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Buchschmuck

Erstes Kapitel.
Nach dem Zäsenberge.

Wie früher schon einmal auf der Grimsel, so hatten sich Franz Marssen und Baron von Tekeli auch hier in Grindelwald mit einem Zimmer begnügen müssen; auch die drei Damen schliefen in einem, und der alte Holländer mit seinem Schwiegersohn in einem andern zusammen, denn gegen abend waren viele Gäste im Hotel zum Gletscher angekommen, und so hatte man sich dem Wirt zu Gefallen, dem nur wenige Räumlichkeiten zu Gebote standen, gern diese kleine Beschränkung auferlegt. Unser Freund, der ziemlich müde und aus verschiedenen Gründen zu langer Plauderei wenig aufgelegt war, wurde dennoch durch das trübe Aussehen des Ungars und seine auffallende Schweigsamkeit zu einem kurzen Gespräch genötigt. Der kleine, bisher immer so freundliche Mann war auf eine seltsame Weise zurückhaltend gegen ihn geworden, und obwohl er sich an diesem Morgen so sehr über das abermalige Zusammentreffen gefreut, hatte er sich, je weiter der Tag vorschritt, eher verschlossen, denn zutraulich gezeigt. Franz Marssen, der sich ein so widersprechendes Wesen nicht deuten konnte, wollte sich endlich, als sie schon beide im Bette lagen, eine Erklärung erbitten, und so sagte er mit einer Stimme, die eine herzliche Teilnahme nicht verkennen ließ:

»Herr Baron, entschuldigen Sie meine Frage, aber ich kann es nicht unterlassen, sie Ihnen vorzulegen: ich finde Sie schweigsamer und viel zurückhaltender gegen mich als früher – habe ich vielleicht unwissentlich irgend etwas gesprochen oder getan, was Sie verstimmt hat?«

Als der Ungar diese so freundlichen Worte vernahm, die er sicher nicht mehr an diesem Abend erwartet hatte, stöhnte er laut, warf sich hastig auf seinem Lager herum und begann seine Antwort mit dem ungarischen Verzweiflungsruf: » Kétségbe esem! Nun fangen Sie auch noch an, nachdem mich schon der Gemsjäger in Verlegenheit gebracht! Schweigen Sie um Gottes willen jetzt still, zwischen diesen abscheulichen hölzernen Wänden kann man kein Wort sprechen, was nicht im Nebenzimmer gehört würde.«

»Was sagen Sie da?« fragte der Maler, der den ersten Ausruf nur halb gehört hatte. »Ich habe Sie nicht recht verstanden.«

»Ach, ich verstehe mich auch nicht! Haben Sie Geduld, mein lieber Freund. Sie sollen auf mein Wort der erste sein, dem ich das Geheimnis, das mir auf der Seele lastet, anvertraue, sobald ich zu einem klaren Entschluß gekommen bin. Bis jetzt wandle ich nur wie in Nebeln und Wolken einher. Darf ich Sie in Interlaken besuchen?«

»Es wird mir ein Vergnügen sein, Sie bei mir zu sehen. Meine Wohnung werde ich Ihnen zeigen, wenn wir zu Hause ankommen.«

»Wohl, wohl, und so wünsche ich Ihnen für heute eine gute Nacht!«

»Gute Nacht!« flüsterte der Maler, und müde, wie er war, streckte er sich aus, um sogleich einzuschlafen und von der wunderbaren blauen Eisgrotte zu träumen, in deren Tiefe er heute einen Anblick gehabt, über den er ebensowenig klar werden konnte, wie sein Stubengefährte über den Entschluß, ihm sein nebelhaftes Geheimnis anzuvertrauen. Aber dieser Traum versetzte ihn noch einmal in jene von Diamanten blitzende Grotte: alles flammte und strahlte um ihn her, am strahlendsten aber schaute ihn Miß Eddas geheimnisvolles, unergründliches Auge an, dessen Blick er noch nicht verstand oder vielmehr nicht zu verstehen wagte, denn ohne daß er wußte, worin sie bestand, war zwischen diesem schönen Wesen und ihm eine Scheidewand aufgerichtet, die niederzureißen oder zu übersteigen er nicht den Mut besaß, wenn er sich auch die Kraft dazu nicht absprechen konnte. Auch war die Absicht zu einem so kühnen Unternehmen noch gar nicht in ihm erwacht, sie schlummerte nur wie ein kleines unscheinbares Samenkorn in der Tiefe seines Herzens, und der befruchtende Regen, der es quellen machen sollte, hatte noch lange nicht zu tröpfeln begonnen.

Bei alledem war sein Schlaf so tief und fest, daß er erst erwachte, als ein Kellner, wie ihm aufgetragen, um vier Uhr an die Tür des Zimmers pochte. Franz schlug die Augen auf, sah, daß es heller Tag war, und sprang auf, um sich schnell anzukleiden, nachdem er den noch fester schlafenden Ungar ebenfalls geweckt hatte. Sein erster Blick aber fiel dabei durch das Fenster auf die dem Zimmer gegenüberliegenden Berge. O, und wie freudig fühlte er sich da bewegt! Es war ein sonnenklarer, goldener Morgen, kein Wölkchen stand am tiefblauen Himmel, und nur um die Spitze des Mettenbergs wogte ein kleines nebelartiges Dunstkäppchen, das aber fest an die granitene Kuppe desselben gebunden schien.

»Glück auf!« rief er dem nach dem Wetter fragenden Ungar zu, »es ist prächtig draußen, und wir werden auf eine unglaubliche Weise begünstigt. O, wie werden die Damen sich freuen und was für eine köstliche Reise steht uns bevor!«

Bald nach diesen Worten hatte er das Zimmer verlassen, um dem Mann, der die Reisebedürfnisse tragen sollte, seine Gletschersporen, seinen Alpstock und Regenmantel nebst einer wollenen Decke zu bringen. Vor der Tür fand er schon alles in Tätigkeit. In der Vorhalle wurden die Speisen und Getränke, bestehend aus einem tüchtigen Schinken, gebratenem Geflügel, Brot, Schokolade, Tee, Kaffee und Wein in Fülle eingepackt, denn Michel hatte des alten Holländers Erlaubnis reichlich benutzt und wollte es seinerseits an nichts fehlen lassen, damit die Männer, die ihn begleiteten, mit der Beköstigung zufrieden wären. Auch die Pferde, welche die Fremden tragen sollten, wurden gesattelt, und Jürgen, der den Schimmel und den Fuchs wieder nach Grindelwald zurückbringen sollte, wenn man die Reise zu Fuß fortsetzte, ließ betrübt den Kopf hängen, als sein junger Herr ihm diesen unerwarteten Beschluß verkündigte.

Endlich kam auch Michel mit den andern vier Führern an und stellte sie dem Maler in ihrer Bergausrüstung vor, die bei allen fast dieselbe war. Michel trug wieder seine braune, mit vielen Taschen versehene Bergjacke und schwarze lederne Kurzhosen; Strümpfe und Schuhe aber waren wie am Tage vorher beschaffen, und ebenso zierte derselbe Hut seinen Kopf. Dagegen steckte in seinem breiten abgenutzten Gürtel ein scharfes kurzes Handbeil in lederner Scheide, und um den Hals hing ihm eine Rolle fingerdicken Taues, während seine Rechte einen ungeheuren, an einem Ende mit eiserner Spitze, am andern mit einem starken Haken beschlagenen Alpstock hielt. Schließlich trug er noch auf dem Rücken eine zottige wollene Decke, die in der Mitte ein Loch für den Kopf hatte und dergestalt befestigt war, daß er sie leicht von oben herab über den ganzen Körper breiten konnte, wenn das Bedürfnis sich dazu einstellen sollte.

