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XV. Der Unsterblichkeitsglaube

Überall und zu allen Zeiten hat da, wo der Unsterblichkeitsglaube nicht durch Offenbarungsglauben bestimmt worden ist, neben seinen verschiedenen Formen Zweifel, Unglaube und Leugnung der Unsterblichkeit bestanden; und vermutlich hat es immer Menschen gegeben, für die das Leben nur als ein endliches erträglich war, die der Gedanke einer ewigen Fortdauer sogar mit Schauder erfüllte. Es ist merkwürdig, daß gerade eine der tatkräftigsten Naturen, die wir aus der spätem römischen Welt kennen, der ältere Plinius, den Unsterblichkeitsglauben in fast leidenschaftlicher Weise von sich weist: er, dessen Existenz doch eine bevorzugte war, der mit unermüdlicher Ausdauer jede Minute seines Lebens für den Staat, für die Menschheit, für die Erkenntnis der Wahrheit nutzbar zu machen strebte und in diesem Streben einen edeln, seines Lebens würdigen Tod fand.

»Für alle«, sagt er, »tritt mit der letzten Stunde dasselbe ein, was vor der ersten war, und Gefühl und Bewußtsein gibt es für Seele und Körper nach dem Tode so wenig wie vor der Geburt. Menschliche Eitelkeit setzt die Existenz in die Zukunft fort und erlügt ein Leben in die Zeit des Tods hinein, indem sie der Seele bald Unsterblichkeit, bald Umgestaltung, bald den Unterirdischen Bewußtsein beilegt und Manen verehrt und die zu Göttern macht, die sogar Menschen zu sein aufgehört haben: als ob unser Atem sich auf irgendeine Weise von dem aller übrigen Geschöpfe unterschiede, oder als ob man nicht in der Natur so viele länger währende Dinge fände, denen doch niemand Unsterblichkeit prophezeit. Welchen Körper hätte denn aber die Seele an sich? Welchen Stoff? Welches Denkvermögen? Wie Gesicht, Gehör und Tastsinn? Welchen Gebrauch dieser Gaben oder welches Gut ohne sie? Wo ist der Aufenthalt und wie groß in soviel Jahrhunderten die Menge der schattengleichen Seelen? Beschwichtigungsmittel für Kinder und Hirngespinste einer Sterblichkeit, die nie aufzuhören trachtet! – Welcher verwünschte Wahnsinn, daß das Leben durch den Tod erneuert werden soll! Und wo gäbe es jemals Ruhe für die Erschaffenen, wenn in höheren Regionen das Bewußtsein der Seele fortdauerte, und Schatten in der Unterwelt? Wahrlich, dieser angeblich süße Trost und diese Glaubensseligkeit nimmt dem eigentlichsten Gute der Natur, dem Tode, seine Kraft und verdoppelt den Schmerz des Sterbenden durch die Aussicht auf eine fernere Zukunft. Denn wenn es süß ist zu leben, für wen kann es süß sein gelebt zu haben? Aber wieviel leichter und sichrer wäre es, daß jeder sich selbst glaubte und die Erfahrung über die der Geburt vorausgehende Zeit als Beweis der Sicherheit für die Zukunft gelten ließe!«

Diese Äußerung einer an buddhistische Lebensanschauungen streifenden Sehnsucht nach der Vernichtung steht vereinzelt. Aber die materialistische Auffassung der Seele und die darauf beruhende Leugnung der Unsterblichkeit war mindestens ebenso verbreitet wie der Epikureismus, durch den auch die Anschauung des Plinius ohne Zweifel mittelbar oder unmittelbar bestimmt wurde. Die Aussicht auf ein Ende des Daseins war für die überzeugten Bekenner dieser Lehre keine traurige. Es war ihnen ein tröstlicher Gedanke, in einen Hafen zu gelangen, wo sie den Täuschungen der Hoffnung, den Launen des Schicksals für immer entrückt sein würden; ihnen ziemte, als satte Gäste sich gelassen von der Tafel des Lebens zu erheben, um sich dem traumlosen Schlafe zu überlassen. Die »dem ewigen Schlafe« oder »der ewigen Ruhe« ( Securitati) geweihten Grabschriften deuten, streng genommen, eine Leugnung der Unsterblichkeit an, wenn auch bei all diesen Ausdrucksformen nie außer acht gelassen werden darf, daß sie bei häufiger Verwendung rasch abgegriffen wurden und sich der einzelne ihrer ursprünglichen Tragweite nicht mehr bewußt war: nicht überall ist der Ausdruck so unzweideutig wie in der selbstverfaßten Grabschrift eines Nicomedes auf Kos (der, wie es scheint, ein herumziehender Sänger der Homerischen Gedichte war): »Nach Verhöhnung des Wahns liege ich hier in unerwecklichem Schlaf«. Eine griechische Grabschrift lautet: »Nicht ist ein Kahn im Hades noch ein Charon dort, kein Äacus als Pförtner noch ein Cerberus. Wir alle aber, die der Tod hinabführt, sind morsche Knochen und Asche, andres aber nicht«; in einer andern heißt es von dem Toten, er sei nun nach Durchmessung der Lebensbahn ein Grab, ein Stein, ein Bildnis geworden. Ein viel gebrauchtes Distichon lautet: »Ich war nicht und ward, ich war und bin nicht mehr, soviel ist wahr. Wer anders sagt, der lügt: denn nicht werde ich sein«, öfters wird noch hinzugesetzt, daß der Tod kein Übel sei, da mit dem Leben auch das Bewußtsein aufhöre. Ein L. Mäcius Marcus, der bei Lebzeiten für sich und die Seinen ein »ewiges Haus erbaute, sagte in der Inschrift (als noch Lebender): »Ich war einst nicht und bin jetzt; ich werde einst nicht sein: es grämt mich nicht«. Einer Verstorbenen sind auf einem Grabstein die Worte in den Mund gelegt: »Ich war einst nicht und bin nicht mehr. Ich weiß nichts davon: es trifft mich nicht«. »Der Tod«, heißt es auf einem andern Stein, »ist das Letzte und auch das Heilsamste«. Dies wurde auch in scherzhafter Weise ausgeführt. Ein Freigelassener Ancarenus Nothus sagt in seiner Grabschrift, er befürchte nicht mehr hungern zu müssen, habe kein Podagra und brauche keine Wohnungsmiete zu bezahlen, da er ein ewiges Quartier unentgeltlich bewohne. Mit der Leugnung der Fortdauer wird auch die Aufforderung zum Genüsse des vergänglichen Lebens verbunden, z. B.: »Ich war nichts, ich bin nichts. Und du, der du lebst, iß, trink, scherze, komm!« »Du, der du dies liesest, Kamerad, freue dich deines Lebens; denn nach dem Tode gibt es weder Scherz noch Lachen, noch irgendeine Freude«. Ein Grabmonument, das im Jahre 1626 unter der Konfession der Peterskirche gefunden wurde, eine Statue eines liegenden Mannes mit einer Trinkschale in der Hand, erregte durch den verruchten Inhalt seiner Inschrift so großen Abscheu, daß die Statue versteckt oder (nach andern) in den Tiber geworfen, die Inschrift mit Kalk überstrichen wurde; doch ist eine Abschrift aufbewahrt. Der Verstorbene scheint trotz seines krassen Materialismus ein bürgerlich geregeltes, anständiges Leben geführt zu haben. Er war aus Tibur, hieß Flavius Agricola und hatte sich in der Stellung abbilden lassen, in der er einst im Leben dem Wein zuzusprechen liebte. Mit seiner Frau Flavia Primitiva hatte er dreißig Jahre aufs angenehmste gelebt; sie, eine keusche, fleißige, schöne Frau, war eine Verehrerin der Isis gewesen. Nach ihrem Tode hatte ihn sein Sohn Aurelius Primitivus durch seine Liebe getröstet und in sein Haus aufgenommen. Zum Schluß ermahnt er die Leser in Versen, die offenbar in allerlei Variationen oft angewandt wurden, sich des Weins und der Liebe zu erfreuen, denn alles übrige verzehre nach dem Tode die Erde und das Feuer.

Es ist sehr glaublich, daß in der Bildungssphäre, welcher die Verfasser dieser und mancher der früher erwähnten Grabschriften angehörten, für Ungläubige der platteste Materialismus auch der einleuchtendste war, und sehr natürlich, daß sie gern ihre starkgeistige Aufklärung und Erhabenheit über die Menge der minder Fortgeschrittenen durch möglichst kräftig abgefaßte Bekenntnisse an den Tag legten, deren Anbringung auf Grabsteinen damals weder die Sitte noch ein Dogma ausschloß. Vielmehr schien dies gerade eine besonders passende Gelegenheit, die Summe der Lebenserfahrungen zu ziehen: und so ist es kein Wunder, daß gerade hier auch jene niedrigste Abart des Epikureismus sich breit macht, die das einzige wahre Gut im gröbsten Sinnengenusse suchte, öfters wird auf eine in diesem Sinn abgefaßte Grabschrift des Königs Sardanapal hingedeutet oder ihr Inhalt variiert, z. B.: »was ich gegessen und getrunken, habe ich mit mir genommen, was ich zurückgelassen, habe ich verloren«. Nicht anders sind die Grabschriften zu verstehen, in denen Bäder, Wein und Liebe, mäßig genossen, als die Quelle des wahren Lebensgenusses gepriesen werden und von dem Toten gesagt wird, er habe alles mit sich ins Grab genommen, d. h. alles, was das Leben an wirklichen Gütern bieten könne, sei in seinen Besitz übergegangen und damit gleichsam ein Teil seiner selbst geworden.

Die Anzahl der materialistischen Grabschriften ist nun gegenüber den vielen Tausenden, die keinen Zweifel an der Fortdauer verraten, verschwindend klein, obwohl, wie gesagt, keins von den Hindernissen existierte, welche die Äußerung solchen Unglaubens an dieser Stelle gegenwärtig auch dem rücksichtslosesten Materialisten beinah unmöglich machen, da überhaupt die Empfindung der antiken Welt von der der modernen in bezug auf Grab und Tod eben in mehr als einer Beziehung wesentlich verschieden war: jene fand selbst scherzhafte Äußerungen mit dem Ernste des Grabs nicht unvereinbar. Aber daß der Materialismus verbreitet war, würde man trotzdem annehmen dürfen, selbst wenn nicht bestimmte Zeugnisse über die große Verbreitung des Epikureismus (besonders unter den Ungebildeten, und wir dürfen wohl nach heutiger Analogie vermuten, noch mehr unter den Halbgebildeten) vorhanden wären. Freilich fehlt jede Möglichkeit, das zahlenmäßige Verhältnis der Materialisten zu den Unsterblichkeitsgläubigen für irgendeine Zeit zu bestimmen; daß sie aber auch im spätem Altertum trotz ihrer relativ großen Zahl immer nur eine kleine Minorität gebildet haben, dafür sprechen Gründe genug.

