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2.
Auf der Suche

Die Karte habe ich bis Spezia genommen. Dort bin ich einmal durchgefahren, vor … o Gott, sind das schon zweiundzwanzig Jahre? Und wie gereift und weltweise kam ich mir damals vor! Demnach wäre ich heute ein Greis? … einmal durchgefahren und habe weit in den Bergen drin, auf steilen Kuppen, zwei Städtchen liegen sehen. Die will ich nun besuchen. Damals schien es mir nicht der Mühe wert. Oder nein, seien wir nicht ungerecht! Ich wußte wohl, daß dort mein Glück wohnen könnte. Aber das Leben war so reich, das Glück so vielgestaltig, daß es mir unnütz schien, ihm nachzulaufen. Es würde sich mir anderswo und immer wieder in den Weg stellen. Das Glück. Heute tappe ich auf den Fährten meiner Jugend …

Wie oft, wie oft auf weiten Fahrten habe ich vom Schiff aus eine grüne Insel gesehen, vom Zug aus ein Haus unter Bäumen, auf einem Hügel oder in einem stillen Wiesengrund, habe die Sehnsucht gespürt wie einen elektrischen Schlag und ihr nicht nachgegeben! Hätte ich es doch getan! Wäre ich doch vom Schiff ins Meer gesprungen und an die Küste geschwommen, hätte ich doch den Zug angehalten und das Haus meines Glücks gesucht! Vielleicht wäre die Insel fieberverseucht gewesen, oder von Schlangen und Skorpionen bevölkert; und das Haus in der Wiese ein muffiger Kasten mit nassen Mauern, das auf dem Hügel eine halbe Ruine in einer Steinwüste! Dann brauchte ich heute nicht zu trauern, daß ich immer, immer am Glück vorbeigezogen bin …

Blase Trübsal, mein Herz, und laß mich sehen, ob nicht von dem Schalle, denen von Jericho gleich, die Mauern niederstürzen werden, die mir den Blick verstellen wollen! Willst du in Tränen schwimmen, wie eine Gurke im Salzwasser? Noch ist der Himmel hoch und die Welt weit! Es ist wahr, mir fehlen zehn Jahre – als mir eben die Augen aufgehen wollten, kam der Krieg und das Nachher … zehn Jahre! Werden die nie wieder zu finden sein? Laß uns suchen, mein Herz!

Wir halten an einem kleinen Bahnhof. Aus der Tür der Wirtschaft näselt ein Grammophon: » Io cerco una Titina, la cerco e non la trovo …«

So scherzt ein Teufel! Aber nicht mit mir! Ich nehme es als Omen! Laß uns im Onestep die Suche betreiben, mein Herz! Und ist der zweite Schritt verhallt, der einst neben mir klang – auch der rüstige Einschritt bringt voran!

Das Wetter will seinen Frieden mit mir machen: draußen begibt sich ein strahlender Sonnenuntergang. Sooft der Zug aus der kühlen Kellerluft eines Tunnels hervorsaust und eine offene Strecke überquert, sehe ich blaue Wogen und weißen Gischt an übergoldeten Felsen. Alles drängt zu den Fenstern an der Seeseite – für die Berge auf der anderen Seite hat kaum einer einen Blick. Ich aber höre wieder einmal die Stimme der alten Sehnsucht in mir, die mir sagt, daß nur die Berge mich heilen werden, nie das Meer. Ich lächle grimmig über meine Unbelehrbarkeit: die Berge! Bin ich nicht eben erst den Bergen entflohen, den Bergen der Heimat, habe das Meer gesucht, die Wiege aller Dinge, um meine Sehnsucht und mein Leid hineinzubetten? Du nörgelst, Knabe – fürchte meine Faust!

Die Wiege aller Dinge. – Hier nun werden solche geschaukelt, mit denen ich nichts gemein haben will: da wird das Meer in bekömmlichen Dosen, mit Palmen garniert, wie Aufschnitt, als Diätspeise aufgetischt. Nervi, St. Margherita, Rapallo. Es wird behauptet, daß die erheblichen Eingänge aus der Kurtaxe zum Ankauf von Anilinblau verwendet werden, mit dem das Meer, und von künstlicher Patina, mit der die Häuser und Dächer aufgefärbt werden. Darf ich es glauben? Ich muß, ich muß! Da die Großstädte der ganzen Welt nun einheitlich vertrustet sind, kommen auch die Kurorte an die Reihe. Die Perlen der Riviera, der Adria, des Tyrrhenischen, des Ägäischen oder sonst eines Meeres, der zahllosen Seen und unterschiedlichen Alpen – sie alle hängen an der seidenen Schnur, mit der der Fortschritt die Natur erdrosselt. Wo habe ich nicht überall die Werbeplakate für solche Perlen gefunden, die das Blau überblauen, das Grün übergrünen, kurz, alle Farben überfärben, und in denen sich regelmäßig ein Riesenhotel, wie die falsche Lösung eines Preisausschreibens von Ankers Steinbaukasten, in eine wohlgeordnete Landschaft schmiegt! Kurorte schmiegen sich immer irgendwo an, nebenbei bemerkt; nur ihre Preise sind unbeugsam. Da wird den Kranken versprochen, daß sie unweigerlich gesund, den Gesunden, daß sie noch gesünder werden; auch die Toten dürfen auf erstklassigen Abtransport in verlöteten Blechsärgen rechnen, oder auf Bestattung in stimmungsvollen Friedhöfen, je nach Wunsch und Zahlkraft, sowie auf vorherige Tröstungen der jeweiligen Religion und nachherige Totenmesse, unauffällig (ich bitte Sie: das Geschäft!) aber wirksam. Bäder, Friseur, Tennisplätze, Golflinks im Hause.

Ich kenne euch, ihr Sirenen, die ihr mit Himmelsklängen und verheißenden Gebärden den Wanderer an euren Strand lockt, um ihn dann unverweilt zu verschlingen! Traurig genug, daß gerade ihr weiterlebt, wo alle Götter gestorben sind! Doch mich lockt ihr vergebens – ich brauche mich nicht einmal, wie Odysseus selig, festbinden zu lassen! Der gute Odysseus! Auch sein Geist lebt fort, er ist mir oft genug begegnet, und ginge es nach mir, so mußte in jedem bürgerlichen Ehegemach sein Bild hängen, wie er gefesselt den Sirenen lauscht, mit der Unterschrift: »Führet mich in Versuchung, aber haltet mich fest, damit ich nicht hineinfalle!« O zeitloser Homer, Göttlicher!

Die Berge grüßen immer noch, im Abendschein. Über Kastanien und Olivenwäldern steigen die Wiesenhänge, steigen Felshalden empor, licht und frei. Was soll mir das Meer? Und die Ziellosigkeit meiner Fahrt drückt schwer: immer vorbei, immer?

Wir fahren in eine Station ein, deren Name mir völlig fremd ist. Ich kann mich nicht erinnern, ihn auf Plakaten oder in Zeitungsanzeigen gelesen zu haben. Sollte es doch noch ein