»Guten Morgen, Herr Marssen!« rief er dem ihm entgegengehenden Maler zu. »Nun, hier sind die Männer, die ich für Ihre Gesellschaft gedungen. So.«

Franz warf einen Blick auf diese jungen kräftigen Gestalten, die alle freundliche Gesichter zeigten und von Mut und gutem Willen strotzten. Man begrüßte sich gegenseitig, und dann traten die Männer zu den Pferden, wo sie sich mit deren Führern unterhielten.

Während nun aber Franz Marssen sein Frühstück in der Vorhalle einnahm, gesellte sich Michel zu ihm und sagte mit seinem gewöhnlichen ausdrucksvollen Lächeln: »Nun, wie haben Sie denn heute Nacht in dem verzauberten Grindelwald geschlafen, Herr Maler?«

»Vortrefflich, Michel, und ich hoffe, Ihr ebenfalls. Was sagt Ihr aber zu dem Wetter? Freut Ihr Euch nicht darüber? Seht mal nach dem Mettenberg hin, da hängt sogar ein kleiner Nebelstreifen, und das soll, wie ich gehört habe, besser sein, als wenn er ganz klar hervorträte.«

Michel schüttelte mißtrauisch den Kopf und zog eine fast saure Miene. »Nein, nein,« sagte er leise, »zwei Dinge sind es, die mir heute morgen nicht gefallen und die mich wieder auf meine gestrige Besorgnis zurückführen. Zuerst ist kein Tropfen Tau in ganz Grindelwald gefallen, und es wird furchtbar heiß werden, was uns indessen nicht belästigen kann, da wir um die heißeste Zeit auf dem Eise sind. Und zweitens ist es gerade jener Nebel, wie sie ihn nennen, der mir einigen Respekt einflößt. Denn das ist – Sie werden es sehen, wenn wir am Mettenberge hinaufziehen – kein gewöhnlicher Nebel, Herr, sondern das ist der Föhn, der wie ein Geier da oben in seinem Horst auf Beute lauert. Warten Sie es ab, und am Abend wollen wir uns weitersprechen. Es gibt ein Ungewitter, noch ehe wir zwölf Stunden älter sind, und das ist so gewiß, daß ich es beschwören möchte.«

»Wenn Ihr dessen so gewiß seid,« erwiderte Franz ernsthaft, »so laßt uns hierbleiben und einen anderen Tag abwarten.«

Michel schüttelte den Kopf. »Nein, das geht doch nicht, denn Sie könnten vielleicht lange warten, ehe Sie wieder einen solchen Morgen erleben, und den wollen wir wenigstens benutzen; wir können ja jeden Augenblick umkehren, wenn wir das Unwetter heraufziehen sehen. Und dann, wissen Sie,« setzte er flüsternd hinzu, »möchte ich nicht mit dem Vorschlage, zu Hause zu bleiben, vor die schöne Dame mit den gelben Stiefelchen treten. Der Tausig, Herr Marssen, die hat ein Auge, wie es nur eine Bergnixe aufzuweisen hat, und man kann da wie in einen Brunnen hineinfallen, aus dem einen kein Strick wieder herauszieht.«

Franz blickte in seine Tasse Kaffee, in der er eben den Zucker umrührte, und lächelte, aber es war ein etwas trübes Lächeln, und es lag beinahe eine Art Zugeständnis für den ihn scharf betrachtenden Gemsjäger darin. Er wollte eben Antwort geben, als der alte Holländer im Samtschlafrock erschien, beiden Männern einen herzlichen »guten Morgen« wünschte und die Meldung hinzufügte, daß die Damen auch schon zur Hand seien und gleich zum Frühstück erscheinen würden.

Michel verließ die Halle und ging zu den Führern und Trägern, mit denen er über den Weg sprach, den sie nehmen wollten. Unterdessen traten die jungen Damen mit der gähnenden alten Holländerin heraus, aber jene waren frisch und mutig und auf ihren jugendlichen Gesichtern strahlte die lebhafteste Freude, daß ihr sehnlichster Wunsch nun doch in Erfüllung gehen sollte. Sie begrüßten die jungen Männer, die sich jetzt ebenfalls einfanden, auf das freundlichste, und nur das braune Nixenauge schien Franz Marssen zu vermeiden, so sehr dieser sich auch bemühte, einen Strahl desselben aufzufangen und mit dem zu vergleichen, den er am Abend vorher in Wirklichkeit und in der Nacht im Traume so nahe vor Augen gehabt. Indessen redete sie freundlich mit ihm, lobte das Wetter und ihr Reiseglück, und versprach sich goldene Berge von dem heutigen Ausfluge, da sie noch nie einen ähnlichen gemacht.

Als die Damen eben mit dem Frühstück fertig geworden, kam Michel wieder in die Halle und verkündete, daß alles zum Abmarsch bereit sei. Während er noch sprach, sah man auch schon die beiden Träger langsam den Weg vorausgehen, den man einzuschlagen gedachte. Beide trugen eine genügende Last, der eine in einem Korbe, der andere im leichten Brettergerüst auf dem Rücken, indes waren sie daran gewöhnt, da ihnen dergleichen fast alle Tage zugemutet wird.

Endlich also war der Augenblick des Abschiednehmens gekommen, und das geschah von seiten des alten Ehepaares auf eine überaus herzliche Weise. Sie küßten und herzten die Mädchen und Herrn van der Hooft, drückten Franz Marssen und dem Baron wiederholt die Hände und baten sie alle, recht vorsichtig zu sein und ja dem Gebote des Gemsjägers Michel zu gehorchen, dem sie ebenfalls die Hand schüttelten und dabei die jungen Leute auf die Seele banden.

So war man auch damit fertig, und alle traten auf den Rasenplatz hinaus, wo man am Abend vorher gesessen und die schöne Aussicht bewundert hatte. Hier standen die Pferde zum Abgang fertig, und die erste, die von Michel selber in den Sattel gehoben ward, war Miß Edda, während der Bräutigam seine Braut bediente und dann selbst in den Bügel stieg. Als alle saßen, bestieg auch Franz seinen Schimmel und hörte ruhig die Anordnungen Michels an, die derselbe eben mit lauter Stimme verkündete.

»Ich marschiere an der Spitze,« sagte er zu den Reisenden und Führern und schwang dabei seinen langen Alpstock wie einen Kommandostab. »Nach mir kommt die Dame mit dem Fuchs. Dann kommst du, Christen, mit der andern Dame hinter dir. Dann folgt Palm mit dem Herrn Bräutigam, und dann du, Ullrich, mit dem kleinen schwarzen Herrn. So, und dann kommen Sie, Herr Marssen, und hinter Ihnen schließt Almer den Zug. So wird es das Beste sein, denn ich habe es mit Bedacht so eingerichtet. Vorwärts!« rief er, seinen Hut gegen die zurückbleibenden Eltern der Braut schwenkend, »und nun soll es nach dem Eismeer des Grindelwaldgletschers gehen. Joahhu!« Und er ließ einen Jauchzer erschallen, der bis nach den Bergen hinüber dröhnte, und alle übrigen Schweizer jauchzten ihm nach und stimmten so eine Art feierlich freudigen Gesanges an, der allen, die ihn hörten, das Herz erhob und die Seelen mit unnennbaren Gefühlen erfüllte. Langsam aber, die beiden Pferdeführer dicht neben den Damenpferden, setzte sich der Zug in Bewegung, und es dauerte keine drei Minuten, so war er den Nachschauenden im Gebüsch verschwunden und wandte sich der alten Moräne zu, die er nachher rechts liegen ließ, um so nach den Felsen zu gelangen, die dicht an die östliche Seite des Gletschers stoßen.