Wenn übrigens auch die Leugnung der Unsterblichkeit nur in der materialistischen Philosophie Epikurs ein Haupt- und Fundamentalsatz des Systems war, so wurde doch die Endlichkeit der Seele auch in andern philosophischen Systemen angenommen. Zwar der Glaube der Stoiker an eine begrenzte, doch unbestimmt lange Fortdauer nach dem Tode hatte in der praktischen Anwendung im wesentlichen denselben Wert und dieselbe Wirkung wie der Unsterblichkeitsglaube. Doch Panätius, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. im Kreise der Scipionen zu Rom, später zu Athen lebte, großes Ansehen genoß und namentlich auf die Römer, die sich dem Stoizismus zuwandten, zu allen Zeiten großen Einfluß übte, wich wie in andern Punkten so auch hier von der Überlieferung der Schule ab. Er leugnete die Fortdauer gänzlich, und ebenso bestimmt sprach unter den spätem Stoikern Cornutus (der Lehrer des Persius) aus, daß die Einzelseele mit ihrem Leibe sterbe und vergehe, während Marc Aurel zwischen den Vorstellungen eines Erlöschens der Seele im Tode und eines Übergangs in ein andres Dasein schwankte. Unter den peripatetischen Philosophen, denen sich Panätius vorzugsweise anschloß, hatte auch Dicäarch, ein unmittelbarer Schüler des Aristoteles, die Fortdauer der Seele geleugnet, die ihm das Ergebnis aus der Mischung der körperlichen Stoffe, in ihrem Dasein an den Körper gebunden und durch alle seine Teile verbreitet war. Aristoteles hat zwar eine Fortdauer des denkenden Geistes gelehrt, aber keine persönliche und individuelle, und hat die Vorstellung, als ob die Gestorbnen, die das Volk in Griechenland »die Seligen« nannte, glücklich sein könnten, ausdrücklich zurückgewiesen. Von den späteren Peripatetikern hat Strato aus Lampsacus, der Schüler des Theophrast, allem Anschein nach den Unsterblichkeitsglauben ganz aufgegeben; und der mit dem Namen eines zweiten Aristoteles geehrte Alexander von Aphrodisias (in der Zeit der Severe) hat die Leugnung der Unsterblichkeit auch bei Aristoteles nachzuweisen gesucht.

Aber eine Philosophie gab es doch auch, welche die Unsterblichkeit mit ebenso großem Nachdruck behauptete, wie der Epikureismus sie leugnete: die Platonische, die einzige, die sie auch wissenschaftlich zu beweisen unternahm, da für den Pythagoreismus die Lehre von der Unsterblichkeit und Seelenwanderung vielmehr ein Dogma als ein philosophischer Satz war. Wie überhaupt der Platonismus die dem Überirdischen zugewandten Geister unwiderstehlich anzog, so war namentlich seine Seelenlehre ein Trost und eine Beruhigung für alle, die mit dem Bedürfnisse des Unsterblichkeitsglaubens das einer philosophischen Begründung ihrer Überzeugungen verbanden: auch Cato von Utica, dieser »vollendete Stoiker«, wie ihn Cicero nennt, der durch seinen Tod zu einer Idealgestalt des späteren Stoizismus wurde, las, bevor er zum Selbstmorde schritt, den Phädon Platos. Freilich konnte Platos Beweis der Unsterblichkeit niemanden überzeugen, der nicht schon überzeugt war, auch war seine Unbündigkeit durch die Kritik Stratos nachgewiesen worden: aber wie für Cicero, so genügte gewiß für die meisten das Ansehen und der Name Platos als Bürgschaft für die Wahrheit seiner Lehre, und sie wollten lieber mit ihm irren, als mit seinen Gegnern die Wahrheit erkennen. »Es ist unberechenbar, wieviel seine Dialoge zur Kräftigung, Verbreitung und bestimmenden Ausgestaltung des Unsterblichkeitsglaubens, wechselnd im Laufe der Jahrhunderte, aber ununterbrochen bis in unsere Zeit gewirkt haben«. »Mit richtigem Verständnis hat die Nachwelt sein Bild festgehalten, als das des priesterlichen Weisen, der mit mahnender Hand dem unsterblichen Menschengeiste aufwärts den Weg weisen will, von dieser armen Erde hinauf zum ewigen Lichte.«

Wenn Plato glaubte, die Unvergänglichkeit der Seele wissenschaftlich begründen zu können, so hat er sich dagegen in seinen Vorstellungen von ihren Schicksalen vor und nach jedem Leben im Leibe je länger je mehr von den mystischen Lehren der orphisch-pythagoreischen Sekten bestimmen lassen. Die orphischen Gemeinden verehrten vor andern Göttern den thracischen Gott Bacchus (Dionysos), und in diesem Kult und in seinen Ekstasen wurzelte die Überzeugung, »daß im Menschen ein Gott lebe, der erst nach der Sprengung der Fesseln des Leibes frei werde«. Im Zusammenhange mit dieser Überzeugung entwickelte sich das Streben nach der Ablösung des Irdisch-Vergänglichen durch Askese (das sogenannte orphische Leben), das dem Glauben und der Seelenstimmung dieser mystischen Separatisten die Richtung gab; und auch der Glaube an eine ausgleichende Gerechtigkeit im Jenseits verdankt ihnen seine Ausführung und Begründung. Diese Lehren, die ihren Weg aus Thracien über Griechenland nach Unteritalien und Sizilien fanden, wurden hier mit denen der pythagoreischen Gemeinden verschmolzen und gewannen in ihrer nunmehrigen Gestalt, die sich durch Jahrhunderte unverändert erhielt, die größte Verbreitung in der ganzen griechischen Welt. Das wichtigste unter den orphisch-pythagoreischen Dogmen war die Lehre von der Seelenwanderung, dem Kreislauf immer neuer Geburten, den die Seele durchmessen muß, um die Buße für ihren Sündenfall in das Körperliche zu vollenden und wieder göttlich zu werden wie einst. Hier war also nicht der Tod der Sünde Sold, sondern das Leben. Nach dem irdischen Leben erwartet die Seele im Hades ein Gericht, und nach dessen Ausspruch die Frommen ein seliges Dasein mit den Göttern der Tiefe, die Frevler Strafen im Tartarus, die »in der Absicht zu schrecken, zu bekehren, zu erwecken«, in den eschatologischen Dichtungen der Orphiker ins Fürchterliche ausgemalt waren. Plato hat sich sowohl die Lehre von der Seelenwanderung wie von den Strafen der Seelen angeeignet, die teils als läuternde – namentlich durch Feuer, eine Lehre, die auch Origenes annahm, und die Gregor I. zum Dogma erhob – gedacht waren, teils als ewige, und er hat großen Wert darauf gelegt, sie mit allem Nachdruck zu verkünden.

Auch Vergil hat die Hauptzüge seines Gemäldes der Unterwelt, namentlich des Elysiums, des Tartarus und des Lethetals (wo die Seelen, die in neue Leiber eintreten sollen, vorher Vergessenheit des Früheren trinken) einer orphischen Dichtung entnommen. Ebenso hat Plutarch in seiner Schilderung des Jenseits aus einer orphischen Dichtung geschöpft; nach Platos Vorgange gibt er sie als Vision eines wieder zum Leben erwachten Toten, dessen Seele die Erinnerung an die während der Trennung vom Körper empfangenen Eindrücke bewahrt hat. Der Ort der Seligen gleicht einer bacchischen, reich mit Grün und Blumen aller Art geschmückten Grotte, die einen sanften, die Seelen wie Wein berauschenden Duft aushaucht und ganz von bacchischer Lust, Lachen, Scherz und Gesang erfüllt ist. Am Orte der Qual sind die Strafen für die Verschuldungen dreifach abgestuft. Am gelindesten sind sie für jene, die schon auf Erden gebüßt haben. Wer aber aus diesem Leben ungestraft und ungeläutert kommt, wird so lange gepeinigt, bis jede Leidenschaft aus ihm durch Schmerzen und Qualen getilgt ist, die an Heftigkeit und Stärke die leiblichen so weit übertreffen, wie die Wirklichkeit den Traum an Deutlichkeit. Narben und Striemen bleiben von den Leidenschaften bei den einen längere, bei den andern kürzere Zeit zurück, daher die Farben der Seelen bunt und mannigfach sind: die blutrote Farbe verrät Grausamkeit, die bläuliche, daß hier die Wollust ausgerottet ist usw. Die Farbe zeigt das Ende der Läuterung und Bestrafung an, nach ihrem Verschwinden erscheinen die geläuterten Seelen gleichfarbig und glänzend. An dem Orte der schwersten Strafen ertönt Jammergeheul der Seelen, die dort die gräßlichsten Martern leiden. Der Erzähler sieht die Seele seines Vaters voll von Malen und Narben aus einem Schlunde hervorkommen und die Hände nach ihm ausstrecken, während sie von ihren Peinigern zu neuen Büßungen (für einen im Leben unentdeckt gebliebenen Giftmord) geschleppt wird. Er sieht Seelen, die, gleich einem Knäuel von Schlangen umeinander geschlungen, sich gegenseitig fressen. Dort sind ferner drei Seen, von siedendem Golde, von kaltem Blei und von rauhem Eisen; Dämonen, die Schmieden gleichen, tauchen mit Werkzeugen die Seelen der Habsüchtigen darin unter und ziehen sie wieder heraus. Nachdem sie in dem Goldsee glühend und durchsichtig geworden, erstarren sie in dem Bleisee zu der Härte von Hagelkörnern, dann werden sie in dem Eisensee schwarz und spröde, so daß sie durch Zerbrechung und Zerreibung neue Gestalten annehmen, hierauf kommen sie aufs neue in den Goldsee und leiden bei diesen Veränderungen unsägliche Qualen. Manche, die schon von Strafe befreit zu sein glaubten, werden auf die Klagen und Vorwürfe der Seelen ihrer Nachkommen, die im Leben für ihre Verbrechen hatten büßen müssen, zu neuen Martern geschleppt. Zuletzt sieht er die Seelen derer, die behufs einer zweiten Geburt von ihren Peinigern mit Werkzeugen aufs gewaltsamste umgestaltet werden. Unter ihnen ist auch die Seele des Nero, die außer andern Qualen mit glühenden Nägeln durchschlagen ist. Sie sollte in einem Vipernleibe leben, aber auf das Gebot einer Stimme, die plötzlich aus einem gewaltigen Lichte erscholl, ward ihr der Leib eines zahmen Tiers zum Aufenthalt angewiesen, das singend an Sümpfen und Seen lebt (etwa eine Unke); »denn die Götter seien dem Nero auch eine Belohnung schuldig, da er das beste und gottgeliebteste Volk unter seinen Untertanen in Freiheit gesetzt habe«.

Auch in den Grabschriften fehlt es nicht an Spuren einer weiten Verbreitung der orphischen Doktrin. Dazu gehört die an den Unterweltsgott Aidoneus oder Osiris, den ägyptischen Herrn der Seele, gerichtete Bitte, den Toten das kalte Wasser zu gewähren, womit ein Wasser des Lebens gemeint ist. Wie die in den Gräbern von Thurii und Petelia (etwa aus dem 4. bis 3. Jahrhundert v. Chr.) und zu Eleuthernä auf Kreta (etwa aus dem 2. Jahrhundert v. Chr.) sowie bei Rom (2. Jahrhundert n. Chr.) gefundenen Goldblättchen (die die Toten in der Hand gehalten zu haben scheinen) zeigen, wurden die Formeln, die der Geweihte bei seinem Eintritt in den Hades kennen mußte, um des Wassers des Lebens teilhaft zu werden, ihm ins Grab mitgegeben, viele Jahrhunderte lang in gleicher Weise. Auch die Christen behielten jene Vorstellung bei, obwohl bald nicht mehr in der ursprünglichen Bedeutung. »Kühlung ( refrigerium) ist bei ihnen eine für den Zustand der Seligen nach dem Tode typische Bezeichnung, und die Bitte um diese Kühlung wird nicht nur an Christus, sondern auch an Märtyrer gerichtet.

