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1. Vom Erdenken zum Erleben.

(1924.)

Afrika als Kulturraum. – Plan zur kulturgeschichtlichen Erschließung. – Allgemeines über die Durchführung. – Vor dem Erlebnis. – Die Umbildung. – Neue Schau.

 

Die Eroberung Afrikas durch den Willen Europas zur Ausdehnung erfolgte erst im vorigen Jahrhundert und fällt im wesentlichen zusammen mit dem endgültigen Siege des Materialismus. Hierdurch ist der Sinn der Forschungsgeschichte sowohl als der des Befundes an afrikanischem Kulturgut vorgezeichnet.

Afrika ist der wenigst gegliederte Erdteil. Seine Küsten sind leicht erreichbar. Sein Innenbau neigt zur Bildung hochgelegener Steppen. Er ist damit von allen Seiten zwar leicht am Rande zu erfassen, bietet aber wenig Nahrung für Abenteuer heischenden Eroberergeist und setzt jeder übereilten Zudringlichkeit von Natur schon einen so zähen Widerstand entgegen, daß alle Kolonisationsversuche des Mittelalters und der älteren Neuzeit wie Nadelstiche in eine Kautschukkugel wirkten. Man konnte ihn an der Außenseite betasten, aber ihn zu durchdringen, erforderte jene willensstarke Macht- und Aneignungstendenz, die Europa erst im vorigen Jahrhundert entfaltete. – Bis dahin blieb Afrika und das Afrikanertum sich selbst überlassen und war somit länger als sonst ein ähnlich großer Raum der Erdoberfläche in der Lage, kulturelles Sein, kulturellen Sinn und Kulturformen unberührt eigenartig zu erhalten. – Und die Folge dieser Abgeschlossenheit mußte sein: erstens eine größere Nackenstärke gegenüber dem Anmaßlichen, Sichaufdrängenden und zweitens eine größere Kluft zwischen den beiden Sinnesarten und den geistigen Spannungen im Wesen der Eroberer einerseits und der Bedrängten andererseits. Im Zeitalter Homers standen die Europäer den »unsträflichen Aethiopen« noch verständnisvoll nahe; in der Periode des europäischen Materialismus trennte sie ein zunächst und nicht nur dem Anschein nach unüberbrückbarer Abgrund.

Denn die Europäer als Gesamtheit hatten bei der Aufteilung Afrikas durchaus nur merkantile und politische Machtgedanken, und ein Sinn für das Kulturbild Afrikas fehlte ihnen so vollkommen wie nur möglich. Da es anscheinend ungeheure Menschenmassen in diesem Erdteile gab und der europäische Erobererwille aus einer Periode herausgewachsen war, in der die Negersklaverei zu den rentablen Geschäftsunternehmungen gehörte, – da fernerhin die Notwendigkeit der Mitarbeit jener am Kolonialwerk noch nicht als conditio sine qua non erkannt war, – und da endlich der Satz, daß im Quellgebiet aller materiellen Erfolge die Förderung geistig sinnvoller und »zweckloser« Forschung lebt, erst jetzt und nach der großen Katastrophe allgemeines Interesse gewinnt, so war das Interesse am Neger und seiner Kultur ein so geringes wie nur möglich.

Also wurde gesucht nach Strömen, die geeignet waren zur Schiffahrt, nach Kautschuk, Metallen, Elfenbein usw.

Man entdeckte, abenteuerte und eroberte. Man kartographierte und meteorologisierte. Die Naturwissenschaften sammelten und die ethnographischen Museen schwollen an wie trächtige Flußpferde. Aber was man an Seltsamkeiten auf ethnographischem Gebiet eingeheimst hatte, wußte man nicht, weiß man zunächst heute noch nicht.