*

Bald lauter, bald stiller vor sich hin jodelnd und dann und wann mit einem langgezogenen Jauchzer endigend, zogen die Führer der kleinen Karawane quer durch die Moräne bis in die Nähe des Gletschers, und hier erst verstummten sie, da sich die ersten kleinen Schwierigkeiten zeigten, indem die Lütschine durch die bei der großen Luftwärme geschmolzenen Eismassen gehörig angeschwollen war und nur auf Umwegen mittels übergelegter Bretter überschritten werden konnte. Von hier aus zogen alle schweigend und erwartungsvoll weiter, bis sie, die wild rauschende Lütschine hinter sich lassend, die Felsen erreichten, wo an der Seite des Mettenbergs und kleinen Schreckhorns der Weg nach dem Eismeer in die Höhe führt.

Obgleich es noch früh am Morgen war, so brannte die Sonne doch schon warm genug, und da kein Lüftchen sich regte, so schien es den Reisenden anfangs in der trockenen Steinwüste noch viel heißer zu sein als zwischen den Bäumen und am Rande der Wiesen, an denen man zuerst vorübergegangen war. Als man sich aber dem Wasser der Lütschine und endlich gar den Gletschern näherte, kühlte sich die Luft durch die Ausströmungen der großen Eismassen bedeutend ab, und man stieg nun in einer Temperatur den steilen Felsenpfad empor, die so frisch war, daß in dieser Beziehung nichts zu wünschen übrig blieb.

Dieser Pfad, obwohl man noch festen Boden unter den Füßen hatte, bot dennoch nicht geringe Schwierigkeiten dar. Teils führte er durch Schluchten und tief ausgeschnittene Gräben fort, teils an jähen, nach der Seite des Gletschers abfallenden Abgründen entlang, welche oft denjenigen Schwindel erregten, die kein sicheres Auge und kein unerschrockenes Herz besaßen. Der Gletscher selbst türmte sich, zur Rechten unausgesetzt in die Höhe laufend, in den mannigfaltigsten Gestaltungen auf, die nur selten die blanke blauweiße Eisfarbe, viel häufiger einen grauen schmutzigen Überzug von Staub zeigten, den die überall herumliegenden zersplitterten Felsblöcke auf ihrem Wege zurückgelassen hatten. Hier erhob sich das Eis in schroffen, unersteiglichen Mauern, dort starrten spitze Nadeln und Türme empor, auf denen breite Felsblöcke, sogenannte Gletschertische, ruhten, jeden Augenblick bereit, in die Tiefe zu stürzen; hier war eine kunstvolle Brücke über zwei Abgründe geschlagen, dort nahm man trichterförmige Vertiefungen wahr, die jäh abstürzten und in denen das kalte Wasser brodelte, welches sich durch innere Spalten und Löcher nach der Tiefe des Gletschers hinabfraß, um endlich ganz unten die Lütschine bilden zu helfen.

Michel sprach auf diesem mühsamen Wege sehr wenig mit der ihm anvertrauten Dame, aber aufmerksam verfolgte er jeden Tritt ihres Pferdes, dessen Zügel Jürgen nur selten aus den Händen ließ. Wo eine besondere Schwierigkeit zutage trat, faßte er auch selbst den anderen Zügel, und war sie dann überstanden, so lächelte er Miß Edda mit freundlicher Miene zu und drückte sein Wohlgefallen an ihrer Ruhe und ihrer inneren Befriedigung aus, die sich trotz ihrer geistigen Spannung auf allen ihren Zügen malte. Dabei setzte er selbst mit unglaublicher Sicherheit seinen Fuß auf jeden hervorragenden Stein auf. Sein Kopf kannte keinen Schwindel, seine Schenkelkraft keine Ermüdung; von Absatz zu Absatz, wenn er dem Fuchs zur Seite ging, schwang er sich mit einer Behendigkeit ohne Gleichen, und trotzdem er seine Aufmerksamkeit zunächst auf die ihm folgende Dame richtete, behielt er doch den ganzen Zug im Auge, rief dann und wann einem der Führer zu und machte ihn auf Stellen aufmerksam, die eine besondere Sorgfalt in Bezug auf die Leitung der Pferde erforderten.

Bei einer kurzen Rast, die er, um die keuchenden Tiere verschnaufen zu lassen, eintreten ließ, wandte er sich zu Miß Edda um und, indem er ihrem Fuchs den Hals klopfte, sagte er:

»Das ist ein böser Weg, nicht wahr? Nun ja, aber ich gehe doch lieber zu Fuße, als daß ich auf dem Rücken eines solchen Tieres sitze, so gut es auch seine Schuldigkeit erfüllt und so sicher sein Tritt ist. Der sicherste und beste Tritt ist und bleibt der des menschlichen Fußes, wenn der Kopf klar und die Berechnung richtig ist. Aber Sie müssen Ihren Fuchs zügeln, mein Fräulein, er schreitet den Mietpferden zu schnell aus. Im übrigen ist er ein Tier so recht für eine Dame gemacht, und Sie sitzen ganz bequem darauf, nicht wahr?«

»O ja, aber ich ginge auch lieber ein Stück, um es dem Tiere leichter zu machen.«

»Noch nicht, noch nicht, meine Dame; sparen Sie Ihre Kräfte, sie werden nachher noch genügend in Anspruch genommen, und wir sind erst am Beginn unserer Reise.«

Bald wurde diese wieder, nachdem die Reisenden selbst einige Worte ausgetauscht, fortgesetzt, sobald nur die Träger, die man bereits überholt, herangekommen und eine Strecke vorausgewandert waren; und so gelangte man endlich an einen Ort, wo die erste längere Rast gehalten wurde und ein Schluck Wein oder Kirschwasser getrunken werden sollte. Es war dies eine Stelle, wo sich eine Höhle im Felsen befindet, die ihre Öffnung dem Gletscher zuwendet, dem man sich ziemlich dicht gegenübersah. In dieser Höhle, erzählte Michel, als alle von den Pferden gestiegen waren, habe früher eine der heiligen Petronella geweihte Kapelle gestanden und an ihr habe ein viel betretener Saumpfad nach Wallis vorübergeführt, der aber schon lange von dem stetig vordringenden Gletscher und den herabstürzenden Steintrümmern vernichtet worden und ungangbar gemacht sei.

Es war ein wilder und trostloser Ort, an dem man sich hier befand. Ausgezackte, wenig bemooste Felsblöcke hingen über den Höhlenraum herab, in deren Spalten kleine Tannen ihr notdürftiges Dasein fristeten; zu den Füßen der Reisenden dagegen öffnete sich eine weite und tiefe, mit zersplitterten Tannen und Felstrümmern ausgefüllte Kluft, und jenseit derselben stieg der graue Gletscher in dämonischen Umrissen auf, der das Auge des Schauenden mit Staunen erfüllte, aber gerade nicht ihren Mut, ihn zu erklimmen, belebte.

Dies war auch die Stelle, von wo man die Pferde zurückschicken wollte, obwohl Michel und die Führer behaupteten, man könne noch eine Strecke weiter reiten und das Ansteigen sei mühsam und erfordere Kraft.

»Nein, nein,« riefen die beiden Damen, die das Reiten auf so schmalen Wegen bedenklich finden mochten, »wir fürchten keine Mühe und haben Kraft in Fülle, lassen Sie uns zu Fuße gehen, wenn wir auch nur langsam vorrücken!«

Die drei jungen Männer, die schon früher von den Pferden gestiegen waren, stimmten ihnen bei, und so fügte sich Michel lächelnd in den allgemeinen Entschluß, und Jürgen und die beiden anderen Pferdeführer erhielten den Befehl, sich zur Rückkehr anzuschicken.

Jürgen, der diesen Befehl schon lange befürchtet hatte, gehorchte nur mit traurigem Herzen, er wäre gar zu gern weiter mitgestiegen und hatte sich schon lange auf das Eismeer gefreut. Allein Franz Marssen, dem seine Pferde am Herzen lagen, und der sie den fremden Leuten nicht anvertrauen mochte, gebot ihm mit freundlichen Worten, sorgsam auf die Tiere zu achten, ruhig mit ihnen nach Grindelwald zurückzukehren und sie dort wie sich selber bestens zu pflegen.

