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7.
Die Kohle

Ippolitos Wünsche haben sich erfüllt – das rauschende Leben hat mit starkem Pulsschlag eingesetzt. Alle Zimmer sind an Sommergäste vergeben. Ein pensionierter Handelskapitän mit Frau und zwei Töchtern ist da, ein kleiner Postbeamter mit Frau und Kind, zwei alte Damen wie Gallionsfiguren, hölzern und angestrichen – durchaus kleiner Mittelstand. Sie haben alle untereinander Bekanntschaft gemacht und versitzen einträchtig die langen Sonnentage auf Strohsesselchen vor dem Hause, am Straßenrand. Das Postauto, das viermal vorbeikommt, zweimal hin, zweimal zurück, wird nach Bekannten durchspäht, wie jedes andere Gefährt. Sind welche entdeckt, dann gehen schallende Begrüßungen hin und her: » Ciao, Beppino!« – » Ciao, Giulia! Bist du da?« – »Ich bin da! Und du, wohin?« – »Nach Farfanosa!« – » Addio, Caro!« – » Addio!« – Leben ist Bewegung. – In der Abendkühle werden Spaziergänge unternommen; die Unermüdlichsten gehen bis zu einem Kilometer weit die große Straße entlang, setzen sich in den Schatten alter Kastanien und durchspähen die vorüberkommenden Gefährte nach Bekannten: » Ciao, Beppino!« – » Ciao, Giulia!«

Das Essen ist ihnen eine ernste Angelegenheit. Zwischen ihren Gedecken stehen vielerlei Pillenschachteln und Medizinflaschen. Bei Tische hört man sie Betrachtungen darüber tauschen, daß der rohe Tomatensalat vom Abend vorher dem einen Beschwerden gemacht, dem andern davon geholfen habe, daß die Rhabarberlimonade eines gewissen kleinen Apothekers überaus angenehm zu trinken und von milder Wirkung sei.

Mimi schätzt die Gäste nicht besonders. »Sie machen viel Arbeit,« sagt sie, »und zahlen wenig. Der eine verträgt das nicht, der andere jenes; manchmal möchte ich zerspringen!« Sie tut es nicht, doch die Familie zittert davor.

Vivi bedient bei den vielen Tischen, räumt alle Zimmer auf, ist ständig unterwegs. Abends klagt sie Polidoro ihr Leid wegen der hohen Stöckel. Er ist immer hilfsbereit. Torquato ist ein wenig knurrig deswegen, denn auch er fühlt sich sehr wohl imstande, gewichtigen Rat zu erteilen. Doch niemand fragt ihn.

Camillo hat nach dem Heu auch das Korn hereingebracht und rastet nun gründlich aus: »Erst die Kirschen,« sagt er, »dann das Heu, dann das Korn – man kann zugrunde gehen vor Arbeit!« Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen; auch Ippolito hat ihre Tragweite erkannt. Er geht zwischen dem Keller jenseits der Straße und dem Hause hin und her, trägt den Gästen Wein zu und trinkt herzhaft mit. Sein Wahlspruch ist: »Ein Mann braucht Wein – eine Frau Weihwasser!« Das hat manches für sich.

Abends setze ich mich gerne zu Mimi in die Küche. Das ist die Stunde, wo sie am besten zu sprechen ist: der Kochdampf hat sich verzogen, die letzte Kohlenglut vergeht langsam auf dem Herd, Mimi sitzt still in einem Winkel, der Mutter gegenüber, und hört der Magd zu, die nebenan mit dem Spülgeschirr klappert. Eine Kerze gibt flackerndes Licht und zielt mit ihrer Flamme nach dem offenen Rauchfang, der wie eine Taucherglocke über dem Herd hängt. Alles atmet Frieden nach arbeitsreichem Tage; aber ich weiß, daß es nur eine dünne Eisdecke ist über tobenden Wassern. Wehe, wenn das Klappern nebenan in Scherbenklirren übergeht, wehe, wenn Nina, die Hündin – sie ist angehängt; in vierzehn Tagen soll die Jagd aufgehen, und Ippolito will sie dann bestimmt zur Hand haben – wehe, wenn Nina sich ungehörig aufführt, oder sonst eine Unregelmäßigkeit offenbar wird! Mimi ist müde, aber sie ist nicht erledigt. Sie lebt, oh, sie lebt! Ihre Haare haben es nicht verlernt, sich fächerig zu sträuben, ihre Zunge ist gelenkig wie nur je, ihre Stimme aber hat sehr wohl die Kraft behalten, sich über Alle und Alles zu erheben. Mimi ist äußerst tüchtig. Und diese lauernde Angst erst gibt dem Abendfrieden letzte Süße.