Dieses Einsammeln war ein großes Glück. Denn viele Dokumente sind damit gerettet. Aber jeder Appell verhallte, der auf tieferfurchende Forschung drang, verhallte bei den »oberen« Instanzen und den für geistiges Leben Verantwortlichen. Das war nicht nur bei anderen Völkern so, sondern auch in Deutschland. Der große Geist der Periode eines Heinrich Barth, eines Gustav Nachtigal, eines Georg Schweinfurth erstarb mehr und mehr. Von den Hunderten von Forschern der Eroberungsperiode haben nur wenige Brauchbares, viele überhaupt nichts über die Beobachtungen berichtet, die sie als erste in neuerschlossenen Ländern machten.

Derart konnte es nicht ausbleiben, daß sehr bald unter sehr vielen Völkern, die die Literatur Europas kaum dem Namen nach kannte, schon Kaufleute und Beamte saßen, handelten und regierten. Von sehr vielen Völkern hörte die Wissenschaft nur gelegentlich und zufällig etwas. Immer größer wurde die Gefahr, daß ganze Völker und Kulturgruppen Afrikas unter der Glut europäischen Machtwillens hinschmelzen würden, ohne daß auch nur unscheinbare Nachricht über sie und die Möglichkeit, sie ihrer Art nach zu retten, gewonnen worden wäre.

*

Im Jahre 1894 hatte Leo Frobenius den Grundstein zum Afrika-Archiv gelegt; wenige Jahre später lagen die ersten Verbreitungskarten der jungen Methode vor. Niemand wußte besser als er, welche ungeheuren Lücken unsere ethnographischen Kenntnisse hatten, wie groß die Gefahr des Zuspätkommens war und daß eines geschehen mußte: das Moment des Zufälligen im Aufkeimen einer mehr oder weniger intensiven und sporadischen Kenntnis aufzuheben. Denn wohl gab es von vielen Stämmen Sammlungen, aber nur an sehr wenigen Orten arbeiteten Vereinzelte am Werk der eigentlichen Erkenntnis. Grade Leo Frobenius mußte als Förderer der kartographischen Kulturlehre die Notwendigkeit flächenmäßiger (statt punktmäßiger) Aufhellung erkennen. Daß es sich bei Beginn der Unternehmung solcher Flächenbetrachtung um gute Vorbereitung und neue Methode unter fachmännischer Leitung handelte, war selbstverständlich, und somit bemühte er sich zehn Jahre lang, selbst einmal hinausgesandt zu werden, um Erfahrung für Leitung und Anordnung größeren Stiles zu gewinnen. Zehn Jahre lang bemühte er sich vergebens (vergl. »Im Schatten des Kongostaates« S. 9/10). Dann entschloß er sich, dem Afrika-Archiv gleichfalls aus eigenen Mitteln ein Forschungsunternehmen anzugliedern, dem er den Namen »Deutsche Inner-Afrikanische Forschungs-Expedition« (D. I. A. F. E.) gab. Mit Ausnahme des verehrungswürdigen Freiherrn von Richthofen hat meines Wissens kein Mann der Wissenschaft eine wirkliche Erkenntnis der Schwierigkeiten und Opfer gewonnen, die erst die Gründung und später die Durchführung dieses Forschungsunternehmens für ihren Urheber bedeuteten.

Im Jahre 1904 waren die Pläne und Vorbereitungen der auf ca. 12 Jahre berechneten Hauptunternehmung abgeschlossen. Die leitenden Gesichtspunkte waren folgende:

  1. Es handelte sich darum, festzustellen, welche geographischen Räume am meisten der Klarstellung bedurften.
  2. Es war wichtig, für die Flächenbehandlung eine entsprechende Anzahl von Mitarbeitern zu gewinnen.
  3. Es war notwendig, die zunächst im Verhältnis zum Umfang des Unternehmens recht spärlichen Mittel durch Zuflüsse zu vermehren.

