:

»Nun, mein lieber Marssen, ich freue mich wirklich. Sie so heiter und vergnügt zu sehen. Gestern durfte ich kaum der Hoffnung Raum geben, daß Sie sich unter den vielen fremden Menschen hier amüsieren würden. Sie machten ein verwettert krauses Gesicht, als ich Sie zu dem Ball einlud, aber da wußten Sie freilich noch nicht, daß Sie hier mit einer diplomatischen Sendung von Ihrer schönen Nachbarin behufs einer Aufforderung zum Tanz beglückt werden würden, nicht wahr?«

»Nein, das wußte ich gestern freilich noch nicht!« entgegnete Franz zögernd, indem er wieder einen Blick auf die ihn unausgesetzt beobachtende Schottin warf.

»Sie haben wohl von Anfang an, als Sie sie kennen lernten, gleich ein großes Interesse an ihr genommen, nicht wahr?«

»Ja, das ist wahr,« sagte Franz ehrlich, »und ich sehe nicht ein, warum ich es nicht hätte nehmen sollen.«

»Nun, mein Lieber, Sie sehen das freilich nicht ein, denn selten sieht der, der ein Bild, einen Gegenstand oder einen Menschen in zu großer Nähe vor sich hat, so scharf und genau wie der, der aus der richtigen Entfernung und mit ruhigen Sinnen dieselben betrachtet. Auch wundere ich mich nicht, nein, gar nicht, daß Ihr Künstlerauge auf diese schöne Persönlichkeit gefallen ist, nur über eins wundere ich mich –«

»Und was ist das?« unterbrach ihn Franz mit etwas unruhiger Miene, da der Senator, der langsamer gesprochen und seine Worte schärfer als vorher betont hatte, plötzlich im Sprechen inne hielt.

»Darüber, daß gerade Ihnen diese Dame und deren Familie begegnen mußte, und daß gerade Sie ein besonderes Interesse – oder sprechen wir lieber das richtige Wort ohne Scheu aus – ein besonderes Wohlgefallen an ihr finden mußten.«

»Wieso? Ich verstehe Sie nicht, Herr Senator.«

»Nun, so will ich mich mit Ihrer Erlaubnis deutlicher ausdrücken. Daß Sie als ein junger Mann und Künstler an diesem kurzhaarigen, glutäugigen Wesen einen gewissen Reiz fanden, finde ich, wie gesagt, ganz natürlich. In der Tat, sie ist mit ihren weißen vollen Armen, ihrer herrlichen Büste und mit diesem olympischen Gesicht ein wahrer Leckerbissen für Künstler, wie Sie einer sind. Aber daß gerade Sie, ein Schleswiger, also ein deutscher Mann, und gerade Sie, der Sohn Ihres Vaters, der in Schleswig sein ganzes Lebensglück scheitern sah, an dieser Dame ein so hervorragendes Interesse nehmen und ein so großes Gefallen finden, so daß Sie sie zum Ideal Ihrer Träume erheben – das wundert mich, denn es ist unter allen Umständen ein seltsames und fast zu kühnes Naturspiel.«

Franz riß seine Augen weit auf und starrte den mit wachsendem Nachdruck redenden Senator mit staunenden Blicken an. »Herr Senator,« sagte er stammelnd, »wie meinen Sie das? Sie bringen unser Gespräch auf einen ernsthaften Punkt. Jetzt bitte ich Sie, sagen Sie mir alles, was Sie zu sagen haben, denn ich lese in der Tiefe Ihres Auges, daß jenen Worten noch andere folgen sollen, und es scheint mir fast, als wollten Sie mir damit ein bisher ungelöstes Rätsel lösen.«

»Ja, das will ich, wenn Sie es gelöst haben wollen. Und nun will ich Ihnen mein Geheimnis anvertrauen, welches mir erst heute morgen durch ein Gespräch mit einem Freunde klar geworden ist, noch viel klarer aber, als ich heute abend den Mann neben jener Dame sah, den Sie mir als ihren Vater bezeichneten.«

»Um Gotteswillen,« stieß Franz mit stockendem Atem hervor, »was wollen Sie mir sagen? Haben Sie etwa erfahren, wer dieser Mann eigentlich ist?«

»Ja, mein junger Freund,« fuhr der Senator mit lebhafter funkelnden Augen fort, »das habe ich erfahren. Diese Dame, Ihr herrliches Ideal, ist keine Schottin, wie Sie dachten, ebensowenig wie ihr Vater ein Schotte oder ein Engländer ist, der Bolton heißt. Vielmehr ist sie eine Skandinavierin, vielleicht ein Abkömmling einer fabelhaften nordischen Walkyre, mit einem Wort: eine Dänin, aus Kopenhagen gebürtig.« –

Leser! Hast Du schon je in den Sargdeckel über einer heißgeliebten Person den ersten Nagel einschlagen hören? Hast du gefühlt, wie dieser schreckliche, mit nichts anderem auf der Welt zu vergleichende Ton alle deine Hoffnungen, jene Person jemals wiederzusehen und zu besitzen, zertrümmert? Nun denn, einen ähnlichen Ton hatte soeben Franz Marssen vernommen, ein ähnliches Gefühl durchzog seine Brust, als der ehrliche Freund an seiner Seite, der ihm nichts Böses, nichts Gutes zufügen wollte, die wenigen Worte: » sie ist eine Dänin« sprach.