Agostinos Schlangengeschichten haben mich nicht ruhen lassen, und ich habe Minus Meinung darüber eingeholt. Die alte Mutter wäre wohl maßgeblicher gewesen, doch mit ihr kann ich nicht reden; ihr Dialekt steht nicht in meiner Grammatik.

Mimi hat meine Frage zunächst stumm damit beantwortet, daß sie mit Daumen und Mittelfinger den Kehlkopf umfaßte und den Zeigefinger gegen die Nasenspitze stemmte – dies, um mögliches Unheil zu beschwören. Dann aber hat sie Agostino nicht nur beigepflichtet, sondern ihn sogar der Untertreibung geziehen. Denn, ich bitte Sie, was ist denn ihr geschehen, als sie sich vor Jahren einmal einen Tag aus dieser verwünschten Küche freigemacht und einen Ausflug in die Berge gewagt hatte? Was denn, bei der Liebe Gottes? Sie sieht Heidelbeeren, bückt sich, um sie zu pflücken, da erhebt sich aus dem Gesträuch – Jungfrau im Himmel! – erhebt sich ein Kopf wie der eines Pferdes, nicht ganz so groß, natürlich, aber von der gleichen Form. Ein Pferdekopf also, mit vier Hahnenkämmen nebeneinander, jeder vier Finger hoch. Der Leib dahinter, im Gesträuch mehr zu erraten als zu sehen, nun, bei allen Heiligen, drei Meter Länge können nicht dafür gereicht haben! Schwarz in der Mitte, mit schwefelgelbem Schwanz. Und stark – stark wie ein Schenkel hier über dem Knie! – Und das Tier pfiff – ja, wie es pfiff! Wie ein Motor! Mimi ist eine Stunde fortgerannt, ohne umzublicken. Zu Hause war sie so krank, daß sie zu sterben meinte. Die alte Mutter nickt: »Ja, ja! Jedes Wort wahr!« Mich umzüngelt Grauen.

Um das Maß voll zu machen, greift hier Torquato ins Gespräch ein. Auch er ist abends ein häufiger Gast in der Küche, seit er gesehen hat, daß Vivi auch ohne ihn mit ihren Stöckeln fertig wird. Torquato also erklärte alles Bisherige für Kindereien. Der einzig wahre Schlangenschreck sei ihm allein von uns allen vertraut, und zwar aus der römischen Campagna. Dort nämlich wimmle es im Frühjahr, zur Begattungszeit, dermaßen von Schlangen, daß niemand seines Lebens sicher sei. Eine Gattung herrsche vor, genannt Rinderhirte. Und warum? »Diese Schlange,« sagt Torquato, »windet sich um den Hinterfuß der weidenden Kuh und trinkt ihr Euter leer. Die Kuh steht starr, wie behext. Will man der Schlange wehren, so wird sie wütend. Ihre Angriffsart ist sehr merkwürdig, weil sie ungiftig ist: Die Schlange stellt sich auf den Kopf und teilt mit dem ganzen Leib furchtbare Schläge aus; was ist dagegen der manganello! Die Striemen dieser Schläge vergehen nie; ich habe einen Mann gesehen – er ist voriges Jahr gestorben, der Ärmste –, den eine solche Schlange vor zwanzig Jahren über beide Schenkel geschlagen hatte. Vor zwanzig Jahren, wohlverstanden! Und bei seinem Tode hatte er die Striemen immer noch!«

»Gott behüte uns vor Ähnlichem!« sagt Mimi.

»Das möge er tun!« bekräftigte die Mutter.

»Heilige Mutter Gottes, bitte für uns!« leiert Teresa, die über der Schauergeschichte, von leckerem Grauen gekitzelt, ihr Geschirr im Stiche gelassen hat und in die Küche gekommen ist. Sie hat für den Anruf gleich andere Verwendung, denn Mimi erhebt sich, schön und furchtbar wie eine Löwin, und scheucht sie zum Spültisch zurück.

