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Buchschmuck

Viertes Kapitel.
Fremde und eigene Prüfung.

Die in bester Absicht oder vielleicht auch ohne alle Absicht gesprochenen Worte Michels: »Sie ist in Sie vernarrt!« hatten, wie wir gesehen, keine freudige, vielmehr eine fast Schrecken erregende Wirkung auf Franz Marssen geübt, denn anstatt ihm einen ersehnten Einblick in die Empfindungen und Gefühle der schönen Schottin zu gewähren, hatten sie wie ein Zauberschlag an sein eigenes Herz gepocht, die Tür desselben mit Gewalt aufgerissen und den ganzen geheimen Inhalt desselben im Handumdrehen an den Tag gebracht. Franz war aber um so mehr dadurch ergriffen worden, weil in demselben Moment, als Michel jene verhängnisvollen Worte zu ihm sprach, durch eine geheime und unerklärliche Wechselwirkung, der Zustand seines Herzens sich ihm selbst geoffenbart hatte, und weil seine Augen, plötzlich hellsehend geworden, nun wie durch ein klares Glas in eine ganz neue Welt blickten, in der sich neben tausend frisch sprudelnden Freudenquellen ebenso viele ungeahnte Schmerzen ankündigten. Alles in allem gerechnet, förderte dieser Vorgang das Bewußtsein in ihm zutage, daß endlich wirklich und in Wahrheit geschehen, was er schon lange wie ein Gewitter in langsam heraufziehenden Wolken sich ihm nähern gesehen, daß sein bisher so ruhiges, friedliches Herz eine Wunde erhalten habe, die, nicht allein groß und entsetzlich tief, auch sein Blut, sein ganzes Innere in eine Gährung versetzte, wie man sie nur bei Menschen von Franz Marssens Art findet, Menschen, die noch innig, tief und rein zu fühlen vermögen, weil die Empfindungsfasern ihrer Seele noch nicht abgenutzt, weil sie noch frisch und unentweiht im Denken und Fühlen sind, und weil ihr Geist noch fähig ist, die große Umwandlung in ihrem Wesen zu begreifen, die immer vor sich geht, wenn ein anderes, zweites Ich in das eigene einzieht und es ganz erfüllt, so daß zwei verschiedene Existenzen zu einer einzigen zusammenschmelzen. Denn nur so konnte sich Franz die Neigung zu einem anderen Wesen denken, nur so konnte er sie erfassen und pflegen; für ihn war die Liebe keine angenehme Zerstreuung, kein Auflodern sinnlichen Blutes, keine Befriedigung einer selbstsüchtigen Eitelkeit, nein, sie war ihm ein Kultus, sie war ihm eine Lebensaufgabe, wie es ihm in anderem Sinne die Kunst war, und wenn er von und zu sich selbst sagte: »ich liebe!« so hieß das nichts anderes als: »ich habe aufgehört, für mich zu sein, zu denken, zu handeln; ich bin, denke und handle mit, in und durch einen anderen, und wenn ich ferner glücklich und zufrieden sein soll, so kann ich es nur sein, wenn dieser andere mit mir zugleich, in einem Sinne, in einem Gefühl und nach einer und derselben Richtung hin zufrieden und glücklich ist.«

»Und das wäre alles recht gut und schön und möglich gewesen,« sagte er sich jetzt, »ich wäre gewiß zufrieden und glücklich geworden, wie ich auch meine ganze Lebenskraft daran gesetzt hätte, ein anderes Wesen glücklich und zufrieden zu machen, aber warum ist mein Auge und mein Herz gerade auf diese eine Person gefallen, die vielleicht die einzige ist, die mir nie zuteil werden kann? O, wäre sie die Tochter eines armen, unbedeutenden Mannes, stände sie mir durch gleichartigere Verhältnisse näher, wie leicht hätte sich da ein Band zwischen uns geknüpft, wie sicher und ruhig hätte ich zu meinem Ziele gelangen können – aber so, wie die Verhältnisse dieses geheimnisvollen Mannes mir erscheinen, wie kann da eine Möglichkeit vorliegen, daß ich jemals mein Ziel erreichen werde?« –

Und doch drängten sich alle seine Gedanken mit einem Male, als hätten sie Flügel und mit ihnen eine ungeheure Schwungkraft erhalten, näher nach diesem schwer oder gar unerreichbaren Ziele hin, doch streckten sich seine Augen, seine ganze Seele dahin mit allen Kräften und Fähigkeiten aus, denn in ihm, still in der Tiefe seines Herzens, dämmerte ein kleiner Lichtglanz auf, den er sich, in Worte übersetzt, etwa so deutete: daß, wenn dieses schöne Weib wirklich auch zu ihm eine Neigung trage, wie er zu ihm, daß dann die Kluft zwischen ihnen schon bedeutend geringer geworden, daß dann schon ein großer Schritt vorwärts getan und nicht unbedingt jede Hoffnung aufzugeben sei, das eine bestimmte, schwer zu erreichende Ziel doch noch einmal zu erreichen, wenn nur der Lauf und das Streben danach auf die rechte Weise begonnen werde.

Das waren die durcheinander wirbelnden Gedanken und Gefühle, mit denen Franz Marssen an diesem Tage seinen Ritt in die Heimat antrat, und die Wahrnehmung, die er aus der zufälligen Mitteilung des Gemsjägers erhalten hatte, die auf einen das Leben leichtsinniger erfassenden Mann eine ganz andere und freudigere Wirkung hervorgebracht haben würde, enthielt also für ihn Grund genug, zu erschrecken, in eine bisher unbekannte Sorge zu geraten und die Stunde, wo ihm solches geschehen, für eine der bedeutungsvollsten seines ganzen bisherigen Lebens zu halten.

Wie lange er nun in dieser Gemütsverfassung dem weit vor ihm hinrollenden Wagen nachritt, und wie schwer es ihm wurde, dem ihm offenbarten Verhängnis eine mildere Seite abzugewinnen und sich dadurch in eine ruhigere Stimmung zu versetzen, wollen wir nicht näher erörtern, allein es dauerte eine geraume Zeit, und während dieser Zeit sah er nicht, was neben und um ihn her vorging. Er hatte weder Augen für die prachtvollen Bergreihen, die das herrliche Grindelwalder Tal begrenzen, noch hörte er das Gebrause der Lütschine, die ihm dicht zur Seite ihre Schaumwellen lauter denn sonst in ihrem felsigen Bett wälzte; er bemerkte auch nicht die niedlichen Häuser, an denen er vorüberkam, noch die Menschen, die ihm begegneten und freundliche Grüße zuriefen. Tief in sich versunken, wie noch nie in seinem Leben, forschte er nur der Entstehung der Empfindungen nach, die er so plötzlich in seiner Brust hämmern fühlte, und je länger er darüber grübelte, ohne auf den Grund derselben zu kommen, um so deutlicher ward es ihm, daß die Quelle in seiner Brust, die er so plötzlich aufgefunden, vielleicht weil er sie bisher mit Gewalt verstopft, nicht in einzelnen kargen Tropfen, sondern bereits in vollen Strömen ihre Bahn sich brach und mit einer Überschwemmung seines ganzen Wesens drohte, der er um so weniger einen Damm entgegenzusetzen vermochte, als er völlig unbekannt und unerfahren in der Handhabung der Mittel war, die allein in diesem Falle nützen konnten.