Die Frage nach der Bevorzugung bestimmter Gebiete löste sich eigentlich von selbst. Die seit 1895 entwickelte und immer weiter geführte Kartographie ergab das Bild mehrerer Kulturkreise, Kulturverschiebungen, die aber sämtlich von Osten nach Norden ausgehend konzentrisch auf Westafrika zielten. Der von Westen Kommende betrat also schon von vornherein alte Kulturregion und mußte im Vormarsch nach Norden, Nordosten und Osten auf die Spitzen der jüngeren Kulturen stoßen.

Nun konnte nach altem Muster eine einzige Expedition aber doch immerhin nur eine Linie oder überhaupt Linien ziehen und nicht mehr als Kulturprofile gewinnen. Und doch war Flächenforschung notwendig. Demnach war eine Ergänzung durch Gewinnung von Mitarbeitern von Anfang an geboten. Diese wurde in der Weise erreicht, daß ein knapper, ganz einfacher und unscheinbar wirkender Fragebogen gedruckt und über große Gebiete ausgesandt wurde. Auf keinen Fall durfte er wie die Berliner Elaborate durch Umfang und Intensität erschrecken. Er durfte nur leicht beantwortbare Fragen enthalten, diese mußten aber so ausgewählt sein, daß sie in der Antwort die Leitfossile der Kulturgrundlagen bestimmbar machten. Für Ausfüllung der Fragebogen mußten zwar nicht öffentlich, aber doch auf Seitenkanälen den Mitarbeitern Vergütungen zugeführt werden.

Die Unternehmung der Fragebogen glückte vollkommen. Das Afrika-Archiv birgt heute in achtzehn Foliobänden 351 beantwortete Fragebogen und 454 Stichwortvokabularien von gegen 400 Autoren.

Das fortlaufende immerwährende Aussenden und Rückkehren dieser kleinen Schriften hatte zweierlei Erfolg. Zum ersten wurde von vornherein eine eingehendere Kenntnis der Kulturregionen, dann aber auch eine festere Umrandung derjenigen Gebiete, in denen die verschiedenen Kulturkreise sich schnitten oder begrenzten, erreicht. Die Expeditionen richteten ihre Märsche später sehr häufig nach derart gewonnenen Zielpunkten.

Zur Vermehrung der Mittel mußten fernerhin, besonders in der ersten Zeit, Gebiete aufgesucht werden, die reiche ethnographische Sammlungen in Aussicht stellten und damit eine Beihilfe aus Museumsfonds ermöglichten. Dieser Grundsatz, an dem, der Notwendigkeit entsprechend, oft festgehalten werden mußte, bedeutete allerdings eine Herabminderung der Fülle wirklich wissenschaftlicher Ergebnisse.

Endlich mußte die Expedition mit weißen und schwarzen Hilfskräften ausgestattet werden, die sowohl beim Beobachten und Ausforschen als beim Fixieren und Darstellen genügende Kenntnisse und Fertigkeit besaßen. So ist die D. I. A. F. E. nie ohne einen Zeichner oder Maler noch ohne ein ausgezeichnet durchgebildetes Dolmetschervölkchen tätig gewesen.

Das sind die Grundzüge des Planes, nach dem die »Feldarbeit«, der Heimarbeit folgend, von 1904 bis 1914 durchgeführt wurde.

*

Im ganzen wurden nach diesem Plane sechs Afrikareisen ausgeführt, denen sich als siebente die Kriegsfahrt nach dem italienischen Abessinien anschloß. Die sinngemäße Reihenfolge war für Westafrika 1. ein Studium der rasend schnell dem Untergange zustürmenden Kulturen des Kongo-Kassai, 2. das derer des Westsudan, 3. des atlantischen Zentralgebietes und der zentral-sudanischen Schichtbildungen, 4. für Nordafrika eine Probefahrt in den Atlas und dann ein Studium der Sahara-Atlaskulturen, 5. für Ostafrika eine Erkundung der Kulturen des Nil und des Ostsudan. – Zwei ergänzende Reisen wurden durch den Krieg unmöglich gemacht.

