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Buchschmuck

Zweites Kapitel.
Das Gewitter auf dem Eismeer und die Nacht in Stiereck.

Wenn eine der Personen, die heute zum ersten Mal sich auf dem Zäsenberg befanden, die Hoffnung gehegt, eine hübsche und zum längeren Aufenthalt einladende Sennhütte daselbst zu finden, so hatte sie sich abermals und recht bitter getäuscht. Auch diese enge, aus zwei kleinen Räumen bestehende Hütte, von denen der eine zum Schlafen, der andere zur Küche und zur Bereitung des Käses diente, starrte von Schmutz und hauchte, als man sich ihrer Schwelle näherte, einen so scharfen und durchdringenden Käsegeruch aus, daß alle Neugierigen rasch davon zurückwichen und sich der Führer Vorschlag wohlgefallen ließen, im Freien aus einigen, über leere Fässer und Butten gelegten Brettern einen Tisch und die nötigen Bänke herzustellen.

Das Werk war leicht vollbracht, und so finden wir bald die Gesellschaft ganz gemütlich im Schatten der Hütte um die improvisierte Tafel sitzend, und nur von Zeit zu Zeit wie in einer neuen Welt sich rings umblickend, von der kein Mensch eine Ahnung haben kann, der da unten auf der chaussierten Straße des Dorfes eine bequeme Spazierfahrt durch die Berge macht.

Die frische Milch, welche die jungen Leute bald erhielten, mundete ihnen herrlich und war wohlschmeckend und kräuterreich, der Käse aber war trocken, zäh und ungenießbar, und das schwarze Brot mochte höchstens für einen Hirtenmagen taugen, da es sauer und so hart war, daß es nur mit Mühe in Milch aufgeweicht werden konnte. So wurden denn die mitgebrachten Vorräte in Anspruch genommen und für diese war, dank der Umsicht Michels, so reichlich gesorgt, daß jedermann befriedigt wurde und sogar noch eine Auswahl treffen durfte. Nachdem man denn zum Schluß noch einige Flaschen Wein bei heiterer Unterhaltung geleert, streckten sich alle in dem Schatten der Hütte auf den grünen Rasen, nicht nur, um eine halbe Stunde behaglich zu ruhen, sondern auch um in stiller Betrachtung den Gletscher zu bewundern, der hier ganz zu überschauen war, sich in immer neuen Farben und Formen darstellte und von allen Seiten hundert Fragen veranlaßte, die Franz Marssen nach besten Kräften zu beantworten sich bemühte.

Während dieser Zeit spazierte Michel, der sich nicht wie die übrigen Führer zum Schlaf auf den Rasen gestreckt, mit einem der Hirten langsam nach der Stelle hinüber, wo der größte Teil der Schafe weidete, die von zwei mächtigen, mehr zur Gesellschaft der Menschen, als zur Abwehr eines Feindes dienenden Hunden bewacht wurden. Nachdem die beiden Männer über verschiedene sie interessierende Dinge gesprochen, wobei Michel unablässig Augen und Ohren in der Luft gehabt hatte, sagte dieser zu dem Hirten, der ein ziemlich bejahrter Mann mit einem treuherzigen Gesicht war:

»Aber nun laßt uns von Grindelwald und Eurer Verwandtschaft abbrechen, Freund, und gebt mir lieber Eure Meinung vom Wetter zu hören. Was haltet Ihr denn eigentlich davon? Mir, ich muß es offen gestehen, kommt die trockne Hitze und die lange Windstille nicht ganz geheuer vor.«

Der Hirt nickte mit dem Kopfe und blinzelte nach dem Mettenberg und dem Schreckhorn hinüber. »Mir auch nicht und schon lange nicht,« erwiderte er, »und ich war, aufrichtig gesagt, ganz erstaunt, als ich Euch mit der großen Gesellschaft ankommen sah. Ich habe ein Gewitter für den Nachmittag erwartet, aber bis jetzt ist es noch ringsum klar geblieben.«

»Ja freilich, und darum habe ich auch die Reise bis hierher ausgedehnt. Am Abend, wenn wir zurück sind, mag es donnern und wettern, dann haben wir das Vergnügen hinter uns.«

Der Hirt machte ein pfiffiges Gesicht und versetzte rasch: »Ich glaube nicht, daß Ihr trocken nach Hause kommt. Freilich in den Bergen lernt man das Wetter nie aus und irrt sich nur zu oft, aber wenn man nicht selbst daraus klug wird, muß man vernünftigere Wesen fragen, und die sagen einem oft das Kommende viel früher, als man es mit Augen sieht.«

»Was hast du denn hier für Wesen, die vernünftiger sind als du selber?«

»Die Schafe, Michel! Nun, lache nicht, mein Junge, aber ich sage dir, als Wetterpropheten ziehe ich in hundert Fällen neunzigmal ein Schaf einem Menschen vor.«

»Wodurch haben sie dir denn heute ein nahendes Unwetter verraten?«

»Dadurch, daß sie fressen wie närrisch. Sie stopfen sich voll, als wüßten sie, daß sie ein paar Tage vor Wind nicht auf die Höhe können, und dabei stecken sie mitunter die Köpfe zusammen, als flüsterten sie sich ganz geheimnisvolle Dinge zu. Ich würde mich an deiner Statt mit der schönen Gesellschaft nicht zu lange hier aufhalten: überdies haben sie vollauf gegessen und getrunken und sich lange genug geruht.«

Der Gemsjäger sah nach der Uhr und blickte dann nach dem Himmel hinauf. »Das ist auch meine Meinung,« sagte er nach einigem Besinnen, »doch laß sie nur noch einige Minuten liegen, die armen Dingerchen dauern mich. In einer Viertelstunde aber sollen sie aufgepfiffen werden, und es soll losgehen wie – aber was ist denn das da? Warum kommt denn der alte Hans von da drüben her mit seiner Milchbutte wie ein Hase gelaufen?«

Der Hirt schaute in die Richtung nach dem Kalliberge hinüber und sah nun auch, was Michel bemerkt. Vom Ziegenberge her kam der alte Hans über das Eismeer wie ein Sturmwind gelaufen und unterwegs schon gab er den beiden Männern verschiedene Zeichen mit den schwenkenden Armen, die beide nicht verstanden und ihm deshalb rasch entgegengingen.

Als sie den alten, mühsam herankeuchenden Mann erreicht, rief ihm der Gemsjäger zu: »Aber Hans, was ist denn bei den Ziegen los? Warum beeilt Ihr Euch so?«

»Unheil! Unheil ist los!« brach der Alte mit Mühe und kurzem Atem hervor. »Du bist in Gesellschaft hier,« fuhr er nach einer Weile fort – »mach, daß du fort – mach, daß du fortkommst – vom Mettenberg zieht ein Ungewitter herauf – da – da – da – wo ist die Sonne geblieben?«

Der andere Hirt und der Gemsjäger hoben die Köpfe in die Höhe, und auf der Stelle sahen sie, was vorging. Ganz allmählich und langsam, als wolle sie den Vorgang am Himmel der Erde so lange wie möglich verbergen, hatte sich die Sonne mit einem kaum sichtbaren schleierartigen Nebelwölkchen bedeckt und, sobald sie ganz dahinter verschwunden war oder vielmehr nur noch wie eine blaßsilberne Scheibe hindurchschimmerte, war der frühere Glanz auf dem Gletscher erloschen, und er lag wie eine trübe milchfarbige Fläche da, die mehr und mehr ein bleiches, fast kränkelndes Aussehen annahm. Die am Morgen schon wahrgenommene Nebelmasse um die Spitze des Mettenberges aber hatte sich gewaltig ausgedehnt und zog sich schon nach der Kuppe des Schreckhorns hinüber, jedoch war die Luft auf dem Zäsenberge noch stiller als vorher, und eine dumpfe Schwüle stieg aus dem heißen, so lange von der Sonne beschienenen Grasboden auf.

Der Gemsjäger brauchte nichts mehr zu sehen und zu hören, und rasch war sein Entschluß gefaßt. Mit riesigen Schritten eilte er nach der Hütte zurück; als er sie aber beinahe erreicht, mäßigte er seinen Lauf und trat in möglichster Ruhe um die Ecke, wo er den müden Ungar schlafend und die anderen in ruhiger Unterhaltung noch immer auf dem Boden liegend fand.

»Meine Damen und Herren,« sagte nun Michel mit lauter, aber seine eigene Aufregung beherrschender Stimme, »erheben Sie sich, es ist die höchste Zeit dazu. Es ist nicht recht richtig mit dem Wetter, und wir müssen eilen, daß wir wenigstens nach Stiereck kommen, da Sie ja hier nicht bleiben können. Auf denn, hängen Sie sich gleich Ihre Tücher um, und wenn sie fertig sind, lassen Sie sich für alle Fälle wieder an das Seil binden, wir müssen den Rückweg rasch und ohne eine Minute Aufenthalt zurücklegen.«

Es bedurfte keines Wortes weiter, und alles, was Michel verlangte, geschah auf der Stelle; nur Franz Marssen, der am meisten durch die unerwartete Aufforderung betroffen ward, blickte forschend nach dem Himmel empor, und alsbald hatte er die eingetretene Veränderung wahrgenommen, die ihm bei der interessanten Plauderei bisher verborgen geblieben war. In wenigen Minuten war alles zum Abmarsch fertig, die Träger schritten schon rüstig voran, nachdem ihnen Michel einige Worte zugeraunt, und sobald die Seile um die vier Personen, die sie früher getragen, kunstgerecht geschlungen waren, schickte man sich zum Gehen an, nachdem man den Hirten ein kurzes Lebewohl zugerufen und Franz Marssen ihnen die Milch und das Brot bezahlt hatte. Auf Michels Aufforderung aber nahmen die vier Führer ihre Schützlinge an die linke Hand, und indem sich die frühere Reihe wiederherstellte, stieg Michel mit Miß Edda zuerst, und Franz Marssen und sein Führer zuletzt den Gletscher hinauf, um ohne Säumen den Rückweg, mit zwar nicht eiligen, aber doch rascheren Schritten zu beginnen, als sie sie früher für nötig gehalten hatten.

»Aber mein Gott,« sagte Miß Edda zu ihrem Führer, als sie eben den Gletscher erstiegen hatten, »warum eilen wir so? Ich erkenne noch gar keine Gefahr, und dort unten in Grindelwald scheint die Sonne klar und rein; sogar ein Fenster im Turm sehe ich da drüben blitzen.

»Ich auch, meine liebe Dame, ich auch, ach ja!« antwortete Michel. »Aber von Grindelwald her haben wir nichts zu befürchten, von da vorn und den Bergen her kommt das Ungewitter; der Föhn wird nicht lange auf sich warten lassen und uns bald genug umsausen, haben Sie nur noch kurze Zeit Geduld.«

»Es wird doch kein hartes Unwetter geben?« fragte die junge Holländerin ihren Führer fast zu derselben Zeit.