Endlich, man hatte schon Zweilütschinen fast erreicht, sah er den Wagen nicht allzu weit vor sich her fahren, aber obgleich es ihm bei der Schnelligkeit seines Pferdes ein Leichtes gewesen wäre, denselben zu erreichen, so fürchtete er sich doch davor, denn die gefährlichen Augen, die ihm so tief in die Seele gedrungen, konnten ihm, wenn er sie jetzt wiedersah, sagen, daß Michel die Unwahrheit gesprochen oder sich geirrt, und daß die Quelle, die er eben in sich entdeckt, statt frischen und erquickenden Wassers, nur trüben erstickenden Schlamm enthalte, und das wäre eine schreckliche Entdeckung für unsern armen Freund gewesen. Wie er aber auch zögern mochte, dem Wagen wieder näher zu kommen, er sollte dazu gezwungen werden, denn von Zeit zu Zeit hatte sich schon dieser oder jener Kopf aus dem Schlage gebeugt und nach dem so ungewöhnlich lange zurückbleibenden Reiter ausgeblickt. Diesmal aber war es Fräulein Elise, die auf die Frage ihrer Eltern, wo denn der Maler bleibe, den Kopf nach ihm zurückwandte, und als sie seiner ansichtig wurde, gab sie ihm einen Wink mit der Hand. Nun mußte der Reiter sein Pferd in Galopp setzen und einige Augenblicke später ritt er dem Wagen zur Seite, ohne imstande zu sein, die Augen zu dem Gesichte zu erheben, welches allein ihn in den Gefühlsstrudel geworfen hatte, in dem er sich jetzt befand.

Als er aber dicht neben dem Wagen ritt, blickten ihn alle freundlich an, und Frau van der Swinden fragte, wo er so lange bleibe, worauf er in seiner Verlegenheit antwortete, daß er noch mit dem Gemsjäger einige Worte zu sprechen gehabt habe.

»Hat er mir keinen Gruß mehr bestellen lassen?« fragte da eine Stimme, die des jungen Mannes Herz bis in seine tiefste Tiefe erbeben machte.

Der Gefragte erhob sein Gesicht langsam gegen die Fragende, und zu seiner Beruhigung fand er auf dem ihrigen nur einen forschenden, etwas neugierigen Ausdruck vor, obgleich ihn die unerwartete Frage selbst in neue Verlegenheit setzte. »Ja,« sagte er mit seltsam befangener Miene, »er hat mir noch an Sie alle Grüße bestellt, und er war schmerzlich bewegt, als er die Gesellschaft, ohne die Hoffnung, sie je wiederzusehen, abfahren sah.«

»Sie sagen das ja,« fing die alte Holländerin wieder zu sprechen an, »als ob er Ihnen selbst damit Schmerz verursacht hätte. Doch ich möchte etwas anderes mit Ihnen reden. Ich wollte Sie schon heute mittag fragen, ob wir die Hoffnung hegen dürfen, Sie recht bald in Interlaken bei uns zu sehen, um Verabredungen zu noch anderen schönen Partien zu treffen. Wie steht es damit, dürfen wir Ihren Besuch in den nächsten Tagen erwarten?«

Bei den ersten Worten war eine Blutwelle in Franz Marssens Gesicht getreten, aber sie schwand wieder, als er die letzten vernahm. »Sie sind sehr gütig,« versetzte er, »und wenn meine Zeit es erlaubt, werde ich Ihrer freundlichen Einladung Folge leisten. Im ganzen jedoch statte ich wenige Besuche ab, da meine Arbeit mich fast ununterbrochen an das Haus fesselt.«

»Nun ja,« erwiderte Fräulein Elise, »aber Sie werden doch nicht auch abends bei Licht arbeiten? Nicht wahr?«

»Es gibt immer etwas Notwendiges zu tun, mein Fräulein, und der Tag, den Abend mit eingerechnet, ist für diejenigen kurz, die jede Stunde benutzen müssen, um ihrem noch fernen Ziele näher zu kommen.«

»Da haben Sie wohl recht,« fuhr Fräulein Elise fort, »aber man muß sich das Leben nicht selbst zu schwer machen – auch ein Vergnügen muß dann und wann genossen werden – so fassen wir wenigstens das Leben auf.«

Franz Marssen erhob sein Auge gegen die Sprechende und versetzte lächelnd: »Ich auch, mein Fräulein, und den Beweis liefere ich ja damit, daß ich eben erst von einem großen Vergnügen zurückkehre; nun muß aber um so eifriger gearbeitet werden, um die Kraft, die so lange geruht, wieder in die gewohnte Tätigkeit zu setzen.«

»Essen Sie morgen mittag bei uns Suppe!« fiel da plötzlich der General-Konsul ein und blinzelte dem jungen Mann freundlich zu. »Fräulein Edda und Herr von Tekeli geben mir dann auch die Ehre!«

Franz wollte eben ablehnend antworten, als Miß Edda zum ersten Mal das Wort nahm und sagte: »Für morgen und überhaupt für die nächsten Tage muß ich für meine Person danken, mein lieber Herr van der Swinden, ich bin lange von meiner Mutter entfernt gewesen und darf nicht daran denken, sie schon so bald wieder zu verlassen.«

»So, nun, das läßt sich allenfalls hören, aber Sie, Herr – Herr Maler,« nahm die alte Holländerin das Wort, »Sie werden doch meinem Mann die Bitte nicht abschlagen, da Sie uns allen damit eine Freude bereiten?«

»Und doch muß ich es tun, gnädige Frau. Auch ich habe außer meiner Beschäftigung Verwandte, denen ich die nächsten Tage schenken muß. Aber ich komme zu Ihnen, sobald meine Zeit es erlaubt.«

» Eh bien!« sagte der gutmütige Holländer und nickte mit dem Kopfe, »zwingen wollen wir niemanden, aber wenn Sie einmal ein bequemes Zimmer und ein freundliches Gesicht suchen, so werden Sie die Tür dazu immer bei uns offen finden.«