Leo Frobenius – das sollte nicht vergessen werden – war doch wohl der erste Afrikaforscher, der mit dem schwerwiegenden Aufgabenbündel der Kulturkunde und Völkerforschung den Erdteil aufsuchte. Alle seine Vorgänger waren Botaniker und Zoologen, Geologen und Meteorologen, Mediziner und im besten Falle Historiker (soweit es überhaupt Wissenschafter waren), nie aber Ethnologen. Sie konnten aus Naivem heraus die besten Beobachtungen und Beschreibungen von Völkern und Kulturen geben, ohne weiter beachten zu müssen, daß eine Uebersicht der Kulturen als organischer Wesen mit heimgebracht werden sollte. Diesem Bändchen ist unter Nr. 10 ein Abschnitt über die monographische Methode jener Männer und die polygraphische der Kulturforschung eingefügt. Diese polygraphische Beobachtungsweise war daheim gut vorbereitet, in Afrika wollte sie erst geübt und ausgebaut sein.

Diese Methode gipfelt im Grunde genommen darin, daß der wandernde Forscher immer das Volk und die Kultur, die ihn umgeben, zu durchdringen und zu verstehen sucht. Und dies immer mit Rücksicht auf die Völker und Kulturen, in deren Mitte jedes Einzelvolk eingebettet ist. Diese Nachbarschaft darf nie aus dem Auge verloren werden. Die Unterschiedlichkeit, das Abweichende, das Fehlende und das Mehr im Kulturbesitz sind das Entscheidende. Deshalb hat der Kulturforscher in den Geist der schwarzen Mitarbeiter ein allgemeines Interesse anstelle des persönlichen und zentralisierten zu pflanzen. Er hat dafür zu sorgen, daß Botschafter der Nachbarvölker sein Lagerleben teilen. Diese Fremdlinge und die Dolmetscher müssen erfüllt werden von ethnologischem Geiste, d. h. sie müssen das Verschiedenartige als das Eigenartige aufsuchen lernen. Von jedem Volk, werde es selbst nach eingehendstem Studium verlassen, müssen einige Vertreter zur ferneren Reisebegleitung bewogen und diese unterwegs immer wieder dem auftauchenden Neuen gegenübergestellt werden, damit sie so vom Eigenen wiederum aus neuem Gesichtspunkt heraus berichten können. Am Ende der Kongoreise hatte die D. I. A. F. E. derart Vertreter von 20, an dem der Nigerreise von 46, an dem der Joruba-Benuewanderung von nicht weniger als 61 Völkern bei sich. Dieser Hofstaat ist lebendige Kulturkunde, ihn zu einem sprechenden Lexikon zu gestalten, Aufgabe des leitenden Forschers.

Solche Organisation hat immer unbedingt auszugehen von einem Geiste großzügiger Teilnahme. Das Menschliche muß überall im Vordergrunde stehen und soweit durchleuchtet werden, daß es durchsichtig wird und so das Innenleben der Kultur sichtbar macht. Teilnahme am Ergehen der eigenen Leute wie der Fremdlinge, Freigebigkeit und Großzügigkeit, daneben aber strenge Gerechtigkeit und im Bedarfsfall rücksichtslose Strenge müssen vollkommen natürlich sein. Der Leiter soll deshalb auch über gute medizinische Kenntnisse verfügen, mehr noch aber über einen zwingenden Frohsinn, der im Chor der Umgebung als Lebensbejahung und Freude am Miterleben widerklingt. Der Leiter muß der wahre Herr und seine Mannschaft Träger freundschaftlicher Ergebenheit sein.

Und das muß sich auch in der Sprache ausdrücken.