»Wie?« rief der Maler, vor Schreck schaudernd, wobei ihm zu Mute war, als ob ihm, gerade wie das erste Mal, da er den Senator sah, ein kalter Eisstrom den Rücken hinabliefe, »wie, was sagen Sie da? Diese Dame wäre aus Kopenhagen gebürtig, und Ihr Vater wäre ein Däne?«

»Nun, mein Gott, ja; aber Sie erschrecken ja gerade, als ob ich Ihnen Ihr Todesurteil verkündet hätte. Beherrschen Sie sich doch etwas mehr, und sprechen sie nicht zu laut.«

»O mein Gott, ja, sage auch ich,« rief Franz mit noch stärker erbleichenden Wangen, »das ist in der Tat eine Art von Todesurteil, was Sie mir da verkünden – aber nun ist es einmal halb gesprochen, nun sprechen Sie alles aus, was Sie auf dem Herzen haben. Also wer – wer ist dieser mir immer so seltsam, so grimmig, so eisern trotzig erschienene Mann?«

»Still, mäßigen Sie sich, sage ich, ein scharfes Auge kann auf Ihrem Gesicht Ihre zum Sprechen deutlichen Empfindungen lesen. Doch, wenn Sie alles hören wollen, so will ich es Ihnen sagen, und ich sage es Ihnen gern, denn auch ich bin ein deutscher Mann, mit einem deutschen Herzen und mit vollkommen deutschen Gefühlen darin, und gerade dieser Mann, der da eben neben seiner Tochter sitzt, den reichen Ungar, den er gern zu seinem Schwiegersohn machen möchte, wenn diese Tochter es wollte, mit Wollust von seinen Gütern bei Pest sprechen hört und nebenbei auf Kosten des ebenso reichen Holländers ein Glas Champagner nach dem andern trinkt, als wolle er sich Kraft zu seinem wagehalsigen Unternehmen trinken, gerade er ist ein Mann, der uns Deutschen allen – auch Ihnen – hohnlachend ins Gesicht schlägt, indem er unser edelstes Gefühl verletzt, Schmach auf unsere Nation häuft und sein eigenes Volk auf unsere Kosten bis in den Himmel erhebt.«

»Mein Gott,« seufzte Franz, »was werde ich hören müssen, und wer hätte das gedacht!«