Torquato und ich entfernen uns mit kurzem Gruß und setzen uns ins Schenkzimmer, wo Polidoro mit den Brüdern eben eine Kartenpartie beendet hat. Camillo hat gewonnen und tut, als hätte er den Trumpfkönig, der ihm den letzten Stich eingetragen hat, selbst erzeugt und großgezogen. Ippolito ist genau auf seinem Geld und trinkt auf die eigene Tüchtigkeit. Polidoro zählt dreißig Soldi klingend hin – mögen nur alle sehen, wie ritterlich er zu verlieren versteht. Hier, bitte – kein Wort mehr davon!

»Morgen kommt die erste Kohle!« sagt Ippolito, zu mir gewandt, und trinkt.

»Vorbei die schöne Zeit!« meint Torquato trübe. »Morgen heißt es arbeiten!« Auch Polidoro nickt etwas bekümmert; doch Ippolito bleibt mannhaft: »Was wollt Ihr? Wir sind geboren, um zu leiden!« Und er trinkt. – Was mögen die Maultiere fühlen?

Am nächsten Morgen, bei Sonnenaufgang, rattern zwei Lastautos, mit je zwei Mann besetzt, den Berg herauf, wenden und fahren an der Laderampe vor. Sie werden nun für Monate hier oben bleiben und die Weiterbeförderung der Kohle nach der Bahnstation unten an der Küste besorgen. Fahrer und Begleiter sind Toskaner. Die Begleiter kommen nicht in Betracht, es sind grüne Bürschelchen, Mechanikerlehrlinge. Aber die Fahrer? Polidoro und Torquato gehen steif in gestrafften Gelenken, machen die Schultern breit, wölben die Brust und lassen furchtbare Fäuste baumeln: Hier scherzt man nicht! Doch ist der eine Fahrer ein älterer Mann, ein Familienvater, und offenbar ohne jede Anteilnahme für Mädchenstöckel. Der andere allerdings gibt zu denken, ein Windhund mit langbewimperten, dunkel umschatteten Augen. Während er, kaum angekommen, den Motor abstellt und kurz überprüft, fängt er mit schmelzendem Tenor zu singen an. Dies wird zu beachten sein! Polidoro kraust die Stirne. Er weiß aus trüber Erfahrung, daß bei Mädchen der stärkste Bizeps nichts vermag gegen die Zaubergewalt des Tenors. Gemach, gemach! Eine richtige Ohrfeige zur rechten Zeit hat schon manchem das Singen verleidet. Man wird sehen, wie diese Sache geht!

Alle nehmen in Eile das Frühstück. Dann setzen wir uns auf die niedere Randmauer an der Straße und sehen den Hang hinauf, den die Maultiere herabkommen müssen. Camillo ist über die Arbeitseinteilung genau unterrichtet: die Köhler müssen den Treibern beim Füllen der Säcke und beim Beladen der Tiere helfen. Die Mulis müssen auf beiden Seiten zugleich beladen werden. Den weiten Weg machen die Tiere in langer Reihe hintereinander, doch alle frei und ungeführt. Hier unten helfen Torquato und Polidoro beim Abladen. Beim Beladen des Lastautos greifen die Begleiter mit an. Die Fahrer sind nur für den Motor und das Fahren verantwortlich. Das Umladen in die Bahnwagen unten besorgen wieder andere.

»Großartig eingerichtet!« lobt Camillo. »Jeder hat seinen Platz, jeder seine Arbeit! Ah, hier bei uns wird gearbeitet, mein lieber Herr, darüber ist nichts zu sagen!«

Daß er selbst sich nicht wehe tut, kommt dem Wackeren nicht zum Bewußtsein. Er ist ein reicher Erbe, ein halber Signore, tut, was unerläßlich ist, und freut sich im übrigen seines Lebens. Die Arbeiter um ihn her nehmen es ihm nicht krumm. Er hat das Ziel erreicht, dem sie alle zustreben: wenig oder nichts mehr tun zu brauchen. Man arbeitet, um zu leben. Ist das Leben gesichert, so hört die Arbeit sehr selbstverständlich auf.

Hinter dem Hause verröchelt eine alte Henne unter Antonios Faust. Bald wird sie, zerstückelt in roter Tunke schwimmend, den hungrigen Treibern als Willkommgericht aufgetragen werden. Mimi rennt über die Straße in den Vorratskeller und kehrt zurück, mit einem Riesenballen Spaghetti beladen. Sie hat keinen Blick, kein Wort für uns. Niemand wagt sie anzureden. Nun wird es Ernst.