Der Leiter der D. I. A. F. E. hat es anfangs genau so wie jeder andere versucht, die Sprache der Eingeborenen zu erlernen und anzuwenden, um so mit den Leuten in ihrem Idiom zu verkehren, erst bei den Bajakka, dann bei den Baluba. Und er hat damit vollkommen Schiffbruch gelitten, wenigstens was die Feinheit und Fülle der erzielten Resultate anbelangt. In bezug auf die Märchenforschung habe ich hierüber im Paideuma (das in diesem Werke Bändchen IV erweitert abgedruckt werden soll) S. 20 ff. berichtet. So wie der äquatoriale Afrikaner veranlagt ist, betrachtet er zunächst den Europäer genau wie seinen Fürsten im Innern als ein höheres Wesen. Und das hält er nach Möglichkeit fest, weil es seiner der Autorität bedürftigen Seele – darin gleichen die Neger genau den Deutschen – angenehm ist. Der eigentliche Fürst wahrt nun seine Souveränität, indem er nie direkt mit dem Volke, sondern immer durch einen Sprecher verkehrt. Das Volk selbst findet das notwendig und spottet über den hohen Herrn, wenn er in einer Anwandlung demokratischen Wohlwollens sich herabläßt, mit dem Volk von Mund zu Mund zu verkehren. Sehr oft wurde im Verlaufe der Reisen der D. I. A. F. E. beobachtet, daß genau ebenso diejenigen Europäer, die gleiches taten, leicht geringschätzig beurteilt wurden. Solches verschärft sich nun zusehends, wenn der wandernde Forscher mit der direkten Umgebung in deren Sprache redet. Denn so viele Sprachen, wie sie in der Umgebung des einen ethnologischen Hofstaat bildenden Kulturforschers leben müssen, kann auch das größte Sprachgenie nicht in der Eile erlernen und dann stellt sich nach der Erfahrung der D. I. A. F. E. der Zustand ein, daß alle nicht direkt verstandenen Fremdlinge den Europäer und seine verstehende nächste Umgebung als Klique und sich als minder beachtenswerte Außenmasse erachten. Damit ist dann eine Spaltung erreicht und das allgemeine Interesse an der ethnologischen Aufgabe bei allen von vornherein in der Entwicklung behindert, wenn nicht unmöglich gemacht.

Aber die Angelegenheit hat noch eine zweite und zwar viel wichtigere Seite, die scharf beleuchtet wird in dem Augenblick, wenn die Religions- und Märchenforschung einsetzt. Daß die direkte wörtliche Uebersetzung fremdsprachiger Texte eine Utopie ist und durch Uebertragung ersetzt werden muß, ist heute schon Allerweltsweisheit, die auch jeder sich zu eigen machen wird, der irgend eine sublineare Uebersetzung amerikanischer oder afrikanischer Texte auf ihren Sinn und ihre sinngemäße Klarheit hin untersucht. Das sogenannte Uebersetzen fremdsprachiger Texte besteht nun aber nicht aus einer, sondern aus zwei Tätigkeiten: einmal nämlich den Inhalt im tieferen Sinne zu erfassen und zweitens ihn in der eigenen Sprache auszudrücken. Wie verschieden die Grundelemente der beiden Tätigkeiten sind, kann man daran erkennen, daß die afrikanischen Neger, sobald sie eine europäische Sprache lernen, diese in einen Dialekt, in ein Pitchen verwandeln. Pitchen heißt aber in Wahrheit eine europäische Sprache afrikanisch anwenden. In ihr ist nur die erste der beiden Arbeiten vollzogen, die des Verstehens, und es fehlt die zweite, die des Formens. Seiner ganzen Anlage nach gibt aber jede Pitchenübertragung den Sinn des negerischen Originales auch negerisch wieder, viel negerischer, als der Europäer es aufzufassen vermag. Ein gut erzogener Dolmetsch verrichtet also im Grunde genommen die erste der beiden Tätigkeiten schneller und besser als der Europäer, und dieser braucht sich, sobald er das einmal erfaßt hat, nur auf die zweite Aufgabe des Formens, Wortfindens und Stilerhaltens zu beschränken. Der Leiter der D. I. A. F. E. hat sich oft, und später meist, die Texte auf englisch wie auch auf französisch vortragen lassen und gefunden, daß das Verstehen und die unbewußte Sinnesfassung ihm dadurch noch bedeutend erleichtert wurde. Wer die von der D. I. A. F. E. eingesammelten an Zahl die 1000 weit übertreffenden Volksdichtungen Veröffentlicht als »Atlantisausgabe« bei Eugen Diederichs in Jena. Bis jetzt erschienen von fünfzehn zu erwartenden Bänden neun. mit einander vergleicht, wird finden, daß die Stilarten der Dichtungen bei den verschiedenen Völkern stark, ja außerordentlich stark von einander abweichen. Wenn das in der Wiedergabe so erfreulich deutlich hervortritt, so ist dies der Anwendung der geschulten Dolmetscher zu verdanken, aus deren englischer und französischer Wiedergabe die Stilvariation deutlich erkennbar wurde.

