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XIV. Die Philosophie als Erzieherin zur Sittlichkeit

Daß auch die ganze antike Sittlichkeit im innigsten Zusammenhange mit der Religion steht, daß die Götter als Lenker der sittlichen Weltordnung und Vollstrecker ihrer Gesetze von den Menschen die Erfüllung der sittlichen Pflichten fordern, das Gute belohnen, das Böse strafen: dieses alles braucht für niemanden, der die antike Literatur auch noch so oberflächlich kennt, erst gesagt zu werden. Nachdem aber oben nachgewiesen worden ist, daß der Götterglaube auch im späten Altertum in den Massen unverändert fortbestand, bedarf die Ansicht der Widerlegung, es habe der Anthropomorphismus der griechischen Religion, der sich dann auch dem römischen Volksglauben mitgeteilt hatte, entsittlichend wirken können, indem er den Göttern menschliche Schwächen und Leidenschaften beilegte und sie die sittlichen Gesetze übertreten ließ. Daß die Christen bei der Bekämpfung des Heidentums sich dieses Arguments mit Vorliebe bedienten, versteht sich von selbst. Die Heiden, sagt Lactantius, können unmöglich tugendhaft sein, selbst wenn sie von Natur gut sind, da ihre Götter sie durch ihr Beispiel zum Laster anweisen, wie Juppiter zum Ehebruch, Mars zum Blutvergießen, Merkur zum Betrüge usw. Augustinus meinte sogar, daß die von den Heiden verehrten Dämonen sich Schandtaten zuschreiben ließen, die sie nie begangen hätten, um die Gemüter der Menschen zu umgarnen und sie mit sich ins Verderben zu reißen. Aber auch unter den Anhängern des Götterglaubens fanden manche jene »Geschichten, welche die Sünde lehrten«, sehr bedenklich. Dionys von Halikarnaß gab der römischen Theologie den Vorzug vor der griechischen, da der Nutzen der Legenden in der letzteren gering sei und sich nur auf die wenigen erstrecke, die ihren wahren Sinn erkannt hätten. Der große, der philosophischen Bildung bare Haufe dagegen werde durch sie zur Verachtung der Götter geführt oder dazu, die den Göttern beigelegten Schändlichkeiten und Verbrechen für erlaubt zu halten. Daß Dionys in seiner Polemik gegen die Unvernunft des Volksglaubens sich zu einer solchen Behauptung hinreißen ließ, ist um so begreiflicher, als man annehmen darf, daß die Sophistik, die ihre Virtuosität auch in der Verteidigung, ja im Preise des Verwerflichen zu zeigen liebte, nicht verschmähte, der Legende Argumente zu entlehnen: wie ja auch bei Aristophanes in den Wolken die »Ungerechte Rede« die Frage aufwirft, warum, wenn es eine Gerechtigkeit gebe, Zeus nicht dafür bestraft worden sei, daß er seinen Vater in Fesseln geworfen. In den Homilien des sogenannten Clemens Romanus soll eine tugendhafte Frau durch ein »Lob des Ehebruchs« verführt werden: vielleicht war auch dies ein Thema der Rhetorenschule zur Übung in der Kunst, des Schlechte als gut, das Unrecht als Recht erscheinen zu lassen. Der Verteidigung des Ehebruchs, die hauptsächlich mit Berufung auf die Liebschaften des Zeus und der andern Götter (auch die Lehren der Philosophen) geführt wird, folgt eine Widerlegung, vielleicht ebenfalls ein Thema für Übungsreden. Dürfe man die Götter in ihren Liebschaften zum Muster nehmen, so auch in ihren Mahlzeiten: Kronos habe seine Kinder, Zeus die Metis verschlungen, Pelops sei sämtlichen Göttern als Speise vorgesetzt worden.

In der Tat ist es völlig undenkbar, daß die Taten, welche die Legende von den Göttern berichtet, jemals wirklich im Altertume Menschen in ihrem sittlichen Bewußtsein hätten beirren können, die überhaupt geistig und sittlich zurechnungsfähig waren; daß Ehebrecher, Mörder, Diebe ihre Verbrechen mit den Beispielen Juppiters, Merkurs usw. vor sich und andern im Ernst gerechtfertigt haben sollten. Ovid führt zum Beweise, daß es nichts gebe, was nicht, wenn mißbraucht, Schaden stiften könne, unter anderm an, daß Frauen, die im Entdecken von Gründen zum Sündigen geistreich sind, auch durch die Vergehungen der Göttinnen darauf geführt werden können: »Verdorbne Gemüter kann alles irre leiten.« Seneca drückt sich über diesen Punkt so aus, als wenn er die Möglichkeit eines so unbedingten Glaubens an den Inhalt der Legenden, daß er den Menschen die Scheu vor der Sünde benehmen würde, gar nicht befürchtete; und ohne Zweifel mit Recht. Denn wenn die Ungläubigen den Volksglauben gerade wegen dieser Fabeln verwarfen, lösten die Vernunftgläubigen zu allen Zeiten die Widersprüche zwischen der Überlieferung und den Forderungen der Vernunft durch künstliche (euhemeristische oder allegorische) Auslegungen oder durch die Annahme, daß die von den Göttern erzählten unsittlichen Handlungen den nur halbgöttlichen Dämonen beizulegen seien; und die naiv und reflexionslos Gläubigen beschieden sich, hier Mysterien zu erkennen, an die das menschliche Verständnis nicht reichte, aus denen also um so weniger Normen für menschliches Handeln hergeleitet werden konnten.

Gegenüber den so überaus zahlreichen Zeugnissen für den Glauben an eine auf dem Willen der Götter beruhende und durch ihn aufrechterhaltene sittliche Weltordnung, die in der griechischen und römischen Literatur überall verstreut sind, beruft man sich auf einige wenige frivole Scherze in Lustspielen und Liebesgedichten, wo Verliebte für ihre Listen und Verirrungen, selbst für Schändlichkeiten das Beispiel des Zeus und andrer Götter zur Entschuldigung anführen, ja sogar auf den Monolog der Byblis in Ovids Metamorphosen, die ihre unnatürliche Leidenschaft für ihren Bruder durch die Geschwisterehe der Götter vor sich selbst zu rechtfertigen sucht! Mit demselben oder noch besserem Grunde könnte man die öfters aufgestellte Behauptung, die schon die christlichen Apologeten des Altertums in Verlegenheit setzte, daß die Vergehungen der Erzväter und andrer gottgefälliger Männer des Alten Testaments als demoralisierende Beispiele gewirkt haben, durch ähnliche scherzhafte oder freche Äußerungen in der neueren Literatur zu stützen suchen, in denen sich »der Teufel auf die Schrift beruft«: hier sei nur an ein sehr gemeines Gedicht Bürgers (Frau Schnips) erinnert. Ist es noch nötig, hervorzuheben, daß nicht bloß die bürgerliche Gesetzgebung jene Vergehungen überall streng bestrafte, sondern daß die Götter auch als Beschützer derselben Gesetze, die sie nach der Legende gebrochen hatten, verehrt und angerufen wurden, wie namentlich der griechische Zeus, der römische Juppiter ein Gott der Ehe war?

Mißverständnis der Natur der Gottheit und ihres Willens ist in keiner Religion ausgeschlossen. Benjamin Constant, dessen Bemerkungen über den Polytheismus überhaupt auch auf den damaligen Polytheismus Anwendung finden, erinnert sehr richtig daran, daß der allgemeine Geist der Kulte oft mit ihren sittlichen Geboten in Widerspruch steht, und daß die Leidenschaften, die jener anregt, diesen hemmend entgegentreten; daß oft genug Morde in gutem Glauben vollbracht worden sind, um einem Gotte zu gefallen, zu dessen Geboten das »du sollst nicht töten!« gehört. »Die Fabeln, die eine Religion heiligt, sind der Gegenstand einer in gewisser Hinsicht mechanischen Gläubigkeit: sie scheinen sich zuweilen in einem besondern Fach der menschlichen Köpfe festzusetzen, ohne es je wieder zu verlassen. Rom führte seinen Ursprung auf die Liebschaft des Mars und der Rhea Silvia zurück, nichtsdestoweniger erlitt jede verführte Vestalin eine furchtbare Strafe.« Constant erläutert den unzweifelhaft richtigen Satz, daß die Freiheiten, die sich die Götter in der Legende in bezug auf das Sittengesetz erlauben, keineswegs ihre Gleichgültigkeit gegen dasselbe beweisen, durch das Beispiel der Könige, deren Ausschweifungen nichts an den Gesetzen gegen die Ausschweifungen der Staatsangehörigen ändern. »In dem mazedonischen Lager wurde der des Mords überführte Soldat von Alexander verurteilt, obwohl er selbst der Mörder des Clitus war. Gleich den Großen dieser Welt haben die Götter einen öffentlichen und einen Privatcharakter. In jenem sind sie die Stützen der Sittlichkeit, in diesem folgen sie nur ihren Neigungen, aber Beziehungen zu den Menschen haben sie nur in ihrem öffentlichen Charakter.« »Die Götter sind nicht Urheber, sondern Gewährleister des Sittengesetzes. Sie beschützen es, aber ändern es nicht, sie erlassen seine Gebote nicht, sondern erhalten sie in Kraft. Sie belohnen das Gute, bestrafen das Böse, aber ihr Wille entscheidet nicht, was gut und böse ist, und die menschlichen Handlungen leiten ihr Verdienst aus sich selbst ab.«

Wenn nun auch der Glaube an das Walten göttlicher Mächte, die Ehrfurcht vor ihrem Willen, die Hoffnung auf ihre Gnade, die Furcht vor ihrem Zorn im ganzen Altertum zu den wesentlichsten Stützen der Sittlichkeit gehört und (wie bemerkt) auch als solche gegolten haben, so war doch die Sittlichkeit nicht eigentlich darauf gegründet. Die Pflichten der Menschen gegen Gottheit, Menschheit und ihr eigenes Selbst waren nicht durch Offenbarungen eines höheren Willens, nicht durch die Lehre eines göttlichen Propheten verkündet; die Heiden hatten das Gesetz nicht von außerhalb empfangen, sie waren, wie der Apostel sagt, sich selbst das Gesetz, und sie waren nicht bloß auf die eigne Erkenntnis ihrer Pflichten, sondern auch auf ihre eigne Kraft gewiesen. Der Begriff einer absoluten, auf übernatürlicher Offenbarung beruhenden Wahrheit fehlte ihnen ganz, und damit das Verständnis dafür, daß der Glaube und vollends die Unterordnung der Vernunft unter den Glauben ein Verdienst sein, eine erlösende und beseligende Kraft haben können. Für sie war die höchste Aufgabe des denkenden Geistes das Suchen nach Wahrheit, dem nach der Überzeugung der Christen die Offenbarung für immer ein Ziel gesetzt hatte, so daß es fortan nicht bloß überflüssig, sondern auch nicht mehr erlaubt war. Wir haben nach Christus keine Wißbegier nötig, noch nach dem Evangelium eine Forschung, sagt Tertullian; wenn wir glauben, verlangen wir nichts, was über den Glauben hinaus ist. Die Heiden bezeichnet Paulinus von Nola als die, die ewig nach der Erkenntnis suchen, aber sie nie finden. Du sollst glauben, das war nach Julian dem Abtrünnigen der letzte Schluß der christlichen Weisheit, und der Arzt Galen, der von der Sittlichkeit der Christen eine hohe Meinung hatte, konnte die Gläubigkeit nicht begreifen, mit der sie, ebenso wie die Juden, an unbewiesenen Sätzen hingen. Während die Sendboten des Christentums die Erlösung durch den Glauben verhießen, verkündete die heidnische Philosophie die Befreiung durch das Wissen. Die Erkenntnis des Bösen und des Guten (nach der Genesis die Verheißung des Versuchers) war für sie das erreichbare Ziel des menschlichen Strebens, der aus eigner Kraft zu gewinnende Grund, auf dem allein die Sittlichkeit beruhen konnte. Nach Sokrates ist das Wissen die Wurzel alles sittlichen Handelns, die Unwissenheit die aller Verfehlungen; es gibt aber so wenig ein Wissen ohne Tugend wie eine Tugend ohne Wissen, und in demselben Sinne definierten die Stoiker die Tugend als Wissenschaft, die Untugend als Unwissenheit. Durch die Vernunft war also die Tugend und mit ihr die Glückseligkeit schon in diesem Leben erreichbar: durch sie vermochte der Mensch dem Göttlichen in seiner Natur deren niedere Triebe zu unterwerfen; denn daß die menschliche Natur von Grund aus böse sei, davon wußte das Heidentum nichts – selbst nach orphischer Lehre war ja in ihr das dionysische Gute ebensowohl wie das titanische Böse vorhanden –, deshalb war auch das Bedürfnis der Erlösung durch übernatürliche Gnade dem eigentlichen Wesen des antiken Geistes fremd; und erst als das Heidentum gealtert und seine Kraft gebrochen war, hat es je länger je mehr über ihn Macht gewonnen. Unter den heidnischen Tugenden war für die Demut ebensowenig ein Platz wie für jene Geduld, die dem, der eine Backe schlägt, die andre hinreicht. Und wenn Lucan dem das Leben von sich werfenden Cato die Worte in den Mund gelegt hat, den Göttern habe die Sache der Sieger gefallen, ihm aber die der Besiegten, so steht dieser die himmlischen Mächte des Irrtums zeihende Trotz dem christlichen Gefühl menschlicher Ohnmacht und Nichtigkeit und der demütigen Ergebung in den Willen Gottes gegenüber wie ein Pol dem andern.

Dem Wissenden (dem Weisen) wurden die Übel, welche die Menschheit quälen, wesenlos, oder sie vermochten doch nicht eine in sich selbst ruhende und abgeschlossene Seligkeit zu stören; war doch, wie Sokrates sagt, das ganze Leben der Philosophen eine Vorbereitung auf den Tod, der ihnen unter allen Menschen am wenigsten Schrecken einflößte. Durch die Erkenntnis ward der Mensch über das Niveau menschlicher Schwäche erhoben, den Einwirkungen der Außenwelt entzogen, für ihre Schläge unverwundbar. Jene Seligkeit aber bestand nicht im Besitze, sondern in der Entsagung, der Bedürfnislosigkeit, wie sie mit vollster Konsequenz der Kynismus anstrebte, im Verzichte nicht bloß auf äußere Güter, sondern auch auf die wichtigsten Interessen, auf die angebornen und beglückenden Neigungen und Gefühle der menschlichen Natur. Der Wahlspruch Epictets: Ertrage und entsage! faßt in gewissem Sinne die Summe der Lebensweisheit, also auch der Glückseligkeitslehre aller philosophischen Systeme zusammen. Das Ziel aller Erkenntnis, sagt Seneca, ist, das Leben zu verachten; glückselig, sagt Demonax, ist nur der Freie, und frei nur, wer nichts hofft und nichts fürchtet. In der Abschließung vom Staatsleben kommen Epikureismus und Stoizismus mit dem Christentum überein; wie der Apostel Paulus stellte nicht bloß Epikur, sondern auch Epictet die Ehelosigkeit über die Ehe; die Skepsis gründete die Glückseligkeit auf die Erkenntnis der Unmöglichkeit des Wissens, also eigentlich auf einen Verzicht selbst auf die Erkenntnis.

Die antike Philosophie überwand also die Schrecken des Todes nicht durch die Hoffnung auf eine überirdische Seligkeit, sondern durch die Erkenntnis des geringen Werts des irdischen Daseins. Und ebensowenig wie den Glauben und die Hoffnung der Christen besaß das Heidentum die Liebe, die aus Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt. Erst das Christentum hat die Menschheit gelehrt, »auch Niedrigkeit und Armut, Spott und Verachtung, Leiden und Tod als göttlich zu erkennen, ja Sünde und Verbrechen nicht als Hindernisse, sondern als Fördernisse des Heiligen liebzugewinnen und zu verehren«. Die antike Welt ist davon weit entfernt gewesen, wenngleich es auch dort an einzelnen Regungen dieses Gefühls nicht gefehlt hat. Plato und Aristoteles haben für ihren Idealstaat die Tötung gebrechlicher und verstümmelter Kinder in Aussicht genommen. Seneca mißbilligt das Ertränken verkrüppelter und mißgeborener Kinder ebensowenig wie das Ertränken toller Hunde und kranken Viehs, das die ganze Herde anstecken könnte. Daß der Weise nach stoischer Lehre weder Mitleid empfinden noch verzeihen solle, können, wie Seneca meint, nur Unverständige als zu große Härte ansehen. Der Weise darf sich die Heiterkeit der Seele ebensowenig durch Mitleid wie durch andre Affekte trüben lassen, es ist eine Schwäche kleiner Geister, besonders der Weiber; er wird die Tränen der Weinenden trocknen, aber nicht mit ihnen weinen, er wird nicht bemitleiden, sondern helfen. Ebenso wird er zwar Milde und Gnade walten lassen, aber nicht verzeihen, denn Verzeihung ist der Erlaß einer verdienten Strafe.

Von der Gottheit fühlte der antike Mensch sich schon darum nicht durch einen unermeßlichen Abstand getrennt, weil er ihr nicht als Geschöpf dem Schöpfer gegenüberstand, und das verschiedene Verhältnis zur Gottheit bedingte auch ein verschiednes Verhältnis zur Menschheit. Die christliche Grundanschauung, daß alle Menschen Erschaffene eines Schöpfers, Kinder eines Vaters, folglich durch das Band der Brüderlichkeit verbunden, gleichberechtigt und gleichverpflichtet zu gleicher Liebe sind: diese Anschauung hat sich im außerchristlichen Altertum erst in der Zeit des römischen Weltreichs entwickelt: allgemein ist sie nie geworden. Im Gegensatze zu jener unterschiedslosen Gleichheit aller Geschaffenen vor Gott erkannte das griechische und römische Altertum die zahlreichen Abstufungen der menschlichen Existenz, die politische, nationale und soziale Entwicklungen geschaffen hatten, als zu Recht bestehend an, und weder ein göttliches Gebot noch ein sittliches Gesetz hinderte den Bevorzugten, sein besseres Recht gegenüber dem minder Berechtigten in seiner ganzen Tragweite geltend zu machen. Die Existenz des Menschen war für den Menschen nicht in dem Grade heilig, wie sie es vor einer Gottheit sein muß, von der alles Leben ausgeht, und die das ihr allein zustehende Recht, ihre Geschöpfe zu vernichten, diesen gegeneinander nicht nur nicht eingeräumt, sondern ausdrücklich versagt hat. Aus der Stellung, die dem Menschen die antike Auffassung der Weltordnung anwies, ergab sich ihm mit seiner größeren Freiheit und Selbständigkeit auch eine weitergehende Befugnis, über die eigne Existenz sowie über die der in seine Obhut oder Macht Gegebenen zu verfügen. Nicht bloß der Herr hatte das Recht über das Leben seiner Sklaven, auch der Vater hatte es über das seiner Kinder, deren Aussetzung erst sehr spät für strafbar erklärt worden ist. In der Frage über die sittliche Zulässigkeit des Selbstmords waren die Meinungen geteilt. Plato, auch hierin dem Christentum sich nähernd, verneinte sie (im Anschluß an die Pythagoreer): der Mensch als Eigentum der Gottheit dürfe den ihm angewiesenen Ort nicht eigenmächtig verlassen; doch Plotin fand den Selbstmord nicht unter allen Umständen verwerflich. Die Stoiker und Kyniker erklärten ihn nicht bloß für zulässig, sondern sahen darin die höchste Betätigung der sittlichen Freiheit.

Was endlich die Stellung der Christen in den ersten Jahrhunderten zu der heidnischen Ethik betrifft, so haben sie mindestens großenteils den fundamentalen Gegensatz »der Tugend aus Gerechtigkeit und der Tugend aus Gnade« offenbar nicht in seiner ganzen Schärfe empfunden. Für Clemens von Alexandria, wie für alle Christen, die in jener Zeit der Philosophie einen wesentlichen Teil ihrer Bildung verdankten, war es unzweifelhaft, daß auch sie die Wahrheit enthielt, mochte diese Wahrheit von den Philosophen aus dem Alten Testament entlehnt oder ihnen von niedern Engeln zugetragen worden sein; das Falsche daran rührte aus Mißverständnissen her oder war von Pseudopropheten eingeschwärzt, die der Teufel gesandt hatte. Die Philosophie verhielt sich zum Christentum wie das Abgeleitete zum Ursprünglichen, wie Bruchstücke und Teile zum Einen und Ganzen; sie war eine Vorläuferin Christi, die zu der in ihm kommenden Vollendung erzog; wie den Juden das Gesetz, so war sie den Heiden gegeben. So wurden von Juden und Heiden einige gerecht vor Gott, vor allen Plato und sein Lehrer Sokrates (die in Luthers Augen gottlose Heiden waren) redeten nach Gottes Geist. Auch für die Christen war sie wertvoll, ja unentbehrlich; die sie verschmähenden Glaubenschristen fürchteten sie, wie die Kinder die Larven, ohne sie beurteilen zu können.

Seit der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. hatte, wie gesagt, die Verbreitung griechischer Philosophie nach Rom und dem Westen begonnen und trotz aller Versuche sie aufzuhalten, stetig zugenommen. Die Vervielfältigung der Beziehungen zu Griechenland, die immer im Steigen begriffene Einwanderung griechischer Gelehrter in Rom, die immer häufigeren, oft mit längern Aufenthalten verbundenen Reisen der Römer nach Griechenland, alles dies leistete auch dem Eindringen griechischer Kunst und Wissenschaft und namentlich Philosophie mächtigen Vorschub. Als Cicero die unfreiwillige Muße seiner letzten Jahre (45-43) damit ausfüllte, die wichtigsten Resultate der nacharistotelischen Philosophie römischen Lesern in populärer Form zugänglich zu machen, kam er offenbar einem unter seinen gebildeten Landsleuten höchst verbreiteten und lebhaft empfundenen Bedürfnisse entgegen. Seine philosophischen Werke, die so wesentlich dazu beigetragen haben, allen folgenden Jahrhunderten die Kenntnis griechischer Philosophie zu vermitteln, bildeten den Kern der neu entstehenden römischen philosophischen Literatur; ihre gelesensten Schriftsteller zählt Quintilian auf: es waren (außer Lucrez) die Stoiker Brutus, Plautus und Seneca, der Anhänger der (der Stoa nahestehenden) Sextier Cornelius Celsus und der Epikureer Catius, zu denen dann im 2. Jahrhundert noch der Platoniker Apulejus und später die Neuplatoniker Cornelius Labeo und Marius Victorinus hinzugetreten sind.

