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10. Betrachtungsweisen reisender Kulturforscher.

Aus »Kulturtypen aus dem Westsudan«. Petermanns Mitteilungen, Ergänzungsheft Nr. 166. Justus Perthes, Gotha, 1910. S. 110-113.

(1910.)

Die Möglichkeiten ethnographischer Schau; monographische und polygraphische Betrachtungsweise. – Die Stärken und Schwächen beider Methoden. – Eigenes Streben.

 

Jede ethnographische Untersuchung kann aus zwei oder sagen wir drei Gesichtspunkten unternommen werden. Einerseits kann das Hauptziel darin gedacht werden, die Zustände, die Verhältnisse und die Formen eines beschränkten, durch einen gemeinsamen Typus belebten Gebietes festzustellen. Solche Arbeit muß stets als monographische bezeichnet werden. Ihr Zweck ist, den Stoff insofern erschöpfend zu behandeln, als alle Eigentümlichkeiten des untersuchten Objektes, also der Kultur nach Psyche und Physis, möglichst ausnahmslos und gleichwertig behandelt und beschrieben werden. Alle Eigentümlichkeiten des religiösen und des profanen Lebens, alle Industrien, die Geschichte, die Kleidung usw., alles ist im engeren Gesichtskreise zu behandeln und es ist nach Möglichkeit dahin zu streben, daß die Verhältnisse der einzelnen Erscheinungen untereinander klargestellt werden und somit das Leben dieses Volkes und seiner Kultur einheitlich und geschlossen zur Vorführung gelangt. Zum zweiten kann eine ethnographische Arbeit aber auch den Zweck verfolgen, die Erscheinungen, die auf einem größeren Gebiet lebendig sind oder waren, also mehrere Typen auf ihre Verhältnisse in Gegenwart und Vergangenheit, auf ihre Entwicklung hin zu untersuchen. Das Extrem dieser zweiten Untersuchung stellt die allgemeine menschliche Entwicklung als sein Studienobjekt dar. Sie untersucht, wie die sozialen Verhältnisse der Menschheit, in allen Teilen miteinander verglichen, sich entwicklungsgeschichtlich im Periodenaufbau zu den einzelnen Typen gestaltet haben. Aber dieses die ganze Erde überspannende Untersuchungsstreben, welches das äußerste Extrem der Wissenschaft überhaupt darstellt, kommt für den Reisenden so gut wie nicht in Betracht, denn kein Mensch wird je imstande sein, alle Völker der Erde zu vergleichen, zu untersuchen und vergleichend zu beschreiben. Das ist heimatliche Studienarbeit, die mit den Autoren der Vergangenheit, mit den Resultaten der gesamten Forscherwelt zu rechnen hat. Im Grunde genommen ergibt der dritte Gesichtspunkt eine Unterabteilung dieses zweiten, extremen Verfahrens. Dieser dritte Gesichtspunkt beschränkt den Forscher, den Ethnologen, auf die Bearbeitung derjenigen Gegend, desjenigen Raumes, den er selbst bereisen und persönlich kennen lernen kann. Er betrachtet bei diesen Reisen die Völker untereinander vergleichend. Es ist ihm nicht Hauptaufgabe, jeden einzelnen Stamm monographisch bis in die feinsten Feinheiten hinein zu untersuchen und festzulegen – ein Ideal, das auch sonst nicht erreicht werden kann –, sondern auf der Basis reihenweiser Einzeluntersuchungen strebt er danach, die Varianten, die Abweichungen, die Verschiedenartigkeit der einzelnen Völker, der einzelnen Stämme eines bestimmten Gebietes aufzuhellen. Diese Methode bezeichne ich im Gegensatz zur monographischen als die polygraphische. Es versteht sich von selbst, daß, da alle derartigen Reisen immer nur Linien darstellen, die durch das Land gezogen werden, und da solche Linien niemals ganze Flächen aufhellen, diese polygraphische Methode auch nur lückenhaftes Material ergeben kann. Die Stoffe der Völkerkunde sind eben derartig verzweigt und verästelt, so schwierig faßbar, so beweglich und flüssig, daß weder der Monograph je sein Ideal der abschließenden, lückenlosen Einzelbeschreibung noch der Polygraph sein Ideal der Untersuchung der flächenmäßigen Verschiedenheiten ohne Lücken und ohne Fehler erreichen kann.