Sorgfältige Erziehung der nächsten Umgebung spielt natürlich auch hier die größte Rolle.

Damit ist wohl aber von der Ausführung des Planes der D. I. A. F. E. im allgemeinen genug gesagt. Wenn dazu noch bemerkt wird, daß jeder Zeitraum zwischen je zwei Reisen in Europa mit Arbeiten im Afrika-Archiv, mit Eingliederung des Heimgebrachten, mit dem Studium der großen kulturellen Wesenheiten und sorgfältiger Vorbereitung für die folgende Fahrt ausgefüllt wurde, so ist damit angedeutet, daß die Maße der Anschauung im ganzen mehr und mehr wachsen, die Dimensionen sich weiten, das spezifische Gewicht sich erhöhen müßte. Tatsachen als Totes wurden mehr und mehr Ausdruck lebendiger Wirklichkeit.

Hierzu scheint noch einiges bemerkenswert.

*

Wenn ein derartiges Wanderleben von 1904 bis 1915 vom 31. bis zum 42. Lebensjahre eines schaffenden Menschen währte, mußte dies einen starken Einfluß ausüben und ihn ebenso wie sein Werk entscheidend umbilden. Leo Frobenius und seine Arbeit bis 1904 waren nicht mehr die gleichen und derselbe Mann und seine Weltanschauung von 1915 stellten etwas wesentlich Verschiedenes dar.

Um hierfür auch die Tatsachen sprechen zu lassen, wird die Reihe der nachfolgend abgedruckten Belegstücke mit zwei typischen Arbeiten aus der Zeit vor den Wanderjahren begonnen. Das Stück Nr. 2 behandelt die Grundlagen einer Moralkritik und ist die typische Arbeit älterer Methode. Sie betrachtet die Formen ohne Frage nach ihrer Zusammengehörigkeit. Dagegen zeigt Nr. 3 das Streben nach einer Durchdringung seelischer Aeußerungen innerhalb der Weltanschauung der »Primitiven«. Beide Arbeiten erwuchsen aus der Vorbereitung des Werkes über »die Weltanschauung der Naturvölker« und sind, da sie nach der Entstehung und Veröffentlichung der Kulturkreislehre abgefaßt wurden, für ihren Autor sehr bezeichnend. In beiden Arbeiten ist von der Kulturkreislehre bezw. von einer Differenzierung nach Kulturkreisen nicht die Rede. Sie gehören zu jener Gruppe von Studien, die dem Wesen der Dinge nachspüren, ohne dem Werden die gebührende Beachtung zu schenken. Dieses ist aber wichtig zur Beurteilung der Entwicklung des Autors und seiner Arbeit vor und nach der Periode seiner Forschungsreisen.