Obwohl nun aber seit dem Untergange der Republik die der Verbreitung griechischer Philosophie in der römischen Welt günstigen Einflüsse sich vermehrten und an Stärke gewannen, so erhielt sich doch jene altrömische Abneigung gegen sie, die im wesentlichen auf dem Gegensatze des auf praktische Zwecke gerichteten Sinns gegen die Theorie, des Realismus gegen den Idealismus beruhte. Die Ansicht, die Ennius eine seiner Personen aussprechen ließ, daß es wohl gut sei, von der Philosophie zu nippen, aber nicht sich in sie zu versenken, war auch die des Tacitus und aller gleichgesinnten römischen Staatsmänner und Patrioten, die notwendig Gegner einer Spekulation sein mußten, die zur Gleichgültigkeit gegen den Staat und seine wichtigsten Interessen führte. Erkannte man gleich die Forderung an, sich mit den Lehren der Philosophie bekanntzumachen, gestand man ihr auch einen heilsamen, »die Leidenschaften mäßigenden« Einfluß zu: so erschien doch in diesen Kreisen ein allzu eifriges Studium ihrer Doktrinen für einen Römer und Senator unerlaubt. Helvidius Priscus, der das Studium der stoischen Philosophie trieb, »um gegen Schicksalsschläge gerüstet sich den Staatsgeschäften zu widmen«, und in allen Lebensverhältnissen den höchsten sittlichen Anforderungen genügte, machte nach Tacitus' Ansicht eine Ausnahme, da die meisten die »höheren Studien« nur trieben, um »unter prächtigen Namen einen trägen Müßiggang zu verhüllen«. Der so hoch verehrte Musonius Rufus spielt bei Tacitus die Rolle eines lächerlichen Pedanten, der seine Weisheit im ungeeignetsten Moment auskramt: er versucht (im Jahre 70) durch Vorträge über die Güter des Friedens und die Übel des Kriegs auf die vor den Toren Roms stehenden Legionen des Antonius Primus Eindruck zu machen und entgeht mit Mühe den Mißhandlungen der Soldaten. Auch Quintilian stellt den »bürgerlichen und wahrhaft weisen Mann, der sich nicht müßigen Erörterungen, sondern der Staatsverwaltung widmet«, den Philosophen gegenüber, die ihr wie überhaupt allen bürgerlichen Pflichten so fern wie möglich stehen. »Welcher Philosoph«, fragt er, »ist jemals als Richter oder in Volksversammlungen hervorragend tätig gewesen? Welcher hat sich je mit der Staatsverwaltung, für welche die meisten Regeln geben, befaßt?« Der jüngere Plinius rühmt den Titius Aristo als einen Mann, der keinem von denen, welche die Philosophie in ihrer äußern Erscheinung zur Schau tragen, an Reinheit, Frömmigkeit, Gerechtigkeit, Seelenstärke nachstehen dürfte. »Doch sucht er nicht Gymnasien und Säulengänge auf und vertreibt sich und andern mit langen Vorträgen die müßige Zeit, sondern ist stets in der Toga und in Geschäften.« Vollends unverträglich mußte eine eingehende Beschäftigung mit der Philosophie Männern dieser praktischen Richtung für einen Regenten erscheinen. Welche Kritik die philosophischen Studien Marc Aurels bei diesen Gegnern der Philosophie erfuhren, davon geben einige Äußerungen des Prätendenten Avidius Cassius eine Probe. Er nannte den Kaiser bald den »Disputierer«, bald das »philosophische alte Weib«: er »stellt Untersuchungen über die Elemente und über die Seelen und über Tugend und Gerechtigkeit an und hat kein Herz für den Staat. – Du hast gehört, daß der Präfekt des Prätoriums unseres Philosophen, der drei Tage vor seiner Ernennung bettelarm war, plötzlich reich geworden ist.« Als Alexander Severus auf den Rat seiner Mutter Mamäa das Studium der Musik und Philosophie aufgab, bestärkten ihn in seinem Entschlüsse die ihm statt eines Orakels gebotenen Vergilischen Verse, die den Römer zur Beherrschung der Völker berufen nennen, während andre Völker in Kunst und Wissenschaft den Preis erringen mögen.

Wie die Mutter Alexanders, so hatte auch die Mutter Neros ihren Sohn vom Studium der Philosophie abgehalten, zu dem er durch den Stoiker Chäremon, den durch Seneca angeleitet worden war, »weil sie für einen künftigen Regenten schädlich sei«. In den Kreisen, die ein lebhaftes Interesse an der Aufrechthaltung der bestehenden Ordnung hatten, vor allem in Regierungskreisen und an den Höfen, wurde die Philosophie nicht sowohl gering geachtet als gefürchtet: der Cäsarismus erkannte in der »Ideologie« für sich eine Gefahr, und nicht ohne Grund. Die Rede, in welcher Cassius Dio den Mäcenas vor Augustus die Grundsätze der kaiserlichen Politik entwickeln läßt, enthält auch eine Warnung vor den Philosophen, die revolutionäre Ansichten verbreiten. Der Kaiser möge nicht glauben, daß alle wirklichen oder angeblichen Philosophen gute und rechtschaffne Männer seien, weil er Areus und Athenodorus als solche erprobt habe: vielmehr bedienen sich viele dieser Maske, um Staaten und einzelnen unzählige Übel zuzufügen. In der Tat bekannten sich, wie die Mörder des ersten Cäsar, so überhaupt Frondierende und namentlich die hervorragendsten Führer der senatorischen Opposition im 1. Jahrhundert zu den Lehren der stoischen Schule, darunter Republikaner, wie Pätus Thrasea und Helvidius Priscus, die nach einem politischen Märtyrertume strebten, und von den Teilnehmern an der Pisonischen Verschwörung gegen Nero (65) mindestens Lucan und Seneca. Die Verdächtigungen des Stoizismus und der Philosophie überhaupt fanden bei den Kaisern nur zu leicht ein offenes Ohr. Schon im Jahre 62 war Rubellius Plautus im Exil getötet worden, der, wie Tigellinus Nero vorstellte, die »Nachahmung der alten Römer zur Schau trug und die Anmaßung der stoischen Schule angenommen hatte, welche unruhige und die Gefahr aufsuchende Geister bilde und erzeuge«. Zur Verfolgung Thraseas (im Jahre 66) ward Nero von Capito Cossutianus gereizt, der dessen Fernbleiben von den Senatsberatungen als Auflehnung, ihn selbst als ein Parteihaupt schilderte: er habe Anhänger oder vielmehr Trabanten, die noch nicht den Trotz seiner Äußerungen, doch sein Benehmen und seine Manieren nachahmten, starr und finster, als wollten sie den Kaiser der Ausgelassenheit bezichtigen. Entweder möge man jene Grundsätze annehmen, wofern sie die besseren seien, oder den Neuerungssüchtigen ihre Führer und Anstifter entreißen. Diese Sekte habe die Tuberonen, die Favonier, Namen, die sogar dem alten Freistaate verhaßt waren, erzeugt. Um die Monarchie zu stürzen, schützen sie die Freiheit vor; haben sie jene gestürzt, so werden sie die Freiheit selbst angreifen. Der Eidam des Thrasea, Helvidius Priscus, der mit jenem, wie man in Rom erzählte, die Geburtstage des Brutus und Cassius festlich beging, wurde unter Vespasian (zum zweitenmal) verbannt und in der Verbannung getötet. Er, der später zu den gefeierten Idealgestalten der stoischen Schule gehörte, den der jüngere Plinius und auch Tacitus trotz seiner Eingenommenheit gegen das politische Märtyrertum mit Verehrung nennen, wird von konservativen Monarchisten wie Sueton und Cassius Dio verurteilt und sein Untergang als ein selbstverschuldeter dargestellt. Nach der Darstellung des ersteren bewies Vespasian seinem herausfordernden Trotze gegenüber die äußerste Langmut, wollte seinen Tod, leider zu spät, verhindern und hatte ihm nicht eher gezürnt, als bis er von ihm »durch höchst freche Schmähungen beinahe zurechtgewiesen« worden war. Dios Darstellung ist nur bruchstücks- und auszugsweise erhalten; allerdings sucht er die Gehässigkeit des Verfahrens gegen Helvidius und die Philosophen überhaupt Vespasians mächtigstem Freunde Mucianus aufzubürden, aber Helvidius sei aufrührerisch und ein Pöbelfreund gewesen, habe stets die Monarchie geschmäht, die Demokratie gelobt, demgemäß gehandelt und andre aufgereizt; als ob es die Aufgabe der Philosophie sei, die Regierung mit Kot zu bewerfen, die Massen aufzuregen, das Bestehende umzustürzen und Umwälzungen herbeizuführen. Helvidius habe Thrasea nachgeahmt, ihm aber weit nachgestanden. Thraseas Opposition war gegen einen Nero gerichtet und blieb doch in Rede und Handlung maßvoll, sie beschränkte sich auf passiven Widerstand. Helvidius war mit einem Vespasian unzufrieden und trat ihm öffentlich und in Privatkreisen entgegen, er suchte den Tod und büßte für vielfache Verschuldungen. Auch andre Stoiker und der von Seneca bewunderte Kyniker Demetrius äußerten nach Dio öffentlich Ansichten, die mit dem Bestehenden unverträglich waren, und so erfolgte (wohl im Jahre 74) eine Ausweisung aller Philosophen aus Rom, mit alleiniger Ausnahme des (von Nero verbannt gewesenen) Musonius Rufus; Demetrius und ein Hostilius wurden auf Inseln verwiesen. Eine zweite Verbannung der Philosophen erfolgte im Jahre 95 durch Domitian, im Zusammenhange mit dem Prozesse des Stoikers Junius Arulenus Rusticus, der Thrasea in einer Lobschrift einen heiligen Mann genannt hatte, und andrer gleichgesinnter Senatoren: »die ganze Verfolgung traf die politische Opposition, insofern sie in der Literatur und auf dem Katheder ihren Ausdruck fand, und während die namhaftesten Schriftsteller und Lehrer kriminell bestraft wurden, wies die Regierung die große Masse derselben aus der Hauptstadt aus«.

Nach dem Tode Domitians änderte sich mit dem ganzen Regierungssystem auch die Stellung der Kaiser gegenüber der Philosophie, die nun nicht bloß aufhörte, als regierungsfeindlich zu gelten, sondern bald auf jede Weise begünstigt wurde. In einem bald nach Domitians Tode (96 oder 97) geschriebenen Briefe äußert Plinius seine Freude über das herrliche Wiederaufblühen des geistigen Lebens in Rom, wovon die Beispiele zahlreich und leuchtend seien; doch genüge es, eines anzuführen, die Vorträge des stoischen Philosophen Euphrates. An Trajan rühmt Plinius, daß er sich die Erziehung der Jugend ganz besonders angelegen sein lasse, den Lehrern der Beredsamkeit und Philosophie große Ehre erweise. »Die Studien, die mit dem Exil von einem Fürsten bestraft worden waren, der im Bewußtsein seiner Laster alle dem Laster feindlichen Bestrebungen mehr aus Scheu als aus Haß verbannte, hegt nun Trajan und zieht sie in seine Nähe. Sie haben Blut und Leben, haben ihr Vaterland wiedergewonnen«. Dio von Prusa, der unter Domitian in der Verbannung gelebt hatte, kehrte nach seinem Tode zurück; die Regierung des ihm von früher befreundeten Nerva war zu kurz, als daß er von seiner Gunst hätte Vorteil ziehen können; doch Trajan soll ihn geflissentlich ausgezeichnet haben, und Dio sagt in einer seiner für ihn bestimmten paränetischen Reden über die Herrschaft: der Kaiser erfreue sich an Wahrheit und Freimütigkeit, nicht an Schmeichelei und Lüge. Hadrian, welcher den Umgang mit Philosophen wie mit Gelehrten aller Art suchte, hat vielleicht zuerst öffentliche Lehrer der Philosophie in Rom angestellt, und es hängt auch wohl damit zusammen, daß unter demselben Kaiser die Häupter der großen Philosophenschulen in Athen römische Bürger sein müssen, was wohl auch für den Vorsteher des alexandrinischen Museums gilt. Antoninus Pius stellte öffentliche Lehrer der Philosophie in allen Provinzen an, nach seinem Schreiben an den Landtag der Provinz Asien sollte die Abgabenfreiheit, die bei andern Lehrern auf eine nach der Größe der Städte sich bestimmende Zahl beschränkt war, für die Philosophen unbeschränkt gelten, da es ihrer so wenige gebe. Die Besoldungen der ins Museum zu Alexandria berufenen Gelehrten, also auch der dortigen Philosophen, dauerten fort; in Athen wurden durch Marc Aurel aus den vier bedeutendsten Schulen öffentliche Lehrer bestellt.

Unter diesem Philosophen auf dem Thron wurde die Philosophie Mode, selbst bei den Frauen; der einst so sehr verfolgte Stoizismus galt nun als Empfehlung und wurde von Strebern zum Schein angenommen oder zur Schau getragen. Von den Lehrern des Kaisers in der Philosophie sah man besonders den Stoiker Q. Junius Rusticus und den Peripatetiker Cn. Claudius Severus hochgeehrt und einflußreich. Jener, ein Sohn oder Enkel des von Domitian Hingerichteten, war der Ratgeber Marc Aurels in allen öffentlichen und privaten Angelegenheiten und sein Wort galt im Frieden wie im Kriege; der Kaiser umarmte ihn stets vor den Präfekten des Prätoriums, ernannte ihn zweimal zum Konsul und ließ ihm nach seinem Tode durch den Senat Statuen errichten. Cn. Claudius Severus, ein vornehmer Mann, war bereits 146 Konsul gewesen, seinen gleichnamigen Sohn (Konsul 163 und 173) erhob Marc Aurel zu seinem Schwiegersohne. Von den spätern Kaisern legte namentlich Septimius Severus in Befolgung des von Marc Aurel gegebenen Beispiels Interesse für Philosophie an den Tag, und nach Tertullian genossen unter ihm die Philosophen große Redefreiheit; trotz ihrer Angriffe gegen die Kaiser erhielten sie Gehälter und Statuen. Auch des Septimius Severus' Gemahlin Julia Domna wandte sich, als sie mit ihm durch die Ränke des Günstlings Plautianus zerfallen war, der Weltweisheit zu und umgab sich mit Philosophen.

In der Zeit der Verdächtigungen und Verfolgungen der Philosophie fehlte es übrigens nicht an Philosophen, die sich eifrig bemühten, sich und ihre Wissenschaft den Regierungen als vollkommen ungefährlich darzustellen. Martials Freund und Landsmann, der Sachwalter Decianus aus Emerita, bekannte sich zwar zu den Lehren Thraseas und Catos, d. h. er war Stoiker, aber vernünftig genug, um nicht mit bloßer Brust auf entblößte Schwerter zu rennen, wofür Martial ihn lobt: er will keinen Mann, der den Ruhm mit übereilter Vergießung seines Bluts erkauft, sondern einen, der auch ohne Märtyrertum Lob verdient. Seneca hat in seinen Briefen die Philosophie wiederholt gegen den Vorwurf der Regierungsfeindlichkeit in Schutz genommen. In einem Briefe, der zur Zeit der beginnenden Verdächtigungen geschrieben sein mag, spricht er so, als wenn es ganz undenkbar sei, daß sie je in diesem Sinne beargwöhnt werden könnte, obwohl gerade aus seiner Verteidigung hervorgeht, daß bereits Angriffe erfolgt waren. Man müsse, sagt er, sich aus der Gefahr der Welt flüchten und bei der Philosophie eine sichre Zuflucht suchen, der Wissenschaft, die nicht bloß bei den Guten, sondern auch bei den nicht allzu Schlechten wie eine Priesterbinde schütze, die auch die Schlechtesten ehren. »Niemals wird die Nichtswürdigkeit so stark werden, nie eine solche Verschwörung gegen die Tugend zustande kommen, daß nicht der Name der Philosophie ehrwürdig und heilig bliebe.« Übrigens muß man sie mit Bescheidenheit und Ruhe üben. Er läßt sich einwenden, ob dies etwa Cato getan habe? und mißbilligt ausdrücklich dessen Beteiligung nicht bloß am Bürgerkriege, sondern auch an den vorausgehenden Parteikämpfen als fruchtlos. Er verweist auf das Beispiel der Stoiker, die, vom Staatsleben sich ausschließend, in ihrer Zurückgezogenheit sich um die Veredlung des Lebens und die Begründung der allgemeinen Menschenrechte »ohne Beleidigung eines Mächtigeren« bemüht haben. Der Weise werde nicht suchen, durch sein Beispiel die allgemein angenommenen Sitten zu erschüttern, nicht suchen, die Aufmerksamkeit des Volks durch die Neuheit seiner Lebensweise auf sich zu ziehen. Unbedingte Sicherheit kann man freilich auch ihm nicht versprechen. In einem späteren Briefe werden dagegen die Anklagen der Philosophie als schon wirklich erhobene widerlegt. »Diejenigen scheinen mir zu irren, welche glauben, daß die treuen Anhänger der Philosophie hartnäckig und widerspenstig seien und Verächter der Behörden und Könige und Verwalter des Staats.« Im Gegenteil ist niemand diesen dankbarer als gerade sie; denn sie bedürfen am meisten der Ordnung und Ruhe zur Verfolgung ihrer höheren Lebenszwecke und verehren den, der sie gewährt, wie einen Vater, weit mehr als jene unruhigen Ehrgeizigen, die zwar den Fürsten viel verdanken, aber ihnen ihre Dienste auch hoch anrechnen und nie mit dem Lohne zufrieden sind. Aber jener reine und wahrhaftige Mann, der auf die Kurie und das Forum und die ganze Staatsverwaltung verzichtet hat, um sich zu höheren Dingen zurückzuziehen, liebt diejenigen, die es ihm möglich machen, dies in Sicherheit zu tun, er allein legt für sie ein unverkauftes Zeugnis ab und ist ihnen ohne ihr Wissen zu großem Danke verpflichtet. Wie er seine Lehrer verehrt und achtet, durch deren Wohltaten er aus jenen Irrgängen entkommen ist, so auch sie, unter deren Schutz gestellt er edle Wissenschaft übt. Die Wohltat des allgemeinen Friedens wird in höherem Grade denen zuteil, die ihn gut benutzen. Wieder in einem späteren Briefe heißt es: man müsse mit der Philosophie nicht prahlen, denn für viele sei sie eine Ursache der Gefahr geworden dadurch, daß sie mit Anmaßung und Trotz geübt wurde; »sie soll deine Fehler tilgen, nicht andern die ihren vorwerfen. Sie entferne sich nicht von der allgemeinen Sitte, und scheine nicht das zu verdammen, was sie vermeidet. Man kann ohne Prunk, ohne Gehässigkeit weise sein«. Die Aufforderung an die Philosophen, alles Auffallende zu vermeiden, wiederholt sich öfters: schon der Name der Philosophie sei verhaßt, auch wenn sie mit Bescheidenheit geübt werde, um so mehr, wenn man durch Zurschautragen einer übertriebnen Askese und Weltverachtung sich von dem Herkommen ausschließe; leicht werde dann lächerlich und gehässig, was Bewunderung erregen sollte. Man solle die Philosophie nicht gleichsam als ein Aushängeschild brauchen, auch seine Zurückgezogenheit solle man verbergen, vermeiden, daß sie zum Gegenstand des Gesprächs werde, die Aufmerksamkeit der Menschen errege.

Man sieht, daß Seneca keineswegs nur die Befürchtungen und Anklagen der Vertreter und unbedingten Anhänger des bestehenden politischen Systems gegen die Philosophie als ungegründet darzustellen bemüht ist, welche letzteren übrigens in allen Lebenskreisen schon darum sehr zahlreich gewesen sein müssen, weil alle zu ihnen gehörten, die um jeden Preis Ruhe und Ordnung als Basis allen materiellen Fortschrittes wollten. Der großen Masse mußte die Philosophie auch wegen ihrer hohen sittlichen Anforderungen, ihrer strengen Verurteilung laxer Moral, ihrer die selbstzufriedne Trägheit unaufhörlich aufrüttelnden Strafreden und Ermahnungen im höchsten Grade unbequem, und überdies der Anspruch der Philosophen, besser zu sein und höher zu stehen als andre Menschen, um so beleidigender sein, je auffallender sie sich auch in Erscheinung und Tracht, Lebensweise und andern Äußerlichkeiten zu erkennen gab. In diesem Sinne ist die Anklage gegen den Stoizismus gehalten, die Mucian bei Cassius Dio an Vespasian richtet. Die Stoiker seien von eitler Anmaßung erfüllt. Ein langer Bart, hinaufgezogene Augenbrauen, ein grober Mantel und bloße Füße seien einem genug, um sich für weise, mannhaft, gerecht auszugeben und in die Brust zu werfen, wenn er auch nicht die Anfangsgründe des Wissens besitze. Sie sehen geringschätzig auf alle andern herab, sie werfen dem Schönen Zuchtlosigkeit, dem Reichen Habsucht, dem Armen Servilismus vor usw. Aus demselben Grunde erklärt Dio von Prusa die allgemeine Unbeliebtheit der Philosophie in Griechenland. Die Philosophentracht (Mantel ohne Unterkleid, langes Haar und Bart) zieht, wie er sagt, jedem, der sich darin zeigt, Neckereien, Hohn und Spott, selbst Mißhandlungen zu, denn die meisten Menschen haben die Philosophen in Verdacht, daß sie alle Nichtphilosophen verachten, verdammen und im stillen verlachen wegen ihres Mangels an Erkenntnis dessen, was den Menschen frommt, besonders die von allen beneideten Reichen. Deshalb glauben die meisten, den Philosophen mit Spott und Verachtung zuvorkommen, sie womöglich als Toren und Verrückte darstellen zu müssen, womit sie denn zugleich bewiesen haben, daß die Vernunft auf ihrer Seite ist. Kurz, die Tracht, die jeden, der sie trägt, als schonungslosen Ermahner, Strafredner und Sittenrichter bemerklich macht, wird von allen so ungern gesehen wie die Tracht des Pädagogen von den Kindern.

Mit diesen Antipathien wirkte bei der Menge der Halbgebildeten und Ungebildeten ein sehr schlagender Grund zusammen, die mühsamen Studien, auf die so großer Wert gelegt wurde, zu verachten und zu verlachen: sie waren völlig nutzlos, denn durch sie erreichte man weder Beförderung oder Ansehen, noch erwarb man in der Regel Geld. Persius, der die aufgeblasenen Kleinstädter überhaupt als Verächter aller höheren (griechischen) Bildung schildert, legt den Hohn gegen die Philosophie als eine brotlose Kunst der Centurionen in den Mund, die auch sonst in den Städten Italiens als tonangebende Personen erscheinen und wohl überall in mittleren und unteren Lebenskreisen eine tonangebende Rolle spielen. Preist man vor diesen Männern mit geschwollenen Krampfadern die Freiheit des Weisen, so stößt sofort ein riesiger Fulfennius ein fettes Gelächter aus und taxiert 100 Griechen zu einem abgegriffenen Hundertasstück. »Ich, sagt ein andrer von diesem nach dem Bock stinkenden Volke, »bin für mich klug genug und kümmere mich wenig darum, so zu sein wie Arcesilaus und die sich plagenden Solonen, wenn sie mit gesenktem Kopf, den Blick auf die Erde geheftet, für sich murmeln oder schweigend wie Verrückte die Lippen kauen und mit vorgestreckter Unterlippe Worte auf die Waagschale legen, in tiefem Nachdenken über Delirien irgendeines alten Schwachkopfs: als, daß aus nichts nichts wird, nichts in nichts zurückkehren kann. Darum seht ihr so blaß aus? Darum soll man ein Frühstück versäumen?« »Darüber lacht die Menge, und die prallen jungen Burschen erheben ein wieherndes Gelächter nach dem andern, daß ihnen die Nasen kraus werden.« Ebenso gründlich verachtete natürlich die Masse der Geld- und Geschäftsleute die Philosophen. Trimalchio ordnet an, daß auf seinen Grabstein gesetzt werden soll: »Er hat klein angefangen und ist groß geworden, er hat 30 Millionen Sesterzen hinterlassen und nie einen Philosophen gehört.«

Aber der Vorwurf der gänzlichen Nutzlosigkeit und Überflüssigkeit wurde gegen die Philosophie auch aus gebildeten Kreisen erhoben, und zwar im Namen und von Seiten des gesunden Menschenverstands, der damals, wie zu allen Zeiten, sich zutraute, dieselben Ziele und Resultate, welchen die Spekulation auf weiten, mühsamen Umwegen zustrebte, längst erreicht zu haben, und daher leugnete, etwas von ihr lernen zu können. Wozu namentlich die vielen künstlichen Systeme der Moralphilosophie bei der Einfachheit und Unumstößlichkeit des allen Menschen angebornen Sittengesetzes? Und welche Philosophie lehrte denn die Wahrheit, da jede Schule die Doktrin aller andern für falsch erklärte?