Christen, der sie führte, antwortete nicht gleich, dann aber lächelte er und sagte kurz: »Das kann man noch nicht so genau wissen, aber es sieht allerdings nicht ganz geheuer aus.«

Ähnlich lauteten die Mitteilungen der anderen Führer, nur Franz Marssen hatte sehr bald die ganze Wahrheit erkundet, und er bat Gott im stillen, nur noch so lange das Gewitter nicht ausbrechen zu lassen, als sie auf dem Eismeere waren.

Doch das war eine vergebliche Bitte; Gott der Herr hatte den Sturm schon in der Höhe losgelassen, um über das ganze Eismeer und noch weiter darüber hinaus zu sausen, nur war er noch in der Ferne, aber er näherte sich mit Sturmesschnelligkeit, und bald sollte des Malers erfahrener Sinn die ersten Wirkungen davon verspüren.

Wenn die Flanke des Eismeers, an welcher der kleine See lag, von dem man an diesem Morgen ausgezogen war und den man wieder erreichen mußte, vor einigen Augenblicken noch klar zu erkennen gewesen war, so hatte diese Klarheit schon nach wenigen Minuten ihr Ende erreicht, und eine düstere, undurchsichtige Wolkenmasse hatte sich vom Mettenberg herniedergerollt und sogar schon die Viescherhörner und den oberen Teil des Gletschers umfaßt, der nicht mehr sichtbar war. Kaum hatte man dies wahrgenommen, so sah man auch schon eine ungeheure, dichtgeballte Wolke mit Sturmeseile heransegeln, und bald wandelten die Reisenden, sich jetzt dicht aneinander haltend, wie in Wolken selber dahin, die aber noch keine Kälte brachten, im Gegenteil auffallend viel Wärme auf ihren feuchten Schwingen trugen, denn es war der Föhn, der warme Südwind, der sich gegen sie in Marsch gesetzt hatte.

»Nur immer ruhig und fest aufgetreten; ich kenne meinen Weg und weiß die Richtung, die ich nehmen muß, an den Spalten genau,« sagte Michel, als plötzlich ein zackiger Blitz durch das Nebelchaos fuhr und dabei die Hand der Schottin, die er fest umfaßt, in seiner starken Faust erbeben fühlte. »Geben Sie acht und erschrecken Sie nicht, der Donner kommt gleich nach – ha, da ist er schon!«

Er hatte noch nicht ausgesprochen, so rollte ein entsetzliches Krachen dicht über ihren Köpfen hin, und in hundertfachem Echo donnerte es die nächste Umgebung und dann schwächer die Ferne nach, eine Musik erzeugend, die ebenso schön wie furchtbar war, aber den kundigen Männern der Berge keinen Schrecken einflößte.

»Wenn Blitz und Donner keine Steine und Eisblöcke herabwerfen,« sagte Michel laut, sobald der erste Donner verhallt war, wobei er Auge und Ohr spähend nach der Höhe des Gletschers richtete, »so hat es nichts zu sagen. Taub und blind werden wir so leicht nicht. – Und nun, meine Damen, wo ist die Sonne in Grindelwald geblieben, he?«

Miß Edda antwortete nicht. Sie strengte sich an, mit dem unwillkürlich rascher gehenden Manne gleichen Schritt zu halten, aber noch war ihr Atem ruhig wie ihr Gemüt, denn so leicht fand die Furcht keinen Eingang in dieses starke Herz. »Sind wir alle beisammen?« fragte sie rasch nach einer Weile. »Kommen auch die Hintersten nach?«

Michel hob den Kopf schnell in die Höhe. »Hallo! Seid Ihr alle da?« rief er mit schmetterndem Brustton, denn der weiße Nebel wogte so dicht um sie herum, daß man kaum die zunächst Gehenden unterscheiden konnte.

»Alle da!« schallte es zurück, wie aus weiter Ferne.

»Sind wir zehn Mann?« klang es noch einmal aus des Gemsjägers Mund.

»Zehn Mann sind da!« tönte es zurück.

»Wir waren vorher zwölf, Herr Michel!« rief Miß Edda mit etwas gepreßter Stimme.

»Ich weiß es wohl, mein Fräulein, aber die beiden Träger sind vorauf und halten Wacht an unserer Leiter, damit wir sie gleich finden, wenn wir sie brauchen. So habe ich es angeordnet.«

Es erfolgte wieder eine Pause, da man eben eine breitere Spalte erreicht hatte, die man umgehen mußte und an deren Ende man am Morgen geruht und dabei einen großen Felsblock zur Lehne benutzt hatte. Der Felsblock war da, auch die Spalte zeigte sich unverändert, und bald hatte man sie beide wieder hinter sich.

Jetzt folgte Blitzstrahl auf Blitzstrahl, dem jedesmal ein langes Donnergetöse nachprasselte, und das wiederholte sich so rasch und so oft, daß man sich endlich daran gewöhnte, denn auch die Stimme der Elemente, so sehr sie anfangs das unvorbereitete Ohr erschrecken mag, wird dem Menschen zur Gewohnheit, wenn sie länger anhält, selbst wenn sie so laut brüllt, wie es hier auf dem unwegsamen Eismeer des Grindelwaldgletschers geschah.

In diesem Augenblick aber folgte eine neue und unerwartete Erscheinung der alten nach, und diese machte selbst den beherzten Michel auf eine Sekunde stutzig. Plötzlich nämlich schienen die wogenden Wolkenmassen, durch welche man schritt, wirr durcheinander zu laufen, es trat bei einigen von ihnen ein momentaner Stillstand ein und gleich darauf blies eine eiskalte Luft in entgegengesetzter Richtung, also in den Rücken der Gehenden, so daß man, da man unter den dichten Tüchern erhitzt war, empfindlich berührt war, wo man von ihr getroffen wurde.

»Ha!« rief Michel und warf einen Blick rückwärts in das Nebelmeer, »was ist denn das? Na ja, das fehlte nur noch! Das war kein Föhnstoß mehr, das war die Avantgarde der Bise, und nun wird es einen großen Naturkampf da oben in den Lüften geben, und wir werden unsren Teil auch davon kriegen. Geben Sie acht, meine Damen! Herauf mit den Tüchern über den Kopf – so – und warten Sie einen Augenblick – noch zwei Minuten und wir haben einen Schneeguß, wie Sie ihn noch nie erlebt haben. Gott sei Dank, daß er nicht von vorn kommt und uns in die Gesichter weht!«

Er stand einen Augenblick still, zog die Kapuze, die schon früher künstlich in das Plaid seiner Dame geschlungen war, über ihren Kopf, wie es auch der zweite Führer mit seiner Dame tat, und dann riß er mit raschem Griff seine eigene Decke, die ihm auf dem Rücken hing, dergestalt über den Kopf, daß derselbe durch das Loch darin fuhr, worauf er die von allen Seiten über seinen Körper hängende Decke zurechtschüttelte und dann hastig die Hand Miß Eddas wieder ergriff und rüstig mit ihr weiter schritt.

»So,« sagte er, »nun mag es kommen, wir sind in voller Rüstung. Aufgepaßt da hinten – sind wir alle da?«

»Alles da!« lautete es mutig zurück.

»Fragen Sie doch, ob es zehn sind!« rief ihm Miß Edda zu, sobald der laut rollende Donner ihre Stimme durchdringen ließ.

»Sind es zehn?« fragte Michel noch einmal und dabei verstohlen lächelnd.

»Zehn?« schrie Franz Marssen zurück. »Weiter, es geht noch!«

»Vorwärts!« rief Michel. Aber er hatte noch nicht den Mund geschlossen, so sauste ein Schneesturz heran, so kalt, so spitz und von einem so heftigen Windstoß begleitet, daß man nun erst die weise Vorsicht erkannte, die Michel dadurch an den Tag gelegt, daß er die Tücher schon vor dem Abgang hatte umlegen lassen.

Wie es eigentlich geschah, niemand sah es und so rasch ging es vor sich – aber noch hatte man keine zwanzig Schritte weiter getan, so war das Eismeer vor ihnen und rings um sie her mit dichten Schneelagen bedeckt, und wenn man nun auch sicherer auf das glatte Eis trat, so wurden doch dadurch die schmalen Spalten verhüllt, denen man so vorsichtig bisher aus dem Wege gegangen war.

»Ruhig!« rief Michel mit gewaltig schmetternder Stimme. »Jetzt wird es Ernst! Fest auf den Füßen gestanden und mit den Stöcken voraus den Boden befühlt. So, Christen, so recht, und nun immer langsam voran, wir können unmöglich noch weit vom Rande des Gletschers sein.«

»Wie lange sind wir schon von der Hütte fort?« fragte Miß Edda.

»Es läßt sich schwer die Zeit berechnen, wenn man in einiger Aufregung einen so holprigen Weg beschreitet, meine Dame, aber ich kenne die Spalten hier so ziemlich und habe sie mir vorhin wohl gemerkt. Doch jetzt hat sie uns leider der Teufel von Nordwind zugedeckt und – hui!« unterbrach er sich – »da kommt wieder der Föhn – merken Sie wohl den Wechsel von Kälte und Wärme?«

»Aber wie ist das möglich?« fragte Edda.

»Hier und bei Gott ist alles möglich, mein Kind, und hier schafft und wirkt allein Gott – doch das kommt öfter vor. Da – da, sie kämpfen miteinander da oben, wie zwei feindliche Heere, und der Nordwind scheint die Oberhand zu behalten, denn er schüttet seine weißen Wurfgeschosse noch immer hageldicht herunter und es wird auffallend kälter.«

»Es donnert noch immer, aber ich sehe keinen Blitz mehr –«

»Den verschlingt der Schnee – doch jetzt sprechen Sie nicht mehr. Sie brauchen noch Ihren Atem.«

Langsam, von eiskalten Stoßwinden umbraust, und von dichten Schneewolken überschüttet, so daß man seine Last ordentlich fühlte, schritt man nun vorwärts, die Alpstöcke wurden tief durch den Schnee bis an das Eis gestoßen und gaben stets sichere Kunde, ob man auf festem oder gespaltenem Boden war.

»Sie können doch noch weiter?« fragte Michel seine Nachbarin, die einmal etwas langsamer zu gehen schien.

Edda nickte. »Ich kann noch – noch lange!« sprach sie mit fester Stimme.