Auch die Vorstellung von einer Erhebung der Seele in den Äther, zu den Gestirnen, in die Nähe der Götter, die »sowohl in religiösen Ahnungen als in philosophischen Spekulationen« wurzelte, war mit den orphisch-pythagoreischen Lehren vereinbar; sie scheint die Vorstellung von einem (meist als unterirdisch gedachten) »Ort der Frommen« je länger je mehr zurückgedrängt und unter dem Einfluß stoischer Anschauung in der späteren Zeit die größte Verbreitung gefunden zu haben. Statius läßt es unentschieden, ob die Seele seines Vaters sich zur Höhe emporgeschwungen habe und in den lichten Regionen weilend die Bahn der Gestirne verfolge, oder auf den lethäischen Gefilden bei den Heroen der Vorzeit und den seligen Manen wohne. Doch in einigen Grabschriften wird die letztere Vorstellung ausdrücklich zurückgewiesen: nicht in der Unterwelt und bei den Manen sei die Seele des Verstorbenen, sondern sie habe sich zu den Gestirnen erhoben. In diesem Sinne läßt Josephus den Titus in einer Anrede an die Tapfersten seines Heeres vor Jerusalem es aussprechen, daß die Seelen der gefallenen Helden das reinste Element, der Äther, aufnehme und sie bei den Gestirnen wohnen lasse, von wo sie ihren Nachkommen als gute Geister und gütige Heroen erschienen, während die in kranken Körpern Dahinsiechenden von der Unterwelt in ihre Nacht eingehüllt würden, und ebenso sagt auch der jüngere Plinius von dem verstorbenen Vater Trajans: seine Wohnung sei entweder auf den Sternen oder doch in ihrer Nähe, von dort schaue er auf seinen Sohn herab und freue sich seines Ruhms und seiner Herrlichkeit.

Doch unter den Gebildeten der römischen Welt war in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten wahrscheinlich die Zahl derer am größten, die teils keinem philosophischen Systeme ganz und gar anhingen, sondern nach individuellem Bedürfnis ihre Weltansicht durch Wahl aus verschiednen Systemen bildeten, teils von der Philosophie überhaupt nur mittelbar und in geringem Maße beeinflußt waren. Ein großer Teil von diesen wird das Bedürfnis nicht empfunden oder darauf Verzicht geleistet haben, über die Unsterblichkeit zu einer festen Überzeugung zu kommen. Die so ganz entgegengesetzten Resultate, zu denen die verschiednen philosophischen Richtungen gelangt waren, die Bestreitung der von den angesehensten Lehrern aufgestellten Sätze durch andre nicht minder angesehene, mußte namentlich skeptische Geister zu der Ansicht führen, daß die wissenschaftliche Erforschung dieses Gegenstandes zu den Aufgaben gehöre, welche die menschliche Kraft übersteigen: eine Ansicht, bei der auch ein Sokrates stehen geblieben war, wenngleich seine Natur ihn zum Glauben an die Fortdauer hinzog. Es ist sehr natürlich, daß namentlich den Forschern, die den Körper zum Gegenstand ihrer Untersuchung machten, die schwersten Zweifel an der Unkörperlichkeit der Seele aufstiegen. Der Arzt Galen, obgleich nichts weniger als ein Materialist und ein entschiedner Gegner Epikurs, fand doch die Platonische Vorstellung von der Immaterialität der Seele sehr bedenklich; denn wodurch sollten sich, fragt er, unkörperliche Substanzen voneinander unterscheiden, wie kann ein unkörperliches Wesen über den Körper verbreitet sein, wie kann ein solches vom Körper so affiziert werden, wie dies bei der Seele im Wahnsinn, in der Trunkenheit und in ähnlichen Zuständen der Fall ist? »Er getraut sich nicht, diesen Punkt zu entscheiden, und ebensowenig beabsichtigt er, die Unsterblichkeit zu behaupten oder zu leugnen.«

Doch auch Quintilian rechnet die Frage, ob die vom Leibe gelöste Seele unsterblich sei oder wenigstens eine gewisse Zeit fortdaure, unter die unentschiedenen, und ebensowenig war Tacitus hierüber zu einer festen Überzeugung gekommen, als er im reifen Mannesalter das Leben des Agricola schrieb. Er schließt es mit dem Wunsche, daß der Verstorbene sanft ruhen möge, »wenn es eine Stätte für die Geister der Frommen gibt, wenn, wie die Weisen annehmen, große Seelen nicht mit dem Körper erlöschen« – dies letztere im Hinblick auf die Lehre des Chrysippus, daß nur die Seelen der Weisen bis zum Weltbrande fortdauern. Und selbst Cicero, für den der Unsterblichkeitsgedanke so hohen Wert hatte, fand es doch nicht überflüssig, die Todesfurcht auch für den Fall zu beschwichtigen, daß die Seele im Tode untergehe.

Aber wenn auch Cicero den Zweifel als berechtigt anerkannte, stand seine eigne Überzeugung so fest, als es ohne Offenbarungsglauben möglich ist, und seine Gründe für die Unsterblichkeit dürfen wir gerade darum als die Gründe der Mehrzahl der Gläubigen unter den Gebildeten voraussetzen, weil sie nicht sowohl auf Dogmen oder wissenschaftlich bewiesenen Resultaten, als vielmehr auf den Instinkten, Bedürfnissen und Empfindungen beruhen, die teils der menschlichen Natur überhaupt eigen sind, teils sich durch die besonderen Einflüsse der römischen Kultur entwickelt hatten. Denn obwohl Cicero den Platonischen Beweis der Unsterblichkeit ausführlich mitteilt, sagt er doch, wie bemerkt, ausdrücklich, daß für ihn die Überzeugung eines Plato auch ohne Gründe bestimmend sei, und er führt diesen Beweis allem Anschein nach mehr zur Befriedigung der Ansprüche andrer als seiner eignen an. Sein Glaube wie der aller verwandten Naturen beruhte vor allem auf einem hohen Begriff von der Größe und Würde des Menschengeistes, auf der Bewunderung und Ehrfurcht vor seinen Kräften und Leistungen. Der Geist, der Sprache und Schrift erfunden, den Menschen zum Menschen gesellt, die Bahnen der Gestirne gemessen, die ganze Kultur, die Künste, Poesie und Philosophie geschaffen hatte, konnte nach seiner Überzeugung unmöglich irdischer und vergänglicher Natur sein. Seine Kraft, seine Weisheit, seine Erfindung, seine Erinnerung erschien ihm göttlich; sein Ursprung konnte nicht auf Erden sein, er mußte vom Himmel stammen und darum ewig sein. Diese Überzeugung bestätigt ihm die Übereinstimmung aller Völker, die hier ebenso vollständig war wie im Glauben an Gottheiten, ferner der Glaube der größten Geister seiner eignen Nation und die Anerkennung der Unsterblichkeit in dem seit so vielen Jahrhunderten unverändert festgehaltenen religiösen Kultus der Toten. Auch in der Sorge der Menschen für die Zeit nach ihrem Tode, in der Aufopferung der Besten für die Nachwelt, in dem so allgemeinen und natürlichen Streben nach Anerkennung bei späteren Geschlechtern und Nachruhm glaubte er einen Beweis für die Fortdauer zu finden: überall und zu allen Zeiten hätten gerade die an Geist und Charakter hervorragendsten Menschen so gehandelt, wie man eigentlich nur in der Aussicht auf eine Fortdauer handeln könne; in dem Glauben aber der Edelsten und Besten dürfe man eine Erkenntnis des Wahren erblicken. Einen fast poetischen Ausdruck hat Cicero seinem Glauben an persönliche Fortdauer in dem »Traum des Scipio« gegeben, in dem die Seligkeit der großen Toten der Vorzeit in höheren Sphären geschildert wird, die aus dem Kerker des Leibes zum wahren ewigen Leben emporgehoben sind.

Aber freilich blieben alle Jenseitshoffnungen, die nicht auf religiöse Überzeugung gegründet waren, sehr schwankende, wie dies namentlich Senecas Beispiel zeigt, der sich doch zu dem eine Fortdauer lehrenden Stoizismus bekannte und überdies in hohem Grade zu platonischen Anschauungen neigte. Es gab eine Zeit in seinem Leben, wo ihm eine Fortdauer ebensowenig denkbar und ebensowenig wünschenswert erschien, wie dem von ihm stets hochgeschätzten Epikur. In einer seiner Tragödien heißt es:

Wes Fuß
Berührt die Fluten des Todesstroms, der ist
Nirgends mehr fortan. Gleich wie vom Feuer der Rauch,
Kaum aufgestiegen, trüb in die Luft verschwimmt,
Wie Wetterleuchten, kaum erst erschaut von uns,
Auch schon zerteilt des stürmischen Nords Gewalt,
So wird der Hauch, der jetzt uns belebt, entfliehn.
Nach dem Tod kommt nichts mehr, selber der Tod ist nichts,
Dem flüchtigen Laufe winkt er als letztes Ziel.
Nicht hofft, ihr Gierigen, Furchtsame, bebt nicht mehr!
Du fragst, wo nach dem Tode du weilen wirst?
Dort, wo das Nichtgeborene ist.
Die Zeit verschlingt, die gier'ge, das Chaos uns.
Auf jeglichen Leib hat einmal der Tod ein Recht
Und schont auch der Seelen nicht. Tänaron und das Reich
Des finstern Königs, und der die Schwelle wahrt
Als Hüter, Cerberus, dem man fürchtend naht,
Sind leeres Gerede, nichtige Worte nur,
Ein Spuk, der uns ängstigt, wie ein Fiebertraum.

Wenn auch Seneca an dieser unbedingten Leugnung der Fortdauer nicht lange festgehalten hat, so ist er doch zu einem festen, alle Zweifel ausschließenden Unsterblichkeitsglauben niemals gelangt. An seinen Freund, den Epikureer Lucilius, schreibt er einmal, dessen letzter Brief habe ihn aus einem angenehmen Traume erweckt. Er sei im Begriff gewesen, sich dem tröstlichen Glauben an die Ewigkeit der Seelen hinzugeben und sich die Meinungen großer Männer anzueignen, die ja freilich mehr verheißen als beweisen: beim Empfange von Lucilius Brief sei er erwacht, und der hübsche Traum war dahin, doch er wolle ihn zurückgewinnen. In der Tat schließt er seinen Brief mit einem Ausblick auf das längere und bessere Leben, zu dem das irdische nur ein Vorbild sei. Dann werden sich uns die Geheimnisse der Natur enthüllen, der Himmel, den die an den Leib gefesselte Seele nur von ferne ertragen kann, von allen Seiten mit gleichem Glanze leuchten, es wird keinen Wechsel von Tag und Nacht mehr geben, und wir werden erkennen, daß wir in der Finsternis gelebt haben, solange das göttliche Licht nur durch die so äußerst engen Wege der Augen zu uns drang. Vergleicht man diesen Schluß mit dem Anfang des Briefs, so kann man kaum zweifeln, daß die Zuversicht, die er hier zur Schau trägt, eine künstlich eingeredete war. In der Tat erklärt er es in seinen spätesten Schriften oft genug als zweifelhaft, ob es ein andres Leben gebe, ob die Seele fortdauere, ob der Tod nur ein Übergang sei oder das Ende. Über sein Wesen und seine Wirkung würden wir Gewißheit nur dann erhalten, wenn ein Gestorbener wieder auferstände. Aber Seneca wußte von keinem Auferstandenen.

Eine Gewißheit der Fortdauer konnte die philosophische Spekulation nur in Verbindung mit religiösem Glauben, wie im Platonismus und Pythagoreismus, geben. Gewiß war auch unter den Gebildeten die Zahl derer nicht gering, die auf eine philosophische Begründung ihrer Jenseitshoffnungen ganz verzichteten und Trost und Beruhigung über das andre Leben in der Religion allein suchten und fanden.