Franz verneigte sich und ritt wieder hinter den Wagen, da man soeben mehreren anderen begegnete, die nach Grindelwald fuhren, und bis nach Interlaken, das man schnell erreichte, fand kein weiteres Gespräch zwischen ihm und den Insassen des Wagens statt. Endlich aber hielt der letztere fast auf derselben Stelle, an welcher Miß Edda vor einigen Tagen ihren Reisegefährten den Maler vorgestellt hatte, und es begannen nun Abschiedsworte ausgetauscht zu werden, wie es bei solchen Gelegenheiten üblich ist. Man reichte sich gegenseitig die Hände; als aber Miß Edda, die ihrigen in ihr Tuch gewickelt haltend, unbeweglich sitzen blieb, glaubte Franz, er dürfe ihr die Hand nicht reichen, und so nahm er bloß noch einmal seinen Hut tief ab und sprach sein: »Leben Sie wohl!« mit leiser Stimme aus.

Aber er hatte sich in Miß Edda verrechnet. Eben wollte er sein Pferd beiseite lenken, da sah sie ihn mit einem fast vorwurfsvollen Blick an, und beinahe in ihrem alten Tone schlug die Frage an sein Ohr: »Wollen Sie mir nicht auch einmal aus freien Stücken die Hand zum Abschied reichen?«

Franz drängte den Schimmel noch einmal dicht an den Wagen heran, und mit höher gefärbtem Antlitz, wobei ein wehmütiges Lächeln um seine Lippen spielte, reichte er seine Hand hin, indem er sagte: »Wenn Sie es erlauben, so reiche ich sie Ihnen gern!« und flüchtig berührten sich noch einmal die beiden Hände, die sich bisher noch nie vor den Augen anderer zueinander gefunden hatten.

»Auf baldiges Wiedersehen!« rief sie ihm noch zu, dann war der Wagen fortgerollt, und Franz ritt im langsamsten Schritt hinterher, verfolgte ihn mit den Augen, so lange er ihn damit erreichen konnte und überließ es dem Schimmel, seinen Weg allein zu finden. Dieser bedurfte auch keines Zügels mehr: er kannte seine Heimat und strebte ihr mit frohem Gewieher entgegen, ohne Zweifel sich mehr auf dieselbe freuend als sein Herr, der nur mit klopfendem Herzen an das stille Haus seines Vaters und die ihn darin Erwartenden dachte.

*

Was man jedoch am meisten befürchtet, bedroht uns in der Regel am wenigsten, und oft finden wir gerade da Beruhigung, Frieden und Erholung, wo wir nur Aufregung und Bekümmernis erwarteten. Als Franz, um die letzte Ecke biegend, das liebe Haus in seinem grünen Blätterschmuck vor sich liegen sah, kam, wie aus den Wolken ihm zugesendet, plötzlich ein wohltuendes Gefühl über ihn, und als ihn dann vor der Tür Karoline mit ihren sanften Augen und herzlichen Worten empfing, war es, als ob die drei letzten Tage wie eine traumreiche Nacht hinter ihm lägen und der Morgen eines neuen Tages ihm an der Schwelle seines väterlichen Hauses entgegenlächele.

»Franz, da bist du, mein Junge!« rief Karoline laut und sprang ihm von ihrem gewöhnlichen Platze unter der Veranda entgegen, wo sie an dem milden Abend bei der Arbeit saß. Und ihn herzlich mit den Armen umschlingend, küßte sie ihn, wie eine Mutter ihren Sohn küßt, und zog ihn dann an der Hand auf einen Stuhl an ihre Seite nieder.

Franz, in weicher und hingehender Gemütsstimmung, ward durch diesen zärtlichen Empfang sichtbar gerührt, und mit Mühe fand er die einfachen Worte: »Ja, liebe Tante, da bin ich, und auch ich freue mich herzlich, dich wohl und munter wiederzusehen. Geht es auch dem Vater nach Wunsch?«

»Dem Vater geht es sehr gut, ja, mein Junge, und er ist eben zu seinem Patienten bei Ruchti gegangen, der auf dem besten Wege ist, sein Freund zu werden, denn er besucht ihn, trotzdem es sein Zustand kaum noch verlangt, täglich stundenlang. Doch jetzt laß uns nur von dir sprechen. War die Reise hübsch? Bist du glücklich und zufrieden heimgekehrt?«

Franz schwieg betroffen. Gleich diese ersten Worte waren dazu angetan, ihn an den Schmerz und das Glück zu erinnern, die jetzt in seiner Brust um den Vorrang stritten, aber er faßte sich schnell und entgegnete mit möglichst ruhiger Miene, obgleich er dabei nicht ganz unbefangen und frei in die ihn verschlingenden Augen der Fragenden blicken konnte: »Ja, Tante, die Reise war sogar schön, genußreich, und wir können mit unseren Erlebnissen zufrieden sein.«

»O, so erzähle mir alles der Reihe nach, und recht umständlich, wie sonst; ich brenne vor Neugierde, mein Lieber, zumal mir Jürgen schon Wunderdinge von Eurer Gletscherfahrt berichtet hat.«

»Jürgen? Was kann denn der für Wunderdinge berichten?«

»Nun, daß Ihr auf dem Gletscher vom Gewitter und Schneesturm überrascht worden seid und Euch in Stiereck habt bergen müssen. –«

»Ach so, also das weißt du schon? Nun, dann wird mir wohl nicht viel zu erzählen übrig bleiben.«

»Doch, doch, Franz: aus deinem Munde klingt ja alles ganz anders als aus Jürgens. Also rasch, aus welchen Personen bestand die Gesellschaft, und wo seid Ihr zuerst gewesen?«

Franz schöpfte tief Atem und erzählte ruhig und der Wahrheit getreu, was ihm in den letzten Tagen begegnet war, auch wie die Gesellschaft die Nacht in Stiereck zugebracht; in welcher Lage er sich oder daselbst mit Miß Edda befunden, das erzählte er natürlich nicht. Nicht das Versprechen allein, daß er letzterer gegeben, hielt ihn davon ab, sondern auch sein eigenes Gefühl, welches sich nicht überwinden konnte, selbst die Vertraute seines Lebens, die gute Tante, einen zu frühen und tiefen Blick in das Wirrsal seiner Seele tun zu lassen, seiner Seele, die ihm selber noch lange nicht klar genug geworden war.