»Einmal mußten Sie es doch hören, und da die Gelegenheit gerade so günstig ist, so sollen Sie es gleich hören, weil ich die Meinung von Ihnen hege, daß Sie ein ebenso guter Deutscher wie Ihr Vater sind und mit ihm gelitten haben und noch leiden, darüber, daß seine Feinde und Verfolger ihm so hinterrücks den Fuß auf den Nacken setzten, der sich nicht sklavisch beugen wollte. Nun denn, dieser Mann ist ein ehemaliger dänischer Minister, der einst eine große Rolle am Hofe zu Kopenhagen gespielt, aber diese Rolle jetzt ausgespielt hat. Denn er ist bei seinem König und Herrn in Ungnade gefallen, vielleicht weil seine Fähigkeiten stumpf und sein Wille schartig geworden, und lebt jetzt in einer Art gnädigster Verbannung im Auslande. Um ihm jedoch nicht alle Mittel zu seiner Existenz zu nehmen und ihm wenigstens noch den Schatten einer ansehnlichen Stellung zu lassen, hat ihn die jetzige, wahnsinnig fortstürmende Regierung in Kopenhagen mit einer geheimen politischen Mission in die Welt geschickt. Was das für eine Mission ist, habe ich heute morgen ergründet, und das interessiert mich persönlich sehr, da ich auch so eine Art von Diplomat bin und diesem Herrn in ureigner Mission gerade entgegenarbeite. Die Herren Dänen nämlich, wenn Sie es noch nicht wissen sollten, haben eine große verderbenschwangere Staatsaktion im Werke, und ich glaube, man bezeichnet dieselbe genau, wenn man sagt, es handle sich um eine vollständige Inkorporation Schleswigs in Dänemark. Nun kommt es ihnen darauf an, noch bevor sie ihren Blitzstrahl schleudern, die Sympathien aller Völker gegen Deutschland aufzuregen und sich selbst bei aller Welt liebes Kind zu machen. Da haben Sie denn ein förmliches Netzwerk von Spionerie über ganz Europa ausgespannt und haben Sendboten, Agenten und wie man dergleichen Leute nennen will, ausgesandt, wie Paulus einst die Apostel aussandte, um die Heiden zu bekehren. Dazu sind ihnen aber kleine, unbedeutende Leute nicht ausreichend erschienen, nein, sie haben auch bedeutendere Männer abgeschickt, und die sollen mit allen möglichen Intriguen und Ränken alle Völker und Geister für die große, herrliche Seenation am Belt zu gewinnen und zu ködern suchen. In der Regel sind es gewandte Leute, die sich ein Ansehen zu geben wissen, und um sie in ihren vielgestaltigen Unternehmungen zu fördern, hat man keine Opfer gescheut und bedeutende Mittel sind zu diesen Zwecken außer Landes gegangen. So wird überall, selbst in Deutschland, auf die Presse, auf einige bekannte Schreier und bestechliche Zeitungen gewirkt, und – die Folge davon ist klar, denn dadurch wird in Deutschland selbst Hader und Zwietracht rege, und es erheben sich Stimmen genug für die ränkesüchtigen Dänen und gegen die armen Schleswiger, unsere Brüder. Dieser Mann nun ist ein solcher geheimer Sendbote, der auf die vornehmere Klasse und tonangebende Leute wirken soll. In Kopenhagen war man seiner satt; man sagt, er ging den Gewalthabern nicht weit genug; aber da man auch dort gern die Menschen bis auf den letzten Blutstropfen ausnutzt, so hielt man ihn wenigstens noch für hinreichend befähigt, die künstliche Maschinerie im Auslande in Gang zu setzen. Bei einigen hirnverbrannten Engländern, bei den leicht auflodernden Franzosen und den Russen, die alle Vorteile davon zu haben glauben, wenn den Deutschen irgendwo ein Stein in den Weg gewälzt wird, mag ihm sein Werk gelingen, hier in der Schweiz aber, wo er sich jetzt tätig erweisen soll, kann er nach meinem Urteil ebensowenig wie in Deutschland auf die Dauer festen Fuß fassen. Und gerade dieser Mann am wenigsten, der eine zerrissene Natur, ein heruntergekommener Edelmann, ein verstoßener Minister und im ganzen eine im Verfall begriffene Ruine ist. Ich kenne ihn nämlich schon seit längerer Zeit von Ansehen, müssen Sie wissen, ohne jemals in nähere Berührung mit ihm gekommen zu sein. Er war schon einmal, vor acht oder neun Jahren, noch ehe er Minister wurde, in Frankfurt, obgleich er damals sicher einen anderen Namen führte als jetzt, auf den ich mich aber in diesem Augenblick nicht besinnen und den mir hier niemand nennen kann. Damals war er ein hochmütiger Herr, der seine dänische Nase bis in die Wolken reckte, und er wandte in Gemeinschaft mit dem eigentlichen Gesandten seines Landes beim Bundesrate alle Mittel an, die väterliche Handlungsweise der Dänen gegen die Herzogtümer in das beste Licht zu stellen. Ich weiß das noch recht gut, obschon seine näheren Verhältnisse meinem Gedächtnis entfallen sind und meine Erinnerung an ihn heute erst teilweise wieder geweckt ist, als mir ein bekannter Engländer Aufschluß über seine Familienverhältnisse gab.«

Franz stöhnte fast laut. »Seine Familienverhältnisse?« fragte er fester. »Nun, was wissen Sie denn darüber?«

»Die sind arg genug, mein junger Freund. Wie Sie wissen, hat er eine Frau, und die hat eben nicht zu seiner großen Karriere in der Welt beigetragen, obgleich er Wunder was von ihr erhofft haben mag. Er muß sie wie seinen Augapfel hüten, denn von ihren Mitteln lebt er zum Teil, obgleich dieselben auch schon fast auf den Grund erschöpft sein sollen. Diese Frau ist eine Schottin von vornehmer Geburt, die er in ihrer Jugend, da sie sehr schön war, ihrer Familie entführt hat, wodurch das arme Weib aus allen seinen Familienbanden gelöst und auf ewig seiner Heimat entrissen ward. Bis vor kurzer Zeit lebte in Schottland ein reicher Oheim von ihr, der sich ihrer Lage erbarmte und sie mit seinen Mitteln unterstützte, da sie von ihrer Familie vollständig aufgegeben und, wie ich erst heute morgen hörte, enterbt ist. Jetzt ist dieser Oheim tot, die bisherige Unterstützung fällt aus, und nur die einzige schwache Hoffnung ist noch vorhanden, daß sich die arme Dame mit ihrer Familie aussöhnt, was allerdings kaum noch denkbar sein soll. Stirbt sie aber nun, und sie soll sehr leidend sein, so ist es ein für alle Mal mit den erträumten Reichtümern, die er durch sie zu erlangen hoffte, wenn die Versöhnung mit der Familie gelänge, vorbei, und die Hinterlassenschaft eines ungeheuer reichen Peers zerstiebt in alle Lüfte. So stehen die Sachen, mein Lieber, und nun kennen Sie den Mann und seine Familie, dessen bevorstehenden Ruin zu enthüllen eine traurige Pflicht Ihres ergebensten Freundes war.«