»Sie sind ein prächtiges Frauenzimmer, das laß ich gelten, und ich werde es nie vergessen.« –

Ohne ein Wort zu sprechen, schritt man wieder weiter. Michel blickte sich wiederholt nach allen Seiten und nach den Bodenerhöhungen um, als suche er etwas. Plötzlich blieb er hinter einem großen, dicht beschneiten Felsblock stehen, der ihnen einigen Schutz gewährte, und rief die zehn Fußgänger zusammen. »Haltet!« schrie er, »halt! So. Einen Augenblick wollen wir uns Ruhe gönnen, meine Damen! Wer kann am leichtesten seine Uhr erreichen?«

Franz Marssen hatte die seinige schon hervorgeholt, denn er war am leichtesten bekleidet und weniger in Decken gehüllt als alle übrigen. Als er nachsah, war es zwei und drei Viertel Uhr.

»Mein Gott,« rief Fräulein Elise, als sie es hörte, »noch nicht drei Uhr? Ich glaubte schon, daß es bald Nacht sei, es ist ja schon ganz finster ringsum.«

»Dreiviertel drei!« sagte Michel, zu sich allein sprechend und im Kopfe rechnend. »Nein, ich irre mich nicht. Wir sind bald am Rande des Gletschers und hier ist der große Stein, an dem wir heute morgen vorüber kamen gleich nachdem wir die Leiter erklettert. Die Richtung ist richtig und die Zeit stimmt auch, denn wir haben die erste Hälfte, ehe der Nordwind kam, rasch zurückgelegt. Warten Sie einen Augenblick, ich bin bald wieder da.«

Er sprang einige Schritte vor und gleich darauf war er in Nebel und Schneegestöber verschwunden. In diesem Augenblick drohte eine neue Gefahr. Der Schnee, der auf dem Vieschergletscher noch dies dichter gefallen war, als hier unten, mußte an einigen Stellen ins Rutschen gekommen sein, denn ein donnerartiges Krachen, das mit dem Wolkendonner um den Vorrang stritt, ließ sich über den Köpfen der Reisenden vernehmen.

»Was ist das?« riefen die beiden Mädchen.

Franz Marssens Gesicht war bleich geworden, trotzdem seine heiße Stirn und seine Wangen von Schweiß trieften. »Still!« sagte er – »es ist eine Lawine – dort hinaus fällt sie!«

»Sie ist schon weit weg,« sagte der eine Führer, »aber wo bleibt Michel?«

Alle lauschten mit angehaltenem Atem und voll gespanntester Erwartung in den düsteren Nebel und die Schneeluft hinein. Da hörte man einen lauten Ruf. »Wo seid Ihr?« schallte eine dumpfe Stimme herüber.

»Hier!« riefen sechs Stimmen im Chor zurück.

Im Augenblick darauf trat Michel aus einer Schneewolke wie ein weißes Gespenst hervor und sofort ergriff er Miß Eddas Hand. »Kommen Sie,« sagte er, »wir sind da und die Träger stehen auf ihrem Posten – sie haben die Leiter!«

»Gott sei Dank!« stöhnte der Ungar, der vor Frost und Angst am ganzen Leibe bebte.

In einer halben Minute war man wieder in Bewegung und nach wenigen Schritten schon schrie Michel in den Nebel hinein: »Wo seid Ihr?« und gleich darauf hörte man »Hier! Hier!« rufen und schon trat man an den hohen Rand des Gletschers, den man am Morgen erklettert hatte.

»Es muß rasch gehen!« sagte Michel etwas beklommen. »Die Lawinen halten sich unsretwegen nicht auf. Haben Sie keine Furcht, Fräulein, Sie sind wieder die erste. Hier, Ihr Männer, Ihr beide haltet das Seil, ich gehe zuerst hinunter; und wenn Sie eine Stufe unter dem Fuße fühlen, wird meine Hand da sein, die ihn lenkt. Sie haben doch keine Furcht?«

»Ich habe keine Furcht!« lautete es fest und bestimmt zurück.

»Vorwärts denn!«

Im nächsten Augenblick war Michel da, wo ein ihm helfender Träger stand, die Eiswand hinabgeklettert, und dann hörte man seine Stimme: »Kommen Sie, Fräulein!«

Edda ließ sich auf ein Knie nieder, wie es ihr geheißen ward, und gleich darauf fühlte sie den in die Tiefe vorgestreckten Fuß von fester Hand gepackt und in ein Loch gestellt. Den zweiten Fuß zog sie dem ersten nach und da die Männer oben das Seil langsam nachließen, erreichte sie endlich, stets von Michel geleitet, die oberste Leitersprosse und halb von unten getragen, halb von oben gehalten, gelangte sie endlich auf festen Boden und blieb nun mit hochwogender Brust am Fuß der Leiter stehen.

»So,« sagte Michel. »Sie sind geborgen. Aber tun Sie keinen Schritt ohne mich. Erst müssen die anderen herunter!«

Er brauchte ihr das nicht erst zu sagen. Unbeweglich wie ein Felsstück und nur mit keuchender Brust atmend, blieb sie unten am Rande des Gletschers stehen, bis einer nach dem andern sicher wie sie auf der Leiter herunterstieg. Erst als der letzte Führer und endlich auch der Träger unten stand, drehte sich Michel lächelnd um und gebot dem ersten Träger, der schon vor der Schlucht an dem Brett ihrer wartete, es zu wenden und so den Schnee hinabzuwerfen.

Dies geschah augenblicklich. Ohne ein Wort zu sprechen, umklammerte der Gemsjäger dann mit festem Griff Miß Eddas Arm und zog sie nach sich auf das Brett. In wenigen Sekunden waren sie jenseits und als nun auch die übrigen folgten, sagte er:

»Gewonnen! Der Gletscher liegt hinter uns, hierher wirft er höchstens nur Steine, aber keinen Schnee mehr. Jetzt nach Stiereck, das ist unsere einzige Zufluchtsstätte, aber gebe Gott, daß nicht schon andere darin sind, sonst finden wir nicht Platz in der engen Hütte.«

So trat er denn, von den übrigen gefolgt, hurtig den kurzen Gang um den kleinen See herum an, dessen Oberfläche mit einer grauen gekräuselten Schneekruste bedeckt war und ein unheimliches Ansehen bot. Aber nur wenige Blicke fielen darauf; aller Sehnsucht war auf die Hütte gerichtet und bald hatte man sie erreicht: die Tür wurde geöffnet und – sie war öde und leer, wie es alle, Reisende und Führer, gehofft und gewünscht hatten.

*

Es dürfte uns schwer werden, die Empfindungen genauer zu entwickeln, mit welchen die soeben von den Schrecken der Elemente geängstigten Personen aus dem furchtbaren Schneesturm auf schlüpfrigem Gletscher und aus dem eiskalten Winde und dem Nebelgesause in das ruhige, warme Haus traten, welches einst eine weise Vorsicht für ähnliche Vorkommnisse errichtet hatte. Allerdings waren diese Empfindungen bei weitem nicht bei allen dieselben; der eine hatte mehr Angst, Sorge und Ermüdung gelitten als der andere; das Ohr des einen war durch den tosenden Donner des Gewitters und durch das Gekrach der stürzenden Lawinen und Geröllsteine mehr betäubt als das des andern; so viel aber ist gewiß, alle waren gleich froh, als das schirmende Dach sich über ihnen ausbreitete, und unter Umständen würde ihnen kein Feenpalast mit allen seinen Genüssen und Bequemlichkeiten heimischer entgegengeleuchtet haben, als es in diesem Augenblick die armselige kleine Hütte tat, die noch dazu dunkel war und in keiner Weise die Gemächlichkeit und Behaglichkeit bot, an welche sie doch alle durch ihre Lebensstellung mehr oder minder gewöhnt waren.

Als sie nun alle beklommen, außer Atem, halb fröstelnd, halb übermäßig erhitzt, vor der Tür der Hütte anlangten, da waren es wieder Michel und seine wackeren Gefährten, die die Pflichten fürsorgender Wirte übernahmen und, ohne einen Augenblick an sich selbst zu denken, nur die Sicherheit und Bequemlichkeit der ihnen anvertrauten Fremden im Auge behielten. Ohne ein Wort zu sprechen, nahm Michel an der Tür den beiden Damen die vom Schnee belasteten Tücher ab, und während die andern Führer die Männer auf gleiche Weise bedienten und den Schnee draußen abschüttelten, führte jener seine Gäste, wie er sie nannte, in die Hütte ein und bat sie, einen Augenblick auf einer Bank, die längs der einen Wand des küchenartigen Raumes stand, vorübergehend Platz zu nehmen, bis für ihre weitere Bequemlichkeit gesorgt sein werde.

Wenige Minuten später loderte auch schon auf dem Herde in der hinteren Ecke des vorderen Raumes ein helles Reisigfeuer auf, das durch nachgelegte Stücke getrockneten Tannenholzes lebhafter in Brand gesetzt wurde. Ein unbeschreibliches Wohlgefühl bemächtigte sich der beiden jungen Mädchen, des Holländers und des Ungarn, als sie dies Feuer aufflammen sahen und die davon ausstrahlende Wärme verspürten, und selbst Franz Marssen, der ähnlichen Szenen schon öfters beigewohnt hatte, fühlte sich erquickt, als er dies Wohlgefühl auf den Gesichtern seiner Gefährten sich aussprechen sah.

»So,« sagte Michel, indem er aus einer seiner vielen Taschen eine kurze dicke Wachskerze nahm und sie in eine kleine Handlaterne steckte, die einer der Träger in seinem Korbe gehabt, »nun soll es bald heimisch bei uns werden, aber Sie müssen nur etwas Geduld haben, meine Damen, es kommt eins nach dem andern an die Reihe. Ich habe heute wieder Gelegenheit, meinen durch mannigfache Not hervorgerufenen Entschluß zu preisen, niemals mehr ohne Licht und Feuerzeug in die Berge zu wandern, denn überall kann man beides gebrauchen, und heute würden wir ohne Licht und Feuer sehr in Verlegenheit sein. So, meine Damen, nun bitte ich Sie, mir zu folgen, Sie sollen erst Zeit haben, in dem Heuschober nebenan einige Augenblicke auf Ihre Toilette zu verwenden, unterdessen kochen wir einen warmen Kaffee, und während Sie den hier am Herde trinken, räumen wir da drinnen das Heu auf und machen eine bequeme Schlafstätte zurecht, denn bei diesem Winde und Schneefall ist nicht daran zu denken, heute noch nach Grindelwald zurückzukehren. Morgen ist auch noch ein Tag, und mit aufgehender Sonne läßt es sich besser klettern und marschieren, als bei der untergehenden, und heute ist sie uns allen ohne Wiederkehr untergegangen. Bitte, folgen Sie mir!«

Er nahm einen Schemel, trug ihn in die Heukammer, die zwar enger als der Hauptraum, aber ohne allen Staub war und kräftig nach dem kräuterreichen Heu duftete, und stellte die kleine Laterne darauf. Dann einen Blick rings umherwerfend, sagte er:

»Nun, trocknen und kämmen Sie Ihr Haar, meine Damen; Wasser zum Waschen der Hände sollen Sie auch gleich haben, nur das Gesicht dürfen Sie noch lange nicht damit berühren, sonst springt die Haut in Blasen auf. Auch Ihre Schuhe und Stiefel ziehen Sie noch nicht aus. Ich werde sie mir nachher, wenn Sie zur Ruhe gehen, selbst holen und auf meine Weise trocknen und weich machen, damit sie morgen nicht drücken und Ihnen das Gehen erschweren, denn Sie wissen ja, wir haben noch zwei gute Stunden bis Grindelwald auf einem üblen Wege zurückzulegen, der durch Regen, Schnee und umgeworfene Bäume wahrhaftig nicht besser geworden sein wird.«

Nach diesen Worten zog er sich aus dem Heuschober zurück, und damit man vom Küchenraume aus nicht hineinsehen könne, lehnte er ein paar Bretter als Tür vor die offene Wandfuge, die bisher als Eingang in ersteren gedient hatte.