Ippolito hat stillschweigend einen Überschlag gemacht, erhebt sich und holt einige Fiaschi aus dem Keller, um sie im Schenkzimmer bereit zu haben. Auch Torquato und Polidoro leidet es nicht mehr auf der Mauerbank. Sie gehen mit kurzen Schritten auf und ab, springen auf die Laderampe hinauf und wieder herunter, sind feurige Erwartung.

Ich überdenke den Bergweg, den unvergeßlich vertrauten, den die beladenen Tiere nun schon entlanggehen. Sind sie durch die Steinwüste, vielleicht auch durch die Buchen durch? Sind sie in der Heide, im Farnkraut, in der Kiefernschonung? Wie mag sich in ihren Köpfen die lange Strecke einprägen? Weite und Sonne werden auch sie empfinden – doch wie anders als ich! Weit, weit der Weg unter den suchenden, schwerbeschuhten Hufen. Hart, hart die Sonne auf dem gequälten Rücken. Hier die schräge Felsplatte, die es auf durchgebogener Hinterhand, halb rutschend, hinunterklettern heißt. Dort die schmale Rinne, in der die Füße bis zum Knie stehen. Langsam, langsam – ein Fehltritt, und die schwere Last kippt nach links oder rechts, die Beine knicken ab wie Holz. Jetzt die Gleichstrecke, wo sich ein wenig grasen ließe – es wächst nur Erika, Ginster, Wacholder dort; gut, gut – nur etwas zwischen den Zähnen haben! An den steilen Stellen stand fettes Gras, unerreichbar. Weit, weit der Weg, hart, hart die Sonne! –

Camillo fährt auf, weist mit dem Finger, horcht. Jetzt wieder: ein schwacher Peitschenknall, ein Ruf: »Üüih!« Sie kommen!

Wir alle starren nach dem Kamm. Seine scharfe Kante trübt sich an einer Stelle, wird flackerig. Dann wächst dunkle Ungestalt aus dem lichten Grün, hebt sich, gewinnt Form:

Klar gegen den Sonnenhimmel steht ein schwarzer Mulo, zwei mannshohe Säcke an die Seiten geschnürt, und sieht zu uns herunter. Sonne umloht ihn, verklärt sein stolzes Leid: »Ich bin der Dienende, der immer Lastbereite!«

Wieder ertönt Peitschenknall und Ruf, lauter schon; der Mulo steigt langsam weiter bergab, hinter ihm taucht der Treiber auf und die Kette der anderen Tiere. Wie sie die erste Querstrecke entlangziehen, legt sich ihre Reihe wie ein Dornenkranz um die Stirn des Berges. Felsen, Gestrüpp und dünnes Gras, gekrönt von einer Schnur aus Last und Leid.

Nun sind die ersten an der Steile, die zur Laderampe führt. Die langen Stollen greifen in dem Grasboden tief ein, müssen vorsichtig gelöst werden. Bei jedem Schritt biegen sich die Sprunggelenke federnd durch. Torquato und Polidoro nehmen ein Tier beim Kopf und führen es zu dem äußersten Rand der Rampe. Sein Kopf steht frei hinaus. Die Männer stemmen jeder ein Knie unter die schräghängenden Säcke; ein Ruck an den Laufknoten, die Umschnürung löst sich, die Säcke gleiten zu Boden und stehen. Das Tier tritt vorsichtig zurück, zieht den Kopf zwischen den Säcken durch, wendet sich und geht beiseite. Der Treiber führt das nächste heran – die andern haben schon begriffen, um was es geht. Sie warten ohne Ungeduld, bis der Platz zwischen den Männern an der Rampe frei ist, treten vor, lassen sich befreien, treten zurück und weg. Wie oft sind sie beladen und entlastet worden, hier an dieser Rampe oder sonstwo – mit Kohle, Steinen oder Brettern, mit Eisen- oder Zementrohren, mit Tischen, Stühlen, Kommoden oder Kisten! Irgendwo wird die Last aufgeladen, irgendwo abgenommen; dazwischen liegen steinige Wege, bergauf, bergab; Nächte auf freier Weide, wo bald der Hunger den Schlaf verscheucht, bald der Schlaf den Hunger; Tage in bitterer Fron. Bis einmal bei einem bösen Sturz das Rückgrat bricht, oder ein Bein, und der Gnadenstoß allem ein Ende setzt.