Der Senator verbeugte sich leicht vor Franz und schwieg. Dieser aber, ganz bleich geworden, seufzte tief auf, als hätte er den Ruin seiner eigenen Familie vernommen, und indem er die ihm übrig gebliebenen Gedanken sammelte, sagte er: »Das ist traurig, Herr Senator, sehr traurig; aber was kann die arme, unglückliche Tochter für die Schuld ihrer Eltern? Die Verwandten ihrer Mutter werden doch nicht so hartherzig sein, auch sie zu verstoßen?«

»Die Verwandten ihrer Mutter? Ach, mein lieber Marssen, Sie kennen die Engländer nicht, was den Geldpunkt anbetrifft. Die vererben ihr Vermögen überhaupt nicht auf Frauen; wenn kein Sohn da ist, erhält es der Sohn irgend einer Seitenlinie, und namentlich für Kinder, zumal Töchter aus einer solchen von der Familie nie anerkannten Ehe hat man keinen Schilling übrig.«

»Mein Gott, mein Gott,« seufzte Franz, indem er das frisch gefüllte Champagnerglas, das ihm der Senator hinhielt, fast unwillig von sich wies, »was Sie mir da sagen, erfüllt mich nicht nur mit Schrecken, sondern auch mit tiefem Kummer und Mitleid. Wie haben Sie das alles herausgebracht?«

»Je nun, wer in der großen Welt lebt, wie ich, zum Teufel, leben muß, der erfährt von den Leuten, die den Faden der Weltgeschichte einen Augenblick in der Hand halten, nicht immer die erbaulichsten Dinge. Und gerade Ihrer und Ihres Vaters wegen habe ich mich diesmal auf die Lauer gelegt, und gerade heute habe ich meine Beute erwischt, und darum tische ich sie Ihnen so warm auf. Nun wissen Sie alles, was ich Ihnen über diese Leute sagen kann. Der Name, der ihnen gebührt, wird mir auch noch einfallen, ich werde mich besinnen. Doch nun lassen Sie uns von diesem Gespräch abbrechen, ich muß mich einmal mit meinen Damen unterhalten, die unterdes außerordentlich lustig geworden sind.«

Bei diesen Worten wandte er sich von dem fast zerknickten Maler ab und ging zu einem heiteren Gespräch mit den Damen über, als ob kein Tropfen Galle in seinem Blute wäre, und ohne Ahnung, daß er alles Blut, was in Franz Marssens Adern kreiste, nicht nur in Galle, sondern auch in Gift verwandelt hatte.

*

Eine ziemlich lange Zeit blieb Franz Marssen, dumpf vor sich hinstarrend, in namenloser Bestürzung sitzen. Jedes Wort, das er soeben gehört, wiederholte er sich im stillen, und er mußte sich dabei eingestehen, daß vieles davon mit dem seltsamen und geheimnisvollen Wesen und Gebahren übereinstimmte, welches er an der Person und der Familie des dänischen Exministers wahrgenommen hatte, dessen bisher so streng beobachtetes Inkognito ihm nun mit einem Schlage sonnenklar enthüllt war. In diesen stillen Betrachtungen aber schon regte sich in seiner Seele der unwiderstehliche Drang, zu irgend einer Entschließung zu gelangen, und vielleicht wäre es ihm auch geglückt, schon jetzt den Weg aufzufinden, den er, seiner Naturanlage nach, allein einschlagen konnte, indessen er behielt keine Zeit dazu, denn plötzlich regte sich alles um ihn her, die Speisenden waren gesättigt, die Durstigen hatten ihr letztes Glas getrunken, und man erhob sich fast allgemein: die einen, um in den Ballsaal zurückzukehren und das unterbrochene Tanzvergnügen fortzusetzen, die anderen, um in aller Stille nach Hause zu gehen und sich von den »Strapazen des Vergnügens« in ihrem weichen Bette zu erholen.

Zu letzteren gehörte auch die Familie des Senators, und dieser selbst teilte seinem jungen Freunde seine Absicht mit, die beiden Damen nach Hause zu geleiten, wozu er die freundlichen Worte fügte:

»Sie brauchen sich uns aber nicht anzuschließen, mein lieber Marssen. Bleiben Sie immer noch ein Stündchen hier und sehen Sie sich den Kotillon mit an, den der Maître de plaisir, unser alter Franzose, mit allerlei Überraschungen den jungen Leuten vorführen wird. Morgen und übermorgen sehen wir uns leider nicht, denn wir wollen zwei Tage am Gießbach am Brienzer See zubringen; wenn ich aber dann wiederkehre, hoffe ich Sie in besserer Stimmung vorzufinden, als Sie sie jetzt zu haben scheinen. Überlegen Sie sich alles, was ich Ihnen über den Dänen gesagt, recht genau, und reden Sie mit Ihrem Vater darüber. Was der Ihnen sagt, das glauben und danach handeln Sie, denn er ist der Mann, der fest wie eine Mauer auf seinen Überzeugungen steht, und er wird Ihnen den besten Rat geben können. Im übrigen lassen Sie sich kein graues Haar um die schöne Dame wachsen. In kurzer Zeit besteigt sie wieder ein Dampfboot und segelt mit ihrem Vater in ihre Heimat ab, ohne an die Schweiz anders als an eine recht hübsche Episode ihrer Jugend zu denken. Vielleicht auch nimmt sie die ernstlich gemeinten Huldigungen des reichen Ungarn an und entschließt sich, eine Magnatin zu werden und in der Wildnis mit ihrem schwarzen Tekeli wie eine Fürstin zu leben. Sehen Sie doch, da sitzt der kleine Mann bei ihr und verschlingt sie mit seinen trunkenen Liebesblicken. O, was ist die Welt närrisch, und wieviel närrischer noch sind die Menschen darin! Ich bin auch einmal so verliebt gewesen, habe das Mädchen meiner Liebe für eine Göttin gehalten, und als ich so glücklich war, sie zur Frau zu erhalten, sah ich, daß sie weiter nichts als ein Weib, das heißt ein Mensch war, und ich bin mit diesem Weibe glücklicher geworden, als ich es jemals mit einer Göttin hätte werden können. Nehmen Sie sich ein Beispiel daran und halten auch Sie nicht für göttlich, was einfach dänisch ist. Haha! Gute Nacht, Marssen, und seien Sie überzeugt, daß niemand es besser mit Ihnen meinen kann als ich. Gute Nacht, gute Nacht und schlafen Sie wohl!«

Franz drückte dem Freunde, der ihn nur halb begriffen und verstanden hatte und dessen Rat ihm also auch nur von zweifelhaftem Werte sein konnte, die Hand und begleitete ihn und seine Damen bis zur Tür, dann aber kehrte er wie ein Träumender in den Speisesaal zurück, der sich bereits ziemlich geleert hatte. Er wußte anfangs nicht, ob er auch gehen oder ob er noch bleiben sollte, aber zu gehen, ohne Miß Edda, ach, diese so innig geliebte Feindin seines deutschen Vaterlandes, noch einmal gesehen zu haben, das war ihm unmöglich, und so wollte er sie jetzt aufsuchen und wenigstens mit einem Blick von ihr Abschied nehmen.

Er brauchte dazu nicht weit zu gehen, denn als er eben in den Saal zurückkehrte, sah er die Holländer noch immer an ihrem Tische sitzen, und nur der Baron Bolton – er wußte ja noch keinen anderen Namen für ihn – war mit seiner Tochter und dem Herrn von Tekeli aufgestanden und sprach mit ersterer, worauf er sich in ein Nebenzimmer begab, um mit einigen älteren Herren an einem Spieltisch Platz zu nehmen und die wenigen Stunden, die seine Tochter noch auf dem Ball bleiben würde, so angenehm wie möglich zu verbringen.

Als der Baron sich entfernt hatte, machte der Ungar Miene, Miß Edda in den Ballsaal zurückzugeleiten, allein sie regte sich nicht, sondern stand jetzt neben Fräulein Elise, die sich auch schon mit ihrem Bräutigam erhoben hatte, und suchte mit ihren Augen so lange im Saale herum, bis sie gefunden hatte, wonach sie verlangte.

Franz verfolgte den Blick dieses Auges, und wenn er den gewaltigen Schlägen seines Herzens trauen durfte, so schaute es nach ihm aus, der eben in den Saal zurückgekehrt war. Er sollte sich auch nicht getäuscht haben. Kaum noch zwanzig Schritt von ihr entfernt, glaubte er auf ihrem bleicher gewordenen Gesichte die Spuren einer großen Erregung wahrzunehmen, denn um ihre fest zusammengepreßten Lippen lag ein Zug trotziger Entschlossenheit, als ob ihr Geist sich zum Kampfe mit einem ihm gewachsenen Gegner aufraffe, und als sie des jungen Mannes ansichtig wurde, blitzte ihm ihr dunkles Auge gebieterisch entgegen, als wisse sie im voraus, daß ihre Absicht verstanden werden müsse.