Unterdessen saßen der Ungar und Herr van der Hooft, die beide übermäßig ermüdet und abgespannt waren und keine Lust zum Sprechen verspürten, unbeweglich auf ihrer Bank, nur hatte letzterer noch so viel Lebenslust, daß er sich seine nassen Haare mit einem Tuche trocknete und dann bürstete; Herr von Tekeli dagegen wandte sein trübes Antlitz nur der knisternden Flamme zu, und er hätte die Augen schon jetzt zum festen Schlafe geschlossen, wenn ihn nicht ein schrecklicher Durst gepeinigt hätte, den er stillen zu können hoffte, sobald der kräftige Geruch des bald fertigen Kaffees die Hütte durchdrang.

»Herr von Tekeli,« sagte da eine freundliche Stimme zu ihm, »Sie sind erschöpft, nicht wahr? Da, trinken Sie einen Becher Wein, der wird Sie erwärmen und neu beleben.«

Der Ungar hob das düster flammende Auge auf, das nur noch schwer vom Zufallen abzuhalten war, und sah Franz Marssen mit einer entkorkten Weinflasche vor sich stehen, die ein Führer rasch aus einem Winkel hervorgeholt und dem jungen Manne überreicht hatte.

»Ich danke Ihnen,« sagte der Ungar, nachdem er den Becher bis auf den letzten Tropfen geleert, der nun auch dem Holländer geboten wurde, »ich danke Ihnen sehr, und der Wein erquickt mich. Ich bin entsetzlich müde und fast morsch, ich besteige nie einen Gletscher mehr, ich habe für mein ganzes Leben genug bekommen.«

Franz lächelte. »Ich nicht,« sagte er fast fröhlich, »und ich denke noch viele andere Gletscher zu besteigen. Der Genuß war größer als die Mühe und das Leid, und dieses ist doch wahrhaftig rasch genug vorübergegangen.«

»Nennen Sie das auch einen Genuß,« nahm nun Herr van der Hooft das Wort, »in diesem räucherigen Loche zu sitzen und vielleicht gar eine ganze Nacht darin zubringen zu müssen?«

»Warum nicht, Herr van der Hooft? Jedenfalls ist es hier annehmlicher als auf dem Eismeer, und ich bin überzeugt, Sie werden noch oft mit Ihrer Erinnerung zu dieser Hütte zurückkehren, die mir in solcher Nacht, wie wir sie vor uns haben, noch ganz erträglich scheint.«

Zwei Führer, die des Malers Worte gehört hatten, nickten ihm ihren Beifall zu, und nun trat er zu ihnen und stattete ihnen allen schon jetzt den herzlichsten Dank für ihre Mühewaltung ab.

»Oho!« sagte der Gemsjäger mit edler Bescheidenheit, »rühmen Sie uns nur nicht zu sehr, mein lieber Herr Maler; wir taten und tun nichts als unsere Schuldigkeit, und wenn man Leute führt, die anerkennen, was man tut, so tut man es doppelt gern, und ich wenigstens bin mit meiner Dame zufrieden, die Sie mir zugeführt haben.«

»Ich auch mit der meinen,« sagte Christen, »und sie haben beide das Mögliche geleistet. Aber die Herren da haben auch gut ausgehalten, es war keine Kleinigkeit; und wenn sie sich nur erst ausgeruht haben, wird ihnen die Partie doch nicht ganz so übel vorkommen. Wenn man müde und durstig ist, ist man verstimmt, das haben wir oft genug an uns selbst am besten studiert, mein Herr.«

In diesem Augenblick traten die Damen wieder aus ihrem Verschlag hervor, und es war, als ob ihre von Zufriedenheit leuchtenden Gesichter das Düster aufgehellt hätten, das bis jetzt noch in der Küche geherrscht hatte, denn weder sah man ihnen eine Spur von Ermüdung an, noch verrieten sie über irgend etwas eine Mißstimmung, sondern freundlicher denn je traten sie an den Herd, und Fräulein Elise heiterte sogar ihren schweigsamen Bräutigam auf, indem sie ihm die Wangen streichelte und dabei sagte, daß sie sich ganz wohl befinde.

Während nun die fünf Reisenden, von einem Führer bedient, sich um das Feuer gruppierten und den wohlgeratenen Kaffee mit sichtlichem Behagen schlürften, verfügten sich die anderen Männer in die Heukammer und stapelten das kurze trockne Gras zu bequemen Lagerstellen auf, so daß größerer Platz in dem Raume entstand und eine Art Gang an der langen Wand frei blieb, in dem man hin- und hergehen konnte, ohne die etwa schon Liegenden zu berühren. Über das duftige Heu breiteten sie dann die reichlich vorhandenen wollenen Decken aus, stellten einen Eimer mit Wasser zum Waschen hin, und als sie ihre Arbeit so sorglich wie möglich verrichtet, kamen sie wieder heraus und sagten, daß die Herrschaften nun essen, trinken und plaudern könnten, wozu, sie gerade Lust hätten, ihr Schlafgemach sei bereit und sie ständen dafür, daß sie alle prächtig nach den ausgestandenen Mühen schlafen würden.

»Nun ja,« sagte Michel, »eng und klein ist unsere Bergwohnung, aber warm wird sie trotz des kalten Windes bleiben, und sicher ist sie auch. Mehr kann hier eigentlich kein vernünftiger Mensch verlangen. Ha, da kommt Murten mit den Überresten des Schinkens und des Brotes. Das ist gut, Mann. Hier setze nur alles auf diesen Schemel hin. Wir wollen es teilen, es reicht noch für alle bis morgen mittag. Aber wieviel Wein ist noch da?«

»Es sind nur noch anderthalb Flaschen, Michel.«

»Gib sie her; wenn sie geleert sind, bleibt uns noch eine Flasche Kognak, und dann machen wir Punsch.« –

So speisten und tranken denn alle mit dem besten Appetit, und je mehr der Hunger und Durst gestillt wurde, der sie alle peinigte, um so heiterer wurden die Gesichter wieder, bis sich bei einigen von ihnen rasch eine unüberwindliche Müdigkeit einstellte, die endlich den Gemsjäger veranlagte, die Herrschaften aufzufordern, sich zur Ruhe zu begeben und es einmal mit einem ungestörten Schlummer zu versuchen. Aber nur der Ungar ließ sich bewegen, schon jetzt in die Schlafkammer zu gehen und sich in der äußersten von der Tür entfernten Ecke niederzustrecken. Michel ging mit ihm hinein, hüllte ihn warm ein, verstopfte noch einige Ritzen, durch die der Wind blies, mit Heu, und kam dann wieder mit der Meldung zurück, daß der müde Herr schon schnarche, wozu er die Prophezeiung fügte, daß derselbe bis zum Aufgang der Sonne schlafen werde, denn er kenne die seltsame Müdigkeit nach einer Wanderung durch frischgefallenen Schnee und habe das oft an sich selbst erlebt.

Bald nachdem er diese Worte gesprochen, winkte ihn einer der Träger beiseite und flüsterte mit ihm in einer Ecke. Michel schien mit seiner Vorstellung nicht ganz in Übereinstimmung zu sein, wenigstens suchte er den Mann von seinen Vorhaben abzuhalten, allein der Träger setzte seinen Willen durch, und so trat der Gemsjäger an die Gesellschaft heran und sagte:

»Meine Damen und Herren, der Träger Murten will nicht länger bei uns bleiben. Er hat eine kranke Frau zu Hause, und die mag er in der Nacht nicht allein lassen. Er will den beschwerlichen Weg nach Grindelwald bei Schneegestöber und Wind antreten und achtet nicht auf meine Vorstellungen. So gehe er denn mit Gott. Wenn Sie aber etwas in Grindelwald zu bestellen haben, so wird er die Botschaft gern übernehmen.«

Die beiden Damen sprangen hastig von ihren Sitzen auf und traten auf den Mann zu, der sich schon zu seiner Reise rüstete. »Sie wollen nach Grindelwald?« rief Fräulein van der Swinden. »O, dann gehen Sie zu meinen Eltern in das Gasthaus und sagen Sie ihnen, daß wir geborgen sind und mit Hilfe dieser wackeren Männer ein Unterkommen für die Nacht gefunden haben. Wollen Sie das?«

»Das will ich gern, wenn ich glücklich hinunterkomme, und grüßen will ich sie von Ihnen allen.«

»Ja, ja!« riefen alle Stimmen durcheinander.

»Mein Schwiegervater wird Sie für diesen Gruß belohnen,« fügte Herr van der Hooft hinzu, »und Sie werden ihn mit keinem unfreundlichen Gesichte verlassen, also gehen Sie ja zu ihm.«

Der Mann nickte freundlich und reichte dann Fräulein Elise zutraulich die Hand. Auch Miß Edda gab ihm die ihrige und bedankte sich für seine Mühe, die er auf dem beschwerlichen Wege für sie alle gehabt.

»Das habe ich gern getan, mein schönes Fräulein,« erwiderte Murten, »und nun wünsche ich Ihnen allen eine gute Nacht.«

»Die wünschen wir Ihnen auch,« sagte Miß Edda, »und kommen Sie ungefährdet nach Hause!«

Der Mann nickte den Männern zu und ging dann zur Tür hinaus, die ihm der Wind beinahe aus der Hand riß, als er sie eben schließen wollte. Ihm auf dem Fuße nach aber folgten Michel und Franz Marssen, und als die Tür wieder geschlossen, sagte der letztere rasch zu ihm:

»Murten, tut mir den Gefallen und sucht auch meinen Jürgen auf. Der gute Junge soll morgen in aller Frühe, wenn es das Wetter irgend erlaubt, meine beiden Pferde mit Damensätteln so weit wie möglich den Berg heraufführen, sie an einer sicheren Stelle unter der Aufsicht eines Mannes lassen, den er dingen mag, und uns entgegenkommen. Ich weiß, ich mache ihm eine Freude damit, so beschwerlich der Weg für ihn sein wird. Auch soll er uns ein paar Flaschen vom besten Wein und etwas frisches Weißbrot mitbringen, beides können wir morgen gebrauchen. Wollt Ihr das?«

»Gern, Herr, will ich es, und nun gute Nacht!«

Im nächsten Augenblick war er im Nebel verschwunden und suchte sich seinen gefahrvollen Weg auf, der aber für ihn, den an Strapazen und Gefahren gewöhnten Mann, nicht so gefährlich war, wie er den zurückbleibenden Fremden erschien, denn diese Söhne der Berge führen, wo die Not drängt, entsetzliche Bergfahrten aus, und selten nur schreckt sie die Nacht, eher noch ein Unwetter zurück, wenn sie auch oft dabei ihren Untergang finden.