Am vollkommensten wurde dies Verlangen durch die sehr zahlreichen Geheimkulte befriedigt. Aus den orphisch-dionysischen Mysterien, die in der ganzen griechischen Welt ungemein verbreitet waren und namentlich im 2. Jahrhundert n. Chr. blühten, schöpften Unzählige, wie Plutarchs Gattin Timoxena, ihren festen Unsterblichkeitsglauben. Doch behaupteten unter den griechischen Mysterien die eleusinischen das Ansehen des heiligsten Gnadenfestes, und der Zudrang zu der dortigen Feier der heiligen Nacht ist vielleicht in den letzten Zeiten des Altertums am größten gewesen. Im ganzen römischen Reich gewannen ausländische (thracische, phrygische, ägyptische, syrische, persische) Geheimkulte durch den Reiz des fremdartig Geheimnisvollen eine immer größere Anziehungskraft: wohl alle verhießen ihren Gläubigen selige Unsterblichkeit. »Wiedergeborene«, »auf ewig Wiedergeborene« heißen diejenigen, die im Geheimdienste der Großen Mutter die Bluttaufe des Taurobolium erhalten haben, und ebenso die Eingeweihten des Isis- und des Mithrasdienstes: der Kern des letzteren war vielleicht der altpersische Glaube an die Auferstehung der Toten. Die Malereien der von einem Priester des phrygischen Gottes Sabazius für sich und seine Gattin errichteten Grabkammer im Bereiche der späteren Praetextatus-Katakomben in Rom zeigen in eigenartiger Mischung heidnischer und jüdischer Anschauungen, wie die verstorbene Vibia einerseits nach dem Vorbilde der Proserpina vom Unterweltsfürsten entführt wird und dann in Begleitung von Mercurius und Alcestis vor dem Throne der unterirdischen Götter erscheint, und andrerseits ein angelus bonus sie in den Festsaal geleitet, in dem die Seligen ( bonorum iudicio iudicati) bekränzt beim frohen Mahle vereinigt sind. Für gemeinsame Begräbnisstätten der Angehörigen solcher Mysteriendienste fehlt es an Zeugnissen.

122. BUCHEINBAND. HUNDEHALSBAND. MEDAILLE.
Bronze. Zeit des Commodus. Rom, Thermen-Museum

Zu den Zeugnissen des Unsterblichkeitsglaubens und der Hoffnung auf ein höheres Dasein gehören auch zahlreiche bildliche Darstellungen auf Graburnen und -altären, Sarkophagen und sonstigen Grabdenkmälern, von denen die mit künstlerischem Schmuck ausgestatteten vorzugsweise doch nur von Wohlhabenden, also in der Regel höher Gebildeten benutzt werden konnten. Nicht immer freilich ist die Sprache dieser Bildwerke verständlich; die damalige künstlerische Produktion, die ja überhaupt die neuen Kunstbedürfnisse aus dem unermeßlichen Vorrat der vorhandenen Schöpfungen zu befriedigen suchte, hat auch hier vielfach ältere Darstellungen in einem neuen Sinne verwandt. Zu diesen gehört auch die große Masse der figurenreichen mythologischen Szenen, mit denen die Vorderseiten der Sarkophage geschmückt sind: ihrer Arbeit nach rühren sie in überwiegender Mehrzahl aus der Zeit vom 2. bis 4. Jahrhundert her und sind vielfach, vielleicht in der Regel, nicht auf Bestellung geliefert, sondern zur Auswahl für Käufer gearbeitet, also so, wie sie der großen Mehrzahl zusagten und gewöhnlich verlangt wurden. Wenn nun hier die Beziehung der dargestellten Mythen auf Tod, Unsterblichkeit und Jenseits oft nicht mit Sicherheit nachweisbar, und vielleicht in der Tat zuweilen nichts andres bezweckt worden ist als eine gefällige und bedeutende Ausfüllung des Raums durch allgemein beliebte Darstellungen, so ist doch bei einem großen Teile der Gegenstände der Sinn, in welchem sie zur Verzierung dieser Steinsärge gewählt sind, nicht zweifelhaft. Die Gestalten des Mythus sind hier gleichsam poetische Typen zum symbolischen Ausdruck abstrakter Ideen; und auch hier herrscht noch jene Tendenz der griechischen Kunst und Poesie, das Menschendasein durch Erhebung in ideale Gebiete zu verklären. Nur selten kommt (wie im Prometheusmythus) die Vereinigung und Trennung von Seele und Körper geradezu zur Darstellung; gewöhnlich wird der Übergang in ein andres Leben und dessen Seligkeit oder Unseligkeit durch die Schicksale der Götter und Heroen versinnbildlicht. Besonders gern wurde die Entführung der Proserpina ins Schattenreich und ihre Wiederkehr zur Welt des Lichts zum Schmucke von Sarkophagen gewählt, desgleichen der Tod des Adonis, dem ja ebenfalls eine Auferstehung folgt; vielleicht ist auch die Entführung der Töchter des Leucippus durch die Dioskuren zu einem höhern Dasein in ähnlichem Sinne zu verstehen. Die Geschichten von Admet und Alcestis, von Protesilaus und Laodomia deuten die Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tode, die Fortdauer der Gattenliebe im Jenseits an. Herakles, der durch unablässiges Ringen sich von den Gebrechen der Sterblichkeit befreiende und auch über die Mächte der Unterwelt siegreiche Held, erscheint in seinen Kämpfen und Arbeiten als der eigentliche Überwinder des Todes. Achill auf Skyros, der ein kurzes, glückliches Leben einem langen, tatenlosen vorzog und für diese Wahl mit der Versetzung ins Elysium belohnt wurde, soll, wie es scheint, den Lohn verbürgen, der die Tugend erwartet, die Geschichte des Aktäon, des Marsyas, der Klytämnestra, der Gigantenkampf vielleicht die Strafen, die den Frevler treffen werden. Auf die Freuden der Seligen deuten die mit besondrer Vorliebe dargestellten frohen Vereinigungen, Tänze und Feste des Schwarms, der das Gefolge des Bacchus bildet, jenes bunte Gewühl der Bacchanten, Mänaden, Satyrn, Pane und Kentauren, dessen Fülle nach Goethe auf Sarkophagen und Urnen den Tod überwältigt: »Die Asche da drinnen scheint im stillen Bezirk noch sich des Lebens zu freun.« Auch der Gott selbst verbürgte seine Wiedergeburt aus dem Tode nach orphischer Lehre den Eingeweihten seiner Mysterien die Unsterblichkeit; die von ihm zum Himmel erhobne Ariadne erschien als ein Vorbild der aus der Endlichkeit befreiten und in eine höhere Welt entrückten Seele, der Jubel und die festliche Freude des bacchischen Kreises, wie gesagt, als ein Sinnbild der zu hoffenden Seligkeit. Den Zustand der Seligen scheinen auch die Züge und Chöre der auf den Wellen des Ozeans sich wiegenden Nereiden und Meergötter, die Spiele von Liebesgöttern zu bedeuten. Zu beiden Seiten der Via Latina sind bei Rom 1857 und 1858 zwei einander gegenüberliegende, stattliche, zweistöckige Grabgebäude entdeckt worden, die der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. angehören. Die Gewölbedecke des Hauptgemachs im Unterstocke des einen, das drei Sarkophage enthielt, ist reich mit Stuckreliefs verziert: ein Medaillon in der Mitte stellt die Seele des Verstorbenen als verhüllte Gestalt, von einem Greifen emporgetragen, vor, umgeben von 24 Medaillons mit Bacchanten, Nereiden und Liebesgöttern in kleinen viereckigen Feldern. In einem bei Philippi gefundenen lateinischen Gedicht auf den Tod eines Knaben heißt es, daß ihn nun die dem Bacchus geweihten Frauen aufnehmen würden zum Genossen als Satyrn auf blumiger Wiese, oder die Nymphen in ihren von Fackeln geführten Reigen.

Wenn es also dahingestellt bleiben muß, ob selbst in der kleinen Minorität der Gebildeten der Unsterblichkeitsglaube mehr Gegner als Bekenner zählte, so kann es keine Frage sein, daß in den Massen zu allen Zeiten eine ungeheure Mehrzahl die seit der Urzeit von Jahrhundert zu Jahrhundert fortgepflanzten Vorstellungen von der Fortdauer der Seelen im Jenseits, ungeachtet aller im Laufe der Zeit eingetretenen Modifikationen, im wesentlichen festhielt. Der Glaube an die eigne Fortdauer gehört zu den stärksten und verbreitetsten Instinkten und Bedürfnissen der menschlichen Seele, was ja auch das Studium der Naturvölker sowie der ältesten Kulturvölker im allgemeinen bestätigt, wenngleich es an Ausnahmen nicht fehlt, zu denen u. a. die Araber vor Mohammed gehören; er reicht namentlich bei den indogermanischen Nationen weit über die Anfänge aller Überlieferung hinaus. Der Unsterblichkeitsglaube ist der menschlichen Natur ebenso gemäß wie der Glaube an das Walten höherer Wesen; er entspringt aus dem Schauder vor der Vernichtung, der Selbsterhaltungstrieb greift hier instinktmäßig über den Tod hinaus. Der zum Bewußtsein erwachte Mensch sucht im Jenseits die Lösung für die Rätsel des Lebens, den Trost für seine Leiden und Täuschungen, »am Grabe noch pflanzt er die Hoffnung auf«. Der Reflexion, die zum Zweifel und zur Leugnung führt, kann immer nur eine Minderheit fähig sein. Die Sehnsucht nach der Vernichtung, die in Asien seit so vielen Jahrhunderten Millionen erfüllt, entspringt aus der Angst nicht vor der Fortdauer an sich, sondern vor der Qual endloser Wiedergeburten.

Allerdings sind nun materialistische Strömungen wie zu allen Zeiten so auch im spätern griechisch-römischen Altertum hier und da in die Massen gedrungen: daß sie aber dort jemals sich verbreitet, dem positiven Glauben erheblichen Abbruch getan haben, läßt weder die Analogie ähnlicher Erfahrungen in neuern Zeiten annehmen, noch spricht dafür die, wie gesagt, verhältnismäßig geringe Zahl materialistischer oder Zweifel ausdrückender Grabschriften von Personen der untern Klassen. Auch äußern diesen gegenüber andre ein festes Vertrauen auf eine Fortdauer und ein Wiedersehen nach dem Tode, wie z. B. jene Inschrift auf dem gemeinsamen Grabmal eines Ehepaars, von welchem die Frau zuerst gestorben war: »Ich erwarte meinen Mann«, und die mehrfach auf den Grabschriften wiederkehrende Bitte des Verstorbenen an eine früher verstorbene teure Person, ihm im Jenseits Quartier zu machen. Namentlich aber bestätigen zahlreiche unzweifelhafte Zeugnisse, daß der Volksglaube im großen und ganzen, soweit die römisch-griechische Kultur reichte, noch immer durch die uralten römischen und griechischen Vorstellungen vom Jenseits bestimmt wurde, die sich im Laufe der Jahrhunderte vielfach verschmolzen hatten, und mit denen sich je länger desto mehr orientalische Anschauungen verbanden.