Wie schon in dem vorhergehenden Bändchen I S. 54 u. 62 dargelegt wurde, pendelte der junge Leo Frobenius stets zwischen den Studien auf dem Gebiete der geistigen und dem der materiellen Kultur hin und her. Studien und Schriften wechselten dementsprechend. Der Gewinn einer neuen, aber doch mehr technischen Anschauungsweise und Methode erstreckt sich eigentlich nur auf die materielle Kultur und auf isolierende Tatsachen. Tatsachen der geistigen Kultur werden eingefügt und angeklebt, sind aber mit dem Gedanken von der Organität der Kultur durchaus noch nicht verwachsen.

Daher ist das Schaffen dieses schwer um Erkenntnis ringenden jungen Menschen in der Periode vor den Reisen als keine abgerundete Erscheinung wenig befriedigend und nirgends abgeschlossen. Er ist anscheinend zu bedeutungsvollen Intuitionen gekommen, und daß er das Gerippe einer geistigen Auffassung der Kultur in starker Annäherung an die Metaphysik – denn der Grundsatz »Kulturen sind Organismen« ist schon ein metaphysischer – gewonnen hat, wird man wahrscheinlich als Jugendidealität gern anerkennen. Aber alles zusammen bildet noch keine Einheit. Die Spontaneität und das Sporadische sind überall bemerkbar. Jedoch der innere Drang findet noch keine Möglichkeit zum Ausdruck, zum Stil!

*

Als Afrikaforscher hat es sich Leo Frobenius nicht leicht gemacht, und das Behagen, dem viele neuere Reisende sich stets hingeben zu dürfen glauben, hat er nur sehr selten kennen gelernt. Bezeichnend für seine Auffassung der Aufgabe ist es, daß er alle seine Tagebücher stets auf der Reise schon ins Reine geschrieben hat. Das bedeutet eine Gesamtleistung von 195 Quartbänden Reinschrift als äußeres Ergebnis, als innere Leistung aber den Ausdruck eines vielleicht nicht ganz gewöhnlichen Pflichtgefühls, da die Tatsächlichkeit solchen Umfanges die erste dieser Art sein dürfte. Ich erwähne dies als Beleg für die Intensität der Arbeit, die richtig einzuschätzen für die Entwicklung der Kulturlehre nicht unwesentlich ist.

Zum anderen widmete der Forscher sich durchaus nicht einseitig nur seinen Studien und Beobachtungen, sondern lebte in einem so innigen Verkehr mit den Leuten seiner nächsten Umgebung, sowie den Bewohnern der durchzogenen Länder, daß er hierdurch vom Versinken in einseitige Spintisiererei abgehalten wurde. Ich erachte es für notwendig, auch hierfür einen Beleg zu erbringen, der mir heute noch wie eine gnädige Anerkennung schwacher menschlicher Bemühungen erscheint. Bekanntlich hat jede größere und weitergehende Forschungsreise in Afrika mit einem starken Abfall von Menschen durch Sterblichkeit zu rechnen. Auf den recht ausgedehnten Reisen der D. I. A. F. E. sind im Laufe der vielen Jahre mehrere Tausende von Menschen im Dienste der Unternehmung gestanden. Die Gesundheitsverhältnisse waren zuweilen sehr schlecht, mehrere Epidemien mußten überwunden werden. Die Behandlung der Kranken lag stets und allein in den Händen des Chefs selber. Die D. I. A. F. E. hat aber wohl Hunderte von Kranken, nie aber einen einzigen Todesfall zu verzeichnen gehabt. – Diese schlichte Tatsache mag für sich sprechen.