Als Franz Marssen wieder in die Hütte trat, funkelten ihm zwei lebhafte Augen entgegen. »Wie ist jetzt das Wetter draußen?« fragte ihn eine wohlbekannte Stimme, die, je häufiger sie zu ihm sprach, einen um so lauteren Widerhall in seinem Herzen weckte.

»Es stürmt noch immer entsetzlich, hören Sie es nicht?« lautete seine Antwort, »und es ist so kalt, als ob wir mit einem Male mitten in den Winter versetzt wären. Auch schneit es noch immer, doch weniger heftig als vorher, und die Bise hat den Föhn vollständig überwunden.«

»Dann tut mir der arme Mann leid,« sagte Miß Edda, »er wird einen schlimmen Weg haben.«

»Den hat er gewiß, aber die Liebe zu seiner Frau zieht ihn hinab, und so mag Gott ihn in seinen Schutz nehmen.«

Jetzt kam auch Michel wieder herein und schüttelte sich den dichten Schnee von den Schultern. »Teufel! es ist kalt draußen,« sagte er, »und wir können Gott danken, daß wir im Trocknen sitzen; es wäre für die Damen unmöglich gewesen, mit heiler Haut nach Grindelwald zu gelangen. Nun, Ihre Wohnung, meine Damen, ist schlecht genug, aber Sie werden die Nacht hier schon ertragen müssen.«

»Machen Sie keine Worte darüber,« entgegnete ihm Fräulein van der Swinden, »wir haben uns längst in unsere Lage gefunden. Ist es denn aber schon Nacht? Es sah draußen so finster aus, als Sie die Tür aufmachten.«

»Nacht ist es noch nicht, mein Fräulein, aber der Abend kommt schnell heran, und die finstern Wolken, der dichte Nebel und die Schneemassen, die in der Luft schweben, haben es frühe dunkel werden lassen. Übrigens wird es, wie mir scheint, bald zu schneien aufhören, und dann wird es Regen geben; in den oberen Regionen ist die Luft viel wärmer geworden. Unter diesen Umständen wird der Gletscher etwas unruhig schlafen, und Sie werden das Gepolter des Schnees und der Steine die ganze Nacht hören.«

»Das tut nichts,« erwiderte Miß Edda. »Ich bin mit meinem Lose zufrieden, und Elise auch. Herr van der Hooft aber scheint sehr müde zu sein.«

»So mag er sich schlafen legen, nachdem er sich die Stiefeln ausgezogen hat,« sagte Michel.

Der junge Mann, auf dem die Ermüdung wie ein Alp lag, ließ sich das nicht zweimal sagen. Er bat die Damen um Entschuldigung und ließ sich dann von dem bereitwilligen Michel sogleich die Schuhe ausziehen, der sie einem der Führer mit einigen Weisungen übergab. »Und nun, meine Damen,« fügte der Gemsjäger, zu diesen sich wendend, hinzu, »ziehen auch Sie Ihre Schuhe aus und legen Sie sich auf das Heu. Alles ist dazu bereit, und Sie werden Ihr Tun nicht bereuen: auch wir werden uns hier eine Streu machen und abwechselnd schlafen.«

»Wir sind bereit,« sagte Fräulein Elise, »und Sie sollen keine Zierpuppen in uns finden. Wohlan, da haben Sie meinen Fuß, ich will froh sein, wenn ich die schweren nassen Schuhe los bin.«

Dabei hielt sie dem Gemsjäger ihren Fuß hin, und dieser löste die Schnüre, und zog ihr die Schuhe aus, während Franz Marssen schon lange vorher das Gesicht nach dem Feuer gewandt hatte und mit einem der davorsitzenden Führer sprach. Herr van der Hooft war schon im Nebenraum, und einen Augenblick später schlüpfte auch Fräulein Elise hinein, um sich ihren Platz zu suchen. Jetzt kam an Miß Edda die Reihe, sich ihre langen Stiefel ausziehen zu lassen, und sie tat es ohne Ziererei, indem sie ihr trocken gewordenes Plaid über die Knie breitete, während Michel die nassen Stiefel entfernte, bei welchem Geschäft er der erste war, der die Bemerkung machte, daß die schöne Schottin lange Beinkleider von dunklem Seidenstoff trug, die fest um die Knöchel gebunden und bisher von den Stiefeln bedeckt gewesen waren. Als sie aber fertig war, knüpfte sie ein aus der Tasche gezogenes Tuch um das lose, kurze Haar, warf dann das große Plaid geschickt um den ganzen Körper und betrat, einen raschen Blick nach dem Feuer hinüber werfend, wo die Männer, ihr den Rücken zudrehend, unbeweglich saßen, ebenfalls das Nebengemach.

*

Unter den mannigfachen Vorbereitungen und Dienstleistungen, und während man mit Gemächlichkeit aß und trank, war die Zeit wie im Fluge vergangen, und der Abend war bei dem trüben Wetter zeitiger denn je hereingebrochen. Dunkle Wolken, fast schwarz, und eine die andere verjagend, um so schnell wie möglich den Platz derselben einzunehmen, bedeckten den ganzen Himmel; das Gewitter war noch immer hörbar, denn in der Ferne grollte unablässig der Donner oder sein Echo an den Bergen, nur die wie Feuergarben niederregnenden Blitze hatten aufgehört sichtbar zu sein, entweder, weil sie in der dicht verschlossenen Hütte nicht bemerkt wurden, oder weil das Gewitter schon zu weit fort gerauscht war. Nur der stürmische Wind war derselbe geblieben oder hatte sich vielmehr zehnfach verstärkt, denn er heulte in gewaltigen Stößen um das kleine Haus und erschütterte das einzige winzige Fenster, welches über der Tür angebracht war, so heftig, daß man schon von außen eine feste Decke vorgenagelt hatte, um die fast erblindeten Scheiben zu schonen, die hier oben nicht so leicht durch andere ersetzt werden konnten. Auch das Schneegestöber dauerte noch eine Weile fort, und bisweilen hörte man einen Schauer wie Hagelkörner gegen die dünne Steinwand rasseln; mit ihm drang eine Kälte durch die schlecht verklebten Fugen, daß man alle Mühe aufbot, von innen die Ritzen zu verstopfen und sich gegen den grimmigen nächtlichen Feind der Berge zu wehren. Deshalb unterhielt man auch das Feuer auf dem Herde stets mit neuem Reisig und Holz, und da von beiden ein ziemlicher Vorrat vorhanden war, so brauchte man nicht zu befürchten, sich dem Froste preisgegeben zu sehen, und gegen die Morgenkälte hielt Michel einen guten Grog bereit, den er schon vor der Zeit gebraut und an einer vor Rauch geschützten Stelle auf dem Herde warm gesetzt hatte.

Die neunte Abendstunde war endlich herangekommen. Die Führer hatten sich schon lange eine bequeme Streu rings um das Herdfeuer gemacht und lagen zum Teil schon schnarchend darauf. Franz Marssen saß allein noch auf der Bank, hielt zwar die Augen geschlossen, aber er schlief nicht, denn er fühlte seltsamerweise keine große Müdigkeit, da sein Geist lebhafter denn je mit anderen Dingen beschäftigt war. Michel, mit dem er von Zeit zu Zeit einige Worte wechselte und der ihn wiederholt aufgefordert hatte, sich ebenfalls in die ruhigere und weniger von Rauch erfüllte Heukammer zu begeben, worauf er indes wenig oder gar keine Antwort erhalten, ging ab und zu vor die Tür, denn sein aufmerksames Ohr hatte er stets nach außen gewandt, und er verfolgte mit großer Spannung die Vorgänge in der Luft, da er sich sagen mochte, daß, wenn das Unwetter auch am nächsten Morgen in gleichem Grade anhielte, die Reisenden eine schlechte Rückkehr haben oder an dieselbe gar nicht würden denken können. Nach einem heftigen Windstoß, der das kleine Häuschen bis in seine Grundfesten erschütterte, ging er wieder leise zur Tür hinaus, blieb längere Zeit draußen, und als er endlich hereinkam, lächelte er dem ihn fragend ansehenden Maler mit einiger Befriedigung zu.

»Das Wetter ändert sich,« sagte er leise, indem er sich neben ihn auf die Bank setzte, »und ich habe keine geringe Freude dabei, denn die Aussicht war bisher trüb für morgen. Die Bise ist vorübergezogen, und nur der siegreiche Föhn bläst noch zuweilen in sein Alarmhorn. Na, nun werden wir doch den Schnee los, und es fängt eben ein warmer Regen an zu fallen. Ich wünschte, es regnete tüchtig, damit der Schnee bis morgen früh weggeht; es ist besser im Wasser zu waten, als nie zu wissen, wohin man seinen Fuß setzt. Doch halt, ich habe das Licht da drinnen ganz vergessen, und es darf für die Nacht nicht verlöschen, die Dunkelheit könnte die armen Dingerchen ängstigen. Ich will einmal hineingehen und ein frisches Licht in die Laterne stecken.«

»Habt Ihr denn noch Vorrat, Michel?«

»Genügend, um die kleine Kammer, in der noch nie ein so schönes Weib geschlafen, bis zum Mittag zu erleuchten. Da – sehen Sie – ich habe mich diesmal in Grindelwald tüchtig versorgt, und jetzt reut mich mein Tun nicht.«

Er stand auf und glitt leise, um die Schläfer nicht zu stören, durch die Öffnung in der Wand, nachdem er die beiden Bretter vorsichtig davon entfernt hatte. Als er in die Kammer trat, hatte er ein freundliches und ebenso ruhiges Bild vor sich. Links in der hintersten Ecke, ganz unter wollenen Decken und Tücher vergraben, so daß nur die Umrisse seines Körpers sichtbar waren, lag der Ungar im tiefsten Schlaf, nur bisweilen einen laut schnarchenden Ton von sich gebend. Neben ihm und ihn fast berührend, sah er den Holländer, bis an den Hals zugedeckt und die stiefellosen Füße in eine wollene Decke gehüllt. Er lag gleichfalls im tiefsten Schlaf, und seine regelmäßigen, hörbaren Atemzüge bekundeten seine leibliche Gesundheit und Jugendfrische, die nur durch die ungewöhnliche Anstrengung und die ausgestandene Angst an diesem Tage eine vorübergehende Niederlage erlitten. Seinen rechten Arm hatte er weit von sich über den Kopf des neben ihm ruhenden Mädchens ausgestreckt, als wolle er es beschirmen, doch berührte er es damit nicht, und nur seine linke Hand hielt eine Hand der jungen Holländerin krampfhaft umfaßt, die ihr liebliches Gesicht dem seinen zugekehrt, um ihn so lange wie möglich im Auge zu behalten, worüber sie eingeschlafen war. Unmittelbar an ihrer Seite hatte Miß Edda ihren Platz gefunden. Aber sie schlief nicht, sondern saß halb aufgerichtet und fest in ihrem Plaid gewickelt, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt oder vielmehr gegen das Heu, welches man daselbst hoch aufgestapelt. Offenbar hatte sie sich so dicht an die Seite ihrer Freundin gedrängt, um in dem engen Raume noch Platz für eine fünfte Person übrig zu lassen, aber diese Person hatte sich – wenn dies überhaupt geschehen war – bis zu diesem Augenblick vergeblich erwarten lassen.