Franz verstand diesen sprechenden Blick auch so gut, daß er ihm auf der Stelle Folge leistete; eine Minute später befand er sich in der Nähe der holländischen Familie, die ihn wie immer mit freundlichen Gesichtern willkommen hieß. Nachdem er mit dem General-Konsul und seiner Frau einige gleichgültige Worte gewechselt, wandte er sich zu Miß Edda herum, und als er sich vor ihr verbeugte, als wolle er sagen: »Ich stehe zu Ihren Befehlen!« trat sie ihm einen Schritt entgegen und, ihren Arm rasch in den seinen legend, flüsterte sie, ohne sich im geringsten um die anderen Personen zu kümmern, mit hastigem leisem Ton:

»Endlich also! O wie sehnlich habe ich Sie erwartet! Kommen Sie! Wir wollen in den Saal gehen und uns in irgend eine stille Ecke setzen. Ich muß mit Ihnen reden, und wenn ich auch wüßte, daß gleich darauf der Himmel zerschmetternd auf mich niederfiele. Aber tanzen wollen wir nicht mehr; es wäre ein Hohn auf mein Gefühl, wenn ich jetzt noch ein Vergnügen heucheln wollte, wo die ernsten Dinge, die ich Ihnen ohnehin heute mitzuteilen im Begriff stand, sich wider alle Erwartung auf andere Weise vor Ihnen enthüllt haben. Ah, Sie schweigen, ich irre mich also nicht. – Was wünschen Sie, Herr von Tekeli?«

Sie waren, während sie diese Worte mit fast sprudelnder Hast und bebenden Lippen sprach, die Franz Marssen in einen nicht weniger peinlichen Zustand versetzten, in den Tanzsaal getreten und hatten sich fern von der Musik und den sich durcheinanderdrängenden Menschen eben in einer stilleren Ecke niedergelassen, als der Ungar mit zwei Kavalieren an sie herantrat, die er Miß Edda zum Tanze vorstellen wollte.

Baron Tekeli entledigte sich seiner Aufgabe, aber er erhielt eine andere Antwort, als er erwartet haben mochte, und in viel schrofferer Weise, als sie ihm jemals von der Dame seines Herzens zu Teil geworden war.

»Meine Herren,« wandte sich diese zu den beiden ihr vorgestellten Kavalieren, »ich danke für Ihren guten Willen, aber ich tanze heute abend nicht mehr. Und Sie, Herr Baron,« sagte sie zu dem Ungar, als dessen Begleiter mit bedauernder Miene und tiefer Verbeugung beiseite getreten waren, »stören Sie mich jetzt nicht, ich habe in diesem Augenblicke höchst wichtige Dinge mit Herrn Marssen zu sprechen.«

Die drei Herren verschwanden, wie von einem kalten Winde verscheucht, und mischten sich in das Gewühl der Paare, die sich soeben zum Tanze ausgestellt hatten; Baron Tekeli aber warf, wie es dem Maler bedünken wollte, ehe er ging, einen finsteren Blick auf seinen glücklichen Nebenbuhler, und dieser empfand ein neues Weh in seinem gequälten Herzen, als er einen Mann mit diesem Blick sich von ihm wenden sah, der ihm bisher stets so freundlich und zuvorkommend entgegen getreten war.

»So,« sagte Miß Edda zu Franz, als die drei Herren weit genug entfernt waren und die Musik eben ihre schmetternden Töne erklingen ließ, nun sind wir endlich allein, und da – da spielt man einen lustigen Tanz zu unserer Unterhaltung. Das ist wieder die Ironie des Schicksals, das mich von meiner Jugend an verfolgt und mir jede genußreiche Stunde durch einen bitteren Beigeschmack verleidet hat. Gut, mögen die Menschen tanzen und lachen, wir wollen, wenn wir auch nicht weinen, wie zwei vernünftige Menschen ruhig miteinander reden. Jetzt geben Sie acht, Herr Marssen, ich habe einige Fragen an Sie zu richten, und ich bitte um kurze, ehrliche und deutliche Antworten, ohne Ausflucht, ohne Scheu, ohne Hinterhalt, wie es Ihr Charakter, den ich zu kennen glaube, mich von Ihnen erwarten läßt. So hören Sie denn die erste Frage: Wer war der schreckliche bleiche Mann mit dem verwundeten Arm, der so lange und angelegentlich mit Ihnen geflüstert und mich zur Zielscheibe seiner Angriffe genommen hat? Er hat einen furchtbaren Eindruck auf mich gemacht, als ich seiner in Ihrer Nähe ansichtig ward, und es war mir zu Mute, als ob sich eine kalte Hand auf mein heißes Herz legte, als er bald Sie, bald mich mit seinen dämonischen Blicken verschlang. Wer ist er?«

»Ach, Miß Edda,« erwiderte Franz mit einem tiefen Seufzer, »dieser Mann hat auch zuerst auf mich einen unangenehmen Eindruck hervorgebracht, aber als ich ihn näher kennen lernte, hat er mich mehr angezogen als abgestoßen, denn er ist ein geistvoller und wahrhaft braver Mann und meint es mit mir und meiner Familie ehrlich. Er ist der Senator von Dannecker aus Frankfurt, ein sehr reicher Mann, der dankbare Patient meines Vaters, dem wir alle dadurch verpflichtet sind, daß er meine drei Bilder mit schwerem Gelde gekauft und mir dadurch die Mittel in die Hand gegeben hat, meine Reise nach Italien anzutreten.«

»So. Ihre Bilder gekauft? Auch das noch! Also Sie sind ihm verpflichtet. Gut. Jetzt kommt meine zweite Frage: Waren Sie bisher mein Freund oder Feind? – Ich will eine ehrliche, männliche, entscheidende Antwort.«

Sie sprach dies offenbar in großer Gemütsbewegung und nicht ohne inneren Zwang, das sah Franz an ihrem tiefen Atmen und ihren leise bebenden Lippen, und doch beherrschte sie sich außerordentlich; nur ihre Wangen waren noch bleicher als vorher geworden, und ihr schwarzes Auge bohrte sich fest mit der Schärfe eines Pfeils in die seinen, als wollte sie damit bis in die Tiefe seiner Seele dringen.