So trennte man sich denn, und noch lange hörten die auf den Steintrümmern sitzenden Wanderer das Klappern der Hufe ihrer getreuen Pferde, die sich langsam den bedenklichen Weg hinabwanden; ein anderer Ton aber ließ sich nicht vernehmen, denn Jürgen hatte das Jodeln und Jauchzen eingestellt und zog mit kummervollem Herzen in das Tal hinab.

Als die Reisenden sich nun hinlänglich erfrischt hatten und der verteilte Wein und das Brot verzehrt war, schickte man sich zur Fortsetzung der Reise an. Die bisherigen Reiter erhielten ihre Alpstöcke, Fräulein Elise schürzte ihre Röcke höher und fester auf, aber jetzt schon Tücher umzunehmen, widerrieten die Führer entschieden, obgleich vom Gletscher her eine frischkühle Luft herüberströmte.

»Wir haben noch eine gute halbe Stunde zu klettern,« sagte Michel unter anderm, »und das macht Sie gar warm, meine Damen. Oben am See, wo wir länger verweilen, bevor wir das Eismeer besteigen, sollen Sie Ihre Tücher haben und fest umbinden, aber früher leide ich es nicht.«

Diesem Gebote widersprach niemand, und in der Hoffnung, nun bald aus den engen, dunklen Felsenschluchten heraus zu treten und eine freiere Übersicht zu gewinnen, befeuerte man seine Schritte, obgleich Michel durch seinen Vortritt das Tempo angab und mit großer Rücksichtnahme seine eigene Kraft zu Gunsten der übrigen in Schranken hielt. Der Zug hatte sich ganz ebenso wieder geordnet, wie es am Anfang festgesetzt war, und schweigend stieg und kletterte man bergan, wobei die Damen zum erstenmal die beruhigende Erfahrung machten, eine wie feste Hand der sie leitende Führer besaß, wie sicher sie auf seine Unterstützung rechnen könnten, und wie sorgfältig diese Männer jeden Schritt der ihnen anvertrauten Personen bewachten.

Übrigens hatte auch Michel und die übrigen Führer ihre Freude an den Reisenden selber, namentlich an den Damen. Kühn und ruhig schritten sie über die schwierigsten Stellen hinweg; der schmalste Pfad, oft nur aus einem schwankenden Tannenbaum bestehend, die steil abstürzenden Felswände, die überall gähnten, schreckten sie nicht, sie wußten den Alpstock trefflich zu gebrauchen und scheuten den Schweiß nicht, der von ihrer Stirn rann. Ohne eine Spur von Erschöpfung zu verraten, blickten sie immer heiter und freudig, und jede ihnen dargebotene Naturerscheinung, jeden seltsam gestalteten Felsen oder Eisklumpen betrachteten sie mit dankbarem Lächeln gegen die sie belehrenden Männer hin. So kam man denn endlich mit erträglicher Mühe und keineswegs entmutigt auf die Höhe, von der aus man das Eismeer zu besteigen pflegt, und ehe Michel und die Führer den Reisenden eine Umschau an dieser seltsamen Fels- und Eiswüste gestatteten, wurden die Träger herbeigerufen und die Plaids herbeigeholt, deren zweckmäßige Anlegung nur kurze Zeit erforderte, da Miß Edda eine große Geschicklichkeit und Übung darin besaß. Auch die jungen Männer hüllten sich in ihre Oberröcke, und nachdem man sich so genügend gegen die Einflüsse der hier schon bei weitem kälteren Temperatur verwahrt, folgte man dem voranschreitenden Michel in der alten Ordnung nach, der die Gesellschaft bald an den Ort führte, wo die erste längere Rast gehalten werden sollte.

Oberhalb des Grindelwaldgletschers, ungefähr drei kleine Stunden von seinem Fußende entfernt, liegt, auf der einen Seite unmittelbar von den Eiswänden desselben begrenzt, auf der andern von überhängenden schroffen Felsklippen eingeschlossen, ein kleiner See, dessen Gewässer aus geschmolzenem Gletschereise bestehen, das sich hoch und immer höher an seinem westlichen Ufer auftürmt. Die Oberfläche dieses kleinen und so schauerlich einsam gelegenen Sees sieht grau, trübe und melancholisch aus, obgleich seine Umgebung im ganzen romantisch, wild und seltsam genug ist. Indessen ändert sich die Form desselben sehr häufig, und wenn man ihn heute rund oder oval beschreibt, sieht er im nächsten Sommer vielleicht ganz anders aus. Denn bald stürzen schroff über ihn herabhängende und ihn einschließende Eiswände ein, an deren Fuß das wärmergewordene Wasser nagt, bald steigen im Winter neue Eistürme als nächste Umgrenzung auf, oder auch der warme Regen, der häufig im Sommer fällt, durchnäßt und durchfrißt die Eiswände, und so kommt es, daß im Hochsommer aus tausend Ritzen und Spalten das Wasser sickert und den See speist und vergrößert, der dann wieder aus tiefergelegenen Rinnen seinen Abfluß hat und nur selten nach Regengüssen und sehr heißen Sommern so anschwillt, daß er, seine Eisschranken durchbrechend, furchtbare Zerstörung im Gletscher anrichtet, über dessen Vertiefungen er sich dann in wildem Strome ergießt und Steine und Eistrümmer mit sich fortreißend in die Tiefe stürzt.

Bis zu diesem See war Franz Marssen schon einmal im vergangenen Jahre vorgedrungen, und er war also mit der Örtlichkeit so ziemlich vertraut. So wußte er auch, daß hier eine von Menschenhänden erbaute Hütte lag, die einem in Not befindlichen Wanderer oder Hirten sehr gut zum Zufluchtsort dienen konnte, zu welchem Zweck sie auch von einsichtsvollen Männern erbaut worden ist. Denn ringsum stundenweit ist alles wüst, öde und einsam, und wenngleich das Auge des Reisenden durch die groteske Romantik der Lage und der Umgebung überhaupt betroffen wird, das Gefühl der Abgeschiedenheit wird ihn immer erschüttern, und die Nähe großer Gefahr, die er dicht vor Augen hat, wird sein Herz wohl selten ganz ruhig schlagen lassen.

Die Hütte selbst, Stiereck genannt, liegt hart am Felsen auf der linken Seite des Sees, man hatte also vor ihr das beginnende Eismeer, das weiter nichts als ein hochgelegenes Plateau des Gletschers ist, bevor er sich in seine Tiefe stürzt, dicht vor Augen. Sie war nicht ganz klein und aus zusammengetragenen und mit Moos verbundenen Steinen erbaut, hatte ein winziges Fenster und eine schmale Tür und bestand aus zwei Räumen, deren erster eine Art Küche mit Feuerherd und mühsam zusammengetragenes Reisig enthielt, und deren zweiter eine Vorratskammer für Heu war, welches letztere von abgelegenen Grasplätzen hier gesammelt und bei günstiger Gelegenheit in die Tiefe befördert wird, sobald man daselbst seiner bedarf. Außer diesem Heu aber befanden sich noch Gerätschaften, als Bretter, Leitern und dergleichen darin, damit jeder, der im Notfall davon Gebrauch machen wollte, sich ihrer nach Kräften bedienen konnte.

Diese Hütte hatte sich Michel mit den Führern aus einem sehr natürlichen Grunde nicht nur als Hauptniederlassung auf dem Wege nach dem Zäsenberg, sondern auch als Beobachtungsposten für das Wetter ausersehen, denn dicht vor ihr breitete sich das sogenannte Eismeer aus, und hatte man dasselbe erstiegen, so lag der ganze Horizont ringsum frei da, und ein wetterverständiges Auge konnte leicht eine Gefahr erkennen, wenn dieselbe aus irgend einer Richtung drohen sollte.