Von diesem Standpunkte aus wurde die Philosophie besonders von denen angegriffen, welche die Beredsamkeit als Ziel aller Bildungsbestrebungen ansahen, und dies wird im spätern Altertum vielleicht die Mehrzahl der Gebildeten gewesen sein. Die so natürliche, auf innern Gegensätzen beruhende, fort und fort durch äußre Anlässe genährte Eifersucht zwischen Rhetoren und Philosophen, »den Künstlern der reinen Form der Rede und den Ergründern des innersten Wesens der Dinge«, führte zu unaufhörlichen, oft erbitterten Streitigkeiten über den relativen Wert der beiden Wissenschaften. Schon die Schüler wurden zur Teilnahme an diesen Kämpfen vorbereitet. Zu den in der Rhetorenschule deklamierten Kontroversthemen gehörte folgendes: Ein Vater hinterläßt drei Söhne, einen Redner, einen Philosophen und einen Arzt; er setzt im Testament den zum alleinigen oder bevorzugten Erben ein, der nachweisen werde, daß er dem Staat am meisten nütze. Hier wurde dann für jede der drei Wissenschaften und gegen die beiden andern gesprochen und die völlige Nutzlosigkeit der Philosophie an ihren Früchten gezeigt. Die viel erörterte Frage, ob die Tugend gelehrt werden könne, wurde verneint. Die besten Männer, die Fabricier, Curier, Decier, seien ohne Philosophie geworden, was sie waren, aus den Philosophenschulen dagegen die größten Verbrecher hervorgegangen, wie aus der des Sokrates Tyrannen und Vaterlandsfeinde. Selbst zugestanden aber, daß man durch Unterricht zur Weisheit gelangen könne, so bliebe der einzuschlagende Weg ungewiß, denn alle Schulen ständen miteinander in Widerspruch. Viele Philosophen bekennen überdies, daß es trotz aller Bemühungen einen wahrhaft Weisen noch nie gegeben habe. Welchen Nutzen brächte also die Philosophie? Wäre sie im Kriege oder für bürgerliche Ämter zu brauchen? Nichts finde man bei ihnen als Heuchelei, Faulenzerei und Anmaßung, durch die sie sich Ansehen zu verschaffen wissen. Ihre Behauptung, daß sie zur Verminderung der Laster beitragen, widerlegt der Augenschein.

Daß namentlich die Lehrer der Beredsamkeit mindestens zum großen Teil prinzipielle Gegner der Philosophie waren, ist einleuchtend. Gegen solche war eine angeblich von Plutarch verfaßte Schrift gerichtet. Von dem älteren Seneca sagt sein Sohn, daß er die Philosophie haßte; seine Gattin verhinderte er, sich eingehend mit ihr zu beschäftigen. Quintilian, der den vom alten Cato gegebenen Begriff des Redners als »eines sittlich guten, der Rede kundigen Manns« streng festhielt, behauptet, daß die Ethik eigentlich ein Teil der Redekunst, nur durch die Schuld der sie vernachlässigenden Redner von ihr abgelöst, von »schwächeren Geistern« in Besitz genommen und ein eigenes Fach geworden sei: die Redner müßten dies Gebiet als ein ihnen gehörendes zurückfordern. Da der wahre Philosoph nichts andres sein kann als ein sittlich guter Mann, also dasselbe, was der wahre Redner ebenfalls ist, so ergibt sich die Überflüssigkeit einer besondern Philosophie. Quintilian benutzt, obwohl er von seinem Idealredner auch philosophische Studien verlangt, jede Gelegenheit, um seiner Gereiztheit gegen die Philosophen Luft zu machen, ihr sklavisch ängstliches Festhalten an den Schuldoktrinen und -ausdrücken, ihre endlosen und sophistischen Erörterungen, ihre weitläufigen Apparate zur Begründung der einfachsten Sätze, ihre Anmaßung, ihre Heuchelei, ihre dem Staatswohl zuwiderlaufende Weltflucht und Tatenscheu zu geißeln, den einzelnen Schulen ihre Schwächen mit Behagen vorzuhalten. Auch Dio von Prusa hatte als Rhetor die Philosophie, der er sich später zuwandte, leidenschaftlich angegriffen.

121. POMPEIANISCHE KLEINBRONZE.
Neapel, Nationalmuseum

Wahrhaft komisch äußert Fronto seinen Ingrimm gegen die Philosophie, die seinen kaiserlichen Schüler Marcus der Beredsamkeit abtrünnig gemacht hatte. Dies war um so mehr zu bedauern, als Marcus sich, wie Fronto an ihn schreibt, schon als Knabe durch Adel des Geistes und Würde der Gedanken auszeichnete, denen nur der Glanz des Ausdrucks gefehlt habe; die Vorbereitungen und Anstrengungen, die gemacht werden mußten, um auch diesen sich anzueignen, seien ihm wohl zu mühsam geworden; so habe er das Studium der Beredsamkeit verlassen und sei zur Philosophie abgesprungen, »wo es keine Einleitung mit Sorgfalt auszuarbeiten, keine Erzählung kurz, deutlich und geschickt anzubringen, keine Beweisgründe aufzusuchen, nichts hervorzuheben« gab. Bei seinen Lehrern der Philosophie hatte er es natürlich leichter. Er brauchte nur ihren Erläuterungen zuzuhören und durch Kopfnicken anzudeuten, daß er verstanden habe; während andre lasen, konnte er meistens schlafen; er mußte viel und lange abzählen hören, »das erste wär' so, das zweite wär' so«, und sich mühsam beweisen lassen, daß es hell sei, wenn es Tag sei, während die Sonne ins Fenster schien. Dann konnte er ruhig nach Hause gehen und brauchte nichts in der Nacht auszudenken oder schriftlich aufzusetzen, nichts seinem Lehrer vorzulesen, nichts aus dem Kopfe aufzusagen, keine Ausdrücke aufzusuchen, keine Synonymen zum Schmuck anzubringen, nichts aus dem Griechischen ins Lateinische zu übersetzen. Was konnte bei einem solchen Studium erreicht werden!« Aber Marcus wollte nun einmal, wie Fronto sagt, lieber reden als beredt sein, und sich lieber mit Zwitschern und Murmeln als mit hellen Klängen vernehmen lassen.

Auch Lucian ist trotz all seiner Verstimmungen gegen die damalige entartete Rhetorik, trotz seines im »Zweimal Angeklagten« an sie im Alter von fast 40 Jahren gerichteten Absagebriefs und seines angeblichen Übergangs zur Philosophie im Grunde ein echter Rhetor geblieben und spricht, wie Quintilian, der Spekulation vom Standpunkte des gesunden Menschenverstands die Berechtigung ab. Auch für ihn bestand die Philosophie in der praktischen Lebensweisheit, die nicht bloß an kein bestimmtes System gebunden, sondern auch jedem denkenden Nichtphilosophen erreichbar war. Ihm waren die Philosophen im allgemeinen verhaßt, wenn er auch einzelne (und zwar den verschiedensten Schulen angehörige) ausnahm; und nicht bloß wegen des Kontrastes zwischen ihren Lehren und ihrem Lebenswandel. Die Eitelkeit, Torheit, Wesenlosigkeit und Lächerlichkeit aller philosophischen Studien ist der Gegenstand des Dialogs Hermotimus. Hermotimus, der schon seit 20 Jahren, in das eifrigste Studium der stoischen Philosophie vertieft, keine Vorlesung versäumt, Tag und Nacht über Büchern sitzt, sich keine Freude gönnt, blaß und abgemagert aussieht, hofft in weiteren 20 Jahren an sein Ziel zu gelangen! Doch er muß schließlich zugestehen, daß, um irgendeine Philosophie für die alleinseligmachende zu erklären, zuvor eine Prüfung aller Systeme angestellt werden müßte, die allein etwa zweihundert oder doch hundert Jahre erfordern würde. Und wo ist die Gewißheit, daß die Wahrheit überhaupt in irgendeinem System enthalten ist? Und wäre auch die einzig wahre Philosophie zu ermitteln, wie wäre man sicher, den rechten Lehrer für sie zu finden? Und bei alledem sind die Bemühungen derer, die Philosophie studieren, gar nicht auf den eigentlichen Zweck gerichtet, nicht auf die Betätigung ihres Wissens durch Handlungen, sondern auf unselige Wortklauberei, Syllogismen, Trugschlüsse und schwer zu beantwortende Fragen, und sie bewundern ihre Lehrer, wenn sie andre durch Sophismen in Verlegenheit setzen. Anstatt nach der Frucht zu streben, arbeiten sie sich um die Rinde ab und beschütten einander mit Blättern.

Aristides endlich hat offenbar eine ihm auch durch seine Stellung in der literarischen Welt auferlegte, heilige Pflicht zu erfüllen geglaubt, indem er in dem Kampfe zwischen Rhetorik und Philosophie für die erstere mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität eintrat. In zwei ausführlichen Reden »Für die Rhetorik« hat er sie gegen die Anschuldigungen des Platonischen Sokrates (im Gorgias) in Schutz genommen. Sie ist nicht bloß, was dort geleugnet wird, eine Kunst, sondern steht auch mit allen Kardinaltugenden in unlösbarem Zusammenhange: sie ist von der Weisheit um der Gerechtigkeit willen erfunden und wird von der Tapferkeit und Sittsamkeit beschützt; derjenige, welcher weiß, wie man reden, weiß auch, wie man handeln muß: kurz, die Redekunst ist Fundament und Inbegriff der sittlichen sowohl wie der geistigen Bildung. Zwar versichert Aristides, er sei weit entfernt, die Philosophie selbst anzugreifen, er sei mit den größten und besten Philosophen seiner Zeit umgegangen und betrachte sie als seine Erzieher. Doch in der Tat verbirgt sich hinter diesen konventionellen Anpreisungen eine starke Abneigung, ja ein gewisser Haß des Rhetors gegen die Philosophie. In einer überlangen Rede hat er die vier großen athenischen Staatsmänner, Miltiades, Themistokles, Kimon und Perikles, gegen die Anklagen des Platonischen Idealismus verteidigt, und hier hat er die ganze Schale seines Zorns über die damaligen Philosophen ausgegossen. Wenn man auch dergleichen ungerechte Anklagen von dem großen Plato geduldig hinnehmen möchte, so sei es doch nicht zu ertragen, daß ganz nichtswürdige Menschen sich ein solches Verfahren förmlich zur Aufgabe machten und selbst einen Demosthenes zu lästern wagten. Wer würde die Schmähungen solcher Menschen selbst gegen Lebende dulden, »die mehr Sprachfehler machen, als sie Worte hervorbringen, die auf die übrigen mit der Verachtung herabsehen, die sie selbst verdienen, die die andern prüfen, sich selbst aber niemals, und die Tugenden preisen, aber nicht üben«. »Noch niemals haben sie (gleich den Rhetoren) eine fruchtbringende Rede gesprochen oder erfunden oder verfaßt, nicht Festen Schmuck verliehen, nicht die Götter geehrt, nicht Städten Rat erteilt, nicht Trauernde getröstet, nicht Hadernde versöhnt, nicht die Jugend oder jemand anders ermahnt, nicht auf Schmuck für ihre Reden gedacht. Sondern, in ihre Löcher kriechend, sinnen sie dort ihre herrliche Weisheit aus, indem sie gegen einen Schatten prahlen, Windhalme ernten, aus Sand Seile drehen, ich weiß nicht, welches Gewebe auflösen: denn so viel sie an Weisheit gewinnen, so viel vermindern sie ihren Gewinn, indem sie glauben, stolz sein zu dürfen, wenn sie von der Rhetorik übel reden; etwa wie die Sklaven zwischen den Zähnen auf ihre Herren fluchen, besonders die stets geprügelten, oder wie ein Satyr auf der Bühne dem Herakles flucht und sich versteckt, wenn dieser auf ihn losgeht. Es ist aber ganz natürlich, daß sie von allen übel reden, denn daran haben sie Überfluß, und wenn sie auch keiner Person gedenken, sagen sie doch das, was sie sagen, übel: sie teilen also nur von dem Ihrigen mit. Nähme man ihnen die Lüge und die Bösartigkeit, so raubte man die Kraft aus ihrem Leben. Und dabei halten sie der Welt den herrlichen Namen der Philosophie wie ein Schaustück entgegen, als ob der Name es täte; als ob ein Thersites durch den Namen des Hyazinth oder Narziß schön, ein Margites durch den des Nestor weise würde.

Aus den bisher angedeuteten Gründen stand also eine große Zahl höchst verschiedner Kreise der Philosophie ablehnend oder feindselig gegenüber: römische Patrioten, Konservative aus Überzeugung, Instinkt oder Interesse, Alltagsmenschen, denen jede Erhebung über die Mittelmäßigkeit Unbehagen erregte, Hasser der Prätention, banausische Utilitarier, Gegner und Verächter aller Spekulation, Vertreter der nichtphilosophischen Bildung, die für ihr eignes Interesse und Gebiet kämpften. Sie alle konnten ihre Ansicht von der Entbehrlichkeit, Wertlosigkeit oder Schädlichkeit der Philosophie nicht besser unterstützen als durch Berufung auf die Erfahrung: diese lehrte, wie sie behaupteten, daß die Philosophen im allgemeinen sittlich nicht höher oder sogar tiefer ständen als die Mehrzahl der Durchschnittsmenschen. Der Name eines Philosophen machte daher jeden, der ihn sich beilegte, zum Gegenstand einer scharfen, unnachsichtigen und mißgünstigen Beobachtung von den verschiedensten Seiten her, die seinen sittlichen Gebrechen, Schwächen und Lächerlichkeiten eifrig nachspürte, um sie triumphierend aufweisen zu können. Wenn die Leute, sagt Epictet, einen Mann mit einem groben Mantel und langem Haar sich unanständig betragen sehen, so heißt es sofort: Seht da, was der Philosoph tut; während man doch vielmehr nach seiner Handlungsweise sagen müßte, daß er kein Philosoph ist. Als Gellius von Cassiope nach Brundisium übersetzte, brachte ein furchtbares Unwetter das Schiff in die größte Gefahr. Während alles jammerte und klagte, sah sich Gellius nach einem mitreisenden berühmten stoischen Philosophen um, um aus seinem Aussehen auf seine Gemütsstimmung zu schließen: dieser äußerte zwar keine Klage, verriet aber seine Furcht durch die Farblosigkeit und den Ausdruck seines Gesichts. Als der Sturm nachgelassen hatte, trat sogleich ein reicher asiatischer Grieche, der mit großem Gefolge und luxuriöser Ausstattung reiste, an den Stoiker heran und verhöhnte ihn, daß er sich in der Gefahr gefürchtet habe und blaß geworden sei. Der Philosoph wies diese Impertinenz vornehm ab, das bescheidne von Gellius über denselben Punkt geäußerte Bedenken beschwichtigte er durch Verweisung auf eine Stelle bei Epictet, nach welcher auch dem Weisen das Blaßwerden gestattet war.

Am häufigsten hatten sich vermutlich die Philosophen dafür zu verantworten, daß sie das Geld nicht verachteten. Ulpian sagt bei Erörterung der Prozesse wegen schuldiger Honorare für Unterricht oder sonstige Leistungen von Gelehrten: die Philosophen könnten seines Erachtens Ansprüche auf Honorar gerichtlich nicht verfolgen; sie hätten vor allem zu erklären, daß sie jede »Lohnarbeit« verschmähten. Seneca hat dagegen in einer längeren Abhandlung zu beweisen versucht, daß Philosophen reich sein dürfen. Diejenigen freilich überzeugen zu wollen ist er weit entfernt, die nicht zugeben können, daß überhaupt jemand sittlich gut ist, weil sie die Tugend eines andern als Vorwurf empfinden, die den Namen der Tugend und jeden, der sie übt, hassen; für sie ist selbst der Kyniker Demetrius nicht arm genug. Freilich bleiben die Philosophen weit hinter ihren Idealen zurück, deren Erreichung die menschliche Kraft übersteige, aber schon sie im Geist festzuhalten und ihnen nachzustreben sei löblich. Er selbst macht auf den Namen eines Weisen keinen Anspruch, er ist nur ein der Wahrheit Beflissener, nicht mit den Besten zu vergleichen, doch besser als die Schlechten, und zufrieden, in der sittlichen Vervollkommnung stetig fortzuschreiten. Der Reichtum gehört zu den indifferenten Dingen, die nicht völlig wertlos sind; der Philosoph liebt ihn nicht, zieht ihn aber vor, da er ihm die Möglichkeit gewährt, eine Anzahl guter Eigenschaften zu entwickeln, wie Mäßigung, Freigebigkeit, Sorgfalt, Ordnung, Hochherzigkeit. Auch Cato von Utica, der die gute alte Zeit mit ihrer Armut pries, besaß 4 Millionen Sesterzen – Seneca selbst freilich 300. Daß solche Entschuldigungen der Widersprüche zwischen Theorie und Praxis, Ideal und Wirklichkeit auf die prinzipiellen Gegner der Philosophie keinen großen Eindruck machen konnten, leuchtet ein, besonders da Philosophen sich nur zu oft schlimmere zuschulden kommen ließen. Schon Seneca bekennt, daß es deren gab, denen man Schlemmerei, Maitressen, Annahme von Geschenken vorwerfen konnte, die man in der Kneipe, im Ehebruch, unter den Hofschranzen antraf. Und jede Unwürdigkeit oder Schändlichkeit, die einer von ihnen sich zuschulden kommen ließ, warf einen Makel mindestens auf seine ganze Schule. Der Verrat, den der Stoiker P. Egnatius Celer gegen seinen Patron Barea Soranus im Jahre 66 geübt hatte, war noch ein Menschenalter später in frischem Andenken und wird als Probe der »Schandtaten der großen Mäntel« angeführt.

Wenn aber den vermögenden Philosophen der Reichtum vorgeworfen wurde, so hieß es von den armen, daß für sie eine erhabne Gesinnung wohlfeil sei. Der Stoiker Chäremon verlangt, sagt Martial, man solle ihn wegen seiner Verachtung, des Todes bewundern. Diese Seelenstärke gibt ihm seine Bettelarmut: daß er nichts sein nennt, als einen zerbrochenen Krug, einen kalten Herd, eine Matte, eine Wanze, einen nackten Schragen und eine kurze Toga, die ihm auch bei Nacht als Decke dient. Was für ein großer Mann, der sauern Wein, schwarzes Brot und eine Streu aufzugeben vermag. Wenn er nur in Reichtum und Üppigkeit lebte, würde er dreimal Nestors Jahre zu leben wünschen und nichts von diesem Licht verlieren wollen. In der Armut ist es leicht, das Leben zu verachten; stark ist, wer unglücklich zu sein vermag. Appian sagt, wo die Philosophen zur Macht gelangt seien, hätten sie sie mit größerer Härte geübt als die bildungslosen Tyrannen und dadurch auch gegen die übrigen Philosophen Verdacht und Zweifel erregt, ob sie die Philosophie um der Tugend willen oder nur als Trost für Armut oder Tatenlosigkeit erwählt haben. Auch jetzt gebe es viele, die arm und ohne Wirksamkeit, und mit der infolgedessen notwendigen Weisheit angetan, auf die Reichen oder Hochgestellten bitter schmähten, sich dadurch aber nicht sowohl in den Ruf der Verachtung des Reichtums und der Macht, als vielmehr der neidischen Eifersucht auf beides brächten. Die Geschmähten täten am klügsten, wenn sie sie nicht beachteten.

Die Verstimmungen und Angriffe gegen die Philosophie vermehrten sich, je größer die Zahl, folglich je gemischter die Gesellschaft der Philosophen wurde, und es ist ein Symptom für die fortschreitende Ausbreitung der Philosophie in Rom in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts, daß (mindestens bereits unter Domitian) Heuchler vielfach anfingen, sie als Maske zu benutzen, hinter der sie am ungestraftesten sündigen zu können hofften. Quintilian spricht wiederholt mit Erbitterung von diesen Menschen, die, wenn sie einige Zeit in den Vorlesungen der Philosophen gesessen hätten, mit heuchlerischen Mienen und langen Bärten sich durch Verachtung andrer Ansehen erschwindelten, öffentlich streng und finster taten, zu Hause grobe Ausschweifungen begingen; sie hätten den Namen der Philosophie verhaßt gemacht, unter diesem hätten sich zu seiner Zeit die größten Laster, die ärgsten Schandtaten versteckt. So hatte sich auch der hochbegabte, aber sittlich haltlose Palfurius Sura, der unter Domitian das Delatorengewerbe trieb und deshalb gleich nach Nervas Regierungsantritt zum Tode verurteilt wurde, nach seiner Ausstoßung aus dem Senat durch Vespasian der stoischen Schule angeschlossen. Dürftige Stoiker und Kyniker mit ungeheuren, struppigen Bärten waren damals in Rom gewöhnliche Erscheinungen, und unter Domitian wie auch unter Trajan wimmelte dort jeder Stadtbezirk von grämlich aussehenden Wüstlingen, die das Wesen der Curier zur Schau trugen und deren Leben in der Tat eine Reihe von Orgien war. Diese Heuchler erregten den Unwillen ehrlicher Leute auch durch ihre Unwissenheit, trotz der zahlreichen Gipsbüsten von Chrysipp und andern Philosophen, mit denen sie ihre Bücherbretter schmückten. Sie waren wortkarg bis zur Stummheit und trugen das Haar noch kürzer geschoren als die Augenbrauen; doch mancher von diesen Stoikern, die gleich einem dritten Cato gegen den Sittenverfall der Mitwelt predigten, verriet seine Üppigkeit durch die ausgesuchten Wohlgerüche, mit denen er seinen behaarten Hals einrieb.

Wenn nun schon in der Weltstadt Rom die Zahl der Philosophen und Afterphilosophen so groß, ihr Treiben in jenem bunten Gewühl, jenem rastlosen Drängen in die Augen fallend genug war, um in so hohem Grade Aufmerksamkeit und Kritik auf sich zu ziehen, um wie viel mehr in der provinziellen, der Beschaulichkeit so viel günstigeren Stille von Griechenland, das doch nach wie vor die wahre Heimat der Philosophie und der Philosophen war und bis zum Untergange der antiken Kultur blieb. Schon Dio von Prusa sagt an den oben angeführten Stellen, daß man die Philosophentracht überall erblicke, daß die Zahl derer, die sie tragen, fast größer sei als die der Schuster oder Walker oder Spaßmacher oder der Anhänger irgendeines andern Gewerbes; aber, setzt er hinzu, wenn wir auch die Tracht des Sokrates oder Diogenes tragen, stehen wir freilich an Weisheit weit hinter ihnen zurück. Wenn nun die Philosophie im Kulturleben des damaligen Griechenland einen so breiten Raum einnahm, blieb doch selbstverständlich die Zahl der wahren Philosophen klein, die überwiegende Mehrzahl war es nur, wie Epictet sagt, mit Worten, nicht mit der Tat; aber freilich ließen die Gegner es sich nicht nehmen, gerade auf den Lebenswandel dieser bloßen Bart- und Mantelphilosophen hinzuweisen, um die Unfruchtbarkeit der Philosophie für sittliche Vervollkommnung darzutun.