Da ermannte sich Franz Marssen, alle Gefühle seines Herzens strömten unaufhaltsam in seine Augen, und er sprach fest und entschlossen: »Ich war, wie ich bin und hoffentlich bleiben darf – Ihr Freund, Miß Edda, und selbst wenn der Himmel, wie Sie vorher sagten, gleich nach diesem Geständnis zerschmetternd auf mich niederfallen sollte.«

»So,« sagte sie mit wehmütigem Lächeln, »das ist brav von Ihnen, so habe ich Sie mir gedacht, und ich sehe, daß ich mein Vertrauen nicht vergeblich auf Sie gesetzt habe. Nun aber weiter – die dritte Frage: was sagte Ihnen jener Herr von mir, der es mit Ihnen und Ihrer Familie, wie Sie sagen, so gut und ehrlich meint?«

Franz stockte eine Weile mit der Sprache, da ihn aber ein drängender Blick Eddas zum Sprechen ermutigte, fuhr er so dreist wie vorher fort: »Er sagte mir, daß Ihr Vater – seinen Namen wußte er nicht – ein Däne aus Kopenhagen und daß also auch Sie – keine Schottin, sondern – eine geborene Dänin seien.«

»So!« murmelte Edda mit einem fast wild aufflammenden Blick, und doch atmete sie dabei wunderbar erleichtert auf. »Also das hat der geistvolle Mann herausgebracht! Nun, was ist denn das so Besonderes, daß Sie ein so bestürztes Gesicht dabei machten und noch jetzt gewissermaßen wie zerschmettert erscheinen?«

»Nein, nein, etwas Besonderes im allgemeinen ist das nicht, Miß Edda, aber für mich, für meine Verhältnisse ist es allerdings – etwas sehr Bedeutsames und Inhaltvolles. O mein Fräulein, hätten Sie mir doch – hätten Sie mir dies doch selbst und schon früher gesagt!«

»Aber warum denn? Sie würden mir vielleicht, wenn Sie es von Anfang an gewußt, nicht so viel Gefälligkeiten erwiesen, mich nicht vor dem Erfrieren auf dem Rhonegletscher bewahrt, mir nicht die süße – ja, die süße Ruhe auf Ihrer Schulter in Stiereck gestattet, mich nicht gemalt, mit mir nicht getanzt und – o mein Gott! mir nicht Ihre Freundschaft zugewandt haben, nicht wahr?«

»O Miß Edda, warum sprechen Sie das mit so spöttischer Miene?« versetzte Franz tief erschüttert und doch von einer namenlosen Wonne durchschauert. »Ich verdiene das wahrhaftig nicht. Aber warum haben Sie mir auf meine wiederholten Fragen und Bitten nicht Ihren Namen, nicht einmal Ihr Vaterland näher bezeichnen wollen, warum nicht?«

In Eddas Brust ging ein schwerer, aber kurzer Kampf vor; sie wollte erst etwas Anderes sagen, aber sie zog es wieder tief in ihr Herz zurück, und abermals nahm ihre Miene einen etwas spöttischen Anflug an. »Ich könnte Ihnen sagen,« sprach sie endlich, »daß ich diese Entdeckung Ihrem – Ihrem intimeren geistvollen Freunde überlassen wollte, um auch ihm einen kurzen Triumph zu gönnen, aber ich sage lieber: Weil ich meine Gründe dazu hatte, wie auch Sie, so scheint es, Ihre Gründe haben, die Dänen nicht gerade wie Ihre Brüder zu lieben.«

Während sie dies langsam und fast feierlich sprach, wurzelten ihre flammenden Blicke wieder mit fast starrer Entschlossenheit auf den seinen, und es war, als ob sich die beiden Augenpaare gleichsam ineinander versenkten, als ob elektrische Funken aus dem einen in das andere übersprängen und fast schon die Miene berührten, die in beider Herzen verborgen lag, eine Miene, die gefährlich für beide, aber so gut verwahrt war, daß sie sich noch nicht entzündete, obgleich die Erwartung der Explosion sich in ihren Gesichtern deutlich abspiegelte.