So einfach und winzig diese abgelegene Hütte sich auch dem Auge in der Öde und Stille dieser Hochgebirgsgegend darstellen mochte, so wurde sie doch von den Reisenden mit freudigen Empfindungen begrüßt, und augenblicklich wurden vor der Tür derselben Anstalten zu einer Lagerstätte getroffen, indem man ein kleines Feuer aus Reisig und Tannenholz anzündete und rings um dasselbe auf bereitliegenden Geröllsteinen Platz nahm.

Michel befragte nun zuerst die Damen, worauf sie Appetit hätten, und da sie alle von innerer Hitze geplagt wurden und niemand Neigung nach etwas Warmem verspürte, so wurde die Hauptmahlzeit auf den Zäsenberg verschoben, und nur ein kleiner Imbiß von Geflügel, Brot und Wein genommen, während die Führer sich mit Kirschwasser begnügten, das sie mit Gletscherwasser mischten und mit Zucker versüßten und dabei ein tüchtiges Stück Schinken nebst Brot in Menge verzehren.

So einfach dieses Mahl war, so wurde es doch in fröhlicher Laune und unter Scherzen hingebracht, wie sie an diesem beschwerlichen Wandertag bisher noch nicht lautgeworden, und alle freuten sich, daß das Wetter unverändert schön geblieben war, denn auch jetzt, etwa um neun Uhr morgens, strahlte die Sonne hell vom blauen Himmel, und nirgends war ein störendes Wölkchen zu erspähen, so weit man in dem eingeschlossenen Bergkessel um sich herum sehen konnte. Michel indessen, der noch immer nicht frei von Sorge in dieser Beziehung war, sandte alsbald einen Führer nach dem Eismeer hinauf, und da dieser ihm etwas zu lange ausblieb, machte er sich selbst auf und erkletterte mit einiger Mühe eine Eiswand, hinter der er bald verschwand, um seine Forschungen auf einem freieren und höher gelegenen Platze zu beginnen.

Als er nach einer Viertelstunde mit dem Führer wieder bei der Gesellschaft erschien, hingen aller Augen an seinen Lippen, und erst, als er erklärte, daß man keine baldige Veränderung des Wetters voraussagen und daß man also den Weg nach dem Zäsenberge getrost antreten könne, heiterten sich die erwartungsvollen Mienen der Reisenden auf, und der Aufbruch dahin ward auf Punkt zehn Uhr festgesetzt.

In der großen Spannung, in der sich alle befanden, das oft besprochene Eismeer zu betreten, verging ihnen die Zeit schnell genug und zum Teil wurde sie gegen das Ende der Rast damit hingebracht, daß man die Vorbereitungen zum Ersteigen des Gletschers traf und mit der persönlichen Ausrüstung in Bezug auf die Kleidungsstücke begann. Die Führer schnallten sich ihre Eissporen an und umgürteten ihre Unterschenkel mit ledernen Gamaschen, eine Vorkehrung, die auch Franz Marssen traf; die Damen dagegen mußten sich ihre Hüte festbinden und die Tücher dergestalt um den Leib befestigen, daß sie im Gehen nicht hinderlich waren und am wenigsten den freien Gebrauch der Hände beschränkten, da man auf dem Eismeer selbst sich keinen längeren Aufenthalt als nötig war gestatten wollte. Als dies vollbracht und ein Teil der mitgenommenen Speisen sowie mehrere Flaschen Wein in der Hütte geborgen waren, zu der man ja jedenfalls zurückkehren mußte, schickte man sich zum Aufbruch an, wobei Michel erklärte, man sollte sich durch den etwas beschwerlichen Anfang des bevorstehenden Weges nicht einschüchtern lassen, denn man müsse eine ziemlich steile Eiswand erklimmen, da der Punkt, den er vorher selbst bestiegen, mehr Hindernisse biete, als ein anderer, den er von obenher ausgekundschaftet habe. »Das Eis ist nämlich da,« sagte er, »wo wir vorher hinaufgestiegen sind, spiegelglatt, die Sonne hat es gut poliert; dort jenseits jener höheren Wand aber ist es leichter zu beschreiten, und wir dringen dann in ziemlich gerader Linie gegen den Zäsenberg vor, ein Weg, der, allen Aufenthalt mit eingerechnet, etwa anderthalb Stunden Zeit wegnehmen wird.«

Dieser Ausspruch wurde natürlich als ein Orakel betrachtet, und so sagte man der stillen Hütte Lebewohl bis auf Wiedersehen, um den See zu umwandern und an das glatte Mauerwerk des großen Gletschers zu gelangen. Als die Damen aber in die Nähe desselben kamen, wurden ihre Gesichter denn doch etwas lang, denn nicht allein dehnte sich vor ihren Augen eine etwa acht Fuß breite Schlucht aus, sondern die gegenüberliegende Wand erhob sich zu einer Höhe von wenigstens sechzehn Fuß, und sie sahen keine Möglichkeit ein, wie dieselbe erklommen werden sollte, da sie glatt wie Glas war und fast senkrecht abfiel.

»Ja, meine Damen und Herren,« sagte Michel lächelnd, »wenn sie jetzt hier allein wären und dort hinauf müßten, dann wäre freilich guter Rat teuer, aber da Sie glücklicherweise in unserer Gesellschaft sind, so brauchen Sie nicht zu zagen. Dieses Bollwerk hat sich allerdings feindselig genug aus Schnee und Eis aufgebaut, und die Strahlen der Sonne haben es hinreichend geglättet, allein gestürmt werden muß es doch, und nun, Leute,« wandte er sich zu einigen seiner Begleiter, »beginnt Euer Werk, und ich werde das meinige beginnen, indem ich diese Herrschaften zuerst an das Seil binde.«

»An das Seil?« rief Herr van der Hooft mit verwundertem Gesicht. »Warum denn das, lieber Mann?«

Michel zuckte gleichgültig die Achseln. »Solche Warums müssen Sie mir nicht auftischen,« sagte er ruhig, »das liebe ich nicht, und die Zeit geht mit nichts schneller als mit überflüssigen Erklärungen hin. Übrigens werden Sie es gleich durch den Augenschein erfahren.« Und ohne seine Miene im geringsten zu verändern, begann er sein Unternehmen damit, daß er seine Taurolle auf die Erde warf, wie es schon einige andere Männer mit der ihrigen getan hatten.

Miß Edda war die erste, die an das Seil gelegt wurde, indem das eine Ende über dem Plaid um ihren Leib geschlungen und um die Schultern geknüpft wurde, was mit einer Schnelligkeit vor sich ging, die bewies, wie erfahren der wackere Gemsjäger darin war. Das Gleiche geschah mit der jungen Holländerin, deren Bräutigam und dem Ungar, während Franz Marssen lächelnd diesem Beginnen zuschaute.

»Lassen Sie sich denn nicht anbinden?« fragte Miß Edda etwas schüchtern den Maler, da sie noch immer keine Vorkehrungen dazu an ihm treffen sah.

»Nein,« erwiderte Franz, »ich komme ohne Seil und mit meinen eigenen Füßen hinauf und habe schon öfters steilere Eiswände erklommen.«

Die Schottin senkte das Auge, das sie einen Moment lang gegen den Maler erhoben hatte, und dieser prüfte jetzt die Arbeit der Führer, die schnell genug damit fertig geworden waren.

Unterdessen hatten ein Führer und ein Träger ein langes dickes Brett, welches sie aus der Hütte mitgenommen, über die Schlucht gelegt, waren langsam über dasselbe fortgegangen und lehnten dann eine acht Fuß lange Leiter gegen die Eiswand, worauf einer von ihnen dieselbe sogleich zu ersteigen und, auf den obersten Sprossen angekommen, mit seinem Beil in das Eis zu hauen begann, so daß die Funken sprühten und die Eissplitter nach allen Seiten flogen. Als er erst zwei oder drei Stufen ausgehauen, stieg er kühn in diese hinein und setzte seine Arbeit höher hinauf fort, bis er nahe an den Kamm der Mauer gelangt war, auf den er sich behende hinaufschwang und oben einen lauten Jauchzer als Siegesgeschrei hören ließ.