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Die beiden Methoden der monographischen und der polygraphischen Untersuchungsweise haben eine jede ihre bedeutenden Schwierigkeiten und Gefahren. Der eigentliche Wissenschaftler der Völkerkunde kann im Grunde genommen nicht nur Monograph sein. Der Monograph, der in der Materialvollständigkeit die Lösung seiner Aufgabe sieht, wird im allgemeinen weder rechts noch links sehen dürfen, selbst wenn er lange, lange Jahre in einem Gebiete gearbeitet hat, wenn er auch nur annähernd erschöpfend den Stoff zusammenbringen will. Dieses sein Sichvertiefen in ein einzelnes Volk bringt aber die Gefahr für den Untersuchenden mit, daß, wenn er später etwa vergleichend arbeiten will, er dann immer nur durch die Brille des einen Volkes sehen kann und sehen wird. Es ist einfach eine Folge der versteinernden Nebenerscheinung lang anhaltender Betätigung der Psyche, wenn der derartig eingearbeitete Monograph das Wesentliche immer in der Einheit dieses Volkes und in den ihm so vertrauten Eigentümlichkeiten des einen Punktes sieht und unwillkürlich die in einem Punkte gefundenen Untersuchungen und Interessen auf alles andere überträgt. Aus dieser Gefahr der Gesichtskreisverengung, die durch langanhaltende monographische Beschäftigung entsteht, ist es zu erklären, wenn jeder klassische Philologe, der sich lange mit dem Griechentum beschäftigt hat, überall griechische Spuren wiederentdeckt, daß jeder Missionar, dessen Hauptinteresse von Berufswegen doch in der Bibel basiert, überall wieder Reste der biblischen Anschauung des jüdischen Volkes und den berühmten verloren gegangenen Stamm entdeckt, daß also jeder die Interessen seines Studiengebietes in die weite Ferne trägt und durch die Brille dieser Objekte sieht. Es ist eben der Stoff, der den Menschen mehr oder weniger zu beherrschen beginnt. Somit bedeutet die Einengung, die durch die Monographie hervorgerufen wird, ein Einengungsbestreben, das alle Monographen der Wissenschaft gegenüber an den Tag gelegt haben und heute noch an den Tag legen. In der Tat ist in der Monographie und in der allzu starken Betonung der monographischen Gründlichkeit der Grund zu suchen, weshalb die Völkerkunde so lange Zeit hindurch das Stiefkind der großen Wissenschaft bleiben mußte.