Die Menschen sind aufgeregter als die Tiere, arbeiten einander nicht gleich selbstverständlich in die Hand. Bedeutende Flüche stinken zum Himmel, alle nach einem Rezept gebraut: Gott und die Madonna werden in Verbindung mit unehrlichen Berufen oder mit Tiernamen genannt: Henker, Schinder, Dirne, Kuh, Stier, Hund, Schlange, Viper, Natter.

Hier nun ließen sich tiefschürfende Betrachtungen anknüpfen, eine Preisfrage aufwerfen, als Doktorarbeit für Religionsphilosophen: ob überhaupt eine, und welche Religion außer der christlichen den Fluch mit Vorliebe gegen die eigenen Gottheiten kehrt? Bei den Menschenfressern aller Länder kommt es vor, daß irgendein Götze, der Regengott zum Beispiel, sich nicht bewährt und abgesetzt wird. Sein Bild, aus Holz oder Stein, wandert auf den Müllhaufen, und der Dorfkünstler erhält den Auftrag, einen tüchtigeren Gott anzufertigen, der dann aber, einmal eingesetzt, unbedingte Achtung genießt; solange er sich nichts zuschulden kommen läßt; sonst geht es ihm wie seinem Vorgänger. – Ein sauberes Verfahren, kurz und schlicht. Hand aufs Herz, ihr Freunde: wer von uns hätte noch keinen Götzen abgesetzt und einen neuen an seiner Statt erhoben? Gruß euch, abgetane Götzen, Säulen der Lebenserfahrung! Menschenfresser aller Länder, vereinigt euch!

Kein Mohammedaner wiederum würde, in noch so rasender Verzweiflung, Allah und den Propheten anzutasten wagen. Seine Wut und sein Haß werden sich stets in bösen Vermutungen über die Abstammung des Widersachers Luft machen und in giftigen Wünschen für das jenseitige Befinden der fraglichen Eltern: »Bruder von sechzig Hunden, dein Vater hat mit einer Henne geschlafen, mögen die Hunde vom Marktplatz Schweine über sein Grab hetzen!« So bekennt sich ein ganzer Mann zu Zorn und Verachtung. – Wütet er gegen sich selbst, so wird er seine Augen verfluchen, seine Ohren, seine Zunge, seine ganze Leiblichkeit – nie seinen Gott!

Dies und noch manches treffliche Wort wäre darüber zu sagen; doch lassen wir die Religionsphilosophie und alle Versuche, Schlüsse aus dem Negativen zu ziehen.

Die italienische Regierung wünscht den Fluch nicht; die Magistrate vieler Städte haben ihn, mit Beschluß und ohne Erfolg, verboten; in den Zügen, Straßenbahnen, Amtsräumen und Wirtschaften; auf Anschlagtafeln und den Wachszünderschachteln selbst wiederholen sich, in edler und abwechslungsreicher Form, die Mahnungen, das Fluchen und gemeine Reden zu unterlassen und zu bekämpfen. Armer Glaube! Die wilde, ketzerische Prometheusgebärde wurde mit allen Martern verfolgt und doch nicht besiegt: Eppur' si muove! – Gegen die gleichgültige, gedankenlose Lästerung, langweilig wie jede stehende Redensart, helfen keine papierenen Drohungen.

Mimi trifft, wie stets, den Nagel auf den Kopf. Sie ist einen Augenblick vors Haus gekommen, um sich den ersten Betriebstag anzusehen. Als eben wieder Gott und die Madonna bitterlich herhalten müssen – ein Treiber hat, auf der einen Seite, den Laufknoten zu früh gelöst und Torquato auf der andern die Finger zwischen die Stricke geklemmt – da meint sie geringschätzig: »Welchen Wert soll es haben, eine Person zu beschimpfen, die man gar nicht kennt?« Äußerst fein bemerkt, Mimi! Der alte Herr im Rauschebart und Sternenmantel zieht nicht mehr; und den großen Allmächtigen über ihm kennen sie nicht. Sie streiten über Kriegsschuldfrage und Fernfunk zum Mars, beten die Uhr an und verleugnen den Uhrmacher: Weil ihnen jedes Postfräulein um wenige Silberlinge ein paar Stromwellen durch allzu geduldige Drähte rund um die Erde jagt, fühlen sie sich als Herren des Weltalls. Der Raum hat kein Geheimnis mehr – morgen oder an einem andern Tage wird man alles ausrechnen. –

Die Mulis beachten die Flüche kaum; so gehört es zum Gewerbe: schwere Lasten, rauhe Hände, grobe Stimmen. Solange Gott und die Madonna schmetternd geschmäht werden, mit geheimer Freude an der schönen Stimmleistung, geht alles gut. Gefährlicher ist das erstickte Murmeln oder Zischen – dann könnte hinterrücks ein Fußtritt in die Flanken oder ein Steinwurf zu befürchten sein. Schlimm genug das – doch man stirbt nicht gleich daran. Und wenn auch: oben in den Bergen, unter wenig Erde und vielen Steinen, liegen manche Gefährten. Die jagt kein Fußtritt mehr auf. Die haben Ruhe.

Sie stehen im Baumschatten längs des ersten Aufstiegs, alle unter den schweren Packsätteln, lassen die Köpfe hängen und schlagen langsam und gleichmäßig mit den Schwänzen. Nun heißt es warten – Stunden vielleicht, einen halben Tag, eine ganze Nacht – warten …

Die Treiber sitzen beim Frühmahl, stopfen sich mit Spaghetti voll, spülen mit Wein nach, lärmen und wettern: dies Jahr sind die Meiler allzu weit weg, drei Stunden hin, vier Stunden zurück, elender Weg, man kann nicht mehr als eine Reise im Tag machen, der Padrone wird mehr zahlen müssen, ah, aber richtig! Man lebt nicht von der Luft.

Ippolito sitzt dabei, trinkt mit und gibt bedächtig recht: gewiß, gewiß, jede Arbeit braucht ihren Lohn – der Padrone hat viele Millionen, ihm tut es nicht weh … Dann nimmt er mich beiseite und zischelt mit Verschwörerblicken auf mich ein: »Wissen Sie, was ein Mensch werden muß, der wenig arbeiten und gut leben will? – Maultiertreiber! Sehen Sie sie an – das frißt und säuft, dann setzt sich jeder auf einen Mulo, läßt sich hinauftragen, oben muß der Köhler beim Ausladen helfen, hier Torquato und Polidoro beim Abladen, die Mulis kosten keinen Centesimo, denn die Weide zahlt der Padrone – ha? Ich sage Ihnen: die Burschen verzinsen ihr Betriebskapital mit hundert Prozent, vielleicht mit noch mehr – was bin ich dagegen, mit meinem großen Haus und dem vielen Grund? Die Steuer sitzt mir im Genick, die Taglöhner rauben mich aus, heute deckt mir ein Sturm das Dach ab, morgen brennt vielleicht die ganze Baracke nieder – dann sitze ich da und kann mir den Bauch kratzen! Diese Leute aber ziehen im Lande herum, lassen sich's gut gehen, zahlen keine Steuern und fluchen noch! Verrückte Welt!«

Die Töne sind mir vertraut, Ippolito: Die Vielen haben recht, weil die Wenigen scheinbar ausgestorben sind. Schlag dich zu den Vielen, Ippolito! Während du die verrückte Welt beklagst, finden die Treiber dort Kraft und Lust zu Liebesliedern:

Sul ponte di Bassano
Noi ci darem' la mano.
Noi ci darem' la mano
Ed un bacin', ed un bacin' d' amor
Bacin' d' amor!

Dabei denken sie weder an ihren Padrone, noch an dich, ihren Wirt. Euch werden sie keine Küsse geben. –

Als die Sonne hoch im Mittag steht, besteigen sie ihre Tiere und reiten, immer noch singend, bergauf. Die Tenöre fangen an, die Bässe antworten, dann ziehen sie den Endvers vierstimmig lang aus. Das Schüttern der Sättel, unter denen die Mulis klettern, verstärkt das weiche Tremolo. Wenn die Sänger Atem schöpfen, hört man – klapp, klapp – die vielen Hufe auf den Steinweg klopfen, wie im Takt. Wieder hebt sich die lange Kette frei vom Kamm, entschwindet ins Blaue. Das Lied verweht.

Von der Rampe weg rasseln unterdem die hochgetürmten Autos zu Tal. Ihr häßliches Tuten vermählt sich mit dem Hufschlag und der alten Melodie. –

Die italienischen Kleinbürger haben, auf ihren Strohsesselchen vor dem Hause sitzend, alles mit angesehen und zwischendurch manche Frage zu Torquato und Polidoro hinübergerufen, über die Förderungskosten und den voraussichtlichen Kohlenpreis im Winter. Polidoro, der Neffe des Unternehmers übrigens, der hier nach gut italienischer Art sein künftiges Gewerbe von der Pike auf erlernt, Polidoro also sieht die Zukunft dunkel: die Kohle wird wohl das Doppelte kosten wie im Vorjahre! Entsetzen unter der Bürgerschaft – das Doppelte, bei der Liebe Gottes! – Polidoro bedauert, keine bessere Auskunft geben zu können, doch er sehe die Marktlage eben so an. Torquato knurrt, schüttelt den grauen Kopf, spart nicht mit Gebärden, die geheimes, unaussprechliches Wissen andeuten sollen: er kennt die Gründe für das Fallen der Lira und das Steigen der Preise und wartet nur auf das Signal, um bei ihrer Behebung mitwirken zu können. Der manganello, das große Netz und die »Amerikaner« spielen eine nicht unerhebliche Rolle in seinen Plänen – doch darüber ist in breiter Öffentlichkeit besser nicht zu reden.

Die Preisdebatte zugleich mit den schönen Kraftleistungen, die man, Polidoro zumal, mit schweren Kohlensäcken vollbringen sah, haben jedenfalls eine Brücke von der Laderampe zum Mittelstand geschlagen. Als sich abends nach Tisch der Postbeamte an das Drehklavier setzt, um ein wenig Lärm zu machen, erscheinen Polidoro und Torquato im Saal, beide frischgewaschen und rasiert, Polidoro im leichten Stadtanzug, Torquato aber im hochgeschlossenen Schwarzhemd, das ihm prall um den bärenstarken Brustkasten sitzt, ohne Rock und Weste, doch mit dem kleinen Emailschild seiner Kriegsauszeichnungen am Kragen.

Die Töchter des alten Kapitäns, bleiche Zimmerpflanzen, sind eben dabei, miteinander ein blutleeres Tänzchen zu wagen. Ihre weltfremden, runden Blicke stimmen schlecht zu den Bewegungen der Hüften und Beine; doch weder ihnen selbst, noch den zuschauenden Alten scheint der Widerspruch bewußt zu werden.

Polidoro und Torquato knüpfen stehend eine Unterhaltung mit den Gästen an, höflich gemessen. Polidoro hat die Flötenstimme des ewigen Werbers eingehängt, Torquato den eindringlichen Baß des gereiften Mannes. Vivi ist in die Eingangstüre getreten und sieht mit brennenden Augen herüber. Arme Vivi, ich ahne eine Enttäuschung für dich! Ich lese es dir an den Augen ab, daß du bittere Vergleiche anstellst zwischen deiner reifen Fülle und der unbeseelten Dürre der Kleinbürgerstöchter. Arme Vivi, kennst du das Männchen so schlecht? Weißt du wirklich nicht, daß noch die dürrste Unerreichbarkeit mehr Reiz haben kann als ein überschrittenes Ziel?

Der Postbeamte hat die Walze gewechselt und dreht emsig ein neues Stück ab. Man sieht es ihm an, er hat sich in die Aufgabe verbissen: dies hier muß alles aufgearbeitet werden! Vor dem Schlafengehen wird er dann vor sich selbst, vielleicht auch vor der liebenden Gattin oder sonstwem beseligt feststellen: »Heute habe ich eine volle Stunde Musik gemacht!« Wie ich euch kenne, ihr Stundenfüller, wahre Internationale der Geistlosigkeit! Ob ihr in einer Stunde fünf Maß Bier getrunken, acht Runden Tarock gedroschen, einen Spaziergang abgetrappt oder ein Musikwerk gedreht habt – alles ist euch recht, um es als Dezimalpunkt vor eure Nullenhaftigkeit zu setzen: »Ich bin nicht Hundert, ich bin nicht Zehn – ich bin aber auch nicht Null schlechthin: Ich bin Null Komma Null!« Leire weiter, Leierer!

Beim Beginn des neuen Stückes funkt Vivi von der Türe her, daß ihr fast die Augen aus dem Kopf springen wollen. Dies ist ja der Tango, den sie tagsüber und auch abends noch so falsch wie gerne pfeift und trällert. Kann Polidoro kalt bleiben vor so viel Glut? Ach ja, es scheint, er kann es! Da verbeugt er sich schon vor der Kapitänstochter – sie folgt zögernd, nach einem gewährenden Blick der Mutter, gibt sich mit runden, leeren Augen in die Mannesarme und zeigt ahnungslos der Umwelt, wie sie sich bei der Paarung zu verhalten gedenkt. Gott mit dir, du Bürgermädchen – du wirst einmal dem Eros bestenfalls ein Räucherkerzchen zu verbrennen haben, keinen lodernden Scheiterhaufen! Polidoro führt sie zart und schonungsvoll. Er hat den Kopf tief in den Nacken gelegt, die Augen halb geschlossen, weiß nichts mehr von sündiger Umarmung.

Vivi ist katzenwütig davongesprungen und nach einem Augenblick mit Teresa, der Magd, zurückgekehrt. Mit der tanzt sie nun, hemmungslos hingegeben. Teresa hat Antonios gute Schule nicht vergessen und versäumt keine Gelegenheit, das Bein hochzuheben. Vivi sieht es nicht gern, daß das Werkzeug ihrer Rache selbständige Regungen zeigt. Schließlich ahmt sie die kleine Finesse nach, um jeden Argwohn zu zerstören, als könnte sie unfähig dazu sein. So stehen die beiden nach wenigen Wiegeschritten immer wieder still auf einem Bein, das andere im Knie abgebogen, wie schlechtgegossene Stuckengel.

Polidoro hat keinen Blick für das Unterfangen. Er schwelgt in Keuschheit. Torquato hat sich zu mir in einen Winkel gesetzt, schüttelt den Kopf, macht »Zt! Zt!« durch die Zähne und ist mit der Sachlage wenig einverstanden. »Vivi ist erledigt!« sagt er. »Hier bei uns heiratet ein Mädchen nie mehr, das einmal von sich reden gemacht hat! Sehen Sie nur, wie sie das Bein hebt, wie sie die Hüften schwenkt, wie sie Blicke auf Polidoro schießt! Der Gipfel der Ungehörigkeit! Und ich wüßte noch andres – aber, nun, schweigen wir davon!«

Der Tanz ist aus, der Postbeamte wechselt die Walze. Vivi wartet kein neues Stück mehr ab; sie läuft mit rotem Kopf davon: Polidoro hat seine Tänzerin an ihren Platz geleitet und die Ehre des nächsten Tanzes von der Schwester erbeten. Torquato schraubt sich zur Türe hinaus. Arme Vivi! Besser ein gutes Unglück als ein schlechter Trost!

Was will ich hier? Habe ich Weite gesucht, um mich nun doch wieder an wackeligen Stallpfosten zu scheuern? Dies Land hat für soviel Großes Platz, warum nicht auch für die Allerweltskleinlichkeit? Mögen sie hier unten aufeinanderkleben wie die Fliegen – dort oben sind freie Berge, dort laufen Tiere auf weiter Weide, dort brennen Meiler, dort lebt das Märchen bei offenem Feuer in Rasenhütten. Bin ich immer noch nicht schlackenlos geglüht für die reine Höhe? Dort, wo mein großes, liebendes Ja steht, werde ich nicht mehr alleine sein, keine Beute mehr für Augenblicksbitternisse und Minutenhaß. Dort wird mein vielgewundenes Steiglein wieder in deinen geraden Bergweg münden, süße Freundin, von dem es sich eigenwillig abgezweigt hat.

Wenige Schritte vom Hause hält mich schon der Sternenglanz der mondlosen Nacht. Wie ich bergan steige, schwimmt unter mir der große Bau weg, ins Nichts. Ein paar abgerissene Klänge, Stimmen – jetzt schluckt der Berg auch die. Die Fenster sind verdeckt, nur die Schieferplatten des Daches spiegeln noch im Sternenlicht.

Der Atem der Berge weht mir ins Gesicht: Schafgarbe, Quendel, Pfefferminz; Grillen zirpen, und weit weg, aus den Kiefern, ruft ein Käuzchen. Die Nacht wallt wie ein schwerer Vorhang vor mir nieder. Doch ich weiß, er wird sich auftun für ein sanftes Spiel.


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