Karoline hörte ihm mit der gespanntesten Aufmerksamkeit zu und durchlebte im Geiste die aufregenden Szenen mit, denen die Gesellschaft und ihr Neffe ausgesetzt gewesen war. Als ihr dieses aber alles berichtet, was er berichten konnte oder wollte, nickte sie ihm freundlich zu und sagte:

»Ja, das ist interessant und romantisch genug, mein Junge, und Ihr müßt alle einen großen Genuß davon gehabt haben, zumal die Reise ein so gutes Ende genommen. Aber du hast mir noch nicht gesagt, wie die junge Dame, unser kleines personifiziertes Geheimnis, sich gegen dich betragen hat. Ich hoffe doch, gut und etwas gnädiger als früher. Hast du keine Gelegenheit gehabt, ihr künstliches Inkognito zu durchschauen?«

Franz erbleichte merklich, und die scharfsinnige Tante sah ihm die Befangenheit an, von der er ergriffen war. »Nein,« sagte er nach einigem Besinnen, »sie hat ihr Inkognito zu bewahren verstanden, und ich habe es nicht für schicklich gehalten, mich gewaltsam in ihr Vertrauen zu drängen. Dergleichen muß man der Zeit und einem glücklichen Zufall überlassen.«

»Natürlich, natürlich, das wäre auch unrecht von dir. Aber wie denn, mein Junge, wie hat sie sich gegen dich betragen?«

»Wie soll sie sich denn betragen haben? Ich verstehe dich nicht.«

»Wie? Verstehst du mich nicht? Nun, dann bin ich zufrieden. Dann hast du auch wohl nicht nötig gehabt, an meine Warnung zu denken?«

Franz lächelte matt, wozu er sich fast zwingen mußte, und doch half ihm Karoline durch ihr mentorartiges Gesicht, welches ihm ihre ganze Liebe enthüllte, über seine Verlegenheit hinweg. »Einer vernünftigen Warnung, sagte er dann ernst, »muß man immer eingedenk sein, und so habe ich oft an jedes Wort gedacht, was du neulich zu mir gesprochen hast.«

»Gut. Du hast mir also nichts zu beichten?«

»Nichts, nein!« erwiderte Franz und wandte unwillkürlich das von innerer Glut strahlende Gesicht zur Seite.

Die Tante hatte einen scharfen Blick und schöpfte augenblicklich einen gewissen Verdacht, daß noch nicht alles unterwegs so glatt und eben verlaufen sei, wie Franz ihr hatte vorreden wollen. Jedoch bezwang sie sich wie ein kluges Weib, welches aus Erfahrung weiß, daß man bei Männern selten im ersten Anlauf hinter ein absichtlich verborgenes Geheimnis kommt, und daß im Herzen ihres Neffen ein solches vorhanden sei, glaubte sie jeden Augenblick genauer zu erkennen.

Doch da brach Franz das ihm peinlich werdende Gespräch rasch ab. Er schützte plötzlich einen gewaltigen Durst vor, und kaum hatte er es ausgesprochen, so stand Karoline auf, um das Erforderliche herbeischaffen zu lassen.

Kaum war sie fort, so verließ auch Franz seinen Sitz und trat in die frische Luft, denn selbst unter der luftigen Veranda war es ihm eng und schwül ums Herz geworden.

»Das war das erste Examen,« sagte er zu sich, »und ich muß jetzt jeden Augenblick auf viele andere und schwierigere vorbereitet sein. Nimm dich in acht, Franz, keine Frau sieht schärfer, daß es in dem Herzen eines Menschen nicht recht richtig ist, als die, die selbst traurige Erfahrungen mit dem ihrigen gemacht hat.«

Er hatte es kaum ausgedacht, so war Karoline schon wieder neben ihm und, ihren Arm in den seinen legend, schritt sie langsam im Garten mit ihm auf und nieder. »Höre, Franz,« begann sie wieder, indem sie plötzlich das Auge zu ihm erhob, »sprich einmal offen mit mir und sei abermals eingedenk, daß du ein Wesen an deiner Seite hast, welches die Rechte einer Mutter bei dir beansprucht, da es auch die Gefühle einer solchen für dich hegt. Also ehrlich, mein Junge: Dir ist doch nichts Trauriges auf der Reise begegnet?«

»Trauriges?« brachte Franz mit leise bebender Lippe hervor. »Mein Gott, was soll mir denn Trauriges begegnet sein? Wie fragst du so sonderbar?«

»Ja, ich frage so sonderbar, weil mich deine Miene dazu auffordert.«

»Du legst meiner Miene zu viel Wert bei, wenn du aus ihr auf Empfindungen schließen willst,« entgegnete Franz, indem er sich männlich bezwang, so ruhig und unbefangen wie möglich zu erscheinen. »Bedenke, daß ich heute morgen einen beschwerlichen Weg zurückgelegt habe, daß ich drei Meilen geritten bin und daß ich also müde sein muß. Du hältst für Aufregung und Traurigkeit, was nur Erschöpfung ist. Hier hast du alles, was ich dir heute auf deine Fragen entgegnen kann.«

Karoline schwieg. Sie konnte sich geirrt haben, allerdings, denn im Ton der letzten Worte des Neffen lag ein warmer und wahrer Ausdruck, den sie nicht verkennen konnte. »Du hast recht,« sagte sie, »ich gehe zu hastig zu Werke. Aber wenn du müde bist, so laß uns sitzen und ruhen.«

»Gern, Tante, zuerst aber will ich es mir ein wenig bequem machen, denn ich habe seit zwei Tagen meine Kleider nicht abgelegt und muß notwendig die Wäsche wechseln.«

Das war ein Wort, welches Karolinens Sorgfalt auf der Stelle herausforderte, und sie ging sogleich mit dem Neffen in das Haus, und er kleidete sich um, wonach er wirklich ein großes Bedürfnis empfand. Als er aber nach geraumer Zeit wieder unter die Veranda trat, fand er seinen Vater neben der Tante sitzen, und herzlich begrüßten sich beide, worauf Franz sofort noch einmal Bericht erstatten mußte und dem ihn minder scharf beobachtenden Vater gegenüber seine frühere Ruhe behauptete, was um so leichter war, da sich Doktor Marssen weniger nach Personen, als nach den Ereignissen der Reise, dem Wetter, dem Zustande des Gletschers und allen den Dingen erkundigte, die für einen Mann seiner Art ein ungleich größeres Interesse boten. Gemächlich ließen sich dann alle drei am Abendtisch nieder, und vieles noch ward dabei von den Wundern der Alpenwelt, den guten Führern und allen möglichen Dingen gesprochen, die sich auf des Vaters und des Sohnes Ausflug bezogen. Als man sich aber endlich um zehn Uhr trennte und Franz wieder allein in seinem Zimmer war, atmete er tief und schwer auf. »O mein Gott,« sagte er, »das war der erste Abend nach einem bedeutungsvollen Lebensereignis, und ich danke dir, daß er vorüber ist. Aber dem Abend folgt eine Nacht, und der Nacht ein Morgen. Muß ich sie auch fürchten, oder werden sie günstig wie dieser Abend vorübergehen? Still! Wir wollen nicht im voraus das Kommende bedenken. Jeder Tag bringt das Seinige, und den Trost und die Hoffnung habe ich wenigstens, daß die nächsten Tage nichts Schwereres, Gewichtigeres bringen können, als es der heutige getan bat – und Gott sei noch einmal gedankt – auch ihn habe ich ja jetzt überstanden!«