Derart angesehen, bedeutet die polygraphische Methode ein Erweiterungsverfahren. Es ist charakteristisch, daß die polygraphische Methode nicht herausgewachsen ist aus dem Kreise von Leuten, welche selber gereist sind, welche also gewissermaßen Völkerbeschreiber (Ethnographen) von Fach darstellen, daß sie vielmehr hervorgegangen ist aus der Stubengelehrsamkeit. Wer daheim an seinem Schreibtisch arbeitet, literarische Quellen studiert und museales Material zu Hilfe nimmt, der verfällt, wenn die Vorbildung dies nicht etwa mit sich bringt, nicht so leicht in den Fehler der Gesichtskreiseinengung wie der reisende Monograph und Ethnograph, besonders dann, wenn die Grundlage seines Wissens wirklich umfassend ist. Es ist typisch, daß einer unserer bedeutendsten Polygraphen (Ethnologen), d. h. derjenige, welcher sich bis zu seinem etwa vierzigsten Lebensjahre zu einer ebenmäßigen völkerkundlichen Vorbildung durchgearbeitet hatte, daß Heinrich Schurtz niemals wesentliche ethnographische Studienreisen unternommen und auch eine Abneigung gegen solche nie verleugnet hat. Immerhin wird doch die gründliche Fundierung der Ethnologie kaum erfolgen können, ohne daß Ethnologen von Fach – also Vertreter der vergleichenden Völkerkunde – selbst den Reisestab und das Tagebuch unter den Arm nehmen. Es ist nicht nur ein berechtigter Wunsch, wenn der Völkerkundler selber die Gebiete, die er bearbeitet, zu sehen wünscht, sondern es ist für ihn auch eine gewisse Notwendigkeit, die Dinge, über die er arbeitet, lebendig vor sich zu sehen. Den meisten unserer alten Ethnologen fehlte die Kenntnis des eigentlichen Lebens, und eine große Anzahl von verfehlten Arbeiten ist darauf zurückzuführen, daß die Theorie allzu grau war. Nun habe ich oben schon darauf hingewiesen, daß das eigentliche Extrem ethnologisch-polygraphischer Forschungsarbeit in der Prüfung aller Völker und Erdräume liegt. Wir haben in der Völkerkunde einen Mann gehabt, welcher in der Tat diesem Ideal so nahe gekommen ist, wie es nie wieder geschehen kann, und wir können in den Arbeiten dieses Mannes die Unmöglichkeit erkennen, solchen Wunsch durchzuführen. Ich denke an unsern alten Bastian. Dieser Mann mit seinem ungeheuren Wissen, mit seinem ungeheuren Ideenreichtum, mit der gewaltigen Erfahrung hat die vergleichende Völkerkunde seiner Zeit in den schwersten Mißkredit gebracht, in den sie kommen konnte. Die Stoffe quollen zu gewaltig in seinem Kopf. Er hatte nicht Zeit, sie zu formen, und so wird es jedem gehen, der polygraphisch nicht in bestimmten Grenzen arbeitet. Aber abgesehen von dieser Gefahr des Ueberquellens der Stoffe, bietet die polygraphische Methode noch eine zweite Gefahr, das ist diejenige unebener, unexakter, allzu flüchtig eingeheimster Formen der Stoffsammlung. Der Monograph fordert mit Recht Kenntnis der Sprache seines Studiengebietes. Der Polygraph kann dagegen unmöglich, wenn er bestimmte Erdräume und Sprachgrenzen überschreitet, die von polyglotten Völkern bewohnt werden, alle Sprachen erlernen. Er ist auf Dolmetscher angewiesen. Die Dolmetscher werden ihn auf längeren Reisen begleiten, werden sich leicht an das Schema seines Fragens gewöhnen, werden mit größter Geschicklichkeit und um sich dem Leiter angenehm zu machen, sowie auch aus Faulheit sehr leicht bestimmte Antworten aus den Eingeborenen herausfragen und so ein verschobenes Bild geben. Fernerhin wird der Polygraph mit der Gefahr rechnen müssen, daß ihm bei der verhältnismäßigen Geschwindigkeit des Reisens wesentliche Dinge entgehen, und er muß von vornherein darauf vorbereitet sein, daß die monographische Schule ihn der Lückenhaftigkeit zeiht. Diese und noch einige andere Gefahren der polygraphischen Arbeitsmethode lassen sich absolut nicht wegleugnen, und es kommt auf die Geschicklichkeit und Erfahrung des betreffenden Forschers an, inwieweit er es versteht, die notgedrungenen Fehlerquellen auf ein Minimum zu beschränken. Das eine sei aber doch gesagt, daß, ebensogut wie es keinerlei Präzisionsinstrumente gibt, die nicht eine Fehlerquelle besäßen, ebensowenig eine wissenschaftliche Methode existiert, die nicht mit einer solchen behaftet wäre. Es gibt keine Monographie, die vollständig sein will und nicht doch ihrerseits irgend welche Schwächen hat. Also allzu stolz dürfen auch die Monographen nicht sein. Fernerhin möchte ich aber vor allen Dingen die Monographen auf einen gewaltigen Vorteil der polygraphischen Methode hinweisen, der mir auf meinen Reisen oftmals und in der eklatantesten Weise bemerkbar wurde: auf die Bereicherung der Gesichtspunkte infolge Vergleichs. Dadurch, daß die Umgebung des Reisenden einerseits vielfach wechselt und daß er andererseits bei verschiedenen Stämmen sein Material einsammelt, gewinnt er eine große Fülle von Gesichtspunkten und werden seine Beobachtungen ausgiebiger. Vielfach fand ich, daß gerade Leute, die immer an einem Orte gelebt haben, zehn, fünfzehn, zwanzig Jahre und mehr, bestimmte Erscheinungen des sozialen und religiösen Lebens, die zwar in ihrer Umgebung, aber im stillen funktionieren, nicht kannten. Bei dem einen Volk tritt irgendetwas Besonderes betont und laut auf, da lernt es der Reisende kennen. Er hält nun sorgfältig beim Weiterwandern Umschau, ob er nicht das gleiche in verkümmerten und latenten Formen wiederfindet. Solche latent vegetierenden ethnischen Erscheinungen habe ich öfters wahrgenommen, habe dann mit den betreffenden Herren, die in dem Gebiet schon lange wohnten, darüber gesprochen, fand, daß diese Herren sie verleugneten, daß dann gemeinsam und nochmals scharf untersucht wurde und die Bereicherung des Wissens dann endgültig gebucht werden konnte. Nun gibt es aber ja nicht nur soziale, religiöse und familiäre Einrichtungen, über die der Polygraph infolge der Gefahr seiner Methode sich täuschen kann, sondern es gibt ja auch materielle Kultur, und auf diesem Boden blüht der Weizen der Polygraphen. Solche Reisen wie die unsrigen zeichnen in dieser Hinsicht regelrechte ethnische Profile in die Landschaft. Man kann als reisender Polygraph Grenzen der Verbreitung feststellen, gerade in materiellem Besitz, und über diese Tätigkeit möchte ich am Ende dieses kleinen Werkchens doch noch einiges sagen.