Als der Gemsjäger mit seiner frischen Wachskerze in das Gemach trat, das nur schwach von dem, hinter einer trüben Glasscheibe brennenden Lichte erleuchtet wurde, sah er das dunkle Auge der Schottin erwartungsvoll auf sich gerichtet, mit einem starren Ernst verbunden, der fast an Strenge grenzte, wodurch das schöne, von dem um die Wangen geschlagenen Tuche sanft beschattete Gesicht einen eigentümlichen, fast vorwurfsvollen Ausdruck erhielt.

Was für Gedanken mochten in diesem Augenblick durch ihre Seele ziehen, daß sie so ernst und streng vor sich hin blickte? Freudige konnten es wohl nicht sein, denn davon war keine Spur in den bei der jetzigen Beleuchtung fast bleichen Zügen zu erkennen. Doch auch trübe waren es nicht, dazu blickte das glänzende Auge zu fest, zu selbstbewußt, und die Seele, die in diesem Körper wohnte, mochte wohl in lebhafter Geistesarbeit und dadurch bewegt sein, aber niedergedrückt war sie gewiß nicht, vielmehr lag ein unerklärlicher Zug, dem ehemaligen Stolze und dem alten Trotze ähnlich, auf dieser Stirn, um diese Lippen, die nur heftiger zuckten, als sie die Bretter von der Öffnung in der Wand wegnehmen hörte und eine männliche Gestalt in den matt erhellten Raum treten sah.

Als der Gemsjäger, das Licht unangebrannt in der Hand haltend, eintrat, sah er sich die Schläfer der Reihe nach an. und als sein Auge auf die wachende Schottin fiel, nickte er ihr vertraulich zu und sagte leise:

»Wie schlafen Sie noch nicht? Sie liegen wohl unbequem?«

»Nein, ich liege ganz bequem, aber ich schlafe nicht, weil ich nicht schlafen kann. Aber warum schlafen Sie selbst nicht?«

Der Gemsjäger lächelte. »O, o,« sagte er, »das kommt nachher, erst muß man seine Pflicht erfüllen; wir an eine durchwachte Nacht gewöhnten Menschen begnügen uns mit einer Stunde, wenn es nicht anders geht.«

Bei diesen Worten nahm er das fast abgebrannte Licht aus der Laterne, zündete das neue an und stellte es vorsichtig hinein. Als er damit fertig war, wollte er wieder gehen, nickte der Dame zu und sagte:

»Nun gute Nacht! Schlafen Sie ganz getrost, ich werde Sie wecken, sobald es Zeit zum Aufstehen ist, damit wir die günstige Stunde nicht versäumen.«

Er wollte eben gehen, da hielt ihn ein Wink des gebieterischen, schönen Auges zurück.

»Was wünschen Sie, mein Fräulein?« fragte er, noch einmal im Gehen innehaltend.

Es ging ein sichtbarer Kampf in Miß Eddas Innern vor, aber er war kurz, und ein fester Entschluß prägte sich gleich darauf um ihre Lippen aus. »Wo schläft Herr Marssen?« fragte sie, fast noch leiser sprechend als vorher.

»O mein Fräulein, der schläft gar nicht, er sitzt noch immer auf der Bank an der Mauer, sieht in das Feuer und spricht zuweilen mit mir. Vielleicht hindert ihn der Rauch, an den er nicht gewöhnt ist, am Einschlafen.«

Der Kampf in der Seele des jungen Mädchens begann noch einmal, aber wieder ward sie rasch ihres Entschlusses Herr. »Bitten Sie ihn hierher zu kommen,« flüsterte sie, »hier ist Raum genug für ihn – ich möchte noch mit ihm reden.«

Der Gemsjäger nickte und verließ die Heukammer. Zwei Minuten später wurde Franz Marssens Gestalt in dem Türspalt sichtbar, und da er die innere Einrichtung des improvisierten Schlafzimmers noch nicht kannte, blickte er sich forschend darin um.

»Hier,« sagte eine leise Stimme dicht vor ihm, »hier ist Platz. Legen Sie sich nieder!«

Franz, von der unerwarteten Aufforderung beglückt, obgleich die Stimme, trotzdem sie nur leise sprach, etwas gebieterisch klang, nickte. Nur ging er noch einmal rasch in den äußeren Raum zurück und holte eine wollene Decke, die er für sich in Bereitschaft gehalten hatte. Als er wieder hereinkam, kauerte er sich neben Miß Edda nieder, die ihm noch mehr Platz zu machen suchte, dann stützte er den Kopf auf die rechte Hand und blieb ruhig und unbeweglich in einer ihm überaus neuen Lage liegen, das Auge unverwandt auf das schöne Gesicht neben ihm gerichtet haltend, dessen Augen ihn voll und forschend ansahen, als suchten sie in seine Seele zu dringen und darin zu lesen.

»Sind Sie nicht müde?« fragte endlich Miß Edda leise.

»Nein, wenigstens zum Schlafen nicht.«

»Da geht es Ihnen wie mir. Ich kann auch nicht schlafen, beim besten Willen nicht. Die Lage hier ist mir zu seltsam. Wer hätte es für möglich gehalten, daß es so kommen würde! Und doch bin ich ja selbst Schuld daran. Ich muß immer an Michels Lehre denken, die er uns heute morgen unterwegs predigte, als er von Ihrem Vater und seinem Besuch mit demselben in der Eigerhöhle sprach. Sie erinnern sich wohl. Doch wissen Sie, warum ich Sie habe rufen lassen? Es verdrießt mich eigentlich, daß Sie nicht von selber kamen, da Sie doch zu uns und nicht zu den Leuten draußen gehören. Aber das war es nicht allein, warum ich Sie rufen ließ. Ich habe vielmehr eine Frage an Sie zu richten, die mir schon lange auf der Lippe schwebt. Jetzt soll sie endlich gesprochen werden.«

Sie schwieg und ein langer Atemzug befreite ihre Brust von einem pressenden Gefühl, das schwer darauf gelegen zu haben schien.

»Sprechen Sie,« sagte Franz Marssen ruhig, »ich höre.«

»Ja – wir haben ohnehin lange nicht ungestört miteinander gesprochen, und es scheint Ihnen nicht viel daran gelegen zu sein, daß es geschieht, wie? Ich bitte mir eine ehrliche Antwort aus.«

»Die sollen Sie haben. Ich spreche gern, sehr gern mit Ihnen, aber die Verhältnisse waren an diesem Tage nicht dazu angetan.«

»So! Ja, das ist teilweise wahr, aber Sie haben mir früher oft hilfreiche Hand geleistet, und jetzt tun Sie das nicht mehr. Warum nicht?«

»O, Sie standen ja unter Michels Schutz, und der ist eine kräftigere Stütze als ich.«

»Er ist kräftig, ja, aber Sie sind es auch. Sie hätten mir gleichwohl bisweilen zur Seite bleiben können, zum Beispiel, wenn ich das Pferd besteige oder absteige – warum treten Sie dann immer so weit wie möglich von mir zurück?«

Über Franz Marssens bleiches Gesicht schoß ein Strahl stiller Freude, und sein Auge leuchtete von einem inneren Feuer wieder, aber dies Feuer war kein verzehrendes, sondern ein mild erwärmendes. »Mein Fräulein,« sagte er, und selbst in seinen leise gesprochenen Worten verriet sich das tiefe Gefühl, das ihn in diesem Augenblick ergriffen hatte, »Sie fragen ehrlich, und ich will ehrlich antworten: ich wage nicht, mich in ähnlichen Fällen Ihnen zu nähern, noch weniger Sie zu berühren, weil ich mich nur zu lebhaft des abweisenden, ja harten Tones erinnere, mit dem Sie auf dem Wege nach der Grimsel, als ich Ihnen vom Pferde helfen wollte, zu mir sagten: »Nicht anfassen, ich liebe das nicht!«

Edda senkte das Auge und nickte mit dem Kopfe dabei. »Ja,« sagte sie noch leiser als zuvor, so daß er kaum ihre Worte vernehmen konnte, »ich erinnere mich auch dieser Worte, und vielleicht war es unhöflich von mir, sie gegen Sie zu sprechen. Allein damals kannte ich Sie noch nicht, wie ich Sie jetzt kenne. So bitte ich denn heute um Verzeihung wegen meiner Unhöflichkeit. Und damit Sie sehen, daß ich mich durch den Umgang mit fremden Menschen schon in etwas gebessert habe, und daß es mir Ernst ist, Ihnen eine andere Meinung von mir beizubringen, gebe ich Ihnen meine Hand. Da haben Sie sie, und nun reichen Sie mir die Ihrige zur Versöhnung.«

Aus den Falten des grauen Plaids kam jetzt eine weiche, warme Hand hervor und streckte sich dem laut atmenden Maler entgegen. Er ergriff sie, fest, und hielt sie lange in der seinen, länger vielleicht, als er es selber wußte. Endlich entzog sie sich ihm wieder, und gleich darauf war sie unter dem warmen Tuche verschwunden.

Franz Marssen, dessen Brust nach Worten rang, fand keins, das ihm für diesen Moment geeignet erschienen wäre. Allein, wenn er es auch gefunden hätte, er hätte es nicht zu sprechen vermocht, denn die so interessant gewordene Unterhaltung wurde plötzlich durch eine von außen her kommende, unerwartete Störung unterbrochen. Ein furchtbares, lang anhaltendes Krachen, wie von hundert Gewittern, machte die Luft draußen erbeben, und die Grundfesten des kleinen Hauses, in dem man lag, schienen zu zittern.

»Was ist das?« fragte Miß Edda erschrocken, indem sie sich auf einem Arm in die Höhe richtete.