Die größte Ausbreitung gewann mit der Philosophie auch die Afterphilosophie unter Marc Aurel. In Rom klagten wahre Philosophen wie der Freund des Gellius, Macedo, daß Faulenzer mit Barten und Mänteln den Gehalt der Philosophie in Wortkünsteleien verflüchtigten und beredte Predigten gegen die Laster hielten, von denen sie selbst im Innersten angefressen waren. In Afrika äußerte Apulejus schon unter Antoninus den Wunsch, es möchte nicht jedermann gestattet sein, die Maske der Philosophie vorzunehmen, damit nicht rohe, schmutzige, ungebildete Menschen die königliche Wissenschaft, welche die Rede wie das Leben edel gestalten lehre, durch üble Lehren und einen ebensolchen Lebenswandel beflecken könnten. Wenn er dann Frechheit im Schimpfen und Gemeinheit der Sitten und der äußern Erscheinung als die Haupteigenschaften dieser Afterphilosophen hervorhebt, so ist offenbar, daß er vorzugsweise oder ausschließlich an Kyniker dachte, die nach seiner Ansicht tief unter den Platonikern standen. Vor allem in Griechenland erblickte man nach Lucian auf allen Straßen und Plätzen lange Bärte, Bücherrollen, abgetragene Mäntel und große Stöcke in Masse; Schuster und Zimmerleute verließen ihre Werkstatt, um als Kyniker ein faules Bettlerleben zu führen. Die Entwürdigung der Philosophie durch den Troß ihrer falschen Jünger, der Mißbrauch, der mit ihrem Namen getrieben wurde und der die Nichtphilosophen am meisten erbitterte, verstärkte natürlich die Reihen ihrer Gegner und gab diesen leichtes Spiel. Lucian hat es sich zur besonderen Aufgabe gemacht, das Treiben dieser Menschen dem Hohne der Mitwelt preiszugeben. Sie, die Verachtung des Gelds und des Ruhms und Leidenschaftslosigkeit lehrten und Tugend als einziges Gut priesen, unterrichteten für Geld, krochen vor den Reichen, waren zorniger als bissige Hunde, feiger als Hasen, schmeichlerischer als Affen, gröber als Esel, räuberischer als Marder, streitsüchtiger als Hähne. Dabei schmähte jede Schule die andern. Die Stoiker erklärten die Epikureer für Wollüstlinge, die Peripatetiker für zänkisch und geldgierig, die Platoniker für hoffärtig und ehrsüchtig, und ihnen wiederum wurden von den übrigen Wuchergeschäfte, Streitsucht und andre Laster vorgeworfen. Gerieten die Anhänger der verschieden Schulen in Streit, so gab es keine Schandtat, deren sie einander nicht anklagten. Wenn manche dann noch zur Beschönigung ihrer Laster sich auf die alten Philosophen beriefen, wie namentlich Platoniker den Ehebruch nach Platos Republik, die Trunksucht nach seinen »Gesetzen« entschuldigten, so war es kein Wunder, wenn viele geradezu behaupteten, die ausschließliche Vertiefung in philosophische Bücher leite vom vernünftigen Denken ab.

Auch Aristides hat in der bereits angeführten Rede, von der Verteidigung zum Angriff übergehend, die Philosophen als eine jeder Tugend bare, mit allen Lastern behaftete Menschenklasse geschildert. Sie behaupten, dem Zeus nicht nachzustehen, vermögen aber »dem Obol« durchaus nicht standzuhalten. Sie schmähen auf die übrigen aus bloßem Neide; hielte man ihnen mitten in ihren Vorträgen über Enthaltsamkeit Kuchen und Gebacknes entgegen, so würden sie die Zunge sinken lassen wie Menelaos das Schwert, als er die Helena erblickte. Wenn sie aber Helena sähen – oder vielmehr nur eine Magd wie die Phrygierin bei Menander –, dann würde das Gebaren der Satyrn bei Sophokles gegen das ihre als bloßer Scherz erscheinen. Um ihre Untreue und Habsucht zu erkennen, braucht man ihnen nichts anzuvertrauen, denn sie nehmen schon selbst, soviel sie können. Das Rauben nennen sie teilen, den Neid philosophische Gesinnung, die Dürftigkeit Verachtung des Gelds. Sie rühmen sich der Menschenliebe, haben aber noch nie einem andern genützt, bringen vielmehr denen Nachteil, die sich an sie wenden. Während sie die übrigen, auch wenn sie ihnen begegnen, nicht sehen, reisen sie um der Reichen willen in die Fremde, wie die Phryger zur Olivenernte; sie wittern sofort ihre Nähe, bemächtigen sich ihrer und verheißen ihnen die Tugend mitzuteilen. Allen übrigen erwidern sie kaum auf eine Anrede freundlich, aber die Köche, Bäcker und sonstigen Diener der Reichen begrüßen sie schon von weitem, noch ehe sie genau zu erkennen sind, als wären sie eigens dazu aus dem Bett aufgestanden. Sie drängen sich vor den Türen reicher Häuser und verkehren mehr mit den Pförtnern als mit den Hausherren, indem sie ihre Kriecherei durch Unverschämtheit unterstützen. Sieht man sie zum erstenmal, so nehmen sie weniger Anstand, zu fordern, was ihnen nicht zukommt, als andre, ihr Eigentum zurückzuverlangen. Denn dies sind ja die, welche die Unverschämtheit Freimütigkeit nennen, die Gehässigkeit Aufrichtigkeit, das Nehmen Menschenliebe. Sie fordern zwar kein Geld, verstehen aber, es zu nehmen. Schickt man ihnen zu wenig, so beharren sie bei ihren Grundsätzen, kommt ihnen aber ein straffes Beutelchen vor die Augen, dann hat Perseus die Gorgo überwältigt; der Vorwand ist äußerst schlau: »Die Frau und die Kinderchen.« Ihre Definition der Seelengröße ist in der Tat ganz neu, daß sie nämlich nicht darin besteht, Großes hinzugeben, sondern Kleines nicht anzunehmen. Einige haben es aber bereits zum Grundsatze gemacht, die Gabe sich gefallen zu lassen und nach dem Empfange zu schmähen. Indem sie zugleich wie Parasiten heucheln und wie Höhere sich insolent betragen, verbinden sie, gleich den Gottlosen in Palästina, die entgegengesetzten Fehler, Niedrigkeit und Anmaßung; und wie jene entfernen sie sich weit von dem Wesen der Hellenen, namentlich der besseren, indem sie im übrigen stummer sind als ihr eigner Schatten; wenn es aber auf Schmähen und Verleumden ankommt, möchte man sie nicht mit dem tönenden Erz zu Dodona, sondern mit den im Finstern summenden Mücken vergleichen. Zu dem Notwendigen mitzuwirken sind sie untüchtiger als irgend jemand, dagegen ein Haus zu durchspähen und in Verwirrung zu bringen und seine Bewohner aneinander zu hetzen und zu erklären, daß sie selbst alles verwalten würden, das verstehen sie wie niemand anders.

Am meisten wurde der Name der Philosophie durch den Troß der Kyniker in Verachtung gebracht, deren Name und Schule nach langer Unterbrechung im Anfange der christlichen Zeitrechnung wieder auftaucht. Auch unter ihnen fehlte es nicht an edeln Gestalten; aber namentlich im 2. Jahrhundert wurde der Kynismus mehr und mehr zu einem »Aushängeschild, unter dem sich eine Menge unreiner Elemente versteckte«, und die Masse dieser »Bettelmönche« des Altertums durch Gemeinheit, Widerlichkeit und Unverschämtheit wenigstens in Griechenland zu einer wahren Landplage. Eine karikierende Nachahmung des Diogenes und Antisthenes in äußerer Erscheinung, Tracht, Lebensweise und Betragen, das war alles, worin sich die auf Bedürfnislosigkeit, Weltentsagung und Erhebung über alle menschlichen Schwächen beruhende sittliche Freiheit bei nur zu vielen bekundete, die man an dem zerlumpten Mantel oder gar einem Bärenfell, dem unverschnittenen Haar und Bart, dem Stab (gelegentlich auch einer Mörserkeule) und Ranzen als Kyniker erkennen sollte. Die weltbürgerliche Heimatlosigkeit wurde hier zur Landstreicherei, die Rückkehr zum Naturzustande zu ekelhafter Unflätigkeit, von der Epictet in einem besondern Vortrage beweisen zu müssen glaubte, daß sie keineswegs ein Erfordernis für Philosophen sei. Die Besitzlosigkeit mußte als Vorwand für freche Bettelei und niedriges Schmarotzertum dienen, die Selbtsernennung zum Erzieher der zurückgebliebenen Menschheit und zum Arzt ihrer Gebrechen Zudringlichkeit und Marktschreierei rechtfertigen, pöbelhafte Grobheit statt derben Humors den Predigten dieser antiken Kapuziner zur Würze dienen.

Die Züge zu diesem abschreckenden Bilde, das Lucian breit ausgeführt hat, finden sich auch bei andern. Schon Petron sagt, daß auch die, welche ihr Leben mit dem kynischen Ranzen hinbringen, zuweilen die Wahrheit für Geld zu verkaufen pflegen. Epictet stellt dem Ideal des Kynikers »die jetzigen« gegenüber, die »Hund' um die Tische des Hausherrn«, die dem Diogenes in nichts nachahmten als in der ungesittetsten Zwangslosigkeit, deren ganzer Kynismus in Stab und Ranzen, großen Kinnbacken, Schlingen und Einsacken, grobem Schimpfen und Zurschaustellen breiter Schultern bestand. Gellius befand sich einmal bei Herodes Atticus, als ein solcher Bettler mit langem Haar und bis über den Nabel herabhängendem Bart an diesen herantrat und mit ausgestreckter Hand Geld »zu Brot« verlangte. Auf die Frage, wer er sei, antwortete er grob: ein Philosoph, das sehe man ihm ja doch an. Jemand aus der Umgebung des Herodes bemerkte, er sei ein Landstreicher und Taugenichts der sich in schmutzigen Kneipen umhertreibe und die, welche ihm nichts geben, mit schmählichen Schimpfreden anfalle; Herodes ließ ihm jedoch Geld zu Brot für 30 Tage reichen. So ist denn auch an der Angabe Lucians nicht zu zweifeln, daß entlaufne Sklaven und Taugenichtse, denen ein ehrlicher Erwerb durch ein Handwerk zu sauer war, dieses bequeme und einträgliche Bettlerleben wählten, das ihnen zugleich die Möglichkeit gewährte, unter der Philosophenmaske ihren tierischen Neigungen zu frönen. Sie brandschatzten oder schoren nach ihrem eignen Ausdrucke die Schafe überall mit gutem Erfolg, denn die meisten gaben aus Scheu vor der ehrwürdigen Tracht oder aus Furcht vor ihren Schmähungen; und Lucian behauptet nicht bloß, daß man in ihren Ranzen zuweilen Goldstücke, Spiegel, Salben und Würfel fand, sondern auch, daß manche so viel zusammenbettelten, um sich Ländereien und Häuser zu kaufen und in Üppigkeit zu leben.

Obwohl nun also in der griechischen wie in der römischen Welt in den verschiedensten Bildungs- und Lebenskreisen teils gegen die Philosophie, teils gegen die Philosophen berechtigte und unberechtigte Abneigungen der mannigfachsten Art bestanden, so war doch offenbar die große Mehrzahl der Gebildeten auch in Rom und den westlichen Ländern von der Überzeugung durchdrungen, daß die Philosophie die beste Führerin zur höchsten Sittlichkeit sei, und schon die bisher geschilderte, so vielseitige und lebhafte, ja gereizte Opposition ist ohne die allgemeine Verbreitung dieser Ansicht nicht denkbar, sie setzt sie vielmehr voraus. Als den Vertreter der Anschauung, die im späteren römischen Altertum die meisten Anhänger zählte, dürfen wir wohl auch hier Cicero ansehen. Nach ihm würde es allerdings keiner Philosophie bedürfen, wenn die von der Natur in uns gepflanzten Keime der Tugend sich ungestört entwickeln könnten. Da wir aber von Geburt an unaufhörlich unter dem Einflusse falscher und verkehrter Vorstellungen stehen, sie mit der Ammenmilch einsaugen, von Eltern, Lehrern, Dichtern, endlich dem Volk, in dem wir leben, immer mehr mit Irrtümern angesteckt werden: so bedürfen wir eine Heilung für unsre erkrankte und verbildete Seele: und diese Herstellung unsrer natürlichen Gesundheit kann uns allein die Philosophie geben.

Dem Gewichte der so allgemein anerkannten Autorität Ciceros, der ja in einer Schrift »Hortensius« als Anwalt der Philosophie gegenüber der Beredsamkeit aufgetreten war, konnten sich am wenigsten alle diejenigen entziehen, die in der Beredsamkeit das Ziel und den Inbegriff aller Bildung erkannten. Auch Quintilian, der, den Philosophen feindlich gesinnt, die Philosophie als Magd der Beredsamkeit zu betrachten geneigt ist, erkennt doch an, daß niemand ohne die Lehre von der Tugend und Gerechtigkeit sittlich gut sein könne. Die Behauptung, daß die Tugend ohne Unterricht erworben werden könne, achtet er kaum einer Widerlegung wert. Sein idealer Redner soll nach seiner allseitigen technischen Ausbildung eine ebenso allseitige philosophische, in der Physik (Naturphilosophie), Dialektik und Ethik erhalten. Wenn er hinzufügt, er solle ein Philosoph sein, der sich nicht durch Schuldisputationen, sondern durch Handlungen, durch tatsächliche Beweise seiner Gesinnung als wahrhaft bürgerlicher Mann zu bewähren habe: so werden wir daran erinnert, daß allerdings nicht bloß über die Zwecke, sondern auch über das wünschenswerte Maß der philosophischen Bildung, auch unter denen, die ihre Notwendigkeit oder Nützlichkeit anerkannten, in der römischen Welt die größten Meinungsverschiedenheiten herrschten. Tacitus äußert sich im Sinne jenes starren Römertums, welches das Studium der griechischen Schulweisheit auf ein möglichst geringes Maß beschränkt wissen wollte. Dagegen genügt es, Namen wie Seneca, Persius, Musonius Rufus, Marc Aurel zu nennen, zum Beweise, daß auch in der gebildeten römischen Welt die Forderung einer vollen Hingabe an die Philosophie ihre Vertreter gehabt hat. Die Philosophie, sagt Seneca, läßt sich nicht als Nebensache behandeln. Sie ist eine gebietende Herrin, sie spricht: ich nehme nicht die Zeit an, die ihr übrig behaltet, sondern ihr sollt die frei haben, die ich euch anweise. Gibt man sich ihr ganz hin, richtet auf sie den ganzen Geist, versagt sich allem andern, dann kommt man allen übrigen Menschen weit voraus und bleibt hinter den Göttern nicht weit zurück. Sie ist nicht da, um den Tag mit einer angenehmen Unterhaltung hinzubringen, den Müßiggängern die Langeweile zu vertreiben: sie gestaltet und bildet den Geist, ordnet das Leben, gibt den Handlungen Richtung, zeigt, was zu tun und zu lassen ist, sitzt am Steuer und lenkt durch die Gefahren der Wogen die Fahrt. Ohne sie kann niemand furchtlos, niemand ruhig leben, unzählige Ereignisse treten zu jeder Stunde ein, die einen Rat erfordern, den man von ihr holen muß. In zwei sehr langen Abhandlungen hat Seneca die (offenbar viel erörterte) Frage behandelt, ob für das Leben der paränetische Teil der Moralphilosophie, d. h. eine praktische, die Vorschriften für alle wichtigen Verhältnisse enthaltende Pflichtenlehre genüge, oder ob diese auf ein theoretisches System der Grundsätze oder Dogmen begründet werden müsse, aus denen die Normen des Handelns für alle einzelnen Fälle sich ergeben. Die einen erklärten jenen (den paränetischen), die andern diesen (den dogmatischen) Teil für entbehrlich: Seneca führt aus, daß die volle und wahre sittliche Bildung nur durch die Verbindung beider erreicht werden könne. Eine auf Prinzipien begründete Überzeugung muß die Basis und die Quelle aller Handlungen und Gedanken, diese müssen auf ein festes Ziel, das zu erstrebende höchste Gut, gerichtet sein, wie der Lauf der Schiffe sich nach einem Gestirn richtet: ohne eine solche grundsätzliche dogmatische Überzeugung ist eine unwandelbare Beständigkeit in Tun und Denken unmöglich; sie ist auch der Boden, in dem allein die Lebensregeln der Sittenlehre wurzeln, aus dem sie allein immer neue Lebenskraft ziehen können. Aber auch diese speziellen Regeln sind neben jenen allgemeinen Grundsätzen unentbehrlich. Umgeben von verkehrten Vorstellungen, von Irrtümern aller Art, von Lüge und Schein, bedürfen wir einer unablässigen Einschärfung auch der bekannten Wahrheiten, mitten in dem Getöse des Wahns einer warnenden und mahnenden Stimme, in dem Brausen der Städte eines uns zur Seite stehenden Erinnerers, der gegenüber den Lobrednern des Reichtums, der Macht und Gunst uns die dem Studium gewidmete Ruhe und den aus der Außenwelt zu sich selbst zurückgekehrten Geist schätzen lehrt. Die Philosophie kann uns allein die Gesundheit der Seele geben, sie ist die einzige Lehrerin der höchsten Kunst, der Kunst zu leben, und nicht bloß die beste Führerin zur Sittlichkeit, sondern auch die einzige: es gibt keine Tugend ohne Philosophie, ebensowenig wie Philosophie ohne Tugend.

Wer eine so völlige Hingabe an die Philosophie verlangte wie Seneca, der konnte begreiflicherweise ebensowenig mit dem Eifer ihrer Jünger als mit ihrer Zahl leichter zufrieden sein. Niemand, so klagt er (etwa ums Jahr 64) kümmere sich um die Philosophie, außer etwa wenn Schauspiele einen Aufschub erleiden oder ein Regentag eintrete, an dem man die Zeit töten wolle; in den Schulen der Philosophen wie der Rhetoren sei es leer. Doch diese Klagen des stets übertreibenden Schriftstellers würden höchstens beweisen, daß seine idealen Anforderungen unerfüllt blieben. Daß in der Tat die Philosophie auch damals in der Jugend der höheren Gesellschaft zahlreiche eifrige Jünger hatte, zeigt die Verbannung des Musonius Rufus im Jahre 65, den, wie Tacitus sagt, der Ruhm seines Namens vertrieb, da er auf die Bildung der Jugend durch Anleitung zur Philosophie wirkte. Natürlich konnte nur eine erhebliche Anzahl von Schülern aus den höheren Ständen die Aufmerksamkeit und den Verdacht der Neronischen Regierung erregen.

Die überwiegende Mehrzahl der Philosophen, die in Rom und andern Städten des Westens – namentlich in Massilia, einem Hauptsitze dieser Studien schon in Strabos Zeit – als Lehrer wirkten, waren allerdings Griechen, und die Anerkennung der Philosophie als einer griechischen Wissenschaft zeigt sich auch darin, daß ein großer Teil der nichtgriechischen Philosophen, wie die beiden Sextier, Cornutus, Musonius Rufus, Favorinus, Marc Aurel, zum Teil auch Apulejus, griechisch schrieb. Wie sehr sie sich jedoch in Rom bereits im letzten Jahrhundert v. Chr. eingebürgert hatte, das zeigt nicht nur die große Anzahl von Anhängern, Verehrern und Gönnern, die sie in der gebildeten Gesellschaft Roms fand, und die Entstehung einer römischen philosophischen Literatur: sondern noch weit mehr die Bildung der römischen Philosophenschule der Sextier. Sie war freilich nur eine Form des Stoizismus, wie er sich im römischen Bewußtsein gestaltete, namentlich insofern als sie sich entschieden auf die Sittenlehre beschränkte, mit einer asketischen, aus dem Pythagoreismus entlehnten Beimischung (wie der Verwerfung der Fleischnahrung); da sie also mit dem Stoizismus und Kynismus des 1. Jahrhunderts im wesentlichen zusammentraf, fehlte die Grundbedingung ihrer selbständigen Existenz; sie löste sich nach kurzer Zeit auf, und ihre Schüler traten, wie Seneca, in die große stoische Gemeinschaft zurück, aus der die Sextier ausgeschieden waren. Während ihres Bestands jedoch hat die Schule bedeutende Vertreter gehabt und bedeutende Wirkungen geübt. Zu ihr gehörten außer ihrem Begründer Q. Sextius, einem Manne von guter Familie (der den ihm von Julius Cäsar angebotenen Senatorenstand und die amtliche Laufbahn verschmähte, um ganz der Philosophie zu leben), und seinem Sohne der fruchtbare Schriftsteller Cornelius Celsus, der gelehrte Grammatiker L. Crassicius aus Tarent (der seine bedeutende Lehrtätigkeit aufgab, um dieser Sekte ganz anzugehören) und Papirius Fabianus, den Seneca als junger Mann gehört hatte und hoch verehrte. Er nennt ihn einen wahren Philosophen nach Art der Alten, nicht der jetzigen Kathederphilosophen, doch rühmt er auch seine öffentlichen Vorträge. Man fühlte sich durch seine Ermahnungen erhoben und zur Nacheiferung angeregt, ohne daß man die Hoffnung verlor, ihn sogar zu übertreffen: und wenn auch im allgemeinen seine Zuhörer ein bescheidnes Schweigen beobachteten, so riß sie doch mitunter die Größe seiner Gesinnung zu begeistertem Beifalle hin.

Von den Systemen der griechischen Moralphilosophie war unzweifelhaft der Stoizismus dem römischen Nationalcharakter am meisten homogen und zählte daher auch unter den ernst nach sittlicher Vervollkommnung strebenden Römern zu allen Zeiten die meisten Anhänger. In der langen Reihe hervorragender Persönlichkeiten der römischen Geschichte, die wir als Stoiker kennen, erblicken wir die edelsten Gestalten dieser Jahrhunderte und nicht wenige, die durch ihr Leben und ihren Tod den Ernst und die Aufrichtigkeit der aus jener Philosophie gewonnenen Überzeugungen betätigt haben; und auch die uns erhaltenen philosophischen Werke römischer Schriftsteller dieser Periode gehören fast ausschließlich dieser Schule an. Daß der Epikureismus zu allen Zeiten nächst dem Stoizismus wohl die zahlreichsten Anhänger hatte, darf man auch ohne ausdrückliche Zeugnisse von seiner Verbreitung in der römischen Welt unter dem Kaisertume voraussetzen. Daß die Epikureer namentlich im öffentlichen Leben nicht hervortraten, war ja in der Natur dieser Schule begründet, welche die Verborgenheit geflissentlich suchte; ihr Bedürfnis, ihr System in der Literatur geltend zu machen, war gering und hinlänglich durch ältere Schriften befriedigt.