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Es sind nun mehr als zwölf Jahre her, daß ich für die ethnologischen Arbeiten eine Bevorzugung der kartographischen Darstellung nach bestimmten Gesichtspunkten forderte. Nur dadurch, daß wir uns graphisch die Bilder der Verbreitung einzelner Merkmale vor Augen führen, erkennen wir deutlich einerseits die Lücke der Kenntnis, anderseits auch die Gesetzmäßigkeit in der Verbreitung bestimmter Eigentümlichkeiten. Während nun die vergleichende Darstellung von Sitten und Gebräuchen ewig lückenhaft wird bleiben müssen, während sie, auch wenn sie bis zu einem bestimmten Grade gelingt, immer noch eine Einschachtelung in Schablonen repräsentiert – Schablonen, die eben bei der flüssigen Materie der Völkerkunde sehr gefährlich sind –, ist es durchaus möglich, die Verbreitung der materiellen Besitztümer in einem bestimmten und viel größeren Maßstabe mit Sicherheit festzustellen. In Petermanns Mitteilungen von 1907 und 1908 habe ich die weite, ausgedehnte und methodisch erweiterte Grundlage einer solchen Darstellungsweise zu schaffen versucht. Die Arbeiten waren naturgemäß noch roh, allzu anspruchsvoll und schablonenhaft, wie das aus dem damals noch weit mangelhafteren Zustand der Stoffe, meiner Jugend und dem kriegerischen Geiste, mit dem neue Anschauungen in die Welt einzuziehen pflegen, entsprang. Im Lauf der dazwischen liegenden Zeit bin ich nicht nur selbst auf Reisen gegangen, um an Ort und Stelle die Verhältnisse nachzuprüfen, lebendig auf mich wirken zu lassen und das Material zu ergänzen, sondern ich habe auch in voller Würdigung der Tatsache, daß solche Reisen doch immer nur Linien und Straßen kennen lehren, aber nicht Flächen, ein umfangreicheres Verfahren zur Materialbeschaffung eingeschlagen. Es folgt dann eine Skizze der Arbeit zur Beschaffung des Fragebogenmaterials und als Beispiel polygraphischer Arbeitsweise eine Studie über Bogenformen, auf die ich in Bändchen V dieses Werkes zurückkommen werde.


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