Zwar haben römische Autoren zu verschiedenen Zeiten versichert, daß an die alten volkstümlichen Fabeln von der Unterwelt niemand glaube. Kein altes Weib sei so schwachsinnig, sagt Cicero, daß es die »acherontischen tiefen Regionen des Orcus, das bleiche, von Finsternis umhüllte Reich des Todes« fürchte. Niemand, sagt Seneca, ist so kindisch, daß er sich vor dem Cerberus und der Finsternis und den Gespenstergestalten der Totengerippe fürchtet. Daß es Manen gibt, sagt Juvenal, und unterirdische Reiche, einen Cocytus und schwarze Frösche im stygischen Schlunde, und daß so viele Tausende in einem Nachen über das Wasser setzen, das glauben selbst von den Kindern nur die kleinsten, die noch kein Eintrittsgeld in den Bädern zahlen. Allerdings ist nun wahr, daß die griechischen Vorstellungen, von denen hier hauptsächlich die Rede ist, in Italien und den westlichen Ländern überhaupt weniger verbreitet waren, obwohl doch auch dort ihre durch die in der Schule allgemein gelesenen Dichter, durch die Theater, durch die bildende Kunst unaufhörlich und tausendfach geförderte Verbreitung keine geringe gewesen sein kann und von den angeführten Autoren unzweifelhaft unterschätzt ward. Konnte doch Lucrez sagen, daß die Furcht vor dem Acheron das menschliche Leben von seinen innersten Tiefen aus aufregt, auf alles den schwarzen Schatten des Todes wirft und keine Freude ungetrübt läßt; allerdings mögen ihm bei seiner Ausmalung der allgemein gefürchteten Qualen und »ewigen Strafen« im Tartarus auch orphische Unterweltsbeschreibungen vorgeschwebt haben. Die Fortdauer des römischen Volksglaubens an die Manen zu leugnen, konnte Juvenal im Ernste kaum einfallen, und er hat wohl nur die grobsinnlichen Vorstellungen von ihnen als gänzlich aufgegeben bezeichnen wollen, auch dies freilich sehr mit Unrecht: wie denn Aufgeklärte stets nur zu leicht geneigt sind, die in ihren Kreisen herrschenden Ansichten als die vernünftigerweise einzig möglichen und folglich allgemeinen vorauszusetzen. Am wenigsten konnte Juvenal aber den Unsterblichkeitsglauben überhaupt leugnen wollen. Daß er von den Ansichten seiner gebildeten Zeitgenossen mindestens soviel wissen mußte wie wir, wird wohl niemand in Abrede stellen.

Aber wenigstens von einer der von Juvenal verspotteten griechischen Fabeln sind wir imstande nachzuweisen, daß sie damals und später im Volke sehr allgemein und fest geglaubt wurde, und zwar auch in den westlichen Ländern: es ist die Fabel von dem »grausen Fergen des Kahns auf dem kotigen Schlunde«, wie Juvenal selbst ihn ein andres Mal nennt, dem der Tote seinen Heller als Fährgeld mit dem Munde reichen muß. Daß das Volk in den griechischen Ländern allgemein an die Wirklichkeit des Totenfährmanns glaubte, bezeugt ausdrücklich Lucian: »In dieser Vorstellung ist die große Menge so sehr befangen, daß, wenn einer ihrer Angehörigen stirbt, sie ihm zuerst einen Obol in den Mund stecken, der für den Fährmann als Bezahlung für die Überfahrt bestimmt ist, ohne zu prüfen, welche Münze in der Unterwelt gangbar ist usw.« Noch heute findet sich diese Sitte in Griechenland, und auch Charon lebt, wenngleich in veränderter Gestalt, im Glauben und in den Liedern des Volks fort als Charontas oder Charos, ein Gott des Todes und der Unterwelt überhaupt, der in den verschiedensten Gestalten erscheint, als Schütze, als Schnitter, als ungeheurer, gespenstischer Reiter die Scharen der Verstorbnen entführend, als Adler auf seine Opfer niederstoßend usw., doch hier und da auch noch immer als Totenfährmann. Wie allgemein verbreitet, wie tief gewurzelt mußte ein Glaube sein, dessen Lebenskraft sich als eine so unzerstörbare erweist, obwohl seit anderthalb Jahrtausenden ihm scheinbar alle Bedingungen der Fortdauer entzogen sind. Ursprünglich ist vielleicht das dem Toten mitgegebene Geldstück ein Symbol des Abkaufens der ihm unverkürzt mitzugebenden Gesamthabe gewesen. Diese offenbar alte Sitte, die sich mit der merkwürdigsten Zähigkeit in vielen Gegenden des römischen Reichs bis in späte Zeit, ja durch das Mittelalter und bis in unsre Zeiten erhalten hat, brachte man mit der Vorstellung vom Totenfährmann in Verbindung, und diese Erklärung ist dann ebenfalls zum Volksglauben geworden.

Wenn hiernach also wohl kein Zweifel sein kann, daß etwas, was nach Juvenal nur kleine Kinder glaubten, in der Tat von Tausenden und Abertausenden im ganzen römischen Reiche geglaubt wurde, so werden wir ebensowenig an der Fortdauer und Verbreitung der übrigen volkstümlichen Vorstellungen von der Unterwelt zweifeln dürfen. Den Versicherungen des Gegenteils bei Cicero, Seneca und Juvenal steht die ebenso bestimmte Versicherung Lucians gegenüber. Er sagt, daß die große Menge der gemeinen Leute sich das Jenseits ganz so vorstelle, wie es die Dichter schilderten: ein ungeheures, finstres, von Pluto und Proserpina beherrschtes Totenreich mit dem Cocytus und Pyriphlegethon, dem Acherusischen See, dem diamantenen Tor, das Äacus mit dem Cerberus bewacht, der Asphodeloswiese mit dem Lethestrom, den Totenrichtern, welche die Guten ins Elysium senden, die Schlechten den Furien zu Martern aller Art überliefern, während die große Zahl derer, die weder gut noch böse waren, als Schatten auf der Asphodeloswiese umherirren und sich von den Grabspenden und Totenopfern nähren. Plutarch sagt, daß diejenigen, die sich vor den Bissen des Cerberus und dem Faß der Danaiden fürchteten, sich durch Weihen und Reinigungen davor zu schützen suchten, durch welche sie die Gewähr zu erhalten glaubten, im Hades an einem hellen Ort in reiner Luft unter Scherz und Tanz fortzuleben. Er meinte allerdings, daß es »nicht sehr viele« waren, die diese »Ammenmärchen« glaubten; natürlich war seine Schätzung ebenso subjektiv und ebenso durch zufällige Eindrücke bestimmt wie die Lucians, dem die Menge der Glaubenden sehr groß erschien, und hierin sind die Angaben beider gleich unzuverlässig. Schwerlich kann man aber bei der großen Menge geläuterter Ansichten vom Leben nach dem Tode voraussetzen als bei einem Manne wie Aristides, der doch auch geglaubt zu haben scheint, daß die in die Eleusinischen Mysterien nicht Eingeweihten in der Unterwelt in Schlamm und Finsternis liegen würden. In seiner Schrift »Vom Aberglauben« zählt Plutarch die Vorstellungen auf von tiefen Pforten des Hades, von Feuerströmen und jähen Abstürzen des Styx, von einer Finsternis voll von Gespenstern, wo Schreckgestalten erscheinen und klägliche Laute sich hören lassen, von Richtern und Henkern, von Schlünden und Abgründen, die von tausend Qualen erfüllt sind – alle solche Vorstellungen zählt er zu den Ausgeburten des Aberglaubens: daß er diesen aber selbst für ein weitverbreitetes Übel hielt, geht, wie gesagt, aus dem Eifer hervor, mit dem er ihn bekämpft.

Daß nun von den griechischen Vorstellungen gar manches, wenn nicht das meiste, auch in den Volksglauben des Westens übergegangen ist, darf man, wie gesagt, namentlich mit Rücksicht auf die Wirkung, welche die römischen Dichter durch die Schule übten, voraussetzen; seit Ennius waren ausführliche Beschreibungen der Unterwelt ein Lieblingsgegenstand der Epiker (vielleicht auch der Tragiker) gewesen, und vor allem wird die so ausführliche Schilderung Vergils mittelbar und unmittelbar die Vorstellungen von Unzähligen beeinflußt haben.

Es bedarf nicht erst der Zeugnisse, daß die Vorstellungen einer mehr oder minder materiellen Existenz der Abgeschiedenen, welche die alten, seit undenklichen Zeiten fort und fort überlieferten Fabeln voraussetzen, in den Massen ebenso verbreitet waren wie jene Fabeln selbst. Die ungeheure Mehrzahl der Menschen konnte damals noch weniger als jetzt der Abstraktion fähig sein, welche die Vorstellung einer rein geistigen Existenz erfordert. Bei jedem Versuch zu einem Bilde des unbekannten Lebens mußte und muß die sich selbst überlaßne Phantasie, unwillkürlich und unbewußt, mit den Farben und Formen arbeiten, die sie dem bekannten Leben entlehnt, und ihre zartesten und duftigsten Bilder sind ebensowenig unkörperlich wie die rohesten und gröbsten. Daß diese letztern die einzigen waren, welche die große Menge fassen und festhalten konnte, liegt in der Natur der Sache. Um so weniger dürfen wir an der Versicherung Lucians zweifeln, der Glaube vieler sei, daß die Toten sich von den Spenden, Opfern und Mahlen wirklich nährten, welche die Überlebenden ihnen darbrachten; daß viele Geräte, Kleider, Schmuck in der Meinung mit sich verbrennen oder vergraben ließen, daß sie im andern Leben dieser Dinge bedürfen oder davon Nutzen haben würden. In der Tat stammt ein großer Teil von den Gegenständen des häuslichen Lebens, die unsre Museen bewahren, aus Gräbern, in welche man dem Krieger seine Waffen, dem Handwerker und Künstler sein Handwerkszeug, der Frau ihre Toilettengegenstände, dem Kinde sein Spielzeug mitgab. Der Redner Regulus ließ am Scheiterhaufen seines 14jährigen Sohns dessen zahlreiche Ponygespanne und Reitponys, große und kleine Hunde, Nachtigallen, Papageien und Amseln schlachten. Bei Lucian erzählt ein Mann, er habe seine Liebe zu seiner seligen Frau nicht bloß während ihres Lebens, sondern auch bei ihrem Tode bewiesen, indem er ihren ganzen Schmuck und ihre Kleider mit ihr verbrannt habe; doch erschien sie ihm am siebenten Tage, als er gerade Platos Phädon las, beschwerte sich, daß eine ihrer vergoldeten Sandalen nicht mit verbrannt war, und bezeichnete die Stelle, wo sie unter einem Kasten liege; hier wurde sie gefunden und ihrem Wunsche gemäß nachträglich verbrannt. Die den Toten mitzugebenden Gegenstände waren offenbar nicht selten genau testamentarisch bestimmt. Das wiederholt erwähnte Testament eines begüterten Manns von Langres verordnet (hier vielleicht nach altkeltischem Gebrauch), daß all sein Gerät zur Jagd und Vogelstellerei mit ihm verbrannt werden solle, wie Lanzen, Schwerter, Messer, Netze, Schlingen, Leimruten, Vogelleim, Jagdzelte usw., Sänften und Tragsessel, ein aus Binsen geflochtner Nachen, seine sämtlichen buntgewebten und gestickten Kleider und alle Sessel (?) aus Elentiergeweihen. Dasselbe Testament verordnet die Anpflanzung von Obstgärten bei dem Grabmal, die fort und fort durch drei Gärtner und deren Lehrlinge instand gehalten werden sollen. Gärten, Rebenpflanzungen und Parks wurden besonders gern bei Gräbern angelegt, damit die abgeschiedenen Seelen sich an der schönen Natur erfreuen möchten. In einer Grabschrift von Cirta heißt es: auf meinem Hügel werden Bienen von den Blüten des Thymians nippen, die Vögel werden in grünenden Grotten mir lieblich singen, der Lorbeer sproßt an meinem Hügel, und goldene Trauben hängen an den Reben. Man darf glauben, daß von den noch erhaltnen, auf Ausschmückung und Kultur der Gräber bezüglichen testamentarischen Verfügungen gar manche in dem Glauben an eine Teilnahme der Abgeschiednen an den Freuden und Genüssen dieser Welt erlassen worden sind, sehr häufig gewiß in dem Glauben an ein materielles Fortleben der Abgeschiednen, und zwar bei ihren Gräbern, wo die Familie, solange sie bestand, regelmäßigen Seelenkult darbrachte.