Die übrigen philosophischen Schulen waren unter den Römern zwar ohne Zweifel weniger verbreitet, ohne Vertretung aber war wohl keine, und die eklektische Richtung der Römer brachte es mit sich, daß jede auch außerhalb des Kreises ihrer eigentlichen Anhänger Interesse und Anziehung übte. Die Vorträge, die der Platoniker Plutarch noch unter Domitian in Rom hielt, wurden von den bedeutendsten Männern Roms besucht; und mehrere von ihnen traten mit dem hochverehrten Philosophen in ein dauerndes Verhältnis, wie der Konsular L. Mestrius Florus, Q. Sossius Senecio (Konsul 99 und 107), dem Plutarch einige der Biographien berühmter Männer und sonstige Schriften widmete, Fundanus (ein Schüler des Musonius, doch wohl Minicius Fundanus (Konsul 107), Terentius Priscus (wohl sicher derselbe, der auch Martials Gönner war) und andre. Gellius, der in Athen den berühmten Platoniker L. Calvisius (oder Calvenus) Taurus eifrig hörte, gehörte zu einem großen Kreise dort studierender Männer, die alle dieselben Vorlesungen besuchten. Von der Stellung, die der Kyniker Demetrius in der Zeit von Nero bis Vespasian in Rom einnahm, wird unten die Rede sein. Der Kyniker Crescens, dessen Verleumdungen der Christen Justinus in öffentlichen Vorträgen zu Rom widerlegte, soll die Verfolgung und Hinrichtung des letzteren wegen seines Bekenntnisses herbeigeführt haben. Auch der Kyniker Theagenes, ein eifriger Anhänger des Peregrinus Proteus, der nach Galens Erzählung an der falschen Behandlung des Arztes Attalus (Schüler des Soranus), eines »Esels von der Sekte des Thessalus«, starb, war zu Rom eine sehr bekannte Persönlichkeit, da er täglich in den Thermen des Trajan disputierte. Als Attalus mit zahlreichen Freunden des Patienten in dessen Haus trat, um ihnen denselben als Rekonvaleszenten zu zeigen, waren Kyniker und andre Philosophen gerade beschäftigt, die Leiche des Philosophen zu waschen, der nach den Grundsätzen seiner Schule weder Sklaven noch Familie hatte. Galen begründete seinen Ruf in Rom (im Jahre 162) durch die Herstellung des 62jährigen Peripatetikers Eudemus. Diesen besuchten während seiner Krankheit »fast alle durch Rang und Bildung hervorragenden Männer«, namentlich Sergius Paullus (zum zweiten Male Konsul 168, auch Stadtpräfekt), »ein durch philosophische Bildung und Handlungsweise ausgezeichneter Mann«, und der Konsular Flavius Boethus, der eifrig dem Studium der Aristotelischen Philosophie ergeben war. Dieser sowie (M. Ceionius) Civica Barbarus, Konsul 157, Oheim des Lucius Verus, und der gleichfalls als Aristoteliker bezeichnete Cn. Claudius Severus (Konsul 163 und 173) ließen sich von Galen anatomische Vorträge halten; denselben wohnten (außer andern Philosophen) der (mehr dem Aristoteles als dem Plato anhängende) Peripatetiker Alexander aus Damascus (im Jahre 162 Lehrer des Boethus, etwa 175 öffentlicher Lehrer zu Athen) und Demetrius aus Alexandria bei, der letztere ein Freund des Favorinus, der täglich öffentlich in der Weise seines Lehrers über vorgelegte Themata sprach. Favorinus selbst, der Skeptiker war, stand bei Hadrian in Gunst und versammelte unter ihm und seinem Nachfolger eine große Anzahl von Schülern und Bewunderern, zum Teil von hohem Stande. Gellius, der sich an ihn hauptsächlich anschloß, erwähnt als seine Freunde einen Peripatetiker und einen Stoiker, »beides zu Rom angesehene Philosophen«; in einer gelehrten Gesellschaft, in welcher Gellius einmal die heißeste Sommerzeit in Tibur verbrachte, war auch ein Peripatetiker, der den Aristoteles eifrig studierte. Fronto empfiehlt dem Q. Egrilius Plarianus (Legat von Afrika im Jahre 159) als einem Freunde und Kenner der Philosophie den Platoniker Julius Aquilinus, dessen Vorträge in Rom den größten Zulauf gehabt und bei sehr vielen Männern des Senatorenstandes Beifall gefunden und Bewunderung erregt hatten. Apulejus rühmt (etwa 158) den Prokonsul von Afrika, Claudius Maximus, als Kenner der Werke Platos im Original. Alexander von Aphrodisias spricht (zwischen 198 und 211) den Kaisern Severus und Caracalla in der Widmung einer Schrift seinen Dank für seine Ernennung oder Bestätigung als Lehrer der Aristotelischen Philosophie (in Athen) aus und rühmt, daß sie die Philosophie wahrhaft ehren und fördern. Der erste Gordian verbrachte, wie sein Biograph sagt, sein ganzes Leben in der Gesellschaft der Alten, des Plato und des Aristoteles, des Cicero und Vergil.

Diese im Verhältnis zu der Dürftigkeit unserer Kenntnis der damaligen geistigen Zustände zahlreichen Erwähnungen philosophischer Studien in Rom, sowie andre gelegentliche Nachrichten (wie z. B. daß in Trajans Zeit dort bei Mahlzeiten zur Unterhaltung der Gäste Platonische Dialoge aufgeführt wurden), lassen uns die Vorstellung gewinnen, daß in den höheren Ständen Roms seit dem Ende des 1. Jahrhunderts ein reges und vielseitiges Interesse für Philosophie verbreitet war, und die Berichte des Porphyrius über die Erfolge des Plotin in Rom zeigen, daß es noch bis tief ins 3. Jahrhundert lebendig blieb.

Die philosophischen Lehrjahre begannen für die meisten jungen Männer nach Beendigung des grammatischen und rhetorischen Unterrichts. Gellius, der diese Studien ungewöhnlich lange fortsetzte, scheint erst im Alter von etwa 30 Jahren sich der Philosophie zugewandt zu haben, während Marc Aurel seine philosophischen Studien im zwölften Jahre ungewöhnlich früh begann. Die große Mehrzahl dürfte mit der Anlegung der Männertoga in die Schule eingetreten sein, die ihre Zöglinge zur sittlichen Mündigkeit entließ, unter die Männer im höheren Sinne des Worts versetzte. Persius, der im Alter von sechzehn Jahren die Bulla und das Knabenkleid ablegte, empfand nun, da ihm die weiße Toga gestattete, seine Augen in dem verwirrenden Gewühl Roms überall frei umherschweifen zu lassen, lebhaft das Bedürfnis, einem bewährten Führer zu folgen, um in dem Labyrinth der vor ihm liegenden verschlungenen Pfade den Weg des Lebens richtig zu wählen; er schloß sich aufs engste an Cornutus an. Auch Seneca stand im ersten Jünglingsalter, als er die Schule des zur Sekte der Sextier gehörenden Alexandriners Sotion besuchte. Plutarch übersandte seine Schrift »Von der Kunst des Hörens« einem jungen Freunde mit der Erinnerung, daß er mit Anlegung der Männertoga aus der Obhut der früheren bezahlten Lehrer nun in die der Vernunft als einer göttlichen Führerin des Lebens eingetreten sei: den wahren Männerschmuck vermöge allein die Philosophie den Jünglingen anzulegen.

Die große Mehrzahl setzte vermutlich den regelmäßigen Besuch philosophischer Vorlesungen höchstens bis zur Begründung eines eigenen Hausstands fort, obwohl Plutarch in den Sorgen und Geschäften, die dieser mit sich brachte, keine genügende Entschuldigung erkennen wollte, etwas so viel Wichtigeres zu vernachlässigen. Und in der Tat war es offenbar nicht ungewöhnlich, verheiratete und ältere Männer in die Philosophenschule gehen zu sehen; Seneca war schon ein Sechziger, als er in Neapel den Philosophen Metronax hörte. Er schreibt an Lucilius, er gehe nun bereits den fünften Tag in die Schule, um Metronax am Nachmittag (von der achten Stunde ab) vortragen zu hören: diese Schule, sagt er, läßt jedes Alter zu; soll ich etwa erröten, zu einem Philosophen zu gehen? Freilich ist sie sehr wenig besucht, während das Theater, in dem gleichzeitig musikalische Wettkämpfe stattfinden, gedrängt voll ist, und die Schüler des Metronax werden als Toren und Müßiggänger verspottet.

Der philosophische Unterricht bezog sich auf die drei Abteilungen der Philosophie, die alle Schulen anerkannten, Logik, Physik und Ethik. Nur die Platoniker verbanden damit auch damals noch, wie es scheint in der Regel, das Studium der Mathematik; in ihren Studierzimmern sah man Figurentafeln, Kugeln u. dgl., in ihren Auditorien äußerten die Schüler ihre Wißbegier durch gelehrte mathematische Fragen. In der stoischen Schule, über welche wir aus jener Zeit die meisten Nachrichten haben, wurde in der Regel mit der Logik (und Dialektik) angefangen, wenn auch die stoischen Autoritäten über die Reihenfolge beim Unterricht nicht übereinstimmen. Seneca nennt die Logik die »ABCschule« der Philosophen. Obwohl der Stoizismus und die Philosophie überhaupt damals die Ethik so sehr zum Hauptgegenstande und Zwecke des Unterrichts machte, daß die beiden andern Teile neben ihr als nicht bloß untergeordnet, sondern selbst mehr oder weniger entbehrlich erscheinen konnten, hielten doch auch Männer wie Musonius Rufus und Epictet, wie sehr sie auch als alleinigen Zweck der Philosophie die sittliche Bildung betrachten, und wie wenig Interesse sie auch an logischen und dialektischen Erörterungen nehmen mochten, die Logik als Grundlage des philosophischen Studiums für unerläßlich; noch weniger konnte über ihre Notwendigkeit und Nützlichkeit für eine allgemeine wissenschaftliche Bildung, namentlich bei solchen, die sich der Beredsamkeit widmeten, ein Zweifel sein.

Dieses trockne Studium war nur für Scharfsinnige, vollends wenn sie zur Spitzfindigkeit neigten, um so anziehender, als man mit der Virtuosität in der Handhabung logischer Formen in Disputationen und sonst leicht glänzen konnte. Hat man sich, sagt Gellius, in diese anfangs abschreckende Wissenschaft erst eingelassen, so leuchtet ihr Nutzen je länger, je mehr ein, und es entsteht eine unersättliche Lust zum Lernen, der man Einhalt tun muß, weil man sonst in Gefahr gerät, in jenen labyrinthischen Irrgängen der Dialektik wie an den Inseln der Sirenen sein Leben zu verbringen. Das Schlimmste an den Sophismen, sagt Seneca, ist, daß sie einen gewissen Reiz ausüben und den durch den Schein des Scharfsinns verlockten Geist aufhalten und fesseln, während eine solche Menge von wichtigeren Dingen uns weiter ruft und kaum das ganze Leben hinreicht, das Eine zu lernen (was der Zweck der Philosophie ist): das Leben zu verachten. Derartige Liebhabereien und Richtungen fanden in einer umfangreichen Literatur reichliche Nahrung, zu der namentlich die älteren Stoiker, die sich um die Auflösung und Widerlegung der von den Megarikern aufgestellten Fangschlüsse bemühten, beigetragen hatten; es gab eigne Bücher über solche Fangschlüsse, die keinen andern Zweck hatten, als einen andern in Verlegenheit zu bringen, wie der Haufenschluß (wie viel Körner machen einen Haufen?), der Hörnerschluß (hast du deine Hörner verloren? im Verneinungsfalle: also hast du noch Hörner? im Bejahungsfalle: also hast du sie gehabt?) und dgl. Solche Spielereien eines talmudischen Witzes wurden auch damals vielfach ernsthaft behandelt, und namentlich von jungen Leuten viel Zeit damit verschwendet. Alle Anfänger in der Philosophie, sagt Plutarch, legen sich am liebsten auf das, was Ruhm bringt; die einen schwingen sich aus Leichtsinn und Ehrgeiz wie Vögel zum Glanz und zur Höhe der naturphilosophischen Spekulation auf, die andern gehen auf Disputationen, schwierige Fragen und Sophismen aus, wie (nach Platos Ausdruck) Hündchen am Zerren und Schleppen ihre Freude haben: die meisten aber vertiefen sich in die Dialektik, um sich mit der nötigen Ausrüstung für die Sophistik zu versorgen. Diesen falschen Richtungen der Schüler, die ihren Geist, nicht ihren Charakter bilden wollten, kamen leider, wie Seneca sagt, die Lehrer entgegen, »die uns die Kunst des Disputierens anstatt die des Lebens lehren«, und so sei die Philosophie zu einer Wortwissenschaft (Philologie) geworden. Durch die Aufnahme dessen, was in der Philologie und Mathematik entbehrlich ist, habe es die Philosophie dahin gebracht, daß sie besser zu reden als zu leben verstehe. In der Klage, daß zu viel Zeit und Kraft an Logik und Dialektik verwandt werde, die doch nur Außenwerke der Weisheit seien, und daß die Ethik darunter leide, vereinigten sich Philosophen und Nichtphilosophen. Gegenwärtig, sagt z. B. Epictet, ist der größte Fleiß auf die Auflösung von Syllogismen verwandt worden, und hierin werden Fortschritte gemacht; einst verwandte man den größten Fleiß darauf, den besten Teil der Seele im naturgemäßen Zustande zu erhalten, und es wurden darin Fortschritte gemacht.

Besonders in der stoischen Schule war das Streben vieler Studierender mehr oder minder ausschließlich auf Erwerbung der Virtuosität in dialektischer Technik und auf Gelehrsamkeit in der bezüglichen Literatur gerichtet. Die noch in die Schule gehenden oder eben aus der Schule gekommenen Pedanten, die heute schon lehren wollten, was sie gestern gelernt hatten, und »unverdaute Brocken vomierten«, alles besser wußten als andre und ihre Lehrer hauptsächlich in Tadelsucht und Rechthaberei kopierten, erscheinen bei den Schriftstellern des 2. Jahrhunderts nicht selten als die unerwünschten Störer der geselligen Unterhaltungen in Griechenland. Gab es doch, wie Epictet sagt, Leute, die zu keinem andern Zwecke philosophische Vorträge besuchten und Lehrbücher studierten, als um die Bewunderung eines Senators zu erregen, den ihnen das Glück etwa zum Tischnachbar geben würde, oder um die Gäste durch Aufzählung sämtlicher Schriftsteller in Erstaunen zu setzen, die über eine gewisse Schlußform geschrieben hatten. Gellius fand bei einem Besuche des Herodes Atticus auf seiner Villa am Kephissos einen sehr jugendlichen, sehr redseligen und vorlauten Stoiker, der gewöhnlich in den Gesprächen nach der Tafel das Wort ergriff, um überlange und geschmacklose Vorträge über Philosophie zu halten, von der er mehr zu verstehen versicherte als alle übrigen Griechen und Römer. Er warf mit unbekannten Ausdrücken, mit Syllogismen und Fangschlüssen um sich, rühmte sich, daß niemand ihm im Auflösen dialektischer Probleme gleichkomme, daß niemand wie er in der ganzen Ethik zu Hause sei, und fühlte sich im Besitz der wahren, die höchste Seligkeit verbürgenden Weisheit so unerschütterlich sicher, daß er erklärte, kein Kummer oder Schmerz vermöge über einen Stoiker auch nur so viel, um die Heiterkeit seines Antlitzes zu umwölken. Herodes ließ darauf zu seiner Beschämung eine Stelle aus Epictet vorlesen, worin dieser ehrwürdige Greis den jungen Leuten eine gerechte Strafrede hält, die sich Stoiker nennen und sich keineswegs durch sittlichen Wert und Gehalt auszeichnen, dagegen fortwährend läppische Lehrsätze und den Inhalt elementarer Schulbücher im Munde führen und bei dem Dunst von Worten und Spitzfindigkeiten, den sie vor den Augen der Hörer erregen, fälschlich den Namen jener erhabenen Lehre gebrauchen.

Die Naturphilosophie (Physik) stand in zu engem Zusammenhange mit der Ethik, um nicht wenigstens bis auf einen gewissen Grad in dieser mit berücksichtigt zu werden: schon die Frage nach der Vorsehung konnte eigentlich nur zugleich mit der Frage nach dem Ursprung der Dinge und der Ordnung des Weltganzen erledigt werden. Je einseitiger und ausschließlicher aber die Konzentration auf die sittliche Aufgabe der Philosophie war, desto geringere Beachtung wurde auch dieser Disziplin geschenkt, und die Ansicht des Sokrates, daß die Untersuchung über die letzten Bestandteile und Gründe der Dinge unser Vermögen übersteige und keinesfalls einen praktischen Wert habe, war vermutlich eine weit verbreitete, wie sie denn auch von einer so hohen Autorität wie Epictet vertreten wurde. Auch Seneca, der selbst für die naturwissenschaftliche Spekulation Liebhaberei und Interesse hatte, will sie doch nur insoweit gelten lassen, als sie zur sittlichen Vervollkommnung beitragen kann. Der Geist bedarf der Naturbetrachtung zu seiner Erholung, und sie teilt ihm die Erhabenheit der Gegenstände mit, mit denen sie sich beschäftigt. »In der Betrachtung der Welt und ihres Urhebers erhebt man sich über die Bürde des Leibes, man lernt seine höhere Abkunft und Bestimmung kennen, den Körper und das Körperliche geringschätzen und sich von ihm frei machen. Doch freilich ist dabei die Gefahr, daß der Geist sich gewöhnt, lieber sich zu vergnügen als gesund zu werden, und die Philosophie zu einer bloßen Ergötzung zu machen, während sie doch ein Heilmittel ist.« Daß gerade die die Phantasie so sehr anregende Naturphilosophie Dilettanten anzog, denen es um philosophische Bildung ernst war, deutet auch Plutarch an. Properz wollte sich ihr dann zuwenden, wenn das Alter ihn zwingen werde, der Liebe zu entsagen. Dann wollte er die Gesetze der Natur kennenlernen, sich über die Ursache des Mondwechsels, der Luftveränderungen, des Regens, des Regenbogens, der Erdbeben, der Sonnenfinsternisse, der Erscheinungen des Sternhimmels und des Meers, der Jahreszeiten belehren, forschen, welcher Gott dies Weltgebäude kunstvoll regiere, ob der Welt ein Tag des Untergangs bevorstehe, ob es eine Unterwelt und Höllenstrafen gebe oder mit dem Tode das Dasein ende.

Immer aber traten Physik und Logik neben der Ethik so sehr in den Hintergrund, daß die letztere als der wesentliche, wenn nicht als der einzige Inhalt der Philosophie erschien: sie wird geradezu die Kunst, die Wissenschaft, die Richtschnur des Lebens genannt. Wenn dies nach allem Gesagten kaum noch eines Nachweises bedarf, so ist es doch vielleicht nicht überflüssig, zu zeigen, wie auch gerade die Erziehung der Jugend zur Sittlichkeit ganz allein von der Philosophie erwartet wurde. Wie Gymnastik und Heilkunde für die Gesundheit und Kraft des Körpers sorgen, sagt Plutarch in seiner Schrift über die Erziehung, so heilt die Schwäche und Krankheit der Seele allein die Philosophie. Durch sie und mit ihr erkennt man, was edel, was schändlich, was gerecht, was ungerecht, kurz, was zu erstreben, was zu vermeiden ist; wie wir uns gegen die Götter, die Eltern, das Alter, die Gesetze, die Fremden, die Herrscher, die Freunde, die Frauen, die Kinder, die Sklaven zu verhalten haben: daß wir die Götter fürchten, die Eltern ehren, das Alter achten, den Gesetzen gehorchen, den Herrschern willfahren, die Freunde lieben, gegen die Frauen züchtig sein, die Kinder mit Zärtlichkeit, die Sklaven ohne Übermut behandeln sollen; hauptsächlich aber daß wir weder im Glück zu sehr frohlocken noch im Unglück niedergeschlagen sein, daß wir uns weder von der Lust überwältigen lassen noch im Zorn leidenschaftlich und brutal werden sollen. Dies halte ich von allen Gütern, die wir durch die Philosophie gewinnen, für die vorzüglichsten. Törichte Eltern, heißt es an einer andern Stelle, die es versäumt haben, ihren Kindern eine gute Erziehung zu geben, bereuen diese Versäumnis gewöhnlich erst dann, wenn die Söhne ins Jünglingsalter treten und nun, anstatt ein geregeltes und vernünftiges Leben zu führen, sich in Ausschweifungen und niedrige Lüste stürzen, Schmarotzer und andre Jugendverderber an sich ziehen, Dirnen halten, mit Schlemmerei, Würfelspiel, Gelagen das Ihrige verprassen, Ehebrüche und andre Exzesse begehen, bei denen sie um ihrer Lust willen das Leben aufs Spiel setzen: hätten sie den Unterricht eines Philosophen genossen, so würden sie sich solchem Treiben nicht hingegeben haben. Wie der Landmann oder der Gärtner das Unkraut aus dem Felde, so tilgt der Philosoph die bösen Triebe des Neids, des Geizes, der Wollust, wenn es sein muß mit tiefen Schnitten, die Narben zurücklassen, aus der jugendlichen Seele; in andern Fällen verfährt er behutsam wie der Winzer beim Beschneiden der Reben, um nicht mit dem Unedeln zugleich das Edle auszurotten.

Überall, wo der philosophische Unterricht so aufgefaßt, wo der Philosoph nicht bloß als Lehrer, sondern ganz vorzugsweise als Erzieher, ja geradezu als Seelsorger seiner Schüler betrachtet wurde, galt es notwendigerweise als seine Pflicht, deren sittliches Wohl auch außerhalb des eigentlichen Unterrichts auf jede Weise zu fördern, und folglich als sein Recht, eine Aufsicht über ihren ganzen Lebenswandel zu führen, sie mit Rat und Ermahnung, Warnungen und Vorwürfen, mit Milde und Strenge auf den rechten Weg zu leiten. Allem Anscheine nach haben auch in jener Zeit zahlreiche hervorragende, von dem Bewußtsein der hohen Bedeutung ihres Amts erfüllte Männer, mit solchem Ansehen ausgestattet, auf ganze Generationen die größten sittlichen Wirkungen geübt, um so mehr, als zu den berühmten Lehrern namentlich in Rom und Athen, die, wie Musonius, die Jugend »von allen Seiten wie der Magnet das Eisen an sich zogen«, die Schüler selbst aus weiter Ferne herbeiströmten. Ein Teil derselben trat zu ihren Lehrern in ein näheres Verhältnis, das oft lange über die eigentlichen Lehrjahre hinaus, ja durch das ganze Leben fortdauerte. So blieb Persius seit seinem siebzehnten Jahre mit Cornutus in unzertrennlicher Freundschaft verbunden und lernte auch dessen übrige Schüler kennen, darunter den Dichter Lucan und zwei Griechen, den spartanischen Arzt Claudius Agathemerus und Petronius Aristocrates aus Magnesia, beides sehr gebildete Männer, von größter Reinheit der Seele, die Persius sich zum Muster nahm. Cornutus war sein Ratgeber auch bei seinen poetischen Arbeiten und ward von ihm in seinem Testament mit einem bedeutenden Legat bedacht. Persius hat seine Dankbarkeit gegen den geliebten Lehrer, »dem ein so großer Teil seiner Seele ganz gehörte«, in Worten voll inniger Empfindung ausgesprochen: mit ihm, der seine zarten Jahre mit Sokratischer Liebe gehegt, seine Seele in der Zeit ihrer Bildsamkeit wie ein Künstler den weichen Ton geformt hatte, glaubte er sich durch die Bestimmung der Gestirne für immer verbunden, und gerne gedachte er der in gemeinsamer Arbeit und Erholung verbrachten Tage und der bis zum Anbruch der Nacht verlängerten, doch bescheidenen Mahlzeiten, welche die ernsten Studien unterbrachen. Der jüngere Plinius schloß sich in Syrien als Militärtribun an den Stoiker Artemidorus an, der später eine Tochter des Musonius Rufus heiratete, und bewahrte ihm eine anhängliche Ergebenheit, die er auch in der Zeit der Gefahr bewährte: bei der Ausweisung der Philosophen aus Rom im Jahre 95 lieh er ihm eine zur Bezahlung seiner aus den edelsten Gründen gemachten Schulden erforderliche größere Summe, ohne Zinsen zu verlangen. Noch als Konsular schaute er zu dem verehrten Lehrer wie zu einem Vorbilde auf. Unter allen, die sich jetzt Philosophen nennen, schreibt er im Jahre 101, werde man kaum einen so echten, so wahrhaften finden. Seine Standhaftigkeit im Ertragen von Hitze und Kälte, in Anstrengungen, seine Beschränkung in Sinnengenüssen auf das Notwendige, seine strenge Selbstzucht – alles dieses erscheine klein, wenn man es mit seinen übrigen Tugenden vergleiche, welche einen Musonius bewogen, ihn vor so vielen Schülern aus allen Ständen als Schwiegersohn zu wählen.

Ein anziehendes Bild von dem Verhältnis des Platonischen Philosophen Calvisius (Calvenus) Taurus zu seinen Schülern hat Gellius gegeben. Taurus gestattete ihnen nicht bloß oft, nach dem täglichen Unterricht Fragen an ihn zu richten, sondern lud die sich enger an ihn schließenden häufig zu einer frugalen Abendmahlzeit, wobei ein Gericht, von ägyptischen Linsen mit gehacktem Kürbis mit Öl bereitet, die Hauptschüssel zu bilden pflegte. Hier mußten die Schüler gleichsam als »Knabberwerk zum Nachtische« Fragen und Probleme vortragen, besonders Spielereien, wie sie den vom Wein beliebten Geistern zusagten, z. B. in welchem Augenblick ein Sterbender eigentlich sterbe, ein Aufstehender aufstehe, ein Lernender seine Kunst verstehe: dergleichen Fragen sollte man nicht verachten, sagte Taurus, da die größten Philosophen sie erörtert hatten. In Krankheiten besuchte Taurus seine Schüler. Seine Mißbilligung alles dessen, was ihm an ihrer Lebens- oder Studienweise mißfiel, sprach er je nach den Umständen mit Freundlichkeit oder Strenge aus. Einem reichen jungen Manne, der mit Flötenspielern und Tragöden umzugehen liebte, sandte er, um ihn von dieser Genossenschaft abzuziehen, eine Stelle aus Aristoteles über den sittlichen Unwert der meisten solcher Künstler zu, mit der Anweisung, sie täglich zu lesen. Einen andern, der plötzlich vom Studium der Beredsamkeit zur Philosophie überging, fuhr er mit harten Worten an und wurde vollends zornig, als dieser sich mit dem Beispiel andrer verteidigte; was ihm auch Veranlassung gab, eine schöne, hierauf bezügliche Stelle aus Demosthenes anzuführen. So, sagt Gellius, bediente sich Taurus jeder Art von Ermahnungen und Unterweisungen, um seine Schüler zum Guten und Rechten anzuleiten. Nicht weniger wirkte er ohne Zweifel durch die erziehende Kraft seines Beispiels. Wie er im Verkehr mit Vornehmen seine Würde zu wahren wußte, ohne die Schicklichkeit zu verletzen, zeigt Gellius in der Erzählung von einem Besuche, welchen der Statthalter von Kreta und dessen Vater dem berühmten Philosophen abstatteten. Der Stoiker Attalus, in dessen Schule zu Rom Seneca in seiner Jugend stets als der erste kam und als der letzte blieb, ging auch auf Spaziergängen gern auf die Fragen seiner Schüler ein: wer zu einem Philosophen komme, sagte er, müsse täglich etwas Gutes nach Hause tragen, die Philosophie habe die Kraft, nicht bloß durch das Studium, sondern auch im Gespräche Nutzen zu schaffen. Plutarch erörterte mit den jungen Männern, welche von nah und fern behufs ihrer Ausbildung zu ihm nach Chäronea gesandt wurden, gesprächsweise die verschiedensten Themen aus dem Gebiete der allgemeinen Moral und erteilte ihnen auf die Fragen, welche sie an ihn richteten, Bescheid. Einige der von Plutarch später herausgegebenen und uns erhaltnen Vorträge zeigen, daß die Gegenstände namentlich der praktischen Lebensweisheit in ihrem weitesten Umfange entnommen waren, so z. B. »über die Beschäftigung mit der Poesie«, »über die Kunst des Hörens«, »Gesundheitsregeln« usw.

Wenn die Philosophen das Leben ihrer Schüler bis ins kleinste regeln und selbst über geringfügige und scheinbar gleichgültige Dinge (insofern auch diese auf sittliche Grundsätze bezogen wurden) Vorschriften erteilen zu müssen glaubten, so wurde ihre Berechtigung dazu offenbar ganz allgemein anerkannt, und nicht selten überließen sich auch Männer, namentlich jüngere, ihrer Leitung mit einer unbedingten Folgsamkeit, wie sie heute nur von Knaben ihren Erziehern gegenüber bewiesen wird. Überhaupt wurde den Lehrern damals von erwachsenen Schülern eine größere Autorität eingeräumt als gegenwärtig. So erzählt Gellius, daß der Rhetor T. Castricius einigen Senatoren, die seine Schule besuchten, einen Verweis erteilte, weil sie an einem Feiertage öffentlich in einer nicht standesgemäßen Tracht erschienen waren. Daß aber den Philosophen die am weitesten gehende Befugnis zugestanden wurde, Vorschriften über alles und jedes zu erteilen, ist selbstverständlich. Attalus empfahl seinen Schülern, auf einem harten Pfühl zu schlafen, und Seneca bediente sich noch im Alter eines solchen, auf den der Körper keinen Eindruck machte. Epictet ermahnte seine Zuhörer, den Bart wachsen zu lassen, nicht nur als einen schönen und würdigen Schmuck, sondern auch als ein von der Vorsehung zur Unterscheidung der Geschlechter bestimmtes Zeichen, das uns nicht wegzuwerfen erlaubt sei. Ein junger Mann, der mit zierlich geordnetem Haar und stutzerhafter Kleidung in die Schule kam, hatte hierüber einen längeren Vortrag anzuhören. Die Aussicht darauf, daß er sich vielleicht beleidigt fühlen, nicht wiederkommen und den guten Rat nicht befolgen werde, konnte den Philosophen nicht von der Erfüllung seiner Pflicht zurückhalten, deren Vernachlässigung jener ihm später mit Recht hätte zum Vorwurf machen können. Aber noch weniger als zu geschmückt wollte Epictet seine Schüler schmutzig und vernachlässigt sehen, stets sollten sie sauber sein, damit die Mitschüler an ihnen Freude hätten, und er hat nicht verschmäht, auf die Einzelheiten der Körperpflege einzugehen, daß man sich schneuzen, die Füße waschen, sich vom Schweiße reinigen, die Zähne putzen solle: »warum? damit du ein Mensch seiest und kein Tier, kein Ferkel!« Und diese das ganze leibliche wie geistige Wohl vom Größten bis zum Kleinsten umfassende, sich in die privatesten Dinge mengende Fürsorge erstreckten die Philosophen sogar auch auf die Angehörigen ihrer Schüler, ohne, wie es scheint, sich den Vorwurf der Zudringlichkeit zuzuziehen. Favorinus erhielt eines Tages die Nachricht, daß die Frau eines seiner Zuhörer, eines Mannes von senatorischem Stande aus vornehmer Familie, von einem Sohne entbunden sei: sogleich begab er sich, begleitet von seinen sämtlichen gerade anwesenden Zuhörern, zu dem jungen Vater, beglückwünschte ihn und sprach dann die Erwartung aus, daß die Wöchnerin das Kind selbst nähren würde. Als deren Mutter sich dagegen erklärte, hielt Favorinus sofort eine große Rede über diesen Gegenstand, die Gellius sich aufzeichnete und später seinen Attischen Nächten einverleibte. Daß die Philosophen, die selbst in solchen Dingen Rat spendeten, bei allen Gewissensskrupeln und in allen schwierigen Lagen des Lebens von ihren Schülern um Rat gefragt wurden, ist selbstverständlich. Als Gellius, sehr jung (doch nicht unter 25 Jahre alt) zum Richter ernannt, sich einmal in einem Prozeß für keine Partei zu entscheiden vermochte, hob er den Termin auf, begab sich stehenden Fußes zu Favorinus, an den er sich damals vorzugsweise angeschlossen hatte, und bat ihn um sein Urteil in diesem Falle und um Belehrung über das Richteramt überhaupt. Allem Anscheine nach hatten die Philosophen eher darüber zu klagen, daß sie zu viel, als daß sie zu wenig um Rat gefragt wurden. Man verlangte von ihnen, wie Epictet sagt, Verhaltungsmaßregeln in praktischen Angelegenheiten, wie von einem Schuhmacher oder Gemüsehändler seine Ware, ohne durch eigne Arbeit die sittlichen Prinzipien sich aneignen zu wollen, aus denen die Entscheidungen aller einzelnen Fälle abgeleitet werden mußten.

In der Regel übten die Philosophen (abgesehen von gelegentlichen Einwirkungen) eine praktische Tätigkeit und damit einen unmittelbaren Einfluß auf die sittliche Bildung ihrer Zeit in dreierlei Verhältnissen: als Erzieher und stete Berater einzelner, als Lehrer der Moral in öffentlichen Schulen, endlich als Missionare und Volksprediger; dies letztere Feld blieb ausschließlich den Kynikern, die es sich erwählt hatten, überlassen. Die sämtlichen Formen der philosophischen Berufstätigkeit werden von Philosophen und Nichtphilosophen häufig genug erwähnt, so daß sich wenigstens bis auf einen gewissen Grad von ihnen eine Vorstellung gewinnen läßt. Freilich sind es hauptsächlich die Schattenseiten und Übelstände, die Mängel und Schwächen, Mißerfolge und Unzulänglichkeiten der philosophischen Bemühungen und Leistungen, die zur Sprache gebracht werden, und bei denen besonders die so zahlreichen prinzipiellen Gegner der Philosophie mit Vorliebe verweilen. Aber auch aus solchen Ausstellungen und Angriffen ergeben sich die hohen Anforderungen, die man an die Einwirkung der Philosophie auf die sittliche Hebung der Mitwelt stellte, und wenn diese freilich von den meisten nur sehr unvollkommen erfüllt wurden, so wird doch auch teils stillschweigend, teils ausdrücklich zugestanden, daß die besten und reinsten Lehrer sie im höchsten Maße erfüllten und die allergrößte Wirkung übten.

Während die große Mehrzahl sich damit begnügen mußte, die sittliche Bildung durch einen philosphischen Unterricht von einer doch beschränkten Dauer zu erstreben, suchten Vermögendere sehr häufig einen Philosophen ganz und gar in ihr Haus zu ziehen, nicht bloß zur Erziehung der Kinder, sondern auch um sich für das ganze Leben eines zuverlässigen, steten Beraters, Führers und Seelsorgers zu versichern. Namentlich in großen römischen Häusern scheinen, wie in der letzten Zeit der Republik, so auch in der Monarchie griechische Philosophen diese Stellung oft eingenommen zu haben. In einem solchen Verhältnis hatte allem Anschein nach auch der Stoiker P. Egnatius Celer zu Barea Soranus gestanden, dessen Lehrer, Klient und Freund er genannt wird und dessen Verurteilung im Jahre 66 er durch sein von den Anklägern erkauftes falsches Zeugnis herbeiführte. Ein in der Nähe von Bonn gefundenes Monument ist dem Philosophen Q. Aelius Egrilius Euaretus, »Freunde des Salvius Julianus« (des Konsuls im Jahre 175, der wahrscheinlich nachher Legat im untern Germanien war), von seiner Frau errichtet; der Konsular wollte, wie man sieht, diesen Umgang auch in der Provinz nicht entbehren. Besonders aber erscheinen diese Hausphilosophen, wie die Philosophen überhaupt, als Begleiter und Tröster bei der Vorbereitung zum Tode; auch ließ man es ohne Zweifel oft von ihrer Entscheidung abhängen, ob man das Leben freiwillig enden solle. So ließ sich Tullius Marcellinus, ein Bekannter Senecas, ein junger Mann, der an einer langwierigen und beschwerlichen Krankheit litt, durch das Zureden eines Stoikers bestimmen, sich durch Enthaltung von Speise den Tod zu geben. Von T. Petronius berichtet Tacitus als etwas Ungewöhnliches, daß er bei der Hinzögerung seines Todes durch Wiederverbinden der durchschnittenen Pulsadern sich leichtfertige Gedichte vortragen ließ, dagegen »nichts von der Unsterblichkeit der Seele und den Lehren der Philosophen«. Als Julius Canus, von Caligula zum Tode verurteilt, den Gang zu jenem Hügel antrat, wo, wie Seneca sagt, »unserm Cäsar tägliche Opfer gebracht wurden«, begleitete ihn »sein Philosoph« unter Gesprächen über seine gegenwärtigen Gedanken und den Zustand seiner Seele. Rubellius Plautus, der die Schergen Neros erwartete, ohne einen Fluchtversuch zu machen, war, wie man erzählte, von den Philosophen Musonius Rufus und Cöranus in dem Entschlüsse bestärkt worden, den Tod einem angstvollen und ungewissen Leben vorzuziehen. Der Bote, der dem Thrasea das erwartete Todesurteil überbrachte, fand ihn in ein Gespräch mit dem Kyniker Demetrius vertieft: »Wie man aus dem Ernst in ihren Gesichtern und aus den Worten, die etwa lauter gesprochen wurden, schließen konnte, erörterten sie die Natur der Seele und die Trennung von Geist und Körper.« Auch der auf den Tod verwundete Kaiser Julianus erging sich mit den Philosophen Maximus und Priscus in schwierigen Erörterungen über die Erhabenheit der menschlichen Seele, solange sein Atem dazu ausreichte.

Die Stellung, die griechische Philosophen durch die Eingehung dauernder Verhältnisse in großen römischen Häusern übernahmen, konnte nur bei der edelsten Auffassung von beiden Seiten auf der Höhe erhalten werden, die der Würde der Philosophie angemessen war. Oft genug waren auch in diesen Verhältnissen die Philosophen selbst nicht einmal imstande, sich die Achtung derer zu bewahren, denen sie vor allem mit ihrem Beispiel vorangehen sollten. Auf der andern Seite konnten die vornehmen Römer wohl selten ganz und gar vergessen, daß die »Lehrer der Weisheit« doch nur ihre Klienten oder besoldeten Hausbeamten waren. Die Schattenseiten dieser letzteren Stellung in Rom hat Lucian in seiner Weise breit und grell in einer eignen, zur Warnung eines Philosophen Timokles verfaßten Schrift geschildert, der in ein vornehmes Haus einzutreten wünschte. Sie mögen in jener Zeit besonders oft und widrig in die Augen gefallen sein, wo das Beispiel Marc Aurels die Philosophie zur Mode gemacht hatte, und viele, die für sie weder Verständnis noch Achtung hegten, vor Sehnsucht nach der Erhabenheit des Platonischen Idealismus vergehen zu müssen glaubten und in ihrem Gefolge womöglich einen griechischen Philosophen haben wollten, den man an seinem ehrwürdigen Äußern, langen Bart und dem guten Anstande, mit dem er den Mantel trug, auch sofort als solchen erkennen konnte. Die Aussicht, in einem großen, reichen Hause eine geehrte und einflußreiche Stellung einzunehmen, war für viele verlockend genug, sich den Unannehmlichkeiten der Bewerbung und selbst einer Prüfung zu unterziehen, bei der sie von ihrem Wissen und ihrer Leistungsfähigkeit Proben ablegen, sich ein Verhör über ihre Vergangenheit gefallen und sich zuweilen sehr unwürdigen Mitbewerbern gegenüberstellen lassen mußten, von denen manche die Philosophenmaske zur Empfehlung von Beschwörung, Zauberei u. dgl. benutzten. War diese Prüfung glücklich überstanden, so kam es, etwa nach einer Einladung zu einer großen Tafel, bei der sich der Glanz des Hauses für den Neuling ebenso blendend wie einschüchternd entfaltete, zur Feststellung der Bedingungen. Der Hausherr versicherte, alles mit seinem neuen Hausgenossen teilen zu wollen; »denn es wäre ja lächerlich, wenn man den Mann, dem man das Kostbarste, die eigne Seele oder die seiner Kinder, anvertraue, nicht zugleich als Mitbesitzer alles übrigen betrachtete«. Trotzdem wurde ein Jahresgehalt festgesetzt, das aber freilich mit Rücksicht auf die in Aussicht gestellte freundliche und ehrenvolle Behandlung, auf die häufigen Geschenke an Festtagen, namentlich aber auf die erhabne Denkart der Philosophen in Geldfragen überraschend winzig ausfiel. Und so verkauften Weltweise im reifen Alter, uneingedenk aller Lobreden eines Plato, Chrysippus, Aristoteles auf die Freiheit, sich selbst in eine niedrige und schmachvolle Dienstbarkeit; gleich dem übrigen Troß der Hausbedienten, von denen sie durch ihren groben Mantel und ihr kauderwelsches Latein abstachen, rief sie in jeder Frühe die Hausglocke zu ihrem Figurantendienst, der bis zum späten Abend dauerte und Unannehmlichkeiten und Entwürdigungen aller Art mit sich brachte, deren man den geduldigen Griechen nur zu viele bieten zu können meinte. Und waren sie verbraucht oder war man ihrer müde geworden, so wurden sie auf irgendeine aus der Luft gegriffene Anschuldigung hin bei Nacht und Nebel in aller Stille hilflos und von allem entblößt aus dem Hause gestoßen.

Noch viel mißlicher als in vornehmen Häusern und noch schwerer mit den Idealen der Philosophie vereinbar war die Stellung ihrer Vertreter am Hofe, ja nach der Ansicht vieler war ein Philosoph am Hofe ebensowenig an seinem Platz wie in der Schenke. Plutarch hat in einer eignen Schrift zu beweisen gesucht, daß aller Schwierigkeiten und Gefahren ungeachtet der Weise auch eine solche Stellung unter Umständen nicht ablehnen könne, weil er in ihr unverhältnismäßig mehr Gutes als in jeder andern zu wirken imstande sei. Der Philosoph werde die Sorge für eine Seele, die für viele tätig sein, für viele Weisheit und Gerechtigkeit üben müsse, um so bereitwilliger übernehmen; denn so werde er vielen durch den einen nützen, wie Anaxagoras als Freund und Ratgeber des Perikles, Plato des Dio, Pythagoras der Staatsmänner Italiens. Die Philosophen, die sich der sittlichen Bildung von Privatpersonen widmen, befreien eben nur einzelne von Schwächen und Leidenschaften; der aber, welcher den Charakter eines Regenten veredelt, fördert und bessert damit den ganzen Staat. Um solcher Vorteile willen müsse man es ertragen, Höfling und bedientenhaft gescholten zu werden. Wenn selbst der aller praktischen Wirksamkeit grundsätzlich sich enthaltende Philosoph gebildete und edle Fürsten nicht meiden werde, so werde ein am Staatsleben teilnehmender sich ihrer annehmen, zwar ohne Zudringlichkeit und ohne sie mit unzeitigen und sophistischen Belehrungen zu behelligen, doch bereit, ihrem Verlangen nach seinem Rat und Beistande zu entsprechen.

Nach den gelegentlichen Erwähnungen von Philosophen an den Höfen des Augustus, Nero, Trajan, Hadrian, der Julia Domna, der »Scheinphilosophen« an dem Elagabals scheint es, daß, wie andre Gelehrte, so auch die Lehrer der Weltweisheit, wenn nicht in der Regel, doch sehr häufig zu den Umgebungen der Kaiser (als αυμβιωταί) gehörten: und auch diese Stellungen waren zum Teil besoldet. Von der Persönlichkeit der Kaiser und von dem an ihrem Hofe herrschenden Tone hing es natürlich ab, ob die Stellung der Philosophen eine würdige oder unwürdige war. Während Areus am Hofe des Augustus mit der größten Auszeichnung behandelt wurde, bediente sich Nero seiner Philosophen zur Belustigung, indem er die Vertreter der verschiedenen Schulen bei Tafel zum Gezanke gegeneinander hetzte.

Ohne Zweifel aber zogen die Philosophen, besonders die, welche ihren Wert fühlten, größtenteils eine öffentliche Wirksamkeit auch der glänzendsten Stellung am Hofe oder in einer vornehmen Familie vor. Der Stoiker Apollonius, von Antoninus Pius als Lehrer des jungen Marc Aurel berufen, siedelte, gefolgt von einer Anzahl seiner Schüler, von Chalcis nach Rom über; aber in den Tiberianischen Palast zu ziehen, wo Marc Aurel wohnte, lehnte er ab; der Schüler müsse zum Lehrer kommen; ein Verlangen, dem der Thronerbe wirklich entsprach. Die Eröffnung einer öffentlichen Schule stellte nicht nur eine würdigere Existenz, eine bedeutendere, unter Umständen großartige Wirksamkeit, die sich, wie gesagt, an Zentralpunkten wie Athen und Rom auf die Blüte der Jugend der verschiedensten Provinzen erstrecken konnte, sondern auch sehr glänzende Einnahmen in Aussicht. Denn allem Anscheine nach dachte nur die Minderzahl so streng, wie der Platoniker Nigrinus, der die Schulen der für Geld lehrenden Philosophen Buden und Läden nannte, in denen als Ware die Tugend feilgeboten werde.

Aber auch abgesehen hiervon gab das Verhalten der öffentlich lehrenden Philosophen, namentlich ihre Vorträge und ihre Unterrichtsmethode, zu mancherlei Tadel Veranlassung. Und solchen Tadel sprechen denn auch die philosophischen Schriftsteller dieser Zeit so reichlich, so eindringlich und wiederholt aus, daß man leicht eine zu ungünstige Vorstellung von den damaligen Philosophenschulen gewinnen kann, wenn man sich nicht fortwährend erinnert, daß Männer wie Musonius, Plutarch, Epictet, Taurus, Demonax in der Tat die höchsten Forderungen, denen sie selbst entsprachen, auch den Leistungen andrer gegenüber aufrechterhalten durften, und daß sie unablässig Lehrer und Schüler mahnen mußten, wie weit sie noch von dem wahren Ziele der Philosophie entfernt seien, um sie ihm näherzuführen. So kommen denn in ihren Schriften immer wieder die Schwächen, Kleinlichkeiten und Mängel zur Sprache, mit denen der philosophische Unterricht behaftet war: Übelstände, die in dieser Schärfe nur empfunden werden konnten, wenn sie mit den Beispielen edlen und großartigen Wirkens und Strebens verglichen wurden, deren jene Zeit in der Tat nicht wenige aufzuweisen hatte.

Die Wirkungen des philosophischen Unterrichts wurden allerdings ohne Zweifel oft genug sowohl durch die Schuld der Lehrer als der Schüler beeinträchtigt. Eitelkeit und Ruhmsucht, wohl auch Gewinnsucht, verleitete die Lehrer oft, mehr den Beifall ihrer Zuhörer als ihr wahres Heil im Auge zu haben, und auch unter diesen waren nicht wenige, die eine angenehme Unterhaltung, Übung des Scharfsinns und Erwerbung einer zum Prunken geeigneten Gelehrsamkeit dem ernsten Studium und dem schweren und schmerzlichen Ringen nach sittlicher Veredelung vorzogen. Daher trugen viele, die jahrelang philosophische Vorlesungen mit unablässigem Fleiße besucht hatten, auch nicht einmal einen Anflug philosophischer Bildung davon. Manche, sagt Seneca, kamen nur, um zu hören, nicht um zu lernen, der Ergötzung halber, wie man ins Theater geht: für einen großen Teil der Zuhörer ist die Schule ein Ort des Zeitvertreibs. Sie bezwecken nicht, das Laster abzulegen, eine neue Lebensnorm zu gewinnen, sondern sich einen Ohrenschmaus zu verschaffen. Andre kamen mit Schreibtafeln, nicht um den Inhalt, sondern um die Worte aufzufassen, die sie mit ebensowenig Nutzen für andre anwenden, als sie sie ohne Frucht für sich selbst hören. Auf manche machen die erhabnen Stellen der Vorträge Eindruck, der sich auch auf ihren Gesichtern spiegelt, aber nur wie nervenaufregende Musik, keinen bleibenden: nur wenige sind imstande, was sie aufgenommen haben, festzuhalten. Die meisten Schüler waren also nicht in der Gemütsverfassung, die Musonius für den Erfolg des Unterrichts als unerläßlich betrachtete. Ein Zuhörer, der nicht ganz verloren ist, sagte er, muß währen der Rede des Philosophen schaudern, innerlich Scham, Reue, Freude, Bewunderung empfinden, und der Ausdruck seines Gesichts muß wechseln, je nachdem die Behandlung des Philosophen, die bald die kranken, bald die gesunden Teile seiner Seele berührt, ihn und sein Gewissen ergreift. In der Tat bezeugt Epictet der Musonius gehört hatte, daß er so eindringlich gesprochen, so anschaulich die sittlichen Schäden vor Augen gehalten habe, daß jeder seiner Zuhörer die Rede auf sich bezog und bei dem Lehrer persönlich angeklagt zu sein glaubte. Gerade dies aber war, wie auch Plutarch klagt, den meisten zu viel, die den Vortrag eines Philosophen anhörten wie den eines Tragöden oder eines Rhetors. Solange er sich im allgemeinen hielt, folgten sie gerne, sobald er aber freimütig und eindringlich ermahnte, nahmen sie dies als Zudringlichkeit übel; und manche waren weichlich genug, nach einer so verletzenden Rede aus der Schule fortzubleiben, wie Kranke, die nach dem Schnitte des Arztes davonlaufen, ohne den Verband abzuwarten. Anfänger ließen sich auch durch die Schwierigkeiten des Studiums oder Vortrags abschrecken oder schämten sich, um Erklärung zu bitten, oder taten, als ob ihnen alles deutlich wäre, auch wenn sie nichts verstanden hatten. Manche hatten sogar die Dreistigkeit, dem Lehrer über die Art des Unterrichts Vorschriften machen zu wollen. »Der eine«, sagte der Platoniker Taurus, »spricht: lehre mich dies zuerst; ein andrer: dies will ich lernen, jenes nicht; einer will mit dem Gastmahl des Plato wegen der dort vorkommenden Nachtschwärmerei des Alcibiades beginnen, ein andrer mit dem Phädrus wegen der Rede des Lysias. Es gibt wahrhaftig solche, die den Plato nicht lesen wollen, um ihr Leben zu veredeln, sondern um ihren Ausdruck zu verfeinern, nicht um sittsamer, sondern um unterhaltender zu werden.« Und daß es Lehrer gab, die sich auch den unberechtigten Wünschen ihrer Schüler fügten, geht aus der Klage des Taurus hervor, daß manche von jenen sich sogar unaufgefordert zu den Türen reicher junger Leute drängten und dort geduldig bis zum Mittag warteten, bis ihre Schüler den Rausch der Nacht völlig ausgeschlafen hatten. Epictet ermahnt seine Zuhörer, wenn sie Menschen in einer Weise reden hören, die eine völlige Unklarheit über die ersten Grundsätze der Sittlichkeit verrate, sich ernstlich zu fragen: bin ich wie diese? »Habe ich das Bewußtsein, nichts zu wissen, wie es dem ziemt, der in der Tat nichts weiß? Gehe ich zum Lehrer wie zu einem Orakel, zu unbedingtem Gehorsam bereit? Oder komme ich voll Stumpfsinn in die Schule, bloß um das äußerliche Beiwerk der Philosophie zu lernen und Bücher zu verstehen, die ich vorher nicht verstand, und sie, wenn es sich so fügt, auch andern zu erklären?« Die Zuhörer, fährt er fort, kommen zwar in Philosophentracht in die Schule, aber nicht mit einer von den Aufregungen und Sorgen der Außenwelt befreiten und gestillten Seele. Der eine hat vielleicht eben erst zu Hause mit einem Sklaven eine Schlägerei gehabt, die ganze Nachbarschaft in Aufruhr versetzt; oder ein auswärtiger Studierender ist voll Verdruß, daß er keine Geldsendungen von Hause erhält, oder denkt daran, was man dort wohl von ihm spricht, daß er gewiß Fortschritte mache und als ein Mann zurückkehren werde, der alles wisse. »Das wollte ich auch gern«, sagt er bei sich selbst; »aber man muß so viel arbeiten, und von Hause schickt mir keiner etwas, und hier in Nicopolis sind die Bäder elend, es ist zu Hause schlecht und hier auch.« »Und dann sagen sie: Niemand hat einen Nutzen von der Schule. Aber wer besucht sie auch, um sich zu heilen und seine Ansichten läutern zu lassen, um sich bewußt zu werden, was ihm not tut? Was ihr in der Schule sucht, das tragt ihr auch davon. Ihr wollt über Lehrsätze schwatzen. Gewähren sie euch etwa nicht Stoff genug, um mit eurem Wissen zu prahlen? Löst ihr nicht Syllogismen auf, versteht ihr nicht Sophismen und Trugschlüsse zu behandeln?«

Aber es lag nicht an den Schülern allein, daß der philosophische Unterricht oft nicht die erwünschte Frucht trug, sondern häufig genug natürlich auch an den Lehrern, die, wie gesagt, nach Beifall, Ruhm und Geld strebten, und da Äußerlichkeiten, vor allem ein glänzender Vortrag, auf die Mehrzahl am meisten wirkten, über der Form den Inhalt vernachlässigten. Das graue Haar des Redners, sagt Plutarch, die Modulation der Stimme, der Ernst des Gesichts und die selbstbewußte Sicherheit, am meisten aber der Beifallslärm reißt die jungen und unerfahrnen Zuhörer mit fort; auch der Ausdruck hat etwas Trügendes, wenn er anmutsvoll und reich, gewichtig und wohlvorbereitet zu den Gegenständen hinzutritt. Das Lob, das Plinius dem von ihm hochverehrten Stoiker Euphrates erteilt, zeigt, wie wesentlich selbst für das Urteil gebildeter Zuhörer die persönliche Erscheinung und die Redekunst eines Philosophen war. »Er trägt mit Schärfe, Würde und Geschmack vor, häufig erreicht er auch die Platonische Erhabenheit und Fülle. Seine Sprache ist reich und mannigfaltig, besonders voll Lieblichkeit, so daß sie auch Widerstrebende mitzieht und hinreißt. Dazu eine hohe Gestalt, ein schönes Gesicht, herabwallendes Haar, ein sehr langer, grauer Bart: welches alles, mag man es auch für zufällig und bedeutungslos halten, doch viel dazu beiträgt, seine Ehrwürdigkeit zu erhöhen. Sein Anzug ist von strenger Einfachheit, aber ohne Vernachlässigung, ohne asketische Rauheit: man naht ihm mit Ehrfurcht, aber ohne Furcht. Die Reinheit seines Lebens ist die fleckenloseste, ebenso groß seine Liebenswürdigkeit: er bekämpft Laster, nicht Menschen, und straft nicht die Irrenden, sondern bessert sie. Man folgt seinen Ermahnungen mit gespannter Aufmerksamkeit und wünscht sich überzeugen zu lassen, auch wenn man schon überzeugt ist.« Daß vollends Rhetoren meistens nur die Form der philosophischen Vorträge beachteten, ist natürlich. Wir wollen, läßt Epictet einen solchen sagen, im Vorbeigehen, bevor wir uns ein Schiff mieten, noch den Epictet besuchen und hören, was er sagt. Dann beim Herausgehen heißt es: es war nichts an Epictet: er macht Fehler gegen die Konstruktion und die Etymologie. Denn nur um dies zu kritisieren, kommt ihr doch in die Schule.

Epictet, der den Wert der Beredsamkeit für die Wirkung des philosophischen Vortrags keineswegs leugnete, würde die prunkende Schönrednerei und das Haschen nach Beifall bei Vorlesungen und Disputationen schwerlich zum Gegenstande einer ausführlichen Erörterung gemacht haben, wenn den damaligen »Kathederphilosophen« beides nicht häufig vorzuwerfen gewesen wäre. Die kleinen aus dem Leben gegriffenen Szenen, die er seinen Ermahnungen einflicht, sind ganz besonders geeignet, die selbstgefällige Eitelkeit dieser Klasse von Lehrern und die ganze Äußerlichkeit ihres Treibens zu veranschaulichen. Sie wünschten überall, wo sie sich zeigten, den Ruf zu vernehmen: »O der große Philosoph!« und gingen einher, »als ob sie einen Spieß verschluckt hätten.« Fanden die Zuhörer sich spärlich ein und applaudierten nicht, so ging der Lehrer niedergeschlagen fort; war der Beifall reichlich, so ging er umher und fragte jeden: wie fandest du mich? – Bewunderungswürdig, Herr, so wahr es mir wohl gehen möge! – Wie sprach ich jene Stelle? – Welche? – Wo ich den Pan und die Nymphen beschrieb. – Ausgezeichnet. Weshalb, so fährt Epictet in seiner Strafrede an diese philosophischen Rhetoren fort, lobtest du jenen Senator? – Er ist ein talentvoller und strebsamer junger Mann. – Inwiefern? – Er bewundert mich. – Dann hast du allerdings den Beweis geführt! – Sieh, sagt er dann weiter, er ist seit so langer Zeit dein Schüler, er hat deine Disputationen, deine Vorlesungen gehört: ist er demütig geworden? Ist er in sich gegangen? Ist er innegeworden, wie er im Bösen steckt? Hat er den Dünkel von sich geworfen? Verlangt er nach Unterweisung? Ja, sagst du. Nach Unterweisung, wie man leben soll? Nein, Tor, wie man reden soll; denn darin bewundert er auch dich! Höre ihn, was er sagt: »Der Mann schreibt wirklich äußerst kunstvoll, viel schöner als Dio!« – Du also, der du dich in einer so Übeln Gemütsverfassung befindest, so von Gier nach Beifall erfüllt bist und deine Zuhörer zählst, willst andern nützen? – Heute hatte ich ein sehr viel zahlreicheres Auditorium. – Ja, sehr zahlreich, es mochten fünfhundert sein. – Das ist viel zu wenig, vielleicht tausend. Dio hatte niemals so viel Zuhörer. Wie sollte er auch? Es ist ein recht feines Verständnis für Vorträge vorhanden. Das Schöne, Herr, kann auch einen Stein bewegen. – Da habt ihr die Rede eines Philosophen, da habt ihr den Seelenzustand eines, der den Menschen nützen will, da habt ihr auch einen Mann, der einen Vortrag gehört hat! – Hat etwa Sokrates, indem er seine Schüler begleitete, gesagt: höre den Vortrag, den ich heute im Hause des Quadratus halten werde? – Wozu? Du willst mir zeigen, wie schön du die Worte setzen kannst? Meinetwegen, und was nützt es dir? – Du sollst mir Beifall zollen. – Wie das? – Sage Oh! und Vortrefflich! – Deshalb also sollen junge Leute auf Reisen gehen, ihre Eltern, Freunde, Verwandte, ihr Hab und Gut verlassen, um bei deinen schönen Redeschlüssen Oh! zu sagen? Taten dergleichen Sokrates, Cleanthes, Zeno? – »Aber«, läßt Epictet sich einwenden, »gibt es nicht einen besonderen Stil für ermahnende Vorträge? – Gewiß! so gut wie für widerlegende und lehrende. Doch wer hat schon jemals einen vierten, den Prunkstil, neben diesen genannt? Worin besteht denn das Wesen eines ermahnenden Vortrags? Darin, daß man einem sowohl als vielen klarmachen kann, in welchem Kampfe sie umhergeworfen werden, und daß sie mehr an alles andre denken, als an das, was sie wollen. Sie wollen das, was zur Glückseligkeit führt, suchen es aber anderwärts. Ist es nun zu diesem Zweck erforderlich, daß tausend Bänke aufgestellt, Zuhörer eingeladen werden, daß du in eleganter Kleidung oder in schäbigem Philosophenmäntelchen auf das Katheder trittst und den Tod des Achill beschreibst? Laßt doch endlich ab, ich beschwöre euch bei den Göttern, schöne Worte und Gegenstände zu mißbrauchen! Welcher Zuhörer deiner Vorträge und Disputationen ist von Seelenangst für sein eigenes Heil erfüllt worden oder in sich gegangen? oder hat beim Fortgehen gesagt: tief hat mich der Philosoph getroffen! So muß man ferner nicht handeln! Sagt er nicht vielmehr, falls du großen Beifall hast, zu einem andern: sehr artig hat er das von Xerxes ausgeführt, und ein dritter darauf: nein, aber die Schlacht bei Thermopylä! Und das ist der Vortrag eines Philosophen?«

Wenn sich nun die Philosophen in ihrer Vortragsweise den Sophisten näherten, so äußerten auch die Zuhörer ihren Beifall in der Art, als wenn sie die Bravourstücke jener Virtuosen, nicht die ernsten Ermahnungen von Sittenlehrern vernähmen. Wenn der Philosoph, sagt Musonius, ermahnt, warnt, rät, schilt oder sonst in irgendeiner Weise lehrt, die Hörer gedankenlos und leichthin triviale Lobeserhebungen herschwatzen; wenn sie lärmen, gestikulieren, wenn sie durch Zierlichkeiten des Ausdrucks, durch rhythmischen Tonfall der Worte bewegt und aufgeregt werden, so wisse, daß Redner und Hörer gleich nichtig sind, und daß da nicht ein Philosoph redet, sondern ein Flötenbläser spielt. Ebenso sagt Plutarch, daß der lärmende Beifall in den Philosophenschulen den Außenstehenden glauben lasse, es werde einem Tänzer oder musikalischen Virtuosen applaudiert. Er rügt auch die Ausdrücke des Beifalls, die damals aufgekommen waren. Als wenn die alten Zurufe: Schön! Weise! Wahr! nicht mehr genügten, rief man: Göttlich! Inspiriert! Unerreichbar! und fügte dem Ausruf einen Eid hinzu; man äußerte seine Zustimmung einem Philosophen gegenüber mit: Schlau! einem alten Manne gegenüber mit: Geistreich! oder Glänzend! Aber freilich sollte nach Plutarchs Meinung der Zuhörer auch nicht etwa stumm und teilnahmslos dasitzen und glauben, daß er wie bei einem Gastmahl gleichsam nur sich an die Tafel zu setzen habe, während andre sich abmühten. Allgemein üblich war, auch in Vorlesungen, die sich gar keines Beifalls erfreuten, daß die Zuhörer in gerader, nicht in nachlässiger, übermütiger Haltung dasaßen, den Redner ansahen, lebhafte Aufmerksamkeit zeigten und einen heitern, wohlwollenden Gesichtsausdruck bewahrten, der nicht nur von Verdrießlichkeiten fern war, sondern auch eine gänzliche Freiheit von anderweitigen zerstreuenden Gedanken zeigte. Nicht bloß eine finstre Stirn, einen umherschweifenden Blick, eine gebeugte Haltung, ein unschickliches Übereinanderschlagen der Beine, sondern auch ein Winken, ein Flüstern mit einem andern, ein Lächeln, schläfriges Gähnen, den Ausdruck der Abspannung und dergleichen – alles dies hatte man sorgfältig zu vermeiden.

Gerade diese bis ins Kleinliche gehende Genauigkeit der Vorschriften, durch welche Männer von so hoher und anerkannter Bedeutung, wie Plutarch, Epictet und andere, zur Aufrechterhaltung der Würde des philosophischen Unterrichts beitragen zu müssen glaubten, zeigt nicht am wenigsten, wie tief und weit verbreitet das Interesse an den Vorlesungen und Schulen der Philosophen gewesen sein muß. Und ebenso beweisen die Ansprüche, die von den bedeutendsten Schriftstellern an die Wirksamkeit dieser Schulen fort und fort erhoben wurden, daß sie trotz aller Schwächen, Verirrungen und Mißerfolge vieler Lehrer doch als die eigentlichen Stätten sittlicher Bildung galten, und, wie uns die Werke der so zahlreichen bedeutenden philosophischen Schriftsteller dieser Zeit verbürgen, in der Tat wenigstens teilweise mit Recht.

 

Während nun die Leiter öffentlicher Schulen ihre Wirksamkeit auf einen wenn auch noch so großen Kreis von Schülern und Anhängern beschränkten, gab es auch eine Klasse von Philosophen, die sich als wahre Missionäre der Sittlichkeit der ganzen Menschheit widmeten, die Kyniker. War auch die große Masse dieser »Bettelmönche des Altertums«, wie sie oben geschildert worden ist, mit Recht verrufen, so waren doch die wahrhaft edlen Persönlichkeiten unter ihnen, die um jener hohen Aufgabe willen allen Gütern des Lebens entsagten, ebenso allgemein bewundert und verehrt; und auch Dio und Epictet, die geachtetsten Lehrer des 2. Jahrhunderts, neigten zum Kynismus und stellten Diogenes neben Sokrates. Epictet namentlich hat von der Mission der wahren Kyniker den allerhöchsten Begriff; niemand dürfe sie sich anmaßen ohne das Bewußtsein, durch göttlichen Willen dazu erkoren zu sein. Alle Leidenschaft, alle Begierde muß der Kyniker von sich tun. Die übrigen Menschen können sich hinter den Mauern ihrer Häuser verbergen, die Hülle des Kynikers, der kein Haus hat und unter dem freien Himmel wohnt, muß die Schamhaftigkeit sein: er muß nichts zu verbergen haben, denn wo und wie sollte er es? Er, »der allgemeine Lehrer und Erzieher«, darf nichts zu scheuen haben, wie sollte er sonst »das Amt eines Aufsehers der übrigen Menschen behaupten können«!

Aber es genügt nicht, daß er für sich selbst Erkenntnis und Freiheit gewinnt; sondern er muß wissen, daß er von Zeus zu den Menschen als Bote gesandt ist, um sie über das Gute und Böse zu belehren; daß sie in die Irre gehen und anderwärts das Wesen des Guten und Bösen suchen, wo es nicht ist, wo es aber ist, es nicht beachten. Und nun läßt er seinen Kyniker dem Volke predigen: »O, ihr Menschen, wohin laßt ihr euch fortreißen? Was tut ihr Unglücklichen? Ihr sucht die Seligkeit, wo sie nicht ist. Warum sucht ihr sie außer euch? Im Leibe, im Reichtum, in der Macht, in der Herrschaft ist sie nicht! Seht die Starken, die Reichen, die Mächtigen an, hört ihre Klagen und Seufzer, blickt auf Nero und Sardanapal, auf Agamemnon!« – Und nachdem er dies alles, namentlich die stete Angst und Not des letzteren, mit dramatischer Anschaulichkeit seinen Zuhörern vorgeführt hat, läßt er diese, ebenfalls völlig wie in einer Kapuzinerpredigt, fragen: »Worin ist denn das Gute, wenn es in all diesem nicht ist? Sage es uns, Herr Bote und Wächter!« »Wo ihr es nicht glaubt noch suchen wollt! Denn wenn ihr wolltet, hättet ihr es schon in euch selber gefunden und nicht nach Fremden wie nach eurem Eigentum gestrebt. In euch, Unglückliche, sucht es! Da bildet es aus, da hegt und pflegt es! Wie es möglich sei, ohne Hab und Gut, nackt, ohne Haus und Hof, ohne Pflege, ohne Knecht, ohne Vaterland glücklich zu leben? Seht da, Gott hat euch den gesandt, der es euch durch die Tat beweisen kann, daß es möglich ist! Alles jenes habe ich nicht, ich liege auf der Erde, ich habe kein Weib, keine Kinder, kein Schlößchen, sondern nur Erde und Himmel und ein einziges grobes Mäntelchen. Und doch, was fehlt mir? Bin ich nicht ohne Trübsal? ohne Furcht? bin ich nicht frei? – Wie begegne ich jenen, die ihr bewundert und ehrt? Nicht wie Sklaven? Wer glaubt nicht, wenn er mich sieht, seinen König und Herrn zu sehen?« – Immer aufs neue wiederholt Epictet dann, daß der Kyniker ganz und unbehindert im Dienste der Gottheit stehen, den Menschen beistehen können muß, daß er durch keine Privatpflichten gebunden, in keine Verhältnisse verflochten sein darf, bei deren Verletzung er die Gebote der Sittlichkeit übertreten, in deren Bewahrung dagegen er das Amt des »Boten, Wächters und Herolds der Götter« aufgeben müßte: wie namentlich die Ehe. Wo bliebe dabei jener König, der sich dem allgemeinen Besten widmet, »dem sich zur Hut die Völker vertraut und mancherlei obliegt«, der über die andern die Aufsicht führen muß, über die Gatten und die Väter, wer seine Frau gut behandelt, wer schlecht, wer straffällig ist, wessen Haus wohl geordnet ist, wessen nicht: wie ein Arzt, der umhergeht und die Pulse fühlt: du hast Fieber, du leidest am Kopf, du an den Füßen; du faste, du nimm Speise, du bade nicht, du mußt geschnitten, du gebrannt werden. Wie hätte der dazu die Muße, der durch Privatpflichten gebunden ist. – Wenn wir die Größe des wahren Kynikers begreifen, werden wir uns nicht wundern, weshalb er kein Weib nimmt, keine Kinder zeugt. Er ist der Vater aller Menschen, er hat alle Männer zu Söhnen, alle Frauen zu Töchtern; er sorgt um sie, er schilt sie als Vater, als Bruder, als Diener des gemeinsamen Vaters Zeus.

In der Tat gab es in jener Zeit Männer, die dieses Ideal wenigstens annähernd verwirklichten, und zwei von ihnen sind uns bekannt, Demetrius, der im ersten Jahrhundert in Rom, und Demonax, der im zweiten in Athen lebte. Der erstere führte die Forderungen der vollen Bedürfnislosigkeit und Rückkehr zum Naturzustande praktisch mitten in der Pracht, Üppigkeit und Überkultur der Weltstadt, des goldnen Rom, buchstäblich durch und verschaffte dem Kynismus bei den Römern Achtung, den noch Cicero als »der Schamhaftigkeit zuwiderlaufend« unbedingt verworfen hatte. Der zerlumpte Bettler, der ein Geschenk Caligulas von 200.000 Sesterzen mit Hohn zurückwies, der Neros Drohungen verachtete, Vespasians Unwillen durch einen zur Schau getragenen Trotz herausforderte, seine Verachtung Andersmeinender mit rücksichtsloser Derbheit äußerte, wurde von den bedeutendsten und höchstgestellten Männern jener Zeit eifrig aufgesucht und mit Ehrfurcht behandelt. Thrasea widmete seine letzten Stunden einem Gespräche mit ihm über die Unsterblichkeit und das Jenseits, und Seneca verehrte seine unbeugsame Seelenstärke um so aufrichtiger, je mehr er ihm gegenüber seine eigne Schwäche fühlte: Demetrius war nach seinem Urteil, selbst mit den Größten verglichen, noch ein großer Mann. Seneca verließ die Gesellschaft der in Purpur Gekleideten, um das Gespräch dieses herrlichen Manns, den er so sehr bewunderte, stets genießen zu können. Wie sollte er ihn nicht bewundern? Ihm fehlte in der Tat nichts: er lebte nicht, als ob er alles verschmäht, sondern als ob er es andern überlassen habe. Hörte man ihn in seiner Blöße auf seinem Strohlager reden, so machte seine Rede doppelten Eindruck, er erschien nicht bloß als Lehrer, sondern als Zeuge der Wahrheit. »Ihn«, meinte Seneca, »hat die Natur in unsrer Zeit erschaffen, um zu zeigen, daß weder er durch uns verdorben noch wir durch ihn gebessert werden können. Er ist der Mann von vollendeter Weisheit, wenn er es auch selbst in Abrede stellt, und unerschütterlicher Festigkeit in der Ausführung seiner Grundsätze, und von einer Beredsamkeit, wie sie den größten Gegenständen ziemt, die nicht kunstvoll geordnet noch um Worte ängstlich bekümmert ist, sondern mit gewaltigem Schwunge ihren Gegenstand verfolgt, wie die Eingebung sie antreibt. Ich zweifle nicht, daß ihm die Vorsehung ein sittliches Leben und eine solche Macht der Rede verliehen hat, damit es unserem Zeitalter nicht an einem Beispiel und an einem lebendigen Vorwurfe fehle.«

Als ein Beispiel und einen Vorwurf für seine Zeit, gleichsam ein in die Erscheinung getretenes, unablässig mahnendes Gewissen seiner Mitbürger schildert eine unter Lucians Namen überlieferte Schrift auch jenen Demonax, der den größten Teil seines Lebens in Athen verbrachte und es fast hundertjährig durch freiwilligen Hungertod endete. Demonax war im Gegensatz zu Demetrius und seinesgleichen, aber in Übereinstimmung mit dem ihm befreundet gewesenen Epictet bemüht, die Schroffheiten, der kynischen Denkweise zu mildern und namentlich seinen Ermahnungen und Strafreden durch Witz und geistige Anmut die abstoßende Härte zu nehmen; seine ganze Philosophie trug den Charakter der Milde, Freundlichkeit und Heiterkeit. Alle Menschen betrachtete er als Angehörige. Seinen Freunden stand er mit der Tat bei, soweit es zulässig war, die Glücklichen mahnte er an die Vergänglichkeit der Glücksgüter, die durch Armut, Verbannung, Alter oder Krankheit Unglücklichen tröstete er. Er bemühte sich, hadernde Brüder zu versöhnen, zwischen Gatten und Gattinnen Frieden zu stiften, auch bei Spaltungen in Gemeinden trat er öfters als Vermittler auf, und meistens mit Erfolg. So lebte er fast hundert Jahre ohne Krankheit, ohne Kummer, ohne jemandem zur Last zu fallen oder einen anzuklagen, seinen Freunden nützlich, ohne je einen Feind zu haben, in Athen und ganz Griechenland allgemein geliebt und verehrt; wo er erschien, stand man auf, auch die höchsten Beamten, und alles wurde still. In seinem höchsten Alter ging er ungeladen zum Essen und Schlafen in das erste beste Haus, und die Einwohner betrachteten es wie eine Erscheinung eines Gottes oder eines guten Geistes. Die Brotverkäuferinnen hängten sich wetteifernd an ihn, jede, von der er ein Brot annahm, glaubte, daß er ihr Glück bringe; die Kinder brachten ihm Früchte und nannten ihn Vater. Als einst in Athen ein Streit ausgebrochen war, reichte seine bloße Erscheinung in der Versammlung hin, um die Ruhe wiederherzustellen, und als er sich davon selbst überzeugt hatte, entfernte er sich, ohne ein Wort zu sagen. Die Athener begruben ihn prachtvoll auf Kosten der Stadt und betrauerten ihn lange; den steinernen Sitz, auf dem er auszuruhen pflegte, hielt man heilig und bekränzte ihn ihm zu Ehren. Bei seinem Begräbnis fehlte niemand, am wenigsten von den Philosophen, diese trugen die Bahre zu Grabe.

Ein weniger deutliches Bild haben wir von Peregrinus, welcher später Proteus genannt wurde, da die Schilderung Lucians, aus der wir ihn allein kennen, ihn ebensosehr als Narren wie als Schurken erscheinen läßt: doch daß diese Darstellung unmöglich der Wahrheit entsprechen kann, ergibt sich nicht bloß aus dem unverdächtigen Zeugnis eines andern Zeitgenossen, sondern zum Teil aus Lucians eigenen Angaben. Wir werden schwerlich irren, wenn wir die durchweg unlautern oder schändlichen Beweggründe, die Lucian dem Peregrinus bei allen seinen Handlungen unterschiebt, auf gehässige Voraussetzungen und Erdichtungen leidenschaftlicher Gegner zurückführen, denen für die Natur eines solchen Schwärmers alles Verständnis fehlte.

Peregrinus war als Sohn eines wohlhabenden Mannes in Parium am Hellespont geboren und kam auf jahrelangen Reisen auch nach Palästina, wo er sich den Christen anschloß und eifrig (auch durch Schriftstellerei) für ihre Lehre tätig war, so daß ihm das Amt eines Vorstehers der Gemeinde übertragen wurde. Wegen seines christlichen Bekenntnisses ins Gefängnis geworfen, soll er sich zum Märtyrertum gedrängt haben, doch von dem Statthalter von Syrien als für eine auszeichnende Bestrafung zu unbedeutend freigelassen worden sein. Nach Parium zurückgekehrt, schenkte er den Rest seines in seiner Abwesenheit stark geplünderten Vermögens, das seine Verehrer sehr hoch angaben, während es nach Lucian nur noch die immerhin nicht geringe Summe von 15 Talenten (70.725 Mark) betrug, seiner Vaterstadt und begann dann sein Wanderleben von neuem. Mit den Christen zerfallen, trat er in Ägypten zum Kynismus über und übte in Rom öffentlich eine so rücksichtslose Kritik der bestehenden Ordnung, daß der Stadtpräfekt ihn von dort verwies. In Griechenland soll er dann den törichten Versuch gemacht haben, einen Aufstand gegen die Römer zu erregen. Im Jahre 167 endete er sein Leben in Olympia nach dem Schluß der Festspiele durch eine lange zuvor angekündigte Selbstverbrennung; in einer mondhellen Mitternacht stürzte er sich in Gegenwart einer Schar von Kynikern, die Geister seiner Eltern anrufend, auf einen in einer Grube errichteten Scheiterhaufen und verschwand in dieser Flammengruft.

Die Bekehrung des Peregrinus zum Christentum sowie sein Abfall und Übertritt zum Kynismus ist keineswegs unverständlich. »Gerade eine Natur wie die seinige konnte in dem unruhigen Suchen nach Wahrheit und innerer Befriedigung dem Christentum ebenso leicht zugeführt, als in der Folge, wenn Unterordnung unter den kirchlichen Glauben und die kirchliche Sitte von ihm verlangt wurde, wieder von ihm weggeführt werden.« Zwischen dem Christentum und dem Kynismus bestand aber nicht bloß in dem unbedingten Gegensatze gegen den Polytheismus die vollste Übereinstimmung, sondern die Lösung von allen irdischen Banden und die Weltverachtung der Kyniker war auch jenem, dem Christentume innewohnenden Elemente nahe verwandt, das später im Einsiedler- und Mönchsleben seinen vollen Ausdruck gefunden hat. Diese Verwandtschaft ist auch im Altertum nicht unbemerkt geblieben. Celsus hatte die Verkünder der christlichen Lehre mit Marktschreiern verglichen, weil sie sich vorzugsweise an die ungebildeten Massen wandten, und Origenes erwidert, die kynischen Volksprediger täten genau dasselbe. Julian der Abtrünnige fand zwischen »den der Welt Absagenden, wie sie die gottlosen Galiläer nennen«, und den Kynikern eine große Ähnlichkeit, nur daß die letztern nicht so gute Geschäfte machten wie die ersteren, die »auf weniges verzichtend viel oder vielmehr alles zusammenscharrten«, da ihnen die Pflicht der Mildtätigkeit einen anständigen Vorwand zum Erheben von Tributen bot. Dieser fehlte den Kynikern, und außerdem waren die Heiden auch vernünftiger als »jene Toren«. In allen übrigen Stücken waren beide Klassen einander gleich. Diese wie jene ließen sich für ihre angebliche Entsagung Ehre und Huldigung erweisen; diese wie jene ließen ihr Vaterland im Stiche, wanderten überall umher und machten sich in den Lagern lästig, die Kyniker noch frecher und zudringlicher als die Mönche. Diesen und ähnlichen Vergleichungen des Kynismus mit dem Christentum gegenüber haben es Johannes Chrysostomus und Gregor von Nazianz für nötig gehalten, aufs nachdrücklichste zu betonen, wie sehr der erstere dem letzteren nachstehe.

Daß Peregrinus die finstre, schroffe und rauhe Seite des Kynismus besonders stark hervorkehrte, geht unter anderm auch daraus hervor, daß Demonax, den er wegen seiner Heiterkeit nicht für einen Kyniker gelten lassen wollte, ihm erwidert haben soll: »Und du bist kein Mensch.« Doch spricht Gellius, der ihn nicht lange vor seinem Ende in seiner Hütte unweit Athen oft besuchte, von ihm mit großer Achtung. Er hatte von diesem »würdigen und charakterfesten Manne« manches treffliche und heilsame Wort gehört, unter anderm eine Erörterung darüber, daß der Weise nichts Unrechtes tun werde, wenn auch kein Gott und kein Mensch etwas davon erfahren könnte. Denn nicht aus Furcht vor Strafe oder Schande, sondern aus Liebe zum Guten müsse man das Schlechte unterlassen. Für diejenigen aber, denen es an dieser höhern sittlichen Kraft fehle, sei der Gedanke, daß kein Unrecht verborgen bleibe, sondern die Zeit alles am Ende ans Licht bringe, ein sehr wirksamer Beweggrund zur Vermeidung des Unrechts.

Endlich sollte seine Selbstverbrennung ein Leben, in welchem er dem Herakles, dem großen Vorbilde der Kyniker, nachgeeifert, mit dem Ende dieses Helden krönen, die Menschen Todesverachtung lehren und zugleich der Welt beweisen, daß auch ein Kyniker des viel bewunderten Entschlusses des indischen Weisen Kalanos fähig sei. Die Hinausschiebung des Selbstmords bis nach dem Schlusse der olympischen Spiele, die Wahl der Nachtzeit zu seiner Vollziehung, die Zulassung einer nur kleinen Zahl gleichgesinnter Zuschauer – alles dies spricht nicht dafür, daß Peregrinus seinen höchsten Triumph in einem theatralischen Effekt suchte. Ohne Zweifel war er ein Schwärmer, doch an dem Ernst und der Aufrichtigkeit seiner Überzeugungen zu zweifeln, haben wir keinen Grund, und außer der Schrift Lucians kein Zeugnis dafür, daß es damals oder später im Altertum geschehen ist. Athenagoras sah in Parium etwa zehn Jahre nach seinem Tode seine Statue, und Ammianus Marcellinus nennt ihn bei der Erwähnung seines Selbstmords (den auch die Chronisten verzeichnet haben) einen berühmten Philosophen.

Die kynische Schule hat bis in die letzten Zeiten des Altertums fortbestanden. Auch außer den Reden des Kaisers Julian fehlt es nicht an Zeugnissen, welche ihre Fortdauer verfolgen lassen, und ihre Anhänger sind offenbar noch im Anfange des fünften Jahrhunderts zahlreich gewesen.

Wenn es in der Natur der Sache liegt, daß wir aus der damaligen Literatur weit mehr von den Bestrebungen zur Hebung der Sittlichkeit durch die Philosophie als von deren Wirkungen erfahren, so wird sich doch aus allem Mitgeteilten ergeben haben, daß die Philosophie in der Tat der damaligen gebildeten Welt als die wahre und höchste Erzieherin der Menschheit zur Sittlichkeit galt, und selbst die Opposition gegen sie bestätigt nur die Allgemeinheit dieser Überzeugung. Daß die bisher geschilderten, umfassenden und eifrigen Bemühungen tatsächlich bedeutende Wirkungen hervorbrachten, ergibt sich schon allein daraus, daß eine so große Zahl der edelsten Männer dieses Jahrhunderts nach eignem Geständnis oder dem Berichte andrer ihre Charakterbildung der Philosophie verdankten; nicht minder aus der hohen Verehrung, die den hervorragenden Philosophen von Mitwelt und Nachwelt gezollt wurde. In einer Welt, die dem Sklaven die Menschenrechte absprach, gehörte der ehemalige Sklave Epictet zu den am allgemeinsten verehrten Persönlichkeiten, und der Beherrscher dieser Welt, Hadrian, soll sich um seine Freundschaft beworben haben. Die bedeutendsten Lehrer und Schriftsteller dieser Jahrhunderte, der Freigelassene Epictet, der Ritter Musonius Rufus, der Konsular Seneca, der Kaiser Marc Aurel, gingen aus den verschiedensten Ständen und Lebensstellungen hervor. Die Wirkung der Philosophie erstreckte sich auf alle Schichten der Gesellschaft, von den niedrigsten bis zu den höchsten. Die Philosophie, sagt Seneca, sieht nicht auf den Stammbaum: der Ritterstand, der Senat, der Kriegsdienst bleibt vielen verschlossen; die Erkenntnis steht allen offen, für diesen Zweck sind wir alle edelgeboren. Eine große Seele kann ebensowohl in einem Sklaven oder Freigelassenen wie in einem römischen Ritter wohnen.

Aber nicht bloß die Scheidewände und Schranken der Stände und Klassen durchbrach die Philosophie, sie hat auch die Ausschließlichkeit des Nationalitätsbewußtseins wenigstens sehr zu schwächen vermocht und in der teilweisen Überwindung dieses in allen Völkern des Altertums, vor allem den Römern, so stark entwickelten und mit so großer Härte geltend gemachten Gefühls sich als eine der realsten bildenden und umgestaltenden Mächte der hier geschilderten Kulturperiode erwiesen. Namentlich der Kynismus und der Stoizismus haben die in ihnen von Anfang an liegende Richtung des Weltbürgertums und der die ganze Menschheit umfassenden Bruderliebe auf dem so höchst günstigen Boden des römischen Universalreichs in einer Weise entwickelt, daß ihre Lehren über das Verhältnis des einzelnen zur Menschheit ebensosehr einen christlichen Geist atmen, wie sie den entschiedensten Bruch mit den spezifisch antiken Weltanschauungen bezeugen. Man hat diesen Entwicklungsgang der Philosophie von manchen Seiten nur durch direkte christliche Einflüsse erklären zu können geglaubt, aber auch bei Seneca bedarf es ihrer zur Erklärung dieser Erscheinung keineswegs, und der Widerwille, den Epictet und Marc Aurel gegen »die Galiläer« äußern, schließt die Annahme christlicher Einwirkungen auf beide geradezu aus. Auch haben die Christen jener Zeit ja (wie bemerkt) eine selbständige Sittlichkeit der Heiden anerkannt, welche sie teils aus deren Bekanntschaft mit den heiligen Schriften der Juden, teils aus einer Vermittlung der dem Christentum entgegenwirkenden Dämonen herzuleiten versuchten. Zu so seltsamen Erklärungen würden sie gewiß nicht gegriffen haben, wenn sie geglaubt hätten, die Tugenden der Heiden auf christliche Einflüsse zurückführen zu können. In der Tat muß eine vorurteilsfreie Betrachtung zu dem Ergebnis gelangen, daß der Stoizismus und Kynismus aus eigner Kraft sich in dieser Zeit zu einer Höhe und Reinheit der sittlichen Auffassung von Menschenrechten und Menschenpflichten erhoben haben, die im früheren Altertum nicht erreicht worden ist. Den stoischen Grundsatz von der Zusammengehörigkeit aller Menschen, die, wie Epictet es ausdrückt, alle Gott zum Vater haben, also Brüder sind, haben erst die Stoiker dieser Zeit in seiner ganzen Tragweite und bis in seine letzten Konsequenzen verfolgt. Ausdrücklich und wiederholt lehren sie die Feindesliebe, nicht bloß die ertragende Geduld und Nachsicht mit den Irrenden, sondern auch Vergebung des uns getanen Bösen und dessen Vergeltung mit Wohltaten. Doch den untrüglichsten Maßstab für den Fortschritt in der Auffassung des Verhältnisses des einzelnen gegenüber der Menschheit gibt die Vergleichung der damaligen Ansichten über die Sklaverei mit denen der älteren Philosophen. Während Plato an diesem »Krebsschaden der alten Welt« keinen Anstoß nahm, den Gedanken einer künftigen völligen Aufhebung der Sklaverei niemals faßte; während Aristoteles sogar den Beweis antrat, daß sie in der Natur begründet sei, die Sklaven als »lebendiges Eigentum« und die Barbaren als geborene Sklaven der Hellenen betrachtete, betont Seneca, daß wir die Sklaven vor allem als Menschen, als niedrigerstehende Freunde und, insofern sie mit uns unter derselben höheren Macht stehen, als Mitsklaven ansehen sollen. Daß diese Lehren in der Tat zur Verbesserung des Zustands der Sklaven wesentlich beigetragen haben, ist unbezweifelt. Die von der damaligen Philosophie geübten Wirkungen haben sich weit über ihre eigne Zeit hinaus erstreckt: wir haben aus dem 3. Jahrhundert das ebenso merkwürdige wie unverdächtige Zeugnis des Origenes, daß, während wenige noch Plato lasen, Epictet von jedermann gelesen wurde. Ein interessantes Zeugnis für das Ansehen und die Verbreitung der Lehre Epictets ist ein (etwa in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts) bei einem Apolloheiligtum in Pisidien in den Felsen gehauenes Gedicht eines ebenfalls von Sklaven stammenden, stoisch gebildeten Manns. Wahre Freiheit werde nicht durch die Geburt bewirkt, sondern nur durch den Charakter. Epictet, der göttliche Mann, war der Sohn einer Sklavin. Wenn doch jetzt zum Frommen und zur Freude der Welt ein solcher Mann von einer Sklavin geboren würde!

Eine Zeit, die aus eigener Kraft sich zu höheren und reineren sittlichen Anschauungen erhob als das ganze frühere Altertum, die nicht bloß einen Musonius, Epictet und Marc Aurel hervorbrachte, sondern in der diese Verkünder einer milden, echt menschlichen Sittenlehre auch die allgemeinste Bewunderung, ihre Lehren allgemeine Verbreitung fanden, kann nicht eine Zeit des tiefsten Sittenverfalls gewesen sein, wie sie oft so genannt worden ist. Wenn es überhaupt keinen Gradmesser für die Sittlichkeit einer auch noch so genau bekannten Periode gibt, so am allerwenigsten für diese Jahrhunderte, aus denen uns nur vereinzelte, teils auf bestimmte Gebiete beschränkte, teils gefärbte oder einseitige Berichte vorliegen. Zu den letzteren gehören die rhetorischen Deklamationen des älteren Plinius und Seneca, zu den ersteren die Darstellung der Greuel im Kaiserhause, der entsetzlichen Folgen eines schrankenlosen Despotismus, der furchtbaren Unterdrückung der Aristokratie durch das Cäsarentum bei Tacitus und den übrigen Geschichtsschreibern, der Korruption, des Schmutzes und der Sittenlosigkeit, deren Rom, wie jede Weltstadt, ein überreiches Maß in sich barg, bei den Satyrikern und Martial. Aus diesen Quellen allgemeine Schlüsse auf die Sittlichkeit des ganzen Zeitalters zu ziehen, würde selbst dann unstatthaft sein, wenn nicht selbst sie unter so viel widrigen, häßlichen und abschreckenden auch gar manche wohltuende und erhebende Eindrücke böten, Eindrücke, die an andern Quellen, wie in den Briefen des jüngeren Plinius, den Werken des Quintilian, Plutarch, Gellius, sogar entschieden überwiegen. Und wenn man von jenen rhetorischen Deklamationen über den Untergang der guten alten absieht, wird man in der Literatur schwerlich Zeugnisse dafür finden, daß die Menschen jener Zeit selbst in einer Periode des allgemeinen Sittenverfalls zu leben glaubten, wohl aber für das Gegenteil. Selbst Seneca schließt eine grelle Schilderung der herrschenden Unsittlichkeit mit der Erklärung, daß er die Schuld nicht an seiner Zeit haften lassen wolle. »Darüber haben unsere Vorfahren geklagt, klagen wir und werden unsere Nachkommen klagen, daß die Sitten in Verfall seien, die Schlechtigkeit herrsche, die Menschen immer tiefer in Sündhaftigkeit versinken, die menschlichen Zustände sich verschlimmern. In Wirklichkeit aber bleiben sie unverrückt und werden es bleiben, nur mit geringen Verschiebungen nach der einen oder der andern Seite: gleich Wassern, welche die steigende Flut weiter vorwärts trägt, die sinkende auf einem zurückliegenden Raum des Ufers festhält.« »Die Laster sind nicht den Zeiten eigentümlich, sondern den Menschen. Kein Zeitalter ist von Schuld frei gewesen.« Tacitus war überzeugt, daß nicht alles bei den Früheren besser gewesen sei, sondern daß auch seine Zeit vieles für die Späteren Nachahmungswürdige hervorgebracht habe: vielleicht finde in den Sitten wie in den Dingen überhaupt ein Kreislauf statt. Und Marc Aurel, dessen Weltanschauung ganz vorzugsweise durch die stoische Lehre vom ewigen Kreislauf der Dinge bestimmt wurde, der in der Geschichte nur ein ewiges Einerlei sah, mußte auch die menschliche Schlechtigkeit für etwas sich zu allen Zeiten Gleichbleibendes halten. »Was ist Schlechtigkeit?« fragt er. »Was du oft gesehen hast! Wovon die Häuser und die Städte jetzt voll sind, davon wird man auch die alte, mittlere und neue Geschichte erfüllt finden, und nichts ist neu.« Aber nichts als Schlechtigkeit in der Gegenwart zu sehen, davon war er weit entfernt. Nichts stimmte ihn so froh, wie die Vorzüge der Zeitgenossen sich vor Augen zu halten, und es gab für ihn keine größere Freude, als die Abbilder der Tugenden, die sich in den Charakteren der Mitlebenden offenbarten, in ihrer Gesamtheit zu überblicken.


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