Franz horchte mit angehaltenem Atem. Das Getöse dauerte wohl eine halbe Minute, dann nahm es allmählich ab und schließlich endigte es in einem hohlen Gebrause, das weit in der Ferne verklang.

»Das war eine Lawine,« sagte er, »und wir werden wohl noch mehr zu hören bekommen, denn es regnet, und der Schnee ballt sich und stürzt unaufhaltsam von den Höhen. Die Natur ist an diesem Orte in ewiger Tätigkeit, sie schafft und zerstört ohne Unterlaß. Erst fällt Schnee, dann Regen, der ihn erweicht und schmilzt. Er rollt in die Tiefe, es berstet das Eis von seiner Wucht, reißt gähnende Spalten auf und stürzt seine Blöcke herab. Hier bauen sich Brücken über endlose Schlünde, dort fallen sie ein. Heute ist hier ein Weg, wo morgen keiner mehr; hier stürzt heute eine Schneelawine, morgen ein Wasserfall herab; Donner, Tosen und Brüllen lösen sich miteinander ab, der Sturm und das Gewitter mischen ihre Stimmen und über allem lacht der Himmel bald heiter in reiner Azurbläue, bald hüllt er sich in seinen dunklen Trauermantel von Wolken und Nebel ein. So, ja, so stellt die große Natur das Leben im Kleinen dar, und wir Menschen, die es mit ansehen und nicht begreifen können, müssen wenigstens bekennen, daß die Natur groß und das Leben seltsam ist – nicht wahr?«

Miß Edda hatte aufmerksam den mit stiller Begeisterung gesprochenen Worten gelauscht. Sie wollte eben etwas erwidern, aber da schrak sie von neuem zusammen. Ein zweites donnerartiges Krachen erschütterte draußen die Luft, aber es war ein ganz anderer und viel hellerer Ton als früher, und es klang, als ob nach einem dumpfen Kanonenschuß tausend Gewehre auf einmal knatternd und prasselnd entladen würden. »Was war aber das?« fragte sie wieder.

Franz Marssen hatte abermals hingehorcht, und dann sagte er: »Das sind große Geröllsteine oder Eisblöcke, die sich oben auf der Höhe des Gletschers gelöst haben und nun kopfüber in die Tiefe rasseln und rollen, bis sie eine neue Ruhestätte finden, wo sie wiederum Jahre liegen, um abermals in Bewegung zu geraten, wenn Gott es will.«

»Ja, das ist eine große Natur hier, Sie haben recht! Und bei allen Schrecken, die sie hervorruft, liegt für mich doch ein großer Genuß darin, ihre Stimmen zu vernehmen und ihre Revolutionen mit anzusehen. Selbst jetzt, in dieser gezwungenen Lage, bin ich gewissermaßen glücklich – ich wollte sagen, befriedigt, und ich – ich wenigstens scheine nicht umsonst nach der Schweiz gekommen zu sein.«

»Kein Mensch kommt vergebens auf die Stelle, die er einmal nach Gottes Ratschluß betritt – so wenigstens verstehe ich die Welt, das Verhängnis, das Schicksal. Ach ja – ich glaube daran. –«

»Wir haben schon einmal ein Ähnliches besprochen,« unterbrach sie ihn, »doch damals redeten Sie dem Zufall das Wort. –«

Franz Marssen wiegte nachsinnend den Kopf. »Man ändert bisweilen seine Ansichten, wenn man erfahrener wird – und ich – ich habe in den letzten Tagen meines Lebens große Erfahrungen gemacht – ach ja!«

»Ich auch. Doch still davon. Jetzt ist es ruhig draußen, und sogar der Wind tobt nicht mehr so fürchterlich.«

Franz horchte hinaus. Es war wirklich eine Pause in dem Tumult auf dem Gletscher eingetreten, nur einzelne verspätete Windstöße fuhren noch seufzend über den großartigen Schauplatz ihrer früheren Tätigkeit, und der Regen klatschte gegen die morschen Wände des kleinen Hauses, das schon so lange allen Angriffen der Natur preisgegeben war und ihnen doch noch immer widerstand.

Dann und wann sprach Edda noch ein Wort, das sich auf die Vorgänge in der Außenwelt bezog, und Franz antwortete ihr darauf. Sie hatte sich zwar vorgenommen, die Nacht wachend hinzubringen, aber dabei nicht bedacht, daß auch sie den Bedürfnissen der menschlichen Natur unterworfen sei. Allmählich kamen ihre Worte langsamer, leiser und seltener hervor, und ihre Augen schlossen sich dabei häufiger und länger. Als ihr Nachbar dies merkte, zog er seine Decke, die sie bisher unbenutzt zu ihren Füßen hatte liegen lassen, über dieselben herauf und hüllte sie warm ein, was sie sich schweigend gefallen ließ, denn der kalte Wind und die Nässe drangen endlich doch durch die unzähligen Ritzen des baufälligen Mauerwerks und machten sich auf empfindliche Weise bemerkbar. Als er aber auch einen Teil seiner eigenen dicken Decke über ihren Körper legte, ermannte sie sich noch einmal aus dem nahenden Schlummer und lehnte dankbar seine Bemühungen ab, indem sie ihn aufforderte, nun auch an sich selbst zu denken.

»Wollen Sie denn nicht ebenfalls etwas schlafen?« fragte sie mit sichtbarer Anstrengung, die Augen offen zu halten.

»O ja, vielleicht werde ich bald schlafen.«

»Ich möchte es jetzt auch, ich bin ruhiger geworden als vorher, nur hält mich noch immer ein seltsam beklemmendes Gefühl davon ab – es ist mir, als müßte ich mich vor irgend etwas, was ich nicht kenne, fürchten. –«

»Fürchten Sie nichts und schlafen Sie ruhig ein. Gott wacht überall, zu Hause und in der Fremde über uns, und ich habe mich stets wohl dabei befunden, wenn ich ihm ganz und unbedingt vertraute.«

»Da haben Sie recht, das will ich mich tun – und nun gute Nacht! Aber rücken Sie nicht so weit von mir fort, Sie hindern mich nicht und ich habe – Vertrauen zu Ihnen gewonnen – es beruhigt mich, wenn ich Sie in meiner Nähe weiß – schlafen Sie wohl!«

Das war ihr letztes Wort. Franz, gleichsam unter ihrem Willen stehend und ihr in allem gehorsam, rückte ihr noch etwas näher, und als er dann einen Blick auf sie warf, sah er, daß sie sanft eingeschlafen war. Aber da erst recht betrachtete er sie, und er konnte seine Augen lange nicht wieder von ihrem Gesicht abwenden, das in der engen Umrahmung des bunten seidenen Tuches, aus dem nur wenige dunkle Haare hervorquollen, ungewöhnlich lieblich aussah. Als er so ganz nahe bei ihr saß, erschrak er, denn plötzlich machte ihr Kopf eine Bewegung nach ihm, als suchte er eine Stütze, und um ihn auch diese finden zu lassen, rückte er ihr so nahe wie möglich, und es dauerte nicht lange, so war der schöne Kopf schwer auf seine Schulter gesunken und ruhte nun fest auf sicherer Unterlage.

Franz, gerade in keiner bequemen Lage und mehr sitzend als liegend, regte sich nicht, und kaum atmete er, um den ihr so notwendigen Schlummer nicht zu stören. Um so aufmerksamer haftete dafür sein Auge auf ihren Zügen, und langsam glitt es von einem zum andern, um jeden einzelnen mit haarscharfer Abwägung zu prüfen und zu studieren. Sie lagen jetzt glatt und ruhig vor ihm, wie die leidenschaftslosen Züge eines schlafenden Kindes. Da war keine Aufregung, kein Hinterhalt, kein Widerspruch und kein Trotz mehr zu finden: Friede, stiller Friede allein sprach aus jeder Linie und verklärte den Reiz der Jugend mit seinem stillen, milden Seelenhauch. Diese weißen, fest geschlossenen Augenlider, deren samtschwarze Wimpern wie lange Schatten auf das sanft angehauchte Rot der so schön gerundeten Wangen fielen, die sich unter der Einwirkung des Schlafes warm zu beleben begannen, diese vollen, frischen Lippen, die sich nur halb über den weißen Zähnen geschlossen – o wie schön, wie klar, wie rein war alles und jedes, was er sinnend, jetzt nicht mehr als Künstler allein, sondern auch als fühlender Mensch betrachtete. O, noch nie, noch nie, das gestand er sich hundertmal ein, hatte er ein solches Gesicht gesehen und noch viel weniger es so nahe an dem seinen gehabt!

»Wenn dieser Friede doch ewig zwischen uns dauern wollte,« sagte er nach längerer Betrachtung zu sich, »wenn diese Augen doch nie wieder widerspruchsvoll und trotzig gegen mich blicken wollten – o wie glücklich wäre ich dann! O ja, glücklich, aber wie lange wird es dauern, dann stehen wir uns wieder feindlich einander gegenüber, dann reden diese Augen wieder eine herrische Sprache, und diese Lippen bringen Worte hervor, die mich vergessen lassen, daß ich einst so nahe und friedlich an ihrer Seite ruhte. O, so halte die Minute fest, Franz, in der du so glücklich bist! Ist sie einmal vorübergerauscht, so kommt sie sobald nicht wieder und besucht dich höchstens wie ein schöner Traum aus der Vergangenheit in der Erinnerung, während diese kurze Minute dir noch als Gegenwart gehört und niemand dir das köstliche Bewußtsein derselben rauben kann!«

Franz hatte endlich sein Selbstgespräch beendigt, das er noch gern stundenlang fortgeführt, denn unter Umstünden ist ein solches Gespräch süßer und unterhaltender als das, welches andere mit uns führen, und unserm Freunde kam es diesmal namenlos süß vor. Allein auch er war ein Mensch und den Bedürfnissen der Natur unterworfen. Bis jetzt hatte er sich durch die Beschäftigung seines Geistes munter erhalten, aber nun fühlte auch er allmählich die Ermüdung und in ihrem Gefolge den Schlaf näherrücken, und er gab sich ihm ohne Säumen und Widerstand hin. Bisweilen freilich hörte er noch in der Ferne das Donnern eines fallenden Schneesturzes oder eines von der Höhe herabrollenden Steines, endlich aber hörte er nichts mehr, und auch er lag unbeweglich im tiefsten Schlaf, die ganze Welt und mit ihr das Verhängnis, das Schicksal, den Zufall vergessend, von denen eines oder das andere ihm heute wieder eine so bedeutsame Rolle zuerteilt hatte.