»Bleib oben, Christen!« rief ihm Michel zu, »und nimm mein Seil in Empfang. Und nun kommen Sie, mein Fräulein, Sie sollen mit mir die erste sein, die das schöne Eismeer betritt. Vorwärts, ohne Furcht und mit Gott!«

Miß Edda gehorchte augenblicklich, und ohne das geringste Zagen schritt sie, von Michel, der vor ihr ging, am Seil gehalten, über das schwanke Brett. Als beide glücklich drüben angekommen waren, warf Michel die Taurolle geschickt dem Führer auf der Mauer zu, dieser fing sie, schlang sie sich ein paar Mal um den Leib und zog dann das Tau sanft an, während die junge Dame bereits die Leiter, die der Träger hielt, langsam und vorsichtig erstieg. Ruhig und sicher setzte sie dann die scharfen Sohlen in die gehauenen Eislöcher, und während Michel leise schob und der Führer oben das Seil behutsam anzog, gelangte sie ohne Schwierigkeit auf die Mauer, wo sie hochaufatmend stehen blieb und ohne einen Blick auf das errungene Eismeer zu werfen, nach den Freunden hinunterschaute, von denen Fräulein Elise ihr auf dem Fuße folgte, nachdem der Führer derselben Michel selbst das Tau zugeworfen hatte.

Wie die beiden Damen, so gelangten auch die an ein Seil gebundenen Männer glücklich auf die Plattform, und nun schritt Franz Marssen mit sicherem Tritt über das Brett der Leiter zu, wobei ihm sein eigener Führer dicht auf den Fersen folgte, dem sich der zweite Träger anschloß. Aber erst als alle diese Männer den Mauerkamm sicher erreicht hatten, stießen die zuerst auf dem Eise Angekommenen einen Seufzer der Erleichterung aus und wandten, einer Aufforderung Michels Folge leistend, ihre Gesichter nach dem Gletscher um, der jetzt in seiner ganzen Ausdehnung vor ihren fast geblendeten Augen lag.

Und in der Tat, es lag wohl Grund genug vor, daß sie fürs erste geblendet waren, denn was sie mit bloßen Augen und später durch ihre Taschengläser sahen, war so unbeschreiblich schön, groß und neu, wie nur wenige von ihnen etwas Ähnliches im Leben wahrgenommen hatten. Da alle wie aus innerem Antriebe zuerst nach dem unteren Ende des Gletschers schauten, so sahen alle dasselbe Bild zu gleicher Zeit. Zunächst fanden sie sich auf einer sanft geneigten Fläche und von blinkendem Eise umgeben, das ihrem weiteren Fortschreiten kein Hindernis zu bieten schien, und dabei übersah man erst jetzt recht deutlich, wie unermeßlich lang und breit der Eisstrom war, auf dessen breitester Plattform man sich befand. Tief unten im Tale, wenn das Auge über die ungeheure blauweiße Zunge hinwegblickte, sah man die Häuser von Grindelwald zwischen grünen Bäumen hervorragen und darüber hinaus die grünen Matten der Berge und endlich die Gipfel dieser selbst hoch über dem Dorfe malerisch aufsteigen.

Als Michel den erstaunten Reisenden Zeit genug gegönnt, sich an diesem Schauspiel zu laben, forderte er sie auf, sich umzuwenden und nach der Höhe des Gletschers hinaufzublicken. An der linken Seite, tief unter ihnen am Fuße des höher aufsteigenden Mettenberges lag, gleichsam stillschlummernd, der kleine bleigraue See und die Hütte, die sie vor kurzer Zeit verlassen; darüber hinaus preßte sich durch engere steile Felsklüfte der Gletscher selbst, dessen Mitte ein unendlich wildes und zerrissenes Chaos von übereinander getürmten Eismassen, aufsteigenden nadelartigen Spitzen und tief zerklüfteten Spalten zeigte. Über diese Türme und Nadeln und tief in die blauen Schluchten hinein, deren gähnende Öffnungen mit Eiswasser gefüllt waren, strahlte die glanzvolle Sonne, und an manchen Stellen blitzte das blaugrüne Eis wie funkelndes Edelgestein, auf welches der Schein zahlloser Kerzen fällt. Und so hell strahlte die Sonne und so wohltuend war ihre Wirkung für den Augenblick, daß man nicht an die Kälte dachte, die unter den Füßen sich bemerkbar zu machen anfing, die aber bald wieder verschwand, als man sich später zum Weitergehen anschickte.

Oberhalb des Eismeeres aber, auf dem man sich befand, hob sich der Gletscher steil und immer steiler an, und man hat ihm hier den Namen Vieschergletscher gegeben, da ihn endlich ganz in der Höhe die Viescherhörner einschließen, die nach Wallis hineinschauen und dem dahinschweifenden Blick eine unübersteigbare Schranke bieten. Etwas nach der rechten Seite hin aber stürzte sich der Gletscher wie ein ungeheurer gefrorener Wasserfall herab und nahm erst einen ebneren Lauf auf demselben Plateau an, auf welchem die Reisenden eben festen Fuß gefaßt hatten. In der Mitte dieser Fläche, wenn man einen unebenen Eisberg mit diesem Namen bezeichnen kann, erhob sich ein kolossaler schwarzer Felsen, der senkrecht aufstrebte und auf dem deshalb nie eine Schneeflocke haften bleibt, weshalb ihm das Volk fälschlich den Namen der heißen Platte gegeben hat. Wie der Wächter dieser grandiosen Szene, steht dieser Fels inmitten der Eiswüste da, und die Lawinen, die schon tausendfach über ihn hingedonnert sind und sich an seinem scharfen Scheitel gebrochen, haben seine Grundmauern noch nie erschüttert, und kalt und gefühllos behauptet er unbeweglich seinen Platz, wenn alles um ihn her wankt und zittert und Tausende von Steinen und Eisblöcken meilenweit zu stürmischer Zeit in die Tiefe donnern.

»Sehen Sie,« sagte da Michel zu Franz Marssen, nachdem alle mehrere Minuten lang staunend und stumm sich in der wunderbaren Einöde umgeblickt, »sehen Sie da drüben im klaren Sonnenglanz die hoch aufragende Masse mit ihrer schneereichen Spitze? Das ist der Eiger, mein Freund, und nun kommen Sie hierher, so, und sagen Sie mir, was Sie in der Mitte des Berges da drüben Auffallendes bemerken.«

Franz Marssen schaute scharf hinüber und alle übrigen, die sich dicht um die beiden Männer gedrängt hatten, halfen ihm mit ihren guten Augen dabei.

»Ich sehe einen weißen Fleck in der schwarzen Felswand, wie mir scheint, der von der Sonne, seltsam genug, hell beleuchtet ist,« erwiderte nach längerer Zeit der Maler.