*

Ganz gegen seine Erwartung verlief unserm Freunde die gefürchtete Nacht ohne jede Betrübnis, und seine Seele blieb frei von allen ihn vorher so lebhaft bedrohenden Gedankenstürmen. Ein tiefer, ungewöhnlich langer Schlaf, ohne Zweifel die Folge der letzten fast schlaflosen Nacht und der an beiden Tagen gehabten Anstrengungen, fesselte ihn an sein Lager, und als er endlich die Augen aufschlug, war es längst Tag, und zu seiner Überraschung fühlte er sich überaus gestärkt und beruhigt, denn eine von ihm bisher nicht in Anschlag gebrachte Potenz hatte sich seines Geistes bemächtigt und seine Gedanken in eine neue Richtung getrieben. Das Bewußtsein, daß er ein Künstler sei, daß eine gebieterische produktive Kraft in ihm wohne, und die unwiderstehliche Lust, diese Kraft in Tätigkeit zu setzen, hatte die stürmischen Empfindungen seines Herzens besänftigt, und wie er voll elastischer Jugendkraft und energischer Willensstärke war, ergriff er mit ganzer Hingebung die ihm gebotene Hilfe gleich einer ihm von der Vorsehung dargereichten Hand, um ohne Zeitverlust durch die Arbeit des Geistes die beginnende Krankheit des Herzens zu besiegen.

Zu einem Spaziergange fühlte er an diesem Morgen nicht die geringste Neigung, auch war das Wetter trüb, der Himmel mit grauem Gewölk bedeckt, und um die hohen Bergspitzen flatterten weißliche Nebel, so daß der Horizont ringsum ein engbegrenzter und unerfreulicher war. So beeilte er sich denn, sein Frühstück einzunehmen, und zwar diesmal allein, denn seine Verwandten waren heute früher munter gewesen als er und hatten sich schon längst an ihre häuslichen Arbeiten begeben, als er an den Tisch unter die Veranda trat.

Während er das Frühstück genoß, kam Tante Karoline einen Augenblick zu ihm heran und freute sich im stillen, als sie den geliebten Neffen mit einem heiteren Gesicht und bei gutem Appetit antraf. »Es ist also doch wohl nur Ermüdung gewesen,« sagte sie sich, »was ihn gestern abend so verstimmt und beklommen erscheinen ließ, und ich habe mich einmal wieder umsonst geängstigt. Gott sei Dank!« Auch mit dem Vater, der seine Schreiberei einen Augenblick verließ, um dem Sohne einen guten Morgen zu bieten, tauschte er einige flüchtige Worte aus, dann aber sagte er beiden Lebewohl und eilte mit einer Hast durch den Weingang nach seinem Atelier, wie man sie früher selten an ihm wahrgenommen hatte.

»Dem kribbelt es in den Fingerspitzen, um wieder an seine Arbeit zu kommen,« sagte Doktor Marssen lächelnd zu seiner Schwester, als Franz sie verlassen hatte. »Haha! Ich habe selten einen Menschen gesehen, der so wenig ein Pinsel war und doch so gern sich mit einem solchen beschäftigte. Nun hat er ein paar Tage keine Farben gemischt, und schon kann er die Zeit nicht erwarten, vor der Staffelei zu sitzen und Bäume, Steine und Wasser zu malen.«

»Er malt jetzt Menschen!« bemerkte Karoline mit einem leisen Anflug ihrer kaum überstandenen Sorge.

»Ja, ja, laß ihn nur; Menschen gehören auch mit in sein Fach, und er hat gewiß in den letzten Tagen gute Studien gemacht, sie ebenso schön und vollkommen darzustellen wie alles Übrige.«

Karoline seufzte leise, aber sie antwortete nichts, und gleich darauf verließ sie den Bruder, der eben die Zeitungen empfing, um an ihre häusliche Beschäftigung zu gehen. –

Unterdessen war Franz in sein Atelier getreten und hielt zuerst eine liebevolle allgemeine Umschau, obgleich nicht zu leugnen ist, daß einer der ersten Blicke auch dem benachbarten Obstgarten zu Teil ward, der still und friedlich wie immer vor ihm lag und kein lebendes Wesen in seinem ganzen weiten Umkreise wahrnehmen ließ. Als er sich hiervon überzeugt, schenkte er seinen drei fertigen Gemälden eine kurze Aufmerksamkeit, verweilte einige Minuten mit strahlendem Gesicht auf der Eisgrotte im Grindelwaldgletscher und stellte dann die beiden Bilder zurecht, mit denen er sich in den letzten Wochen unablässig beschäftigt hatte.

Als er nun mit scharf prüfendem Auge seine bisherige Arbeit daran überflog und besonders lange auf dem schönen Porträt und der Reiterin im Hochlande verweilte, sagte er leise zu sich:

»Ja, das ist wohl gut, ich sehe es, aber ich kann es jetzt doch noch besser machen. Dazu fühle ich die Kraft in mir, und auch das Licht, das der Kraft zur Seite stehen muß, fehlt mir nicht. O, welcher schönen Kunst habe ich mich geweiht, die imstande ist, so herrliche Geschöpfe nachzubilden und sie der Mit- und Nachwelt als Erscheinungen seltenster Art zu bewahren! Bei Gott! Jetzt sehe ich erst, wie schön dies Gesicht und wie herrlich diese Gestalt ist! Welch ein Glück, daß ich auf den Gedanken geriet, sie zu malen, denn dies Bild – ach, großer Gott! – enthält jetzt mein ganzes Glück – es ist mein ureigener Besitz, den mir niemand streitig machen kann, niemand auf der ganzen Welt, selbst ihr eigener, trübseliger, menschenscheuer und hochmütiger Vater nicht! O ja, wenn ich draußen Sorge, Angst und Kümmernis empfinde, hier, hier allein ist Friede, Ruhe, Trost und Freude. Und diese Freude wenigstens soll mir niemand nehmen, sie ist mein, mein allein, und ich habe sie mir mit Gottes Hilfe selbst geschaffen! Tadelt nur, bekrittelt nur, Ihr neidischen Menschen, unsere Schöpfungen; sucht Fehler und Gebrechen daran auf mit Euren scheelsüchtigen Augen, um Eurer plaudersüchtigen Zunge einen neuen Stoff, Eurem mißgünstigen Herzen ein neues Opfer zu bieten – das stolze, belebende, unausrottbare Hochgefühl aber, welches wir Künstler bei unserer mühevollen Arbeit selbst empfinden, wenn wir sehen, was wir vollbrachten, wenn wir fühlen, daß es gelungen, was wir haben vollbringen wollen, das kennt Ihr, das habt Ihr nicht, und niemals, niemals wird es Euer eigen sein, weil Ihr eben keine Künstler seid!«