Die große Verbreitung des Unsterblichkeitsglaubens auch im spätern Altertume bedarf nach allem bisher Gesagten keines Beweises mehr; sie ergibt sich aber auch schon allein aus einer bisher noch nicht berücksichtigten Tatsache: aus der Allgemeinheit des Glaubens an Geistererscheinungen, also an die Möglichkeit der Wiederkehr der Gestorbenen, überhaupt an einen innigen Zusammenhang der Geisterwelt mit der Welt der Lebenden, an ein stetes Eingreifen der erstern in die letztre. Dieser Glaube war bei den Römern wie bei den Griechen uralt; über seine Entwicklung und die Formen, die er bei beiden Völkern annahm, sind wir nur unvollkommen unterrichtet. Die Vorstellung, daß die guten Geister der Abgeschiedenen als Schutzgeister der Lebenden walten, taucht schon in der ältesten griechischen Poesie auf: Hesiod sagt, die Seelen der Menschen des Goldnen Zeitalters seien nach dessen Ablauf gute Dämonen geworden, die als Wächter der sterblichen Menschen, in Nebel gehüllt, über die Erde wandeln, über Recht und Unrecht wachen und Reichtum geben. Aber dann verschwindet sie wieder bis zu der Zeit, wo der spätere Platonismus sie mit seiner Dämonenlehre verschmolz. Der diesem Glauben entsprechende, an die Geister der Bösen als spukende, »selber gequälte und andere quälende« Larven und Lemuren läßt sich dagegen als allgemein und fest gewordner Volksglaube nur bei den Römern nachweisen. In andern Beziehungen stimmt der Geisterglaube beider Völker völlig überein. Namentlich heftete er sich hier wie dort an die Geister vor der Zeit oder gewaltsam Umgekommener, deren unversöhnlicher Zorn auch Unschuldige verfolgt und verdirbt, und Unbegrabener. Wenn übrigens auch in den spätern Jahrhunderten der römische und griechische Geisterglaube durch hin und her übertragene Vorstellungen sich immer mehr ausgeglichen haben wird, so fehlt doch dem letztern der feste Anhalt, die bestimmte Form und Richtung, welches alles dem erstern der öffentliche Kultus gab. Die Vorstellung eines ununterbrochenen Wechselverkehrs zwischen Unter- und Oberwelt unterhielt und bestärkte im römischen Volksglauben namentlich die Eröffnung des mundus, d. h. der tiefen Grube, die in jeder Stadt den Göttern und Geistern der Tiefe zugleich als Göttern der Saat geweiht war, an drei Tagen im Jahre (24. August, 5. Oktober, 8. November), wo dann die Scharen »der Schweigenden« ungehindert ein- und ausfahren konnten; sodann das Allerseelenfest am 21. Februar (Feralia) und in der vorausgehenden Woche (13. bis 20., Parentalia), dessen Vernachlässigung einst nach der Legende ein großes Sterben zur Folge gehabt hatte; endlich die Gebräuche, mit denen man in den drei Nächten der Lemurien (9., 11. und 13. Mai) die spukenden Geister beschwichtigte und versöhnte.

Daß nun Unsterblichkeits- und Geisterglaube nicht bloß in innigster Wechselbeziehung standen, sondern daß auch der erstere sich gern durch den letzteren stärkte und befestigte, ist ebenso selbstverständlich, wie daß Zweifler durch Erscheinungen überzeugt wurden oder bereit waren, sich durch sie überzeugen zu lassen. Der Verfasser der Homilien des sogenannten Clemens Romanus erzählt, von Zweifeln über die Unsterblichkeit gequält habe er sich eine unumstößliche Gewißheit durch das Erblicken einer abgeschiedenen Seele mit eignen Augen verschaffen wollen: er gedachte nach Ägypten zu reisen und dort einen Zauberer zu einer Totenbeschwörung zu bewegen; doch von einem Philosophen erinnert, daß dies ein nicht bloß gesetzlich verbotenes, sondern auch gottverhaßtes Tun sei, gab er seine Absicht auf. Ein Monument, das ein Ti. Claudius Panoptes und seine Frau Charmosyne ihren beiden gestorbnen Töchtern »nach einem Gesicht« errichteten, trägt die Inschrift: »Du, der du dies liesest und zweifelst, daß es Manen gibt, gehe mit uns eine Wette ein und rufe uns an, dann wirst du zur Einsicht gelangen«. Aber auch in gebildeten Kreisen fiel Geisterglaube und Unsterblichkeitsglaube vielfach zusammen. Freilich spotteten dort nicht bloß alle, die epikureische und materialistische Anschauungen hegten oder zu ihnen neigten, über den Nachtspuk der Lemuren (so gut wie über Träume, Wunder, Hexen und Zauberei) und behaupteten, daß nur Weiber, Kinder und delierende Kranke Gespenster sähen, sondern auch ein großer Teil der Unsterblichkeitsgläubigen verhielt sich in bezug auf Geistererscheinungen zweifelnd oder ablehnend, wie z. B. Seneca.

Ob dies aber auch selbst in den Kreisen der philosophisch Gebildeten (namentlich seit dem 2. Jahrhundert) die Mehrzahl war, steht dahin. Die von Lucian im »Lügenfreunde« geschilderte Gesellschaft des Eucrates, in der niemand zweifelt, daß es »Dämonen und Gespenster gibt, und daß die Seelen der Toten auf der Erde umherwandeln und erscheinen, so vielen sie wollen«, besteht außer einem Arzte, aus einem Peripatetiker, einem Stoiker, einem Platoniker und einem heiligen Pythagoreer, und Eucrates selbst ist ein Mann, der sich gründlich mit Philosophie beschäftigt hat. Am festesten hielten am Geisterglauben die Neupythagoreer und pythagoreisierenden Platoniker, die in den Erscheinungen eine Bürgschaft für die Wahrheit nicht bloß ihres Unsterblichkeitsglaubens, sondern auch ihrer Dämonenlehre fanden. Der philosophierende Rhetor Maximus aus Tyrus, der ganz auf dem Boden eines bereits zum Neuplatonismus hinneigenden Platonismus steht, betrachtet wie alle Gleichgesinnten die Dämonen, zu denen auch die abgeschiedenen Seelen gehören, als das eigentliche Band zwischen der sinnlichen und der übersinnlichen Welt. Die zu Dämonen gewordnen Seelen, sagt er, sind betrübt über ihr vergangenes Leben, beseligt über ihr jetziges; betrübt aber auch über die verschwisterten Seelen, die noch auf der Erde weilen, und in Menschenliebe zu dem Wunsche gestimmt, sich ihnen zuzugesellen und sie aufzurichten, wenn sie gleiten. Und es ist ihr Auftrag von der Gottheit, die Erde zu besuchen und sich zu beteiligen an aller Menschengeburt, an allem Menschengeschick, Menschendenken und Menschenhandeln und den Guten zu helfen, den Unrecht Leidenden beizustehen, den Unrecht Tuenden aber die Strafe aufzuerlegen. Er erzählt ohne den leisesten Zweifel, daß die Bewohner von Ilium den Hektor oft in Sprüngen mit blitzenden Waffen über das Gefilde eilen sähen, und daß Achilles auf der kleinen Insel im Schwarzen Meer vor der Donaumündung, wo er als verklärter Heros ein Heiligtum hatte, oft den Schiffern erschienen sei: einige sahen ihn in der Gestalt eines jugendlichen Manns mit blondem Haar in goldner Rüstung einherspringen, andre hörten ihn einen Schlachtgesang singen, noch andre hörten und sahen ihn; einen, der auf der Insel eingeschlafen war, hatte Achill selbst aufgeweckt, in ein Zelt geführt und bewirtet; Patroclus schenkte ein, Achill spielte die Kithara, auch Thetis und ein Chor von andern Dämonen war zugegen. Apulejus (der, wie bereits bemerkt, die Dämonenlehre mit besondrer Vorliebe behandelt hat) richtet in seiner Verteidigungsrede wegen der ihm Schuld gegebenen Zauberei gegen seinen Ankläger (nach dessen falscher Angabe er sich der Figur eines Skeletts zu magischen Zwecken bedient haben sollte) folgende Verwünschung: »Dir wende für diese Lüge der Gott, der zwischen der Ober- und Unterwelt hin und her wandelt (Merkur), die Ungunst beider Götterkreise zu und lasse deinen Blick unaufhörlich Gestalten der Toten begegnen, und soviel Schatten, Lemuren, Manen und Larven es irgend gibt, alle Nachterscheinungen, alle Grabgespenster, alle Schrecknisse der Leichenbrandstätten.« Eine Grabschrift zu Puteoli schließt: »Möge den, der diesen Stein von der Stelle rückt, der Zorn der Schatten derer treffen, die hier begraben sind.« Plutarch beruft sich (in der Widmung der Biographien des Dio und Brutus an Sossius Senecio) den Leugnern von Geistererscheinungen gegenüber auf diejenigen, die diesen beiden so seelenstarken und philosophischen Männern ihr Ende nach ihrer eignen Aussage vorher verkündeten. Daß es in einem Bade zu Chäronea, wo zu Lucullus' Zeit ein Mord vorgefallen war, gespukt hatte und noch spukte, berichtet er nach den Angaben andrer, ohne, wie es scheint, daran zu zweifeln. Der Geister- und Dämonenglaube war aber auch mit andern philosophischen Anschauungen als der platonischen sehr wohl vereinbar. Der Kyniker Peregrinus Proteus, der sich nach Lucians Bericht mit dem Rufe: »Mütterliche und väterliche Dämonen, nehmt mich gnädig auf!« in die Flammen stürzte, hatte verbreitet, ihm sei bestimmt, nach seinem Tode ein nachthütender Dämon zu werden, und man konnte nicht zweifeln, daß Einfältige genug behaupten würden, ihm nachts begegnet, durch ihn vom Fieber befreit worden zu sein. Der jüngere Plinius, dessen Ansichten hauptsächlich durch stoische Lehren bestimmt waren, erbittet sich die Ansicht seines Freunds Licinius Sura (zum zweiten und dritten Male Konsul 102 und 107) darüber, ob es Gespenster gebe, und ob sie eine eigne Form und ein übermenschliches Wesen ( numen) haben, oder ob es eitle Einbildungen sind, die nur aus unsrer Furcht ihre Gestalt empfangen. Er glaubte das erstere und erzählt zum Beweise unter anderm eine Gespenstergeschichte, die der des Pythagoreers Arignotus in Lucians »Lügenfreund« sehr ähnlich ist. Ein großes Haus zu Athen wurde durch einen allnächtlichen Spuk unbewohnbar; der Geist erschien in der Gestalt eines abgezehrten alten Mannes mit langem Bart und Ketten an Händen und Füßen, mit denen er furchtbar rasselte. Endlich hatte ein Philosoph Athenodorus den Mut, der Erscheinung standzuhalten, die ihm so lange winkte, bis er ihr mit einem Lichte folgte; im Hofe verschwand sie plötzlich. Am folgenden Tage grub man an dieser Stelle nach und fand ein Gerippe in Ketten, nach dessen regelrechter Bestattung der Spuk aufhörte. Diese Geschichte glaubte Plinius, wie er sagt, auf die Versicherung andrer: einen noch kindischeren Spuk berichtet er ohne den leisesten Zweifel als selbst erlebt. Plinius' Freund Sueton sagt, es sei hinlänglich bekannt, daß vor dem Begräbnisse Caligulas die Wächter der Lamianischen Gärten, wohin man seine Leiche gebracht hatte, von Gespenstern erschreckt worden, und in dem Hause, in dem er gestorben, keine Nacht ohne Spuk vorübergegangen sei, bis das Haus abbrannte. Noch mehr Beispiele eines krassen Geisterglaubens der Gebildeten im 2. Jahrhundert liefern die Schriften des Pausanias, und doch wird auch seine Glaubensseligkeit, wenn möglich, von der Gespenstersucht des Philostrat und Cassius Dio übertroffen. Was der erstere von den Erscheinungen und Machtbeweisen der Heroen des trojanischen Krieges berichtet, wird man im wesentlichen als aus volkstümlicher Überlieferung entlehnt betrachten dürfen. Nach dem Heroikos des Philostratus erschienen den Hirten der troischen Ebene die Gestalten der Homerischen Helden riesengroß, in kriegerischer Rüstung, besonders Hektor, der auch Wunder tat, und von den griechischen namentlich Protesilaus, der noch voll lebendig war. Er war bald im Hades, bald in seiner Heimat Phylake in Phthia (wo er auch Orakel erteilte), bald in Troas, erschien zur Mittagszeit, heilte Krankheiten und half auch in Liebespein; einen Widersacher machte seine Erscheinung blind. Cassius Dio berichtet wiederholt ganz ernsthaft, wie bei großen Ereignissen die Toten in Masse aus den Gräbern aufstanden, z. B. bei der Schlacht von Actium und dem Versuche Neros, den Korinthischen Isthmus zu durchgraben. Er erzählt, daß im Jahre 220 ein Geist, der nach seiner eignen Aussage der Geist Alexanders des Großen war, auch dessen wohlbekannte Gestalt, Züge und Kleidung trug, mit einem Gefolge von 400 Bacchanten gekleideten Menschen von der Donau bis zum Bosporus zog, wo er verschwand: keine Behörde wagte ihn aufzuhalten, vielmehr wurden ihm überall auf öffentliche Kosten Nachtlager und Nahrung gegeben.