»Nun ja, so halb und halb haben Sie recht. Aber ein Fleck ist es nicht, sondern ein Loch, das mitten durch den Eiger geht, ganz und gar, und welches durch zwei Höhlen gebildet wird, die von entgegengesetzten Seiten her in der Mitte des Felsen zusammentreffen und so das von hier sichtbare Loch bilden. Das ist nun allerdings eine Merkwürdigkeit, aber darum sage ich es Ihnen nicht, denn es gibt dergleichen hier überall genug. Aber darum sage ich es Ihnen, weil ich vorgestern mit Ihrem Vater in diesem Loche gestanden und nach dem Eismeer hier herübergeblickt habe, ohne die geringste Ahnung zu haben, daß ich heute mit Ihnen, seinem Sohn hier stehen und nach dem Loche im Eiger blicken würde. Und sehen Sie, meine Herrschaften, in solchem Zusammentreffen von Umständen liegt immer eine Lehre für mich, und diese Lehre besagt mir heute: man kann nie wissen, was einem für die nächsten Stunden vorbehalten ist, wo man stehen, was man sehen und erleben wird, und darum, meine Damen und Herren, wollen wir uns keine Minute länger hier aufhalten als nötig ist, sondern getrost unsern Weg nach dem Zäsenberg fortsetzen, der da drüben liegt, denn auch jetzt nehme ich noch kein Anzeichen wahr, daß das Wetter sich schnell ändern wird, und vielleicht – vielleicht sage ich – habe ich mich getäuscht, und wir kommen heute abend nach Grindelwald zurück, ohne einen Windstoß verspürt zu haben, der imstande wäre, dieser Dame ein Haar zu krümmen. Vorwärts also und behalten Sie noch das Seil um. Setzen Sie immer den Fuß ganz und fest auf und treten Sie stets dahin, wohin Sie uns unsere Sohlen setzen sehen! Vorwärts!«

*

So trat denn der Zug in der alten Ordnung, nur durch die Seile noch stärker aneinandergehalten, in mäßigem Schritt und in gerader Linie den Weg wieder an, wobei er nur dann und wann eine tiefere und breitere Spalte im Eise umging, aber zuletzt wieder die zuerst angegebene Richtung aufnahm, die der voranschreitende Gemsjäger um so leichter im Auge behielt, da sie sich mit den ziemlich parallel laufenden Spalten fast im rechten Winkel kreuzte. Im ganzen war dieser Weg kein beschwerlicher zu nennen. Zwar war das Eis an manchen Stellen sehr glatt und von den Sonnenstrahlen naß und schlüpfrig geworden, zwar galt es bisweilen einen Spalt zu überspringen oder um einen, mitten auf dem Eise liegenden Felsblock herumzuklettern, allein alle diese Schwierigkeiten waren erträglich und wurden von den Reisenden ohne Mühe überwunden. Da man bei alledem sehr aufmerksam auf jeden Schritt sein mußte, so sprach man wenig, nur die sich zunächst Gehenden wechselten bisweilen einige Worte oder riefen den hinter ihnen Kommenden eine Mahnung Michels zu, und nur einmal hatte Franz Marssen Gelegenheit, mit Miß Edda ein rasches Wort zu tauschen, als ihr der blaue Schleier, den sie vor das Gesicht gezogen, vom Barett abflog und von ihm aufgehoben und ihr mit schnellen Schritten zugetragen wurde. Sie sah ihn freundlich an und bedankte sich mit einigen Worten, Franz aber hielt sich nicht in ihrer Nähe auf, sondern wartete auf dem Punkte, wo er sie gesprochen, bis die Folgenden vorübergezogen waren und trat dann vor seinem Führer ein, um die alte Reihe wieder herzustellen.

Michel empfand große Freude über die Dauerhaftigkeit und Gewandtheit der ihm anvertrauten Dame und deren Freundin, auf die er auch zuweilen achtete. Beide schritten leicht und sicher über das glatte Eis hin, sie bedienten sich bei einem kurzen Sprunge ihrer Alpstöcke äußerst geschickt und waren immer bereit, den leisesten Andeutungen ihrer Führer auf der Stelle zu gehorchen.

Als man etwa die Mitte des Eismeeres erreicht, eben einige Minuten geruht und dann bei ungewöhnlich gutem Wege den Marsch wieder aufgenommen hatte, sagte Michel, indem er sich halb zu seiner Nachbarin umdrehte:

»So still habe ich es hier auf dem Eise noch nie getroffen, meine schöne Dame, und Sie müssen nicht denken, daß es immer so ist. Die Ruhe in der Luft ist merkwürdig. Wenn es so bleibt, haben Sie einen Genuß von der Reise, wie ihn selten Jemand hat.«

»Den habe ich schon jetzt und würde ihn auch haben, wenn es schlimmer werden sollte. Ich freue mich über alles, was ich sehe, und ich habe heute schon unendlich viel gesehen. O mein Gott, ja! Aber alles, was man uns von den Gefahren gesagt, denen wir entgegengingen, ist nur Fabel gewesen, lieber Mann, und ich habe selbst noch keine Strapaze kennen gelernt, die man mir auf jeden Schritt vorgespiegelt hat.«

Michel lachte, drehte sich herum und drohte ihr mit dem Finger. »Singen Sie nicht zu früh ihr Halleluja, meine liebe Dame,« sagte er, »denn es kann noch anders kommen. Ich wünsche es Ihnen freilich nicht. Aber was die Strapazen betrifft, so sehe ich allerdings, obgleich wir noch nicht die Hälfte unseres Tagemarsches zurückgelegt haben, daß ich Ihre Kräfte und Ihren guten Willen unterschätzt habe, als mir gestern abend der Maler sagte, es seien zwei Damen in der Gesellschaft, von denen er eine – das waren Sie – ganz besonders herausstrich. Na ja, der Mensch kann sich auch irren, und wie konnte man sich so ein paar Heldinnen vorstellen, wie ich in Ihnen gefunden habe. Mit Ihnen beiden und dem Maler wollt' ich auf den Eiger gehen, in das Loch da – aber mit den beiden anderen Herren da hinten gewiß nicht.«

»Warum nicht?« fragte Miß Edda, etwas vorsichtiger sprechend, um ihre Freundin nicht hören zu lassen, daß man von ihrem Bräutigam sprach. »Aber reden Sie leiser, ich höre doch.«

»Nun ja, der zärtliche Bräutigam ist ein Seemann, habe ich gehört, und auf flüssigem Wasser mag er ganz erprobt und tüchtig sein: auf gefrorenem aber ist er nichts wert, das versichere ich Ihnen. Er hat Angst, der kleine Mann, bei jedem Schritt, und als Fußgänger hält er es weder mit Ihnen noch mit seiner Allerliebsten aus. Das ist auch ein Wettermädel, wie Sie, bei Gott! Hm, ja, haben Sie wohl sein Gesicht betrachtet, als er auf den Gletscher stieg? Na ja, auf einen Blick hatt' ich's weg, daß er ein Angstmann ist. Und ebenso der kleine Ungar mit dem verteufelt schwarzen Bart. Zu Pferde sitzt er ganz gut und sieht wie ein Herr aus, das ist wahr, aber auf seinen Sohlen ist er kein zuverlässiger Mann. Ich habe ihn absichtlich ans Ende des Zuges gebracht, damit er seine Augen nur auf Dinge richtet, die ihn allein angehen.«

»Wie meinen Sie das? Worauf soll er denn sein Auge nicht richten?«

»O, was geht das mich an! Fragen Sie mich nicht danach, meine Antwort könnte Ihnen nicht gefallen, und mein Maul ist so gewachsen, daß es immer das spricht, was das Herz meint. Also still davon. Jetzt aber heben Sie die Augen auf. Da haben wir den Zäsenberg. Bemerken Sie wohl die grüne Matte dort, die unter den Sonnenstrahlen und mitten im Eise wie ein Smaragd in Silber glänzt? Haha, ja! der liebe Herrgott hat es seltsam mit diesem Stück Berg vorgehabt. Sehen Sie, er hat ihn mitten in das Eis gepflanzt, und der Mensch, der seinen Fuß überall hinsetzt, wo er nur Raum dazu findet, und der seine Hand überall hin ausstreckt, wo er was greifen kann, hat auch dort Posto gefaßt und sich eine Hütte erbaut, viele Meilen von allen Menschenwohnungen entfernt, in luftiger Höhe, von kalten Winden und Eisluft umwoben, die höchste Wohnung auf freiem Berge ringsum in der ganzen weiten Welt. Ist das nicht eine seltsame Geschichte?«

Michel hatte Recht mit dem, was er sagte. Denn es dürfte wohl keinen zweiten ähnlichen Weideplatz in der zivilisierten Welt geben. Ganz vom Eise des oberen Teiles des Grindelwaldgletschers umgeben, liegt ein niedriger Berg am Fuße der darüber emporragenden Walchehörner, und diesen Berg nennt man den Zäsenberg. Er ist ganz mit süßem, gewürzigem Grase bewachsen und bietet im kurzen Sommer für tausend Schafe Weide dar. Wie die Menschen, die ihn erreichen wollen, müssen auch die Schafe das Eismeer überschreiten, wenn sie die Weide aufsuchen und im Herbst nach Hause zurückkehren. Ein ähnlicher, kleinerer Berg, der Kalliberg, befindet sich in der Nähe und wird von Ziegen beweidet. Dieselben Hirten bedienen Schafe wie Ziegen, und täglich wandern sie hinüber und herüber, um die Milch über das Eismeer zu tragen und daraus in ihrer Hütte den Käse zu bereiten. Welch' ein Dienst, welch' ein Abgeschiedenheit von allem menschlichen Verkehr, welch' eine Lage in diesen wilden eisigen Hochregionen! Und doch finden sich die Menschen willig dazu, und sie sind ebenso glücklich wie andere, die in der Ebene wohnen und wenigstens einen ungefährdeten Genuß von dem Ertrage ihrer Mühen haben. Ist es nicht wunderbar, wozu der Mensch auf Erden zu gebrauchen ist und in welche seltsamen Lagen er sich zu schicken weiß?

Diesen einsamen, stillen, grünen Berg begrüßten jetzt Michel und seine Gefährten mit einem weit über das Eismeer hinschallenden Jauchzer, und alle ihre Begleiter richteten ihr Auge mit Erstaunen auf die abgelegene Hütte, die sie an der einen Seite des kleinen Hügels schon lange bemerkt hatten. Bald war man auch an den Rand des Gletschers gelangt, und ohne große Mühe, da es hier weder eine schroffe Eiswand, noch eine Schlucht gab, kletterte man hinab und betrat nach stundenlangem Marsche zum ersten Male wieder festen, trocknen Boden. Als nun die Reisenden, nachdem sie sich rasch von ihren Seilen gelöst, den Berg erstiegen und ihre Augen ringsum in die sie umstarrende Eiswüste richteten, da bot sich ihnen ein so reiches und ergreifendes Bild dar, wie sie es bisher noch nicht genossen hatten, obgleich es an Farbenglanz und Schimmer eher monoton als bunt zu nennen war.

Heiß brannte die gerade im Zenith stehende Mittagssonne auf diese kalten Regionen nieder, und die Zungen der Reisenden waren trocken geworden und sehnten sich nach der kühlen Milch, die ihnen in der Hütte der Hirten verheißen war. Aber noch geduldeten sie sich, denn vor der Hand war ihr Geist unwiderstehlich gefesselt und konnte sich sobald nicht von den Bilden losreißen, die sich in ungeahnter Fülle eins nach dem andern um sie her entwickelten.

Der lange, breite, sich sanft wölbende Rücken des Gletschers, über den sie so glücklich und rasch gekommen, bot ungeachtet der Öde und Verlassenheit, die über und um ihn ausgebreitet war, doch Abwechselung genug dar. Hier rauschten in der Tiefe klarblauer Schachten, wie in unterirdischen Brunnen, ewig sich vermehrende Wasserquellen, die einen Durchgang nach der Sohle des Gletschers und einen Ausweg aus dem eisigen Labyrinthe suchten; dort ließ sich der dumpfe Schall eines zusammenbrechenden Eispfeilers vernehmen, dessen einzelne Brocken klappernd von dem glatten Bergrücken hinunterrollten. Hier breitete sich ein blitzender, spiegelklarer Eishügel aus, dort öffnete sich, terassenförmig auseinander geborsten, eine tiefe Schlucht und wand sich wie eine kriechende Schlange in weit erkennbarer Krümmung von oben nach unten hin. O, was war da alles zu sehen und wie viel mehr war darüber noch zu empfinden! Denn es ist merkwürdig, wie laut und vernehmlich die warme Menschenbrust in solcher Öde und Abgeschiedenheit klopft und wie herzlich sie sich nach einer anderen, gleichbesaiteten sehnt! Klein und hülflos ist der Mensch im Vergleich mit der Kraft der Elemente, die in diesen Wildnissen mit tausend Gefahren drohen, aber er besiegt sie alle nacheinander mit seinem mächtigen Geiste. Nur seine Brust dehnt sich weiter aus, wenn er die Möglichkeit der Gefahr überschaut, und eine unbegreifliche Sehnsucht, an die Seite eines anderen Menschen zu treten, seine Hand zu drücken, bricht sich in ihm Bahn, wobei sein verklärtes Auge von unbeschreiblicher Freude glänzt und sein Herz von unbeschreiblicher Wonne überquillt.

Diese Empfindungen taten sich jetzt bei den verschiedenen Personen, die auf diesem seltsamen Erdenfleck versammelt waren, auf sehr verschiedene Weise kund. Während der Bräutigam, der eine neue Welt erobert zu haben glaubte, seine Braut und sie ihn, den Eroberer ihres Herzens, fest umschlungen hielt und nur der Ausdruck ihrer Gesichter die innere Gährung ihrer Gefühle verriet, sprudelte der bisher so schweigsame Ungar von Begeisterung über. Er stand auf einer Spitze der grünen Matte und deklamierte laut in seiner Muttersprache unverständliche, aber gewiß schwunghaft dithyrambische Lieder und dabei schaute sein schwarzes Auge mit wildem Entzücken in das vor ihm liegende schrecklich schöne Chaos hinein.

Nicht weit von ihm entfernt stand Franz Marssen in stiller sinniger Betrachtung des ungeheuren Eisstromes und sog trunkenen Blicks den ihm gebotenen Reichtum mit mächtigen Zügen ein. Auf der anderen Seite dagegen, neben ihrer Freundin, stand Miß Edda, mit der Rechten sich fest auf ihren Alpstock stützend, dessen scharfen Stachel sie tief in den Rasen gebohrt, ohne es selbst zu wissen. Die linke Hand hielt sie fest auf das laut schlagende Herz gedrückt und auch ihre Lippe war verstummt; in ihrem glühenden, mit Bewunderung gefüllten Auge aber glänzte eine stille Träne, die sie niemanden sehen lassen wollte, und die immer wieder von neuem hervordrang, so oft sie sie auch schon mit ihrem Tuche daraus entfernt hatte.

Nach einer Viertelstunde jedoch, nachdem sich alle wieder einander genähert hatten und imstande waren, einige ruhige Worte zu wechseln, kam Michel mit einem Hirten zu ihnen heran, den er bei den Schafen aufgesucht, und stellte ihnen den stillen Mann vor, der so einsam lebte und doch mit seinem Lose wunderbar zufrieden war.

»Meine Damen und Herren,« sagte der wackere Gemsjäger, »nun haben Sie, denke ich, fürs erste genug gesehen, und es dürfte Zeit sein, an die Stärkung Ihrer Kräfte zu denken. Michel, mein Namensvetter hier, will Ihnen Milch, Brot und Käse geben, und darum kommen Sie nach der Hütte hinunter, wo Sie sich ruhen können, denn Sie haben noch einen weiten Weg vor sich, und spätestens in einer Stunde müssen wir an den Aufbruch denken.«

Langsamer als sonst gehorchten ihm diesmal die fünf fremden Menschen, und fast immer noch schweigend schritten sie hinter ihm her, der von Steinblöcken erbauten Sennhütte zu, die wiederum auf einem Punkte lag, von wo aus man eine herrliche Aussicht auf die Walchehörner und den tiefer gelegenen Eisstrom genießen konnte.


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