*

Noch ein- oder zweimal trat im Laufe der Nacht der unermüdliche Michel in das kleine Gemach und sah nach dem Lichte in der Laterne, und gegen Morgen wechselte er noch einmal die Kerze. Dabei betrachtete er eine Weile die so nahe beieinanderruhende Gruppe, und sein männliches Antlitz überzog ein freundliches Lächeln. Dann aber legte auch er sich endlich auf die Streu am Feuer und schlief eine Stunde, bis er plötzlich wieder aus dem Schlummer auffuhr und, nach außen horchend, von der seltsamen Stille überrascht wurde, die im Freien eingetreten zu sein schien. Da stand er von seinem Lager auf, warf sich seine wollene Decke über den Kopf, nahm seinen Alpstock, öffnete behutsam die Tür und trat neugierig in die frische Nachtluft hinaus.

Diesmal sollte er eine unvermutete Freude haben. Der Wind hatte sich fast ganz gelegt, der Regen aufgehört, und nur ein lautes Rieseln und Plätschern des Wassers, welches sich von der Höhe nach der Tiefe senkte und von dem kalten Bergrücken wegzukommen strebte, war ringsum vernehmbar. Frohlockend hob er nun die Augen zum Himmel empor, und siehe da, an einer kleinen Stelle über ihm blinkten und flimmerten einige Sterne, obwohl sonst ringsum noch der ganze Horizont, soweit er sichtbar, in dunkle Wolken und nächtliche Finsternis gehüllt war.

»Das muß ich einmal näher untersuchen!« sagte der Gemsjäger zu sich und schritt langsam und vorsichtig um den hochangeschwollenen See herum. Ohne Schwierigkeit fand er das Brett auf, welches noch immer über der Schlucht lag, wie die Leiter auch noch am Gletscher lehnte, da die Führer bei der Eile und dem furchtbaren Wetter am Nachmittag beides an Ort und Stelle gelassen hatten. Behutsam schritt der kühne Mann nun über das Brett, erklomm die Leiter und schwang sich auf den Gletscher hinauf, von dem der Wind und der Regen die größte Schneemasse schon weggefegt hatten.

Als er endlich sicher auf der Höhe des Gletscherrandes stand, bot sich ihm ein größerer Sehkreis als vorher dar und, nachdem er nur flüchtig über das wüste Eismeer mit seinen gespenstigen Schatten und seinen gurgelnden Kaskaden hingeblickt, wandte er sein Gesicht nach Osten hin. Und siehe da, soeben entwickelte sich der erste blaßgelbe Streif am fernen Horizont, der ziemlich frei von Wolken und Nebeln war. Langsam rückte der Verkündiger des Morgens heran, langsam schob er seine farbige Lichtwelle weiter und weiter vor, bis sie mit mattem rosigen Strahl kurze Zeit über den Bergen aufleuchtete und dann wieder hinter ein graubleiches Dunstmeer versank. –

Wohl eine halbe Stunde lang blieb der Gemsjäger auf derselben Stelle unbeweglich stehen, der Kälte der Nacht wie den feuchten Dünsten trotzend, die rings um ihn her aus dem nassen Gletscher aufstiegen und sich in Wolkengestalt über die Erde verbreiteten, um auch anderen Ländern ihre Feuchtigkeit mitzuteilen. Sein Auge blickte nur hoffnungsvoll nach dem werdenden Lichte empor, und erst, als er sich überzeugt, daß das böse Wetter ganz vorübergezogen und daß der Morgen, wenn auch mit Nebeln erfüllt, ein günstiger sein werde, kehrte er nach dem kleinen Häuschen zurück, voller Freude, daß er der erste sei, der den Freunden und Fremden den günstigen Wechsel verkünden könne.

Als er in den Küchenraum trat, fand er die Führer noch sämtlich im tiefsten Schlaf. Darauf leise die Bretter vor der Wandöffnung wegnehmend, blickte er neugierig in die Heukammer hinein, und auch da fand er noch alles in der früheren Lage. Nur das feine Ohr des Malers hatte ihn kommen gehört, und als Michel sein Auge auf ihn richtete, sah er, daß er wach war und ihm fragend entgegenblickte.

Michel, der niemanden stören wollte, gab ihm einen Wink, der besagen sollte, daß draußen alles gut stehe, und als Antwort winkte ihm Franz zu, sich wieder zu entfernen, um die so sanft neben ihm Ruhende nicht zu stören.

Michel verstand ihn und entfernte sich sogleich, und jetzt erst wagte der Maler, sein Auge wieder auf seine Nachbarin zu richten. Sie lag noch immer mit dem Kopf auf seiner Schulter und regte sich nicht. Ihre Lippen waren halb geöffnet, ihre Brust atmete leise, und der junge Mann fühlte den warmen Atem dieser Brust an seiner Wange. O, und da kamen ihm die Empfindungen wieder, mit denen er vorher eingeschlafen war. Welche wunderbare und für ihn leider – das sagte ihm jetzt schon ein banges, dunkles Vorgefühl – verhängnisvolle Nacht hatte er in so kurzer Zeit durchlebt! »Könnte ich sie doch noch länger fesseln!« dachte er wiederholt. »Aber nein, sie rauscht unbarmherzig vorüber, wie alles Vergängliche in der Welt, und was rauscht rascher als eine mit köstlichen Träumen durchwehte Nacht!«

Nach einiger Zeit riß er seine Augen fast mit Gewalt von dem schönen Wesen los und lauschte wieder nach außen hin. Ja, der Sturm war auch vorübergesaust, er hatte Michels Wink wohl verstanden, aber der neue Sturm in seiner Brust – wie stand es damit? War darin nicht auch ein großer Lawinenfall vor sich gegangen? Hatte sich nicht auch ein großer Stein von seiner Brust gewälzt? O ja, ein Stein – das bittere Gefühl unverdienter Zurücksetzung – war gewiß davon gesunken, aber ein neuer und vielleicht noch viel größerer und schwererer hatte sich darauf niedergelassen und der begann sein Herz zu drücken, zu pressen, so fest und schwer und schmerzlich, daß er hätte in Tränen ausbrechen können, wenn er nicht ein Mann gewesen wäre, ein starker Mann, in dem es keine Tränen für solche wonnevollen und doch schmerzlichen Empfindungen gab.

Da fuhr ihm plötzlich ein neuer Gedanke durch den Sinn. »O,« sagte er zu sich, »ich wünschte, sie nähme den Kopf von meiner Schulter, damit ich mich unbemerkt erheben und entfernen könnte. Denn wenn sie jetzt erwachte und sich in solcher Lage neben mir fände, würde das für ihre stolze Seele, die ich kenne, nicht eine neue Demütigung sein? Vielleicht! Ja, aber vielleicht auch nicht! Wer weiß es, denn wer enträtselt die Geheimnisse eines so stolzen weiblichen Herzens!«

Doch siehe da – hatte die Schlafende seine Wünsche verstanden oder hatte ein unsichtbarer magnetischer Geist ihr dieselben zugeflüstert – plötzlich machte sie eine unwillkürliche Wendung mit dem Kopfe, fiel damit sanft auf die andere Seite und – Franz Marssen war frei.

Noch eine Weile blieb er ruhig liegen, dann erhob er sich vorsichtig von dem knisternden Heu, und mit zwei Schritten war er zur Tür hinaus, nachdem er die vorgestellten Bretter behutsam zur Seite geschoben hatte.

Als er in den vorderen Raum der Hütte trat, fand er die Führer noch im Schlaf, Michel aber saß allein am Herde und war, nachdem er eben das Schuhwerk der Reisenden in Stand gesetzt, damit beschäftigt, Tee und Schokolade zu kochen, um sie seinen Gästen, sobald sie munter geworden, zum Frühstück darzubieten und ihnen damit neue Kraft und Wärme zu verleihen.

Franz schlich an den Herd und begrüßte den Gemsjäger mit leise geflüsterten Worten, der ihm fröhlich zulächelte und sagte:

»Sie haben gut geschlafen, und das freut mich. Nun, wir haben alle Glück, das Wetter ist günstig geworden, und wenn sich die Gewässer ein wenig verlaufen und die Nebel etwas gesenkt haben, können wir allmählich an unsere Rückkehr denken.«

»Laßt uns nicht zu früh aufbrechen,« entgegnete Franz, indem er sich auf das Ende der Bank neben den wackeren Gemsjäger setzte. »Laßt sie noch ruhen, so lange sie wollen und können, wir kommen ja immer früh genug nach Hause.«

Michel sah ihn groß an; die weiche Stimme und das seltsam feierliche Gesicht des jungen Mannes mochte ihm auffallen. »Es gefällt Ihnen hier wohl ordentlich?« fragte er mit pfiffigem Lächeln und nickte bedeutsam dabei.

»O ja, Michel, ich habe gut geschlafen,« erwiderte er, den Blick vor sich niedersenkend und dann seine Haare und Kleider etwas in Ordnung bringend.

»Das glaube ich!« dachte der Gemsjäger und rührte bedächtig sein Frühstück mit einem frisch geschnitzten Stabe um.

»Überdies,« fuhr Franz Marssen fort, »möchte ich erst Pferde, die ich bestellt, auf dem Berge wissen, damit die Damen nicht zu nasse Füße bekommen, und wie ich Jürgen kenne, wird er nicht auf sich warten lassen und mit Tagesanbruch von Grindelwald aufbrechen.«

»Na, er wird eben keinen bequemen Weg haben; aber um sechs Uhr kann er immerhin hier sein und jetzt ist es erst vier.«

So unterhielten sie sich wohl noch eine Stunde und unterdessen wurde es trotz des dicken Nebels draußen lichter und lichter und der Morgen schien endlich bleich und trüb durch die blinden Fensterscheiben über der Tür herein, von denen man die wollene Decke wieder entfernt hatte. Plötzlich vernahm man in der Heukammer ein lautes behagliches Gähnen, das nur von dem jungen Holländer herrühren konnte, der sich wahrscheinlich zu Hause in seinem Bett glaubte. Bald darauf erschien er auch in dem Türspalt und kurz nach ihm kam der Ungar mit verschlafenem Gesicht zum Vorschein, worauf sich beide fröstelnd auf die Bank am Feuer niederließen, nachdem sie den bereits Wachenden einen guten Morgen geboten und Michel ihnen ihre getrockneten Schuhe überreicht hatte.

Jetzt war aber auch die Zeit gekommen, wo letzterer glaubte, daß die Führer lange genug geschlafen hätten. Er rüttelte einen nach dem andern wach und die Männer waren schnell munter, sprangen auf ihre Füße und begannen sogleich die Hütte aufzuräumen, damit Platz darin entstand, so daß man sich wieder gemächlich bewegen und an das Einnehmen des allgemein begehrten Frühstücks denken konnte. Als diese Arbeit vollbracht, verließen die Führer die Hütte, um sich draußen umzusehen, und in dieser Zeit hörten die darin Zurückgebliebenen, daß auch die Damen munter geworden, denn sie sprachen miteinander und man konnte deutlich die helle Stimme der jungen Holländerin unterscheiden, mit der sie der stilleren Freundin einen guten Morgen wünschte.


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