Ich weise auf diese beiden Erscheinungen hier hin, weil sie belegen, daß der Forschungsreisende das Studium der Kultur mit dem Erleben des Menschlichen innig verbunden hat, und daß er hierdurch zu einer Umstellung des Standpunktes und des Ausmaßes inneren Ergreifens gelangt ist, der für die Durchbildung und Entwicklung der Kulturlehre von entscheidender Bedeutung geworden ist. Denn als der junge Leo Frobenius seine Kulturkreislehre verfaßte, lebte er als sehr einsamer Mensch, war sehr schüchtern, wurde überall von menschlichen Eigentümlichkeiten zurückgeschreckt, sah demnach immer mehr alles Wesentliche als Ausdruck der Kultur und ging in seiner Hauptschrift in der Lostrennung von Kultur und Mensch so weit, daß er beide isolierte. Mit solcher Anschauung kam er nach Afrika. Hier aber, wo er fürsorgender Herr und Führer zu sein hatte, erschloß sich ihm das Menschliche mehr und mehr, wurde ein Organ in ihm entwickelt, das ihn den Zusammenhang von Kultur und menschlicher Seele immer klarer erfühlen ließ.

Damit aber verschwand das Isolierende der früheren Betrachtungsweise mehr und mehr. Die nachfolgend abgedruckten Stücke Nr. 4 bis Nr. 13 mögen diesen Werdegang aus dem herb Exakten und Lebensfremden zum Miterleben vor Augen führen.

Der einsiedlerische Theoretiker versank in dieser Zeit. Für eine Reihe von Jahren einer grüblerischen Einsamkeit entrissen, in der materielle und geistige Kultur getrennte Arbeitsgebiete geworden waren, steigt ein neuer Drang aus neuem Lebensgehalt in ihm auf. Und dieser Drang bedeutete die Fähigkeit zum Erfassen der Dinge als Einheit.

*

Damit ist ein Prozeß im Innenleben des jungen Leo Frobenius geschildert, der nach seinem Abschluß deutlich wahrnehmbar werden mußte: ihm selbst durch Eintritt in das Bewußtsein, nach außen hin durch ein neuartiges Wirken. Der Abschluß dieses Prozesses ist nun aber von so charakteristischen Umständen begleitet gewesen, daß er direkt als Schulbeispiel für psychologische Studien dieser Art gelten kann und somit einem weitergehenden Interesse dienen könnte.

Aus den Tagebüchern und Briefen des Forschers läßt sich für die Periode zwischen der fünften und sechsten Reise eine auffallende Unrast nachweisen, die sich auf eine Unzufriedenheit mit der Arbeit der Vorreiseperiode bezieht. Die alten Sachen sollen berichtigt und »ganz anders erfaßt« werden. Aber noch fehlt Wesentliches, das nur in Afrika beschafft werden kann. Kaum ist er aber mit dieser letzten Reisearbeit (der Offenbarung der Sahara) im klaren, da setzen die Reiseermüdung und ein unbändiges Bedürfnis zur Schreibtischarbeit ein. (Siehe Nr. 14.)

Der Abschluß ist innerlich vorbereitet.

Die Kriegsfahrt nach Afrika folgt.

Und damit eine die Seele vom Grunde her aufrührende Erschütterung. Aus der Aufzeichnung Nr. 15 ist sie klar erkennbar.

In diesem inneren Erlebnis, das wenig mehr als eine kurze Stunde ausfüllte, ist die ganze Fülle der an inneren Erlebnissen so überreichen Reiseperiode zusammengeflossen zur Erkenntnis eines neuen Lebensgefühls, das nicht mehr das des ewig gespaltenen jungen Forschers, sondern bis heute das meine ist.

Was nun folgte, das Paideuma (Bändchen IV) und alles weitere, ist auch für mich nur aus solchem Werdegange heraus verständlich. Die Umkehr der Schau, die ich damals im Roten Meer erlebte, fand ihren ersten zusammenfassenden Niederschlag in der Tiefenschau (der »Kulturphysiognomik«), die in diesem Werke Bändchen VII erweiterte Wiedergabe erleben soll.

Unbewußtes Drängen der Jugendzeit hatte im Bewußtsein des reifen Mannes Gestalt gewonnen – nach langen, langen Jahren ehrlicher Arbeit.


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