Endlich löste sich Franz Marssens Blick mit Mühe von dem ihren los, und die Augen mit fast schmerzlichem Lächeln niederschlagend sagte er: »Nein, ich habe auch keinen Grund, die Dänen zu lieben, und wenn Sie die Geschichte meines Vaters und meiner Tante wüßten, Sie würden mir diese Empfindung nicht verargen können.«

»Wer sagt denn, daß ich Ihnen etwas verarge, und nun gar eine Empfindung, die der Inbegriff des Wesens, der Seele, des Herzens eines Menschen und oft die notwendige Folge seines ganzen Lebens ist! Ach nein, so hartherzig und grausam bin ich nicht, obgleich ich eine Dänin bin, denn ich bin wirklich eine solche, und Ihr Freund hat Sie in diesem Punkte mit Wahrheit bedient. Doch genug davon für heute und an diesem Ort. Wir können uns hier nicht länger unterhalten, da Sie Ihre Mienen nicht in der Gewalt haben. O, Sie sind ein guter Mensch, ein guter Sohn und Neffe, das ist gewiß, aber ebenso gewiß sind Sie ein schlechter Diplomat. Ich bin jetzt mit meinen Fragen zu Ende und habe nur noch eine Bitte. Urteilen Sie nicht vorschnell über mich und meinen Vater! Lassen Sie sich von niemandem etwas zuflüstern, was einen Schatten auf Menschen wirft, die Sie noch lange nicht ganz kennen. Der gute Mann, Ihr Freund, der mit dem bleichen Gesicht, hat mir den schönen Plan durchkreuzt, den ich so lange und mit eifriger Hingebung in meiner Seele aufgebaut habe, aber ein guter Diplomat muß sich dadurch nicht irre machen lassen, und ich, die Tochter eines Diplomaten, will beweisen, daß ich auch gegen den Wind und die Strömung siegreich ankämpfen kann, die mir noch gestern so hold zu sein schienen und mir heute schon so feindlich sind. So, und nun verlassen Sie mich; ich werde sogleich meinen Vater bitten, mich nach Hause zu führen, denn meine heutige Aufgabe – o sie war so leicht und süß, und jener Mann hat sie mir so schwer und bitter gemacht – ist zu Ende gebracht. Wenn wir hier allein wären, wollte ich Ihnen meine Hand reichen und Ihnen durch ihren Druck beweisen, daß ich – noch immer – Ihre Freundin und es jetzt sogar noch mehr denn je bin. Wie ich morgen handeln werde – denn ich muß jetzt handeln – weiß ich noch nicht, aber mein Kopf wird ein Mittel ausfindig machen, wie ich meine Aufgabe, die ich noch lange nicht ganz vollbracht, ferner günstig lösen werde. – Und nun habe ich doch noch eine Frage,« setzte sie lächelnd hinzu, nachdem sie schon eine Weile geschwiegen hatte. »Was tragen Sie da für eine vertrocknete Blume im Knopfloch, die schon verwelkt war, als Sie in den Saal traten? Soll sie mir vielleicht andeuten, daß auch Ihre Erinnerung an bessere Stunden in Ihrem Innern verwelkt ist?«

»Ach!« seufzte Franz, »also Sie haben sie wieder erkannt? Ja, es ist die Alpenrose, die ich aus Ihrer Hand auf der Wegernalp empfing und die ich heute anlegte, um Ihnen zu beweisen, daß, obgleich sie schon verwelkt ist, ich die Erinnerung an jene und noch andere schöne Stunden dennoch frisch in meinem – in meinem Innern bewahre.«

»So, das ist hübsch, das ist noch ein Trost! Und zur Belohnung dafür lasse ich sogleich eine frische Blume fallen. Heben Sie sie auf, wenn Sie den Platz verlassen, da ich sie Ihnen hier, wo hundert Augen auf uns ruhen, nicht geben mag. Die Wärme, die noch an ihr haftet, hat sie von meinem Herzen, und diese Wärme soll eine Erinnerung an – die Kälte in der Eisgrotte des Grindelwaldgletschers sein. Jetzt wissen Sie alles, was Sie vor der Hand wissen dürfen – und nun biete ich Ihnen im stillen eine gute Nacht!«

Sie erhob sich langsam, und die schöne Zentifolie, die sie vorher an der Brust getragen, rollte sanft zur Erde. Ohne daß irgend ein Mensch es bemerkte, hatte Franz sie erhoben, und nachdem er Edda zu der alten Holländerin geführt, die in der Nähe saß, verabschiedete er sich von dieser und ging wie ein Träumender aus dem heißen Saal, um in die freie Nachtluft zu gelangen, deren kühle Frische wie ein erquickender Balsam auf sein Herz wirkte, das, noch viel tiefer und unheilbarer verwundet als früher, an diesem Abend, statt einem Freudenfeste beizuwohnen, die Folterqualen der Hölle ausgestanden, bis in der letzten Minute noch ein himmlischer Trost dieselben wieder gemildert und versüßt hatte.

 

Ende des dritten Teiles.

 


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