Auch die häufige Erwähnung der Zaubereien, bei denen Geister beschworen wurden, läßt auf eine große Verbreitung eines unbedingten Geisterglaubens in den höheren und gebildeten Kreisen schließen. Die Geisterbeschwörung wurde allem Anscheine nach sehr häufig Veranlassung zu grauenhaften Verbrechen, da der Zauber angeblich über Seelen von gewaltsam (besonders vor der Zeit) Umgekommene am meisten Macht haben sollte; daher Morde, namentlich Kindermorde, zu diesem Zweck offenbar nur zu oft verübt wurden. Unter den römischen Kaisern haben Nero, Caracalla, Didius Julianus und Elagabal diese Art der Magie getrieben. Von den beiden letztern berichtet Cassius Dio ausdrücklich, daß sie dabei Kinder schlachten ließen. Caracalla, der keine Art der Zauberei und Wahrsagerei unversucht ließ, beschwor, um sich von den Erscheinungen seines Vaters und seines gemordeten Bruders zu befreien, die ihn verfolgten, unter andern den Geist des erstern und des Commodus, doch vergebens; wie man in Rom flüsterte, war zugleich mit dem Schatten des Septimius Severus auch der des Geta heraufgestiegen. Aus demselben Grunde beschwor Nero den Geist seiner Mutter Agrippina. Er war am leidenschaftlichsten der Geisterbeschwörung ergeben, und da ihm »Menschen zu schlachten ja höchst erwünscht war«, mag er ihr auch die meisten Opfer gebracht haben. Der König Tiridates von Armenien, der im Jahre 66 mit einem Gefolge von Magiern nach Rom kam, weihte ihn in die »magischen Mahlzeiten« und alle Geheimnisse der Magie ein; doch muß Nero dieser Zauberei schon früher gefrönt haben. Denn Lucan († 65) hat eine mit allem Luxus des Gräßlichen ausgemalte Episode der Totenbeschwörung seinem Epos offenbar in keiner andern Absicht eingefügt, als um seiner Verdammung dieser Leidenschaft des Kaisers, dem er damals feindlich gegenüberstand, einen starken Ausdruck zu geben. Es ist Sextus, »der unwürdige Sohn des großen Pompejus«, der in der Pharsalia die Zukunft durch Totenbeschwörung erfahren will; die heiligen und erlaubten Prophezeiungen verschmähend, hat er sich zu »den abscheulichen Geheimnissen der grausamen Magier« und zu den Schrecken der Unterwelt gewandt; »dem Elenden waren die Himmelsgötter nicht allwissend genug!« Die Hexe Erichthio, die seinem Wunsche willfahrt, ist ein entmenschtes Wesen; ihren Anspruch, von den Unterweltsgöttern erhört zu werden, begründet sie durch die greuelvollsten und unnatürlichsten Verbrechen, die sie in Masse begangen hat, und unter denen Kindermord ausdrücklich angeführt wird. Die Beschreibung der Totenbeschwörung selbst macht auch an und für sich betrachtet nicht den Eindruck eines bloßen Phantasiegemäldes, der Dichter hat nicht nur Beschreibungen ähnlicher Vorgänge in der früheren Dichtung, sondern sicher auch magische Bücher von der Art der erhaltenen Zauberpapyri benutzt. Beschwörungen von längst abgeschiednen Geistern mögen wohl am besten ohne Zeugen gelungen sein. So hatte der alexandrinische Gelehrte Apio den Schatten Homers zitiert, um von ihm zu erfahren, in welcher der sieben Städte, die ihn den Ihrigen nannten, er wirklich geboren sei: leider durfte er die ihm gewordene Antwort nicht mitteilen; vielleicht gab der Geist denselben Grund an, wie der des Protesilaus bei Philostrat: weil dann nämlich die übrigen Städte in ihrem Eifer in der Verehrung Homers nachlassen würden.

Übrigens bedienten sich die Zauberer der beschworenen Geister sowie andrer Dämonen auch, um ihre Feinde mit Erscheinungen zu quälen, ihnen Krankheiten und Schmerzen zu senden, ihre Zunge zu fesseln u. dgl. Solcher Zauber wurde auch durch Beschwörungen geübt, die, auf Bleitafeln geschrieben, in Gräber niedergelegt wurden und von denen eine größere Anzahl sich erhalten hat. Dieser Zauber ist eine Art der sogenannten Devotion, durch die man Lebende den Mächten der Unterwelt weihte, sie beruht auf dem ebenso alten wie verbreiteten Glauben, daß diese Mächte über das Leben Gewalt haben und es hinabzuziehen streben; die zu ihnen gehörenden Geister der Toten, die man gleichsam beschwichtigend die Guten oder die Holden ( Di Manes) nannte und mit Opfern versöhnen zu müssen glaubte, werden auch in der alten Devotionsformel, durch die der römische Feldherr das feindliche Heer dem Tode weihte, und bei Verwünschungen angerufen. In einer Grabschrift, die ein Mann seiner verstorbenen Frau errichtet hat, versichert er, daß er ihre Überreste angstvoll wie eine Gottheit ehre. »Schone, Liebste, den Mann, ich flehe, schone, daß er ferner noch viele, viele Jahre stets dir Opfer und Kränze bringen möge und mit duftendem Öl die Lampe zu füllen.« Eine Anrede an eine verstorbne »Herrin oder Patronin« lautet: »Solange ich lebe, ehre ich dich, was nach meinem Tode sein wird, weiß ich nicht. Schone deine Mutter und deinen Vater und deine Schwester Marina, damit sie dir nach mir Ehre erweisen können.« In demselben Sinne werden vereinzelt Verstorbene angerufen, die Ihrigen zu erhalten oder (bei den Unterweltsgöttern) für sie zu bitten.

Kennen wir nun auch von dem damaligen Geisterglauben vorzüglich nur die finstern und unheimlichen Seiten, so zeigt sich doch auch hier, wie weit verbreitet und unwiderstehlich der Hang war, sich in die Geheimnisse des Jenseits und der Geisterwelt zu vertiefen; und wenn auf die Phantasie das Grauen immerhin die unwiderstehlichste Anziehungskraft geübt haben mag, so wird sie sicherlich auch geschäftig gewesen sein, gegenüber den Qualen und der Ruhelosigkeit der Unseligen den Frieden und die Wonnen der Seligen auszumalen.

Doch freilich war der Trost, den der Unsterblichkeitsglaube den Menschen jener Zeit und dem Altertum überhaupt gab, sehr verschieden von dem, den die christliche Hoffnung auf eine ewige Seligkeit den Gläubigen bietet. Nicht bloß, daß dem antiken Unsterblichkeitsglauben die unumstößliche Sicherheit und Gewißheit eines Offenbarungsglaubens und damit auch der feste Anhalt abging, den dieser für die Gestaltung der Bilder des andern Lebens gewährt: er war auch keineswegs so ausschließlich wie der christliche Glaube auf die Ewigkeit gerichtet, sondern wohl ebensosehr, wenn nicht in noch höherem Grade, der Zeitlichkeit zugewandt. Nach dem römischen Volksglauben wie nach der Platonischen Dämonenlehre war ja der Lohn der Guten nicht oder nicht vorzugsweise, zu eigener Seligkeit in ein überirdisches Dasein entrückt zu werden, sondern an den Leiden und Freuden der spätern Menschen schützend, helfend und leitend teilzunehmen. Die Aufopferung der Besten aller Zeiten und Völker konnte Cicero sich kaum anders erklären, als daß sie auch nach ihrem Tode vermögen würden, Zeugen der von ihnen ausgegangnen Wirkungen wie ihres Ruhms zu sein.

Der ganze Totenkultus der Griechen und Römer hatte die Tendenz, den Zusammenhang zwischen den Lebenden und den Toten ununterbrochen zu erhalten. Die Wohnungen der Toten waren nicht abgeschiedne, stille, selten besuchte Ruhestätten, wie unsre Kirchhöfe, sondern vor den Toren der Städte zu beiden Seiten der Landstraße wurden sie angelegt, wo der Strom des lebendigen Verkehrs gerade am stärksten vorbeiflutete; sowohl, wie Varro sagt, zur steten Mahnung für die Vorüberziehenden, daß auch sie einst zu dieser Ruhe gelangen würden, als zur unaufhörlichen Erhaltung und Erneuerung des Gedächtnisses der Abgeschiednen, nicht bloß bei Angehörigen und Nachkommen, sondern bei allen später Lebenden. Jene Mahnung las man auf Grabsteinen öfters in dieser Form: »Du müder Wanderer, der an mir vorübergeht, nach langem Wandern kommst du endlich doch hierher.« Um ein freundliches Andenken wird für die Toten häufig in den Inschriften gebeten; »Titus Lollius Masculus«, so lautet eine derselben, »ist hier neben den Weg gelegt, damit die Vorbeigehenden sagen: Lollius, sei gegrüßt«. Ebenso werden auch sonst die Wandrer aufgefordert, dem Toten einen solchen ehrenden und freundlichen Nachruf zu gönnen, und ihnen Segen gewünscht, wenn sie es tun würden, z. B.: »Mögest du, der du dies durchlesen wirst, leben und gesund bleiben, lieben und geliebt werden, bis deine Stunde kommt.« Ja, es wird selbst dem Toten eine Erwiderung auf ihre Anrede in den Mund gelegt, so daß eine Art Dialog zwischen ihm und dem Vorübergehenden durch den letztern vom Grabstein abgelesen werden konnte.