Während er diese Worte leise, langsam vor sich hinsprach, hatte er schon längst zur Palette gegriffen, seine Farben gemischt und endlich den rechten Pinsel ausgesucht. Hatte er aber früher mit Eifer gemalt, jetzt malte er mit brennender Leidenschaft, sein Auge hatte ein läuterndes Feuer, seine Hand eine schöpferische, schwungvolle Sicherheit gewonnen, und jeder Zug, den er an diesem gesegneten Morgen dem Porträt, mit dem er beschäftigt war, hinzufügte, war ein Meisterzug, und das Antlitz, welches ihm jetzt von der Leinwand entgegenschaute, war das verklärte, herrliche Antlitz, wie er es an jenem unvergeßlichen Abend in der Eisgrotte vor sich gehabt und wie es seitdem mit unverlöschlichen Zügen in sein Herz, in seine Seele eingegraben stand.

Mochte nun die ganze Welt außer ihm mit Nebeln, Schleiern und Wolken bedeckt sein, mochten Sorge, Kümmernis und Ungewißheit kurz vorher in seinem Innern geherrscht haben, vor diesem Bilde waren alle Nebel und Wolken, waren alle Sorgen und Kümmernisse vergessen; klar, rein und lauter schauten diese Augen ihn an, und in ihm selber ward es klar, rein und lauter, und was in dem Hintergrunde der Zeiten noch Tolleres und Unheimliches schlummern mochte, hier, in diesem Vordergrunde seines Daseins, trat kein Zwist, kein Zwiespalt, kein Widerspruch, kein Rangunterschied, kein weltlicher Hochmut auf, und so schlürfte er in vollen Zügen das unbeschreibliche Glück, wenigstens in seiner Phantasie, in seinem innersten Wesen reich und im Besitz eines Kleinods zu sein, das ihm die Wirklichkeit mit tausend Ränken, Listen und Vorurteilen noch streitig machte. Da war denn der gestern so still grübelnde und kummervoll gestimmte Mann wieder der heitere und ruhig seinem Schicksal ergebene Künstler geworden: von allen störenden Nebengedanken befreit, gab er sich allein seinem Berufe hin, und dieser Beruf beglückte und beseligte ihn, wie nur der des Künstlers einen Menschen beglücken und beseligen kann.

O ja, nur die Künstler sind so hoch beglückt und beseligt in Momenten des Schaffens, aber leider vergehen diese Momente, wie alles Schöne und Erhabene im Leben, vergeht, oft nur zu rasch; der poetische Rausch – der unschuldigste und lieblichste aller Räusche – verfliegt ebenso leicht, wie die kleine weiße Wolke von den größeren dunkleren Wolken, die kleine Strandwelle von der großen Sturzwelle verschlungen wird, und die kahle, edle Nüchternheit alltäglichen Lebens dringt wie ein ätzendes Gift durch alle noch so kleinen Poren in die Seele des Künstlers ein, sobald er seinen Schreibtisch, sein Atelier verläßt und unter die kalten, herzlosen, materiell genießenden und endlos krittelnden Menschen tritt.

Auch Franz Marssen sollte das noch an diesem Morgen erfahren, und wenn auch die Schalheit des Lebens ihn nicht verletzen und ernüchtern sollte, so waren es doch Vorgänge in der Außenwelt, die seine künstlerische Begeisterung dämpften, und gerade die Sorge, der er eben noch so weit entrückt war, vor der er am weitesten in das Reich der Kunst geflohen, war es, die mit knöchernem Finger wieder an seine menschliche Brust pochte und ihn aus seinen schönen Träumen, seinem Seelenfrieden riß.

Franz hatte, ohne es selbst zu wissen, drei Stunden lang vor der Staffelei gesessen und mit einer wachsenden Leidenschaft und Begeisterung gearbeitet. Aber da fiel sein Auge zufällig auf seine Taschenuhr, die er, wie gewöhnlich, neben sich hinlegt, und er bemerkte, daß es schon elf Uhr vorüber sei. Da sprang er fast erschrocken auf, trat an das Fenster und schaute sich mit suchenden Blicken im Nachbargarten um. Aber der Garten war leer, still, wie er es am Morgen gewesen, und doch – und doch hatte Franz im stillen gehofft, es werde sich irgend ein Mensch im Laufe dieses Vormittags in demselben zeigen, und dieser Mensch werde vorzugsweise eine Person sein, die ihm diesen einfachen Garten, der eigentlich weiter nichts, als ein mit Obstbäumen bedeckter Rasenplatz war, schon früher – ja, jetzt wußte er es und gestand es sich ein – wie durch Zauberei zum Paradiese umgestaltet hatte.

Franz kehrte mit bewölkter Stirn an die Staffelei zurück, aber von Zeit zu Zeit flogen seine Augen immer wieder zum Fenster hinaus, ohne auch nur das geringste Leben im Garten wahrzunehmen. »Was ist das?« fragte er sich, »und was hat das zu bedeuten? Ich habe ganz bestimmt gedacht, gehofft – Miß Edda würde wenigstens auf einen Augenblick die frische Luft genießen, ich würde ihr einen guten Morgen bieten und mich nach ihrem Befinden nach so anstrengender Reise erkundigen können. Aber nein, sie kommt nicht. O, wie war das früher so reizend, so anmutig, wenn sie da unter dem Apfelbaum saß, mit ihren schönen Fingern so zierlich den Faden zog und dabei mit mir plauderte, mit mir stritt und mir dabei die herrlichste Gelegenheit bot, so recht nach Herzenslust in ihr Gesicht, ihr Auge blicken und es auf meine Leinwand übertragen zu können! Was mag sie nur heute zurückhalten? Etwa das trübe Wetter, der Nebel da oben und die Wolken am Himmel? O nein, das glaube ich nicht, denn das trübe Wetter kümmert sie nicht, sie scheut sogar das schlechteste nicht. Oder ist sie ermüdet? Ist sie abgespannt – ha! sie wird doch nicht krank sein?«

