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13. Der afrikanische Gott.

Erschien in der Cottaschen Monatsschrift: »Der Greif«, 1. Jahrgang, Heft 9, Juni 1914.

(1913.)

Kulturkritik; unsere Torheit und Unwissenheit. – Fetischismus! – Die äthiopische Religiosität. – Die atlantische Götterlehre. – Europas Pflicht.

 

Jede Erscheinungsform der Menschheit, jeden Kulturtypus kann man an seinen Göttern erkennen. Aber die Götter wirklich erkennen, ist eine Kunst. Und es ist deshalb eine Kunst, weil der Mensch nicht etwa seine Götter aus dem Nichts schuf, sondern aus dem Leben, welches das ihn umgebende Erdreich atmet.

Es ist für den Kulturhistoriker eine erquickende Arbeit, zu verfolgen, wie die verschiedenen Zeitalter gleiche Götterwelten beurteilt haben. Man denke allein nur daran, wie die griechische, die dem deutschen Volke nun einmal am besten bekannte Götterwelt in den verschiedenen Jahrhunderten eingeschätzt wurde. Bald als das eigentliche Bild der klassischen Größe, bald als ein heidnisches Gemengsel, bald als eine poetische Pracht, bald als ein phantastisches Gewirr. Heute, wo wir uns auf die Thesen der mythologischen Wissenschaft stützen, ist es schwierig zu rekonstruieren, wie bunt und verschiedenartig unsere nordeuropäischen Auffassungsformen hinsichtlich der griechischen Götterwelt gewesen sind. Es ist eben genau dasselbe wie die Beurteilung der Griechen, die wir Nordischen nicht immer als klassische Vorbilder der Menschheit erachtet haben. Es hat also Zeiten gegeben, in denen man eben hinsichtlich der Götterwelt nur das Griechische schätzte und verstand. Diese Zeiten sind nun gottlob vorüber; denn seit einigen Jahrzehnten drängt die nordische Götterwelt, die unserem Verständnis eigentlich am nächsten stehen sollte, sich mehr und mehr hervor, und das Auge gewöhnt sich daran, auch auf entfernteren Teilen der Erde Kulturtypen und Göttergestalten wahrzunehmen und zu verstehen. Allerdings ist dieses Verständnis noch recht mangelhaft und wenig fruchtbar. Es gibt immer noch den wundervoll großen Papierkorb der Geistesarmut, an dem seit uralten Zeiten das schöne Wort »Heiden« steht. Und in diesen redaktionellen Papierkorb der lehrenden und belehrenden Geisteswissenschaften wandern immer noch die größten Massen der nach Europa einlaufenden Nachrichten über uns Fernerstehende. Zwar maßen wir Europäer uns an, derzeit die illustren Spitzen und Leiter der Erde zu sein; zwar maßen wir uns ohne Vorbehalt Urteilsfähigkeit nach jeder Richtung an, aber im Grunde genommen sind wir doch immer nur die armen Tröpfe von Menschen, die wir Menschen seit Urzeiten gewesen sind, und immer noch stellen wir uns als die Helden und Träger der derzeitigen Menschheitsgröße schroff den andern gegenüber, die für uns nur Barbaren sind und deren Produkte mehr oder weniger obligativ in den oben erwähnten Papierkorb wandern. Diese Anmaßung ist lächerlich! Denn wir wollen die Welt beherrschen, d. h. also alle anderen Völker unserer Kultur dienstbar machen; aber wir sind immer noch töricht genug zu glauben, diese Dienstbarkeit allein durch brutale Anwendung der Macht unseres geistigen Uebergewichts erobern zu können.

Nun ist aber Dienstbarkeit ohne gegenseitiges Verständnis im Grunde genommen nichts weiter als Sklaverei – Sklaverei, zu der man nicht immer nur die Peitsche, sondern geradesogut auch sehr moralisch aussehende Gesetzes-Paragraphen und -Verordnungen verwenden kann. Sehr gut möglich, daß man mir diesen Satz verübeln möchte und daß man mir entgegenhält, daß die europäischen Großmächte doch alles tun, um die Brutalitäten und Sklavereigeschäfte der höher Kultivierten gegen die niederen, einfacheren Menschen zu verhindern. Und ich muß ohne weiteres zugeben, daß man darin außerordentlich weit geht. So hat z. B. eine europäische Großmacht vor einigen Jahren für eine ihrer afrikanischen Kolonien das Gesetz erlassen, die Eingeborenen dürften nicht mehr veranlaßt werden, ihre Lasten auf den Köpfen zu tragen; denn die Köpfe wären der edelste Teil des Menschen. Wenn ich nun aber diese Gesetzgeber fragen würde, was denn in diesen Köpfen an religiösen Vorstellungen lebt, so würden diese Herren – und sie würden nicht nur, sondern sie haben es auch getan – mir antworten: »der Fetischismus!« Und fragt man dann weiter, was denn Fetischismus sei, so würden sie sagen – und sie würden nicht nur sagen, sondern sie haben gesagt: »ein wirres Durcheinander unzusammenhängender Aeußerungen des Aberglaubens«. –

In der letzten Antwort liegt der Beweis für das, was ich am Anfang des vorigen Absatzes sagte. Die Dienstbarkeit, unter die andere Völker gezwungen werden, ist nichts weiter als eine, wenn auch abgeschwächte Form der Sklaverei; denn jede höhere Dienstbarkeit beruht auf gegenseitigem Verständnis, und wenn ich beim leitenden Menschen kein Verständnis für das Innenleben des ihm Dienenden vorfinde, so bleibt eben die Dienstbarkeit eine Form der geistigen Vergewaltigung; denn der Tief erstehende kann selbstverständlich den Höherstehenden gar nicht wirklich begreifen, wenn das Verständnis des Höherstehenden der Anforderung an das Begriffsvermögen des Niederen nicht vorangeht.

Es ist merkwürdig, wie sich die Menschheit auch heute noch über diesen Punkt im unklaren ist. Es ist geradezu ungeheuerlich, wie oberflächlich auch die modernen Kulturvölker diesen durchaus nicht nur theoretisch interessanten, sondern praktisch ungemein wertvollen Problemen gegenüberstehen. Für uns repräsentieren z. B. bei dem modernsten Kolonial-Erdteil Afrika die Menschen – schlechtweg Neger genannt – den wertvollsten Teil des Kolonialbesitzes. Man kann Diamanten und Gold finden – ach wie schnell sind diese Kapitalien immer abgebaut, und wie wenig Glück haben sie sowohl den alten Bewohnern wie den neuen Kolonisatoren gebracht! – und man wird arm bleiben, geistig arm!

Aber man kann Plantagen anlegen, Felder bauen, Farmen gründen und verwächst so mit der Erde; man kann derart von den Kapitalien, die diese Kulturanlagen darstellen, Zinsen nehmen, und diese Zinsen werden den Menschen das wahre Glück bringen; denn es sind die Zinsen der Erde, der Arbeit, die stets ein höheres Gut der Menschheit war als Spekulationen und Gold-Abbau. Und diese Arbeit, diese notwendigste Tätigkeit des Menschen, dieses Sichanklammern an die Mutter Erde, das ist in diesen Ländern Afrikas nicht möglich ohne die Hilfskräfte, die die Eingeborenen, Ansässigen, Sonne und Regen vertragenden Menschen bieten. Man wird das Afrika zwischen den Wendekreisen nicht anders erobern und kolonisieren können als mit Hilfe dieser Neger – genau ebensowenig wie große Striche Amerikas, wohin man die wertvolle schwarze Menschenkraft einst erst eingeführt hat.

Und was haben wir noch bis vor einem Jahrzehnt in Afrika, in diesem neuesten und anscheinend aussichtsreichsten Kolonialgebiete unserer europäischen Kultur, getan? Alle möglichen Expeditionen wurden hingesandt für Kautschuk-Untersuchung, für Bergbau, für Baumwolle usw., für alle materiellen Kulturprodukte des Erdteils. Aber die Hilfskräfte untersuchen, die diese Schätze heben helfen mußten – die Negerseelen, die Arbeiterkraft, das wertvollste Instrument unseres Kolonialwillens, zu prüfen und zu erkennen, das wollte niemand unternehmen. Das galt als reine Wissenschaft, die keinen praktischen Nutzen hat. Schlägt man die Akten europäischen Wissens hinsichtlich der afrikanischen schwarzen Geisteskräfte vom Status des Jahres 1900 nach, so kann man erschrecken über den armseligen Wert des Inhalts! Wahrhaftig, es war ein schweres Stück Arbeit, diese trostlose Gleichgültigkeit zu überwinden.

*

An ihren Göttern könnt ihr alle Kulturtypen der Menschheit erkennen, und jeden Kultur- und Naturtypus des Menschen, den wir uns in einem höheren Sinne dienstbar machen wollen, den müssen wir verstehen. Bin Verständnis für den Neger und für das, was er dachte, wollte, was ihm heilig war, was für ihn ein Gesetz nach höchsten Gesichtspunkten bedeutete, das hatten wir im Grunde genommen nicht. Es gab allerdings zwei Antworten, welche die Literatur in Hunderten und Aberhunderten von Beispielen auf die Frage nach dem Gottesbegriff der Neger bietet. Die eine Antwort war die, daß die Neger zwar einen Gottesbegriff hätten, daß dieser Gott aber viel zu hoch und zu gleichgültig und zu entfernt sei, um irgendwie eine Bedeutung zu haben, ein Opfer zu verdienen oder irgendwie diesseits beachtet zu werden. – Die andere Antwort lautet: »Die Religion des Negers ist der Fetischismus!«

Der »Fetischismus« ist einer der schlimmsten Artikel europäischen Exportes, eines der gemeinsten Geschenke und Tauschartikel europäischen Krämergeistes, gewidmet im speziellen den Produkten des afrikanischen Sklavenhandels. Der Begriff des Fetischismus ist eine der größten Blamagen, die die europäische Kolonialpolitik des Mittelalters sich geleistet hat. Mit diesem Sklavenhandel war bekanntlich eine der angenehmsten Einnahmen europäischer Kolonialpolitik älterer Zeit geboten. Selbstverständlich war es nicht gerade durchaus christlich, andere Menschen zu verhandeln, und das empfanden die alten Herren Großkaufleute ja auch. Wenn die Neger irgendwie angesehen worden wären als höher stehende Menschen, dann hätte das doch einige moralische Bedenken erweckt. Deshalb war es besser, diese Exportware, genannt Neger, von vornherein als minderwertiges Produkt hinzustellen, so daß man seine moralischen Gefühle nicht so haarscharf abzuzählen brauchte! Und das einfache Rezept zur Abschwächung des Produktenwertes in geistiger Hinsicht war die gemeine Herabminderung zu niederen Wesen. Dafür erfand man eben dann den Fetischismus. Man sagte damit, daß diese Menschen ja eigentlich gar nicht richtige Menschen seien, daß sie gar keine höhere Anschauung hätten, daß sie als ganz primitive und ganz niedrige Individuen ganz nahe den Tieren ständen, daß sie unfähig seien, etwas Höheres zu denken und zu verstehen, daß sie eben nur ganz gemein und in einem der damals regierenden Kirche sehr widrigen Aberglauben hinvegetierten. Man sagte deshalb, sie verehrten nur ganz materielle Dinge: Steine und Bäume; man sagte, sie übten die schrecklichsten Ordalien; die scheußlichsten Grausamkeiten würden von ihnen begangen; sie zerfleischten sich selbst wie die wilden Tiere. Man malte unter dem Begriff des Fetischismus eine Anschauungswelt, die im höchsten Grade betrübend und unbedingt tief erniedrigend war. Man scheute sich damals an höchster Stelle nicht, dieser doch recht gemeinen Herabminderung eines großen Teiles der Menschheit die Krone aufzusetzen, indem man diese schwarze Menschenware »veredelte«. Es gab nämlich eine Verfügung des Papstes, derzufolge keine Heiden aus Afrika nach Amerika exportiert werden durften. Diese Klippe umging man im alten Kongogebiet in der Weise, daß man das mit Sklaven gefüllte Schiff am Ufer unter einem Felsen halten ließ, wobei dann der Bischof mit Weihwasser herantrat und die Fracht durch den alleinseligmachenden Segen zu Christen erhob. – So tief hat das europäische ethische Barometer einmal gestanden!

Also der Fetischismus stammt aus der Zeit des Sklavenhandels und aus der Periode, in der wir Europäer diese Menschen lediglich als diensttuende Barbaren behandelten. Der Sklavenhandel ist inzwischen längst aufgehoben worden. Der Begriff des Fetischismus ist bestehen geblieben. Und der Begriff des Fetischismus hat sich in Afrika nicht nur bei den kritisierenden und abschätzenden Europäern, sondern an den Küsten auch bei den Eingeborenen festgesetzt. Wenn der Meister seine Zöglinge immer nur andonnert und ihnen jahraus jahrein klar macht: »Ihr seid ganz gemeine Patrone!« – so werden die Zöglinge das nach einigen Jahren glauben. Man hat den Negern an der Küste so vieles über den Fetischismus gesagt, daß sie selbst heute schon zerfallen in »Christen«, das sind solche, die getauft sind, und in Fetischisten, das sind solche, die sich im Grunde genommen doch recht klein und primitiv gegenüber ihren veredelten Stammesgenossen fühlen. Man hat mit dieser ewigen Lehre des Fetischismus den Menschen die Achtung vor sich selbst und vor allen Dingen vor ihren Göttern, den Glauben an einen Zusammenhang einer Weltanschauung vollständig geraubt. – Das ist die Form des afrikanischen Gottes, die wir Europäer geschaffen haben.

Wie gesagt: bis vor wenig mehr als einem Jahrzehnt hat der Europäer mit ganz geringen Ausnahmen dem Afrikaner nichts anderes zugetraut als zusammenhanglosen Fetischismus, mehr oder weniger brutalen Manismus (Ahnenverehrung) und ganz vage, unklare Vorstellungen von einem viel zu fernen, viel zu fremden, viel zu gleichgültigen Gotte. Und wir Europäer, die wir jene Menschen erziehen und verwenden wollten, wir hatten zwar die afrikanischen Käfer und Vögel, die Pflanzen, Erdformen, Flüsse, Felsen usw. ganz hübsch so weit erforscht, daß man ganz großartig davon reden hörte, es wäre in Afrika nichts Wesentliches mehr zu entdecken; – aber von jenen Gütern, die in den schwarzen Menschen lebten, von jenen Geistern, die als höhere, eingeborene Wesen die afrikanische Kultur regierten, davon wußte man nichts. Die ureingeborenen afrikanischen Götter harrten noch ihrer Entdeckung.

*

Die Erkenntnis, die allmähliche Aufdeckung afrikanischer Göttersysteme, von denen nun mehrere schon recht klar und durchsichtig unserem Verständnis zugänglich sind, weichen von einander sehr stark ab. An sich ist das selbstverständlich. Früher hat man den Afrikanern überhaupt jede Kulturgeschichte und jede größere Variabilität der Kulturentfaltung abgesprochen. Ich habe im Laufe der Jahre nachweisen können, daß dies ein schwerer Irrtum ist und daß die afrikanischen Kulturformen nach mancher Richtung sogar historisch feststellbare große Verschiedenheiten und genetische Differenzen zeigen. Diesen verschiedenen Kulturströmungen und Fundamenten müssen selbstverständlich auch verschiedene Göttersysteme entsprechen.

Ich habe diesen Darstellungen die Anschauung zugrunde gelegt, daß die Götter- oder Gottwelt eines Volkes dem allgemeinen Kulturzustande, in dem es lebt, entsprechen müsse. Und ich möchte von diesem Kulturzustande ganz kurz zwei verschiedene Typen schildern und so aus der größeren Reihe von Systemen, die wir inzwischen aufgedeckt haben, zwei wesentliche Beispiele herausgreifen. Ich stelle dabei zwei stark von einander abweichende Kultur- und Göttersysteme einander gegenüber und werde an der Hand des einen dann zeigen, welche große Bedeutung derartige Aufschlüsse und Erkenntnisse für uns nicht nur im theoretischen, sondern auch im praktischen Sinne haben. Die beiden Völker- und Kulturtypen, um die es sich hier handeln soll, sind die denkbar verschiedensten unter den ausgereift typischen der afrikanischen äquatorialen Erde. Der eine Typus, von dem ich spreche, ist der atlantische, der an der Westküste heimisch ist, der andere der äthiopische, der das Inland besiedelt. Und da der letztere der einfachere, der schlichtere, der organisch verständlichere ist, so beginne ich mit dessen Skizzierung.

Quer durch den Sudan, jenes südlich von der Sahara von Abessinien bis zum Senegal sich erstreckende Land – ein Land, das sich durch die außerordentlich ebenmäßige Verteilung von Hochebene und Hügelländern auszeichnet –, zieht sich eine doppelte Bevölkerungsschicht, die nach geographischen Gesetzen getrennt lebt. Auf den Ebenen, an den natürlichen Straßen, in großen Flächen wohnen staatenbildende Völker, welche Reiche schufen und bedeutende Machteinheiten repräsentieren. Dagegen hausen auf den Hügeln, in abgelegenen Bergländern, in unzugänglichen Morastgebieten, auf schwer erreichbaren Inseln usw. allerhand kleine Völkchen, die die europäischen Forschungsreisenden zu allen Zeiten durch einige bemerkenswerte Eigentümlichkeiten interessierten. Diese Völker sind fast durchgehend nackt. Sie wohnen fast überall durchaus zersplittert in kleinen Gemeinden, die untereinander die häufigsten Kriege führten. Sie wurden überall deswegen von den staatenbildenden Völkern unentwegt mit Krieg überzogen und lieferten so den größten Teil der nach Europa und dem Orient exportierten Sklavenware. Die Forschungsreisenden merkten an ihnen nur ein Auffallendes, daß sie nämlich recht gute Farmbauern waren. Die staatenbildenden Völker entwarfen von diesen Manschen und ihrem Sittenleben oft recht traurige Bilder, und man hat sie deswegen lange Zeit zu den primitivsten unter den primitiven Afrikanern gerechnet. Ich habe nun diese Völker in Senegambien, in Togo, im Nigergebiet, in Nigerien, in Nordkamerun und am Nil näher kennen gelernt und habe gefunden, daß sie die feinfühligsten und sittlichsten, religiösesten und keuschesten Menschen sind, die ich überhaupt kenne – und ich bin mir bei diesem Urteile durchaus bewußt, daß ich mit dieser höchsten Anerkennung sehr leicht gewisser europäischer Sentimentalität Tor und Tür öffne. Trotzdem muß ich bei diesem Urteil bleiben.

Das Innenleben dieser Menschen ist ein sehr erstaunliches. Sie sind über alle Maßen naiv und sittsam. Sie sind in einer Weise gläubig und überzeugt von der Tiefe und Folgerichtigkeit ihrer Anschauungen, daß man als skeptischer Europäer verblüfft vor einer derartigen Tatsache steht.

Das Fundament des Lebens dieser Menschen beruht im Farmbau. Und zwar ehren sie ganz besonders das Sorghumkorn, welches für Bier und Brei das Mehl liefert. Sie gliedern dementsprechend ihr Jahr nach den Perioden der Saat und nach den Perioden der Ernte. Sie verehren die Erde, der sie das Saatkorn anvertrauen und der sie die Ernte verdanken, auf das höchste Die Verehrung des Erdbodens geht um so weiter, als sie in gewissem Sinne die großen Züge des Menschenlebens mit diesem Farmbau in Verbindung bringen und indem sie sich bewußt sind, daß sie den abgestorbenen menschlichen Leib derselben heiligen Mutter Erde anvertrauen wie ihr Saatkorn. Sie gehen in der Konservierung dieser Anschauung so weit, daß sie das Menschenschicksal mit dem des Kornes sympathisch verbinden. Sie betrachten den Menschen als einen ebenso Wiederkehrenden, wie für sie das Saatkorn etwas Wiederkehrendes ist. Und wie die Erde das Saatkorn hundertfältig in der Staude wieder hervorbringt, so glauben sie auch den Menschen in der Wiedergeburt aus dem Mutterschoße wieder entstehend.

Diese Anschauungsgrundlage regelt ihre religiösen Feste. Das Schneiden des Kornes im Herbste ist ein großes Fest, welches der Priester einleitet und welches auch außerordentlich bedeutsam wird für die Gemeinde als solche, indem die Menschen selbst in der Beschneidung ein Opfer der Mutter Erde darbringen. Das größte Opfer aber, welches sie dem Dasein spenden können, das ist ein von den Menschen selbst geheiligtes Gesetz. Sie erwählen zu diesem Zwecke aus einer angesehenen Familie ein hervorragendes Mitglied, welches sie, der Periode ihrer heiligen Feste entsprechend, an einigen Orten nach je sieben, an anderen nach je zwölf Jahren usw. als Opfer darbringen. Solche Opfergliederung zieht sich durch den Kultus dieser sämtlichen Völker mehr oder weniger ausgesprochen und guterhalten hin.

Wenn wir die Religion, die aus diesen Fundamenten mit unendlich feinen und zierlichen Gliederungen emporwächst, mit irgend einer Religion der Erde in Zusammenhang und Vergleich bringen wollen, so können wir von allen Beispielen lediglich den dionysischen Kultus heranziehen. Dies entspricht auch durchaus den Nachrichten, die die alten Schriftsteller wie Herodot und Diodor uns hinterlassen haben. An den Stellen nämlich, an denen sie von den am oberen Nil wohnenden Äthiopen sprechen, erklären sie, daß diese einen unbekannten und namenlosen Gott hätten, welcher identisch sei mit dem ägyptischen Osiris und mit dem kleinasiatischen Dionysos, welche beide ja auch den jährlichen Untergang und die Wiederauferstehung der Vegetation repräsentierten. Während nun aber der thrakisch-phrygische Dionysosdienst mehr und mehr in Bacchanalien ausartete, blieb die äthiopische Religion der innerafrikanischen Sudanbewohner von diesem Auswuchse frei. Die Fundamente blieben schlicht, ja sie sind an vielen Stellen sogar unter dem Einflusse der gewalthabenden Staatenbildner verkümmert. Daß nach dem Grundgesetze dieser Religion das Familienleben und die Familienvermehrung einen bedeutsamen Teil der Weltanschauung ausmachten, ist selbstverständlich, und für die Reinheit des religiösen Lebens spricht das im Sudan fast sprichwörtliche sittliche und keusche Familienleben der Äthiopen. Die Gottheit selbst schlummert mehr oder weniger bewußt in der Erde. In einer Grube in der Erde werden die heiligen Opfer dargebracht, genau wie ja auch das Saatkorn in die Erde gelegt und der Leib des abgestorbenen Menschen dem Erdboden anvertraut wird. Man kann sagen, daß diese Gottheit mehr die Vorstellung einer Kraft und demnach heute noch, genau wie zu Zeiten des alten Herodot, eine namenlose und unbekannte ist.

Dies ist eine ganz kurze Skizze der Tatsache, für die ich im dritten Bande meiner afrikanischen Dokumentensammlung »Und Afrika sprach.« Berlin 1913. so viele Beispiele erbracht habe, daß der Mehrinteressierte sich an den dort gegebenen Daten weiter orientieren kann. Das, was nun aber an dieser Religion und an diesem echt afrikanischen Gotte am meisten auffällt, ist bei aller Einheitlichkeit der ausgesprochene Mangel an Personifikation – eine Tatsache, die mir weniger primitiv als außerordentlich hoch erhaben erscheint. Das zweite, was mir so sehr bedeutungsvoll ist, beruht in der strengen und absolut klaren Organisation des Innenlebens, das durchaus materialistisch und ein Spiegelbild des Außen- und Tageslebens ist.

Der Bauer, der emsig sein Korn baut, pflegt diese Verehrung der Gotteskraft, die ihm das Korn gibt. Seine Tätigkeit spiegelt sich aber auch in seinem Familienleben wie in seinem religiösen Systeme, und ich stelle fest, daß alle diese Menschen, soweit sie unberührt sind, mit Ausnahme ihrer Geräuschinstrumente, mit denen sie den Kultus üben, mit Ausnahme weniger der Vorstellung der Form entsprechender Gegenstände nicht ein einziges Amulett und in ihrer einfachsten Form nicht eine einzige Darstellung ihres Gottes besitzen! – Sie haben kein Amulett, sie haben kein Gottesbild, sie haben eine organische, mit dem Alltagsleben klar verbundene Religion, sie haben eine tiefgründige Ueberzeugung von einer gewaltigen Gotteskraft – wahrhaftig, es sind in dieser Einfachheit geradezu großartige Menschen. Und wie erhaben über manchen von uns so hoch erhobenen Gottesbegriff und manches Göttersystem steht dieser afrikanische Gott da!

Wunderbar, daß diese Entdeckung erst vor wenigen Jahren gelang. Wieviel wesentlicher und bedeutsamer ist diese Erscheinung für uns Kolonisatoren, die wir jene Menschen brauchen und verstehen müssen, um sie verwenden zu können, als die Entdeckung großenteils unverwendbarer Flußläufe, Tiere und Pflanzen.

*

Nun aber die anderen, die gewissermaßen entgegengesetzten, die bis zum Aeußersten in ihrer Art verfeinerten, entwickelten Atlanten.

An der Westküste Afrikas, wenig südlich von Senegambien beginnend und im südlichen Angola endigend, ist eine Kette alter Ansiedlungen ohne Schwierigkeit nachweisbar. Der Farmbauer stößt hier von Zeit zu Zeit auf alte Gräber, in denen er eigentümliche Perlen, Terrakotten, Bronzen, Steine und archaische Schmuckgegenstände findet, alles Dinge, die aus einer uralten Kulturperiode stammen müssen. Allein diese Funde schon legen den Gedanken nahe, daß hier einmal Kolonisationen stattgefunden haben, die etwa denjenigen des europäischen ausklingenden Mittelalters entsprechen, Kolonisationen, wie sie die Holländer, Portugiesen, Dänen und Preußen hie und da zu Handelszwecken unternahmen. Dem geographischen Bilde dieser Funde entsprechen die heute noch erhaltenen und lebendigen Kultursymptome der dort ansässigen Menschen. Besonders im Jorubalande, dem Gebiete westlich der Nigermündung, können wir solche archäologischen Fundstätten und ethnologisch eigenartigen Menschheitsgruppen nachweisen. Als alte Kolonisatoren der Küste des Atlantischen Ozeans habe ich diese Kulturgruppen auf den Namen »atlantische« getauft.

Wer den äthiopischen Typus kennt, wer es gesehen hat, wie zersplittert diese kleinen Stämmchen in einfachen Häusern gemeindeweise in anscheinend großer Armut ohne allen Kulturluxus leben, der kann sich kaum einen größeren Gegensatz auf afrikanischem Boden vorstellen als den, den diesen Äthiopen gegenüber die Atlanten in ihrem äußeren Kulturreichtum darstellen. Weit ausgedehnte Bauerngehöfte, mächtig aufragende Gebäude, große Städte, die bis 200 000 Einwohner zählen, Straßennetze, politisch differenzierte Organisationen, die Menschen gekleidet in lange, wallende Gewänder, die Männer einherschreitend in der Tunika, dazu in ihrem Gebaren nichts von dem scheuen, bescheidenen, stillen Wesen der Bergbewohner des Inlandes, sondern energisch, bewußt, klug, raffiniert auftretend, in den Städten blühendes Handwerk, allenthalben emsiges Markttreiben – mit einem Worte das Bild einer alten, reichen, feingegliederten, üppigen Kultur.

Und es wundert uns nicht, in diesem Zusammenhang hie und da an großen Marktplätzen, vor allen Dingen aber in jedem großen Gehöfte einen heiligen Raum zu finden, in dem ein Altar steht, und auf dem Altare allerhand Bilder aus Holz geschnitzt, allerhand Gefäße, eigentümlich geformtes Gerät, darüber gedeckt vielleicht Tempelvorhänge, Blasinstrumente, augenscheinlich dem Kultus bestimmt, Opferschalen, Masken, kurz gesagt, ein mehr oder weniger wirres Durcheinander aller derjenigen Dinge, die in vielen Katalogen europäischer, auch zum Teil wissenschaftlicher Museen als »Fetische« bezeichnet werden.

Wenn irgendwo nach dem Zeugnis der Missionare, die es eigentlich am besten wissen sollten, der sogenannte »Fetischismus« blüht, dann ist dies in dem Jorubalande der Fall. Indem ich nun im nachfolgenden kurz die Religion dieser Leute skizziere, ist es eine Forderung der Gerechtigkeit, darauf hinzuweisen, daß ich nicht der erste bin, welcher erkannte, daß es sich in diesem jorubischen Tempel-, Altar- und Bilderwesen nicht um eine stumpfsinnige Sache handle. Vielmehr hat der Engländer A. W. Ellis gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hier die ersten wesentlichen Wahrnehmungen gemacht, welche schon jeden Völkerkundigen hätten ahnen lassen müssen, daß bei diesem Volke das Grundgerippe eines alten Systems höherer Bedeutung aufgedeckt werden kann. Was wir dann fanden, übertraf nun allerdings alle unsere Hoffnungen. Denn ich stehe keinen Augenblick an zu behaupten, daß unter allen polytheistischen Religionssystemen der Welt das jorubische das am klarsten erhaltene, organisch bestkonservierte ist, welches wir kennen. Da, wo im Altertume polytheistische Religionen geographisch nebeneinander in der Ausbreitungstendenz vorwärtsstrebten, war es nämlich selbstverständlich, daß im friedlichen oder kriegerischen Verkehr das eine Volk vom anderen diesen oder jenen Gott übernahm. So hatten z. B. zuletzt im Scheitelpunkte der polytheistischen vorchristlichen Entwicklung in Rom Götter von jeder größeren Völkergruppe des Mittelmeerrandes Aufnahme gefunden. Dadurch entstand eine große Verwirrung. Ursprünglich genetisch gleiche Götter zerfielen in Varianten. Die divergierenden Gotteserscheinungen wurden verschmolzen. Von solcher Verwirrung ist das Gottessystem der Joruba so gut wie ganz frei geblieben. Und zwar dies augenscheinlich infolge der Abgelegenheit und Unerreichbarkeit des jorubischen Gebietes.

Die polytheistische Götterwelt dieser Atlanten ist klar gegliedert. In den sechzehn Himmelsrichtungen wohnten vordem die sechzehn Hauptgötter. In ihrer Abzweigung entstand eine Reihe unwesentlicherer Kleingliederungen. Jeder Hauptgott hat seine Farbe, entsprechend der Farbe der Himmelsgegend, in der er heimisch ist. Jeder Gott hat seinen speziellen Beruf im Naturaufbau der Welt. Es ist da ein Himmelsgott, eine Erdgöttin, ein Mondgott, ein Sonnengott, Gewittergott usw. Jeder Gott hat sein Speiseverbot, d. h. gewisse Dinge, die ihm widrig sind.

Das Wesentliche im Gesetz beruht nun darin, daß jeder Gott auf der Erde seine Nachkommenschaft hat und daß jeder Mensch aus einer derartigen Götterfamilie hervorgegangen ist, weshalb er als Schutzpatron jenen Gott verehrt, der sein Ahnherr ist, dessen Speiseverbote er einhält, dem er auf dem Altar seines Hauses die Opfer darbringt, den er im Bilde verehrt und dessen Symbole bei den Umzügen und festlichen Veranstaltungen eine dem Sinn und Wesen des Gottes entsprechende Rolle spielen. Diese göttliche Abstammung der Menschen gliedert das Atlantenvolk; außer dem im Hause den Dienst verrichtenden Familienmitgliede hat der Gott noch seine Priester. Und an diese Priester wendet sich derjenige, der von einem anderen Gotte eine Sache benötigt, die in dessen Machtbereich gehört. Wenn z. B. ein Mann aus dem Geschlechte des Sonnengottes mit einem Gewitterschaden zu rechnen hat, so wendet er sich an den Priester des Gewittergottes. Auf diese Weise hat jeder einzelne seinen angestammten Gott, das ganze Volk aber sein Göttersystem.

Das Ganze ist von einer erstaunlichen Klarheit. Die Organisation ist durchsichtig und konsequent. Es ist nichts Fremdes zugetan, und es ist auch wenig Altes verloren gegangen. Wir stehen hier vor einer Tatsache, die uns die Vollentwicklung der alten, klassischen Göttersysteme in einem lebenden Beispiel erhalten zeigt.

Zwei Beispiele habe ich aus dem Bereich der afrikanischen Göttersysteme herausgegriffen. Und nun zum Schlüsse stelle ich mir die Frage: Wie sieht der afrikanische Gott aus?

Ich habe bei den nicht von Europäern verdorbenen Völkern nichts finden können, was auch nur im entferntesten einem stumpfsinnigen Fetischismus gleichkäme. Der afrikanische Gott ist ein klarer, reiner, an Ort und Stelle in das materielle Leben exakt eingefügter, den Bedürfnissen des materiellen Lebens durchaus entsprechender Gott. Der afrikanische Gott ist ein das Seelenleben seiner Kinder durchaus ausfüllender und befriedigender. Der afrikanische Gott ist ein uralter, ein mit dem Boden verwachsener, ein dem Boden entsprechender, ein dem unbeirrten Volke genügender.

*

An ihren Göttern könnt ihr die Menschen erkennen. Diese zwischen den Wendekreisen lebenden Menschen des äquatorialen Afrika waren vor der europäischen und vor der arabischen Invasion in sich berechtigte, in sich genügende, ihren Verhältnissen entsprechend durchaus würdige Menschen. Europa hat kein Recht dazu, diese Menschen als minderwertige, als – immer ihren Verhältnissen entsprechend – minder begabte hinzustellen. Die Menschen, die solche Götter hatten, waren in ihrer Weise geschlossener, einheitlicher und in dieser Einheitlichkeit wesentlichere Typen als jene kulturellen Mischprodukte, zu denen wir europäischen Kolonisatoren sie zunächst machten. Diese Erkenntnis ist aber für uns von großem Werte. Wir gewinnen mit ihr einen Maßstab. Wir erhalten durch diesen Maßstab die Möglichkeit, das Unrecht, das wir diesen Leuten in früheren Jahrhunderten angetan haben, an den Enkeln wieder gut zu machen.

Die modernen Bestrebungen besonders unserer deutschen Regierung, diese Menschen ebenso würdig und ernsthaft zu untersuchen wie Kautschuk und Baumwolle, dürfen infolgedessen als sehr glücklich, als sehr bedeutsam und als sicherlich ergebnisreich bezeichnet werden. Wir haben jetzt einen Fehler erkannt, den wir Europäer früher an diesen Menschen begingen, und diese Erkenntnis führt uns auch auf dem Wege der Menschheitserziehung sicherlich zu einem würdigeren Resultat als die Brutalisierung der Fetischisten früherer Zeiten. Der afrikanische Gott hat nun aber noch eine Eigentümlichkeit, die von allergrößter Bedeutung ist. Der afrikanische Gott ist der konservativste unter allen mir bekannt gewordenen Göttern der Erde. Wie das System der Aethiopen und Atlanten aus einer uralten Zeit herüberragt und rein erhalten ist, so ist auch diese Menschheit in ihrem Wesen und ihrer Kultur nicht ein kümmerlicher Rest stehengebliebener atrophierter Altertümlichkeit, sondern ein unter dem Wesenszuge Afrikas stehendes edles Monument. Was auch nach Afrika hineingeschleudert oder gedrängt wurde an Kultur, blieb ohne ausgesprochenen Wandel bestehen. Während in Asien und Europa die Kulturformen sich übereinander zogen, aneinander drängten, aneinander abschliffen und sich so modifizierten und vermischten, während der kulturelle Wirrwarr des Nordens in seinem Vorwärtsdrängen zu einem Zusammenfließen vieler Kräfte unter Verwischung ursprünglicher Formen auswuchs, blieben alle Erscheinungen in Afrika konservativ bis ins Mark.

Und dieses Gesetz, das wir gerade dem afrikanischen Gotte so gut ablauschen können, dies Gesetz kann uns für unsere Kolonisation der afrikanischen Aequatorialgegenden ein Leitstern sein. Erobere diese Kraft, und sie kann bestehen bleiben. Vergewaltige sie nicht, sondern erziehe sie, und du wirst eine Menschheit gewinnen, einen neuen, großen, starken Typus, der niemals produktiv im eigenen Formwandel sein wird, aber zäh und haltbar, organisch klar wie, der afrikanische Gott.


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