Wie der Glaube verbreitet war, daß die Toten sich an solchen Zeichen des Anteils von Seiten aller Lebenden ohne Unterschied immerfort erfreuen würden, so natürlich nicht minder die Überzeugung, daß die Opfer, Spenden und Festmahlzeiten an ihren Gräbern, der Blumenschmuck, in dem an den »Rosen- und Violentagen« die Denkmäler prangten, das Licht der frisch gefüllten Grabeslampe und der Duft ihres wohlriechenden Öls ihnen mindestens als Beweise eines fortdauernden Andenkens bei den Nachkommen wohltuend sein würden: so erfolgten alle solche Darbringungen in der Voraussetzung, daß es der Wunsch der Abgeschiedenen sei, mit den spätern Geschlechtern gleichsam fortzuleben. In demselben Sinne sind auch auf den griechischen Denkmälern vorzugsweise Szenen aus dem vergangnen Leben der Gestorbenen dargestellt, »ihre Existenz gleichsam fortgesetzt und bleibend gemacht«. Die unmittelbare Gegenwart dieser einfach rührenden, die menschliche Teilnahme in hohem Grade anregenden Darstellungen berührten Goethes auch hier dem antiken verwandten Geist aufs wohltuendste. Ihm sagte es besonders zu, daß die Menschen auf diesen Grabsteinen nicht die Hände falten, nicht in den Himmel schauen, sondern beieinander stehen, wie sie auf Erden beieinander gestanden, einander geliebt haben: »Der Wind, der von den Gräbern der Alten herweht, kommt mit Wohlgerüchen wie über einen Rosenhügel.« Auf diese Fortdauer im Gedächtnis der Nachwelt haben im ganzen Altertum auch solche Wert gelegt, die den Glauben an eine persönliche Unsterblichkeit verwarfen oder dessen nicht bedurften. Selbst Epikur, in dessen Glückseligkeitslehre der Satz, daß Sein und Bewußtsein mit dem Tode aufhöre, den eigentlichen Schlußstein bildet, verordnete in seinem Testament, daß sein Geburtstag und der 20. jedes Monats zu seinem und seines Freunds Metrodor Andenken festlich begangen würden: und in der Tat ist dies noch Jahrhunderte nach seinem Tode von seinen Anhängern geschehen.

Wenn der antike Unsterblichkeitsgedanke aber auch an einer persönlichen Fortdauer in einem höheren, reineren, folglich seligeren Dasein festhielt, so setzte er doch keineswegs das jenseitige Leben in einen so schroffen Gegensatz zum irdischen wie der christliche und stand deshalb auch dem Unglauben und dem Zweifel nicht so schroff gegenüber wie dieser. Wenn die griechische Volkssprache die Toten »Selige« nannte, konnten sie ihr schon darum so heißen, weil sie den Mühsalen, Leiden und Täuschungen des Lebens entrückt waren. Der Tod, der diese Erlösung brachte, erschien darum auch dann nicht als ein Übel, wenn er das Ende des Seins war. Den Gegensatz der christlichen und der antiken Auffassung drücken vielleicht am besten die Worte aus, die Sokrates in der Apologie des Plato nach seiner Verurteilung zum Tode zu seinen Richtern spricht: der Tod sei entweder ein ewiger Schlaf oder der Übergang zu einem neuen Leben, in keinem von beiden Fällen aber sei er ein Übel. Beide Aussichten erscheinen hier also als tröstliche, nur die eine in höherm, die andre in geringerem Grade: während der christliche Glaube den Tod, dem keine Auferstehung zur Seligkeit folgt, als das unseligste Los betrachtet. Ihm ist das andre Leben das wahre, von dort empfängt das irdische Dasein sein Licht, ohne dessen Strahlen es völlig düster sein würde. Nicht in der Weise, sagt Lactantius, wie die Philosophen geglaubt haben, wird die Seligkeit dem Menschen zuteil. Selig kann er nicht sein, solange er im Leibe lebt, der notwendig durch Verfall der Auflösung zugeführt werden muß, sondern erst dann, wenn er nach Befreiung der Seele von der Gemeinschaft des Körpers im Geiste allein lebt. Darin allein können wir schon in diesem Leben selig sein, wenn wir es auch noch so wenig zu sein scheinen: daß wir die Verlockungen der Lüste fliehend und allein der Tugend dienend in allen Mühsalen und Kümmernissen leben, welche Übungen und Stärkungen in der Tugend sind; daß wir jenen rauhen und schweren Weg einhalten, der uns zur Seligkeit frei gegeben ist. Also kann das höchste Gut, dessen Besitz selig macht, nur in der Religion und Lehre enthalten sein, welche die Hoffnung der Unsterblichkeit in sich schließt. Augustinus nennt geradezu das ewige Leben das höchste Gut, sowie den ewigen Tod das höchste Übel. Wohl kann auch hienieden der selig genannt werden, dessen ganzes Sein auf jenes Ziel gerichtet ist, der es in glühender Liebe und treuer Hoffnung festhält: doch mehr durch die Hoffnung als durch die Wirklichkeit. Ohne diese Hoffnung gibt es nur falsches Glück, nur Leid und Elend.

Es ist eine verbreitete Ansicht, daß für die Menschen des Altertums dieses Leben deshalb einen höheren Wert gehabt habe, weil ihre Hoffnungen auf das Jenseits weder so felsenfeste, noch so hell leuchtende sein konnten wie die der Christen. Aber der Gesamteindruck der griechischen und römischen Literatur bestätigt diese Ansicht keineswegs. Die angeborne, an der ewig neuen Herrlichkeit der Welt wie an der Größe und Schönheit des Menschenlebens genährte Lust am Dasein ist allerdings echt antik. Aber sie ist nur der eine Pol der antiken Weltanschauung, dem als der andre eine aus tiefster Empfindung menschlichen Elends und menschlicher Hilflosigkeit entspringende Resignation gegenübersteht, deren bald schmerzliche, bald ergebungsvolle Äußerungen sich wie ein roter Faden durch die ganze antike Literatur ziehen. Schon Homer, dem doch der Gedanke an das Jenseits so völlig trostlos erschien, läßt den höchsten Gott sagen: Von allem, was auf der Erde atmet und kriecht, ist nichts jammervoller als der Mensch! Aber wenn er noch glaubte, daß im Saale des Zeus zwei Fässer stehen, eines mit den guten, das andre mit den bösen Gaben, so sind es bei den Spätern zwei Fässer des Bösen, nur eins des Guten. Als die Mutter des Kleobis und Biton die Göttin bat, ihren Söhnen das zu gewähren, was den Menschen zu gewinnen das Beste wäre, gab ihnen die Göttin den Tod und offenbarte so, wie Herodot sagt, daß der Tod für den Menschen besser sei als das Leben. Mehrmals war dies durch Offenbarungen anderer Gottheiten bestätigt worden. Es ist gerade die Zeit der Jugend- und Manneskraft des griechischen Geistes, in welcher der schon von Theognis, dann unter andern auch von Sophokles ausgesprochene, von Bacchylides dem Herakles in den Mund gelegte Gedanke sich in mannigfachen Formen wiederholt: das beste Los sei, gar nicht geboren zu werden, das nächstbeste, so bald wie möglich nach der Geburt zu gehen, woher man kam. Man sollte daher, heißt es in oft angeführten Versen des Euripides, die Gebornen beklagen, die Gestorbnen froh und beglückwünschend bestatten. Auch wenn der Tod ein traumloser Schlaf ist, sagt Sokrates in der Apologie des Plato, ist er dem Leben vorzuziehen; denn jeder, selbst der Perserkönig, wird, wenn er sein Leben überdenkt, finden, daß die Tage und Nächte, die er besser und glücklicher verbracht hat als eine ohne Traum durchschlafene Nacht, sehr leicht zu zählen sind. »Jung rufen die Götter, wen sie lieben, aus der Welt«, heißt es bei Menander, dem geistvollsten Dichter der alexandrinischen Epoche, aus dessen Fragmenten uns ganz vorzugsweise der gedämpfte Ton einer resignierenden Lebensauffassung entgegenklingt; ihm erschien als »des Menschenlebens Zwillingsschwester Traurigkeit«, und der als der Glücklichste, »der ohne Kummer der Welt Erhabenheit geschaut, und eilig dann zurückgekehrt, von wo er kam«.

Auch in der römischen Literatur fehlt es an Äußerungen verwandter Natur keineswegs. So hatte Cicero seinen »Hortensius« mit einer Betrachtung über die Eitelkeit und Unseligkeit der Menschen geschlossen. Die Irrtümer und Mühsale des Lebens, hieß es dort, scheinen jenen alten Weisen recht zu geben, nach deren Ausspruch wir geboren sind, um die in einem frühern Leben begangnen Sünden zu büßen; sowie dem Aristoteles, der in der Verbindung der Seele mit dem Körper eine Marter erkannte, wie sie die etruskischen Seeräuber an ihren Gefangnen verübt haben sollen, die sie Gesicht auf Gesicht mit Leichen zusammenbanden und so umkommen ließen. Wie sich bei dem älteren Plinius, nach dessen Ansicht kein Sterblicher glücklich, und die Kürze des Lebens das Beste ist, was die Natur den Menschen gewährt hat, wie sich bei ihm das Gefühl der Unseligkeit bis zur Sehnsucht nach der Vernichtung steigerte, und daß ihm der Tod als das beste Geschenk der Natur erschien, ist bereits erwähnt. Als größte Wohltat preist den Tod auch Seneca, der sich darin gefällt, die Unseligkeit des Lebens in immer neuen Wendungen zu schildern. Es ist durchaus beweinenswert; es bietet das Schauspiel einer mit Sturm genommenen Stadt; es ist ein stürmisches Meer, das uns immer umher und oft an Felsen schleudert, und sein einziger Hafen der Tod; es ist eine Sklaverei, wenn die Kraft zum Sterben fehlt; der »grausame Lebensdrang« ist die Kette, die uns gefesselt hält; der Tod allein bewirkt, daß es nicht die schwerste Strafe ist, geboren zu werden. Und wenn einem Marc Aurel die Übel des Lebens wesenlos waren, so waren ihm auch dessen Güter »eitel, morsch und gering«, das Leben selbst »ein Krieg und der Aufenthalt eines Gastes«, seine Zeitdauer ein Punkt, vor und hinter uns der endlose, alles verschlingende Abgrund. Und doch sollte und konnte in dem ewig fortrauschenden Strome der Vergänglichkeit der Mensch feststehen wie ein Fels im Meer: wenn er, um die Außenwelt völlig unbekümmert, mit verehrungsvoller Ergebung gegen das Schicksal sich in die Stille seines Innern wie in eine feste Burg zurückzog; wenn er als Teilchen des großen Ganzen die Forderungen der Natur erfüllte. Wenn er so mit heitrer Gelassenheit in jedem Augenblick das Ende erwartete, mochte es Vernichtung oder Wandlung sein, dann schied er sanft aus dem Leben, gleich der reifen Frucht, die in ihrem Falle die Natur als ihre Schöpferin preist und dem Baume dankbar ist, der sie trug.


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