Kaum hatte er es gedacht, so sprang er wieder auf, sah noch einmal nach dem Garten hinaus und lief dann ungestüm im Zimmer hin und her. Plötzlich stand er still, blickte wehmütig auf das Bild zurück und sagte mit trübem Lächeln: »Meine so schwer errungene Ruhe und Fassung ist hin, und die Sorge ist wieder mit aller Macht erwacht. O, o, wenn diese Sorge, diese Angst, dieses bittersüße Gefühl Liebe ist, dann ist die Liebe ja kein vollkommenes Glück, keine Seligkeit, wie man sie so oft nennen hört und sich selbst vorstellt, ehe man sie kennen gelernt hat. Und doch, wenn ich dies unergründliche, dunkle Flammenauge betrachte, mich in die Seele versenke, die dahinter wohnt, wie wohl und selig wird mir dabei zu Mute! In dieser Seele liegt etwas, ich fühle es, was mit meiner Seele harmoniert und sympathisiert, und wenn auch der trübselige Dämon der Welt, der Widerspruch, trotzig in den Linien um diese purpurnen Lippen lauert, in ihrer Seele liegt dieser Widerspruch nicht, sie weiß nichts davon, denn in dieser Seele – mag man von ihr denken und sagen, was man will – ist nur Lauterkeit, Edelmut und Großherzigkeit, und der Stolz, der aus ihren Mienen und Worten blitzt, ist nur eine zufällige Beigabe für herzlose, gewöhnliche Menschen und eine Waffe gegen sie – ich habe es darin gelesen, in jener Grotte, in jener köstlichen, geheimnisvollen Nacht in Stiereck – und was mir da ein Gott zugeflüstert, das kann kein Irrtum, keine Täuschung gewesen sein, mein Herz würde sich dagegen gesträubt und nicht das Bild dieses herrlichen Geschöpfes so tief und unauslöschlich in sich aufgenommen haben.«

Als Franz in seinem Monolog so weit gekommen war, wurde seine Aufmerksamkeit plötzlich durch einen unerwarteten Vorgang in der Natur nach außen gelenkt. Die Nebel, die bisher in den Bergen gehangen, hatten sich allmählich gesenkt und über das ganze Bödeli verbreitet, die trüben Wolken hatten sich dicht über die Häuser und Gärten gelagert, und auf die grünen Blätter fielen erst leise, stille Tröpfchen, die bald zu großen Tropfen wurden und endlich in einen starken, anhaltenden Regenguß übergingen.

Franz wandte sein Auge trübselig hinaus, und sein Herz krampfte sich bitter zusammen, denn nun fielen alle Hoffnungen, Miß Edda noch an diesem Morgen zu sehen, in sich selbst zusammen. Mit dieser Hoffnung schwand auch sein kurzes Glück, sein schnell vorübergerauschter Friede, und die alte Angst und Sorge umklammerte sein blutendes Herz, das, ach! ohne Ahnung war, daß ihn diese Angst und Sorge fortan begleiten und ihn nur verlassen sollte, wenn er ihr Auge in Auge oder, in Abwesenheit ihrer Person, ihrem Bilde gegenüberstand, wenn er sich geistig mit ihr beschäftigte, sich gewissermaßen mit ihr im Stillen identifizierte, wenn er ihr sein eigenes Leben mit seinem Pinsel einhauchte und aus ihren immer schöner und natürlicher strahlenden Augen wieder neues Leben empfing. –

Unser Maler verließ sein Atelier nicht eher, als bis ihn die Stunde des Mittagessens in seines Vaters Haus rief; bei Tische selbst fanden ihn seine Angehörigen auffallend still, und nur wenige Worte kamen über seine Lippen, die ihm noch dazu förmlich abgerungen werden mußten. Doktor Marssen beklagte sich über diese Wortkargheit und Verstimmung nicht, ja er bemerkte sie kaum. Er ließ gern jeden gewähren und nach seiner Art und Weise leben, wie er es auch gern sah, wenn man ihn nach seinem Gefallen reden oder schweigen ließ. Karoline dagegen war ganz unglücklich, daß jetzt, wo man so heiter sein konnte, ihres Neffen Schweigsamkeit jeder längeren Unterhaltung ein Ende machte, und da sie in Gegenwart des Bruders nicht mit Franz darüber sprechen wollte, entfernte sie sich zeitiger von der Veranda als gewöhnlich, und die beiden Männer blieben noch eine halbe Stunde allein sitzen, mit der Zeitung beschäftigt, deren Inhalt sie von Zeit zu Zeit besprachen, ohne daß jedoch Franz einen warmen Anteil daran genommen hätte, da die Verhandlung politischer Dinge gerade nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte. Denn er liebte den Hader und Zwist nirgends, schon zwischen einzelnen nicht; vielmehr aber noch war ihm die öffentliche Zwietracht verhaßt, die gegenwärtig zwischen allen höheren Gewalten und dem Volke, sowie zwischen den verschiedenen Nationalitäten herrschte. Diese wie jede Zwietracht, im kleinen und großen, störte die schöne Harmonie und das behagliche Gleichgewicht seiner künstlerischen Seele, er sah keine Frucht aus diesen ewigen Kämpfen, diesen Verhetzungen und Wühlereien entstehen, und wenn er auch dem fortschreitendsten Zeitgeiste Erfolg und den schließlichen Sieg wünschte, so verbitterte ihn doch das gehässige und egoistische Treiben beider Parteien mehr als es seine Lebensgeister weckte und zu reger Produktion und Sammlung trieb. Da der Vater aber tief in seine Studien versunken blieb, so daß er fast seine Ruhestunde vergaß, so erhob sich Franz still und kehrte zu seiner Arbeit im Atelier zurück, die er mit neuem Eifer wie am Vormittag begann, nachdem er sich überzeugt, daß der Garten vor seinem Fenster immer noch leer sei, worüber er sich auch nicht weiter wunderte, da der Regen stärker denn je niederströmte und bis gegen Abend anhielt, wo sich plötzlich die Wolken teilten, die Sonne auf kurze Zeit am blauen Himmel sichtbar wurde und vor ihrem Scheiden das liebliche Bödeli noch einmal mit ihrem goldenen Schimmer beglückte.

Gerade um diese Zeit, als Franz nach unablässiger Arbeit eben beschäftigt war, sein Gerät beiseite zu legen und für heute sein Tagewerk zu schließen, hörte er einen kräftigen Fuß auf die Außentreppe des kleinen Hauses treten und, da er seines Vaters Schritt erkannte, ging er ihm sogleich entgegen, um ihn freundlich wie immer zu empfangen.

»Guten Abend, Franz!« sagte der Vater und legte seine breite Hand nachdrücklich auf die Schulter des Sohnes. »Ich wollte nicht glauben,« fuhr er gleich darauf fort, nachdem ihn dieser begrüßt, »was Karoline sagte, daß du nämlich noch immer hier sitzest und dich mit den Farben beschäftigst, aber ich sehe, sie kennt dich besser als ich, und weiß, daß du ein unverbesserlicher Nimmersatt bei der Arbeit bist. So komme ich denn, um dich zu fragen, ob du mit mir einen Spaziergang machen willst. Es regnet schon lange nicht mehr, und wir wollen uns beide ein wenig die Beine vertreten. Dir wird das gut sein. Oder hast du etwas anderes vor?«

»Nein, ich habe nichts anderes vor und werde dich gern begleiten.«

Der Vater hatte kaum gehört, was Franz eben gesprochen, sondern stand unbeweglich vor den beiden begonnenen Bildern und starrte bald das eine, bald das andere an. »Das muß ich sagen,« fuhr er endlich wie aus einem Traume auf, »du bist fleißig gewesen und tüchtig vorgerückt, seitdem ich nicht hiergewesen bin. Aber sage mir – ist die Dame, die du deine Reisegefährtin nennst, wirklich so schön, wie du sie gemalt hast? Ich glaube, nein, du hast sie idealisiert – gestehe es ein!«

Über des Malers Gesicht flog eine dunkle Röte, und seine befangene Miene drückte ein unwillkürliches Erstaunen aus. »Wahrhaftig nicht, Vater,« erwiderte er, »ich habe ihr nicht geschmeichelt und weder Fremdes und Künstliches hinzugefügt, noch etwas Ursprüngliches fortgelassen. Du magst mir glauben: dies Bild, wenn es auch noch so schön und strahlend ist, hat die Natur noch lange nicht erreicht, denn – denn Miß Edda ist wirklich über alle Begriffe schön.«

»Wahrhaftig!« murmelte der Vater vor sich hin, der die Augen von dem Bilde nicht abwenden konnte, so schien es seine Seele zu bannen. »Wenn es wahr ist, was du sagst, und warum sollte ich es nicht glauben, so muß die kleine Person bezaubernd sein. Das ist ein göttliches Gesicht, Franz, und mit welcher Sauberkeit und Sorgfalt hast du gearbeitet! Ja, und die Haltung, die ganze Figur – es liegt eine fürstliche, fast möchte ich sagen, eine majestätische Schönheit darin – aber dies Auge – dies Auge – ich kann es nicht genug betrachten – es ist etwas in diesem Blick, was meine Erinnerungen weckt – und doch kann ich nicht finden, was ich suche. Franz, dies Auge ist verführerisch schön – nimm dich in acht! Du bist kein Pygmalion, dem eine Venus helfend zur Seite steht, um seinen Gebilden Leben einzuhauchen – also versenge dir nicht die Flügel wie Daedalus' Sohn – verstehst du mich?«

Franz sah aus dem Fenster, mit einem Gesicht, das, hätte der Vater es in diesem Augenblick gesehen, ihm mehr als Worte gesagt haben würde, daß diese Flügel schon längst verbrannt seien, und daß dieser moderne Icarus eben von seiner schwindelnden Bahn im Herabstürzen begriffen sei, in der schrankenlosen Luft vergebens eine Stütze, einen Halt suche und mit innerem Schauder an den Moment denke, wo er die harte Erde berühren und mit allen seinen göttlichen Träumen und Luftschlössern, wenn keine Hilfe ihm nahe, zerschellen werde.

»Ja,« fuhr der Vater fort, »ich kann mich nur mit Mühe von diesen Augen losreißen, obgleich ich kein Enthusiast, weder in Bewunderung der Kunst noch der Menschen bin, und Karoline hat recht, wenn sie sie Feueraugen nennt. Aber doch muß es geschehen, es ist gefährlich, zu lange in die Flamme zu blicken, und mein Augenlicht ist mir zu lieb. Komm, Franz, laß uns einmal an dem Hause vorübergehen, wo der Baron Bolten wohnt, vielleicht ist mir das Schicksal günstig und führt mir die Schöne persönlich vor, dann will ich selbst urteilen, ob du ein Schmeichler oder ein tüchtiger Maler bist.«

Franz stand unbeweglich vor seinem Vater und sah ihn mit einem verwunderungsvollen Blick an. »Wie,« sagte er stammelnd, »wie sagst du? Baron Bolten? Heißt der Vater der Miß Edda so?«

»Ja, so heißt er, er schreibt sich vielleicht auch Bolton, wenn er ein Schotte oder halbbürtiger Engländer ist – was weiß ich!«

»Aber wie hast du das herausgebracht?« fragte der Sohn mit noch immer starrer Miene.

»Wie ich das herausgebracht habe? Wie du so seltsam fragst! Der Mann muß doch einen Namen haben und in der Fremdenliste stehen? Da habe ich also seinen Wirt gefragt, der mir neulich zufällig begegnete, und so habe ich das Geheimnis endlich ganz einfach auf einen Schlag ergründet, was Ihr zaghaften Menschen wochenlang nicht zustande brachtet, da Ihr entweder zu saumselig und zu schüchtern oder zu wenig neugierig waret. Doch jetzt komm, mein Junge, wir wollen den heiteren Sonnenstrahl benutzen und einmal nach dem Thuner See hinuntergehen. Ist dir das recht?«

»Mir ist alles recht, Vater, was dir recht ist. Ich bin bereit.«

Beide Männer verließen das kleine Gebäude und begaben sich in das Vorderhaus, wo Franz sich rasch ankleidete und einen tüchtigen Spaziergang mit dem Vater machte, der es verstand, den umwölkten Sinn des seiner Meinung nach zu arbeitsamen Sohnes aufzuheitern und von seinen Augen den Schleier wegzuziehen, den dessen beginnende Herzensleidenschaft darüber gezogen hatte. So langsam sie aber auch beide – und wahrlich aus verschiedenen Gründen – an dem Hause des Nachbars vorübergingen und in alle Fenster spähten, keiner von ihnen sah, was er zu sehen wünschte, denn weder Miß Edda, noch eines ihrer Angehörigen war zu entdecken, und so mußte sich Doktor Marssen auf eine glücklichere Stunde vertrösten, wie es auch sein Sohn tat, der nun bestimmt auf den nächsten Morgen hoffte, da ihm dieser Tag verstrichen war, ohne ihm auch nur die geringste Erfüllung seiner Wünsche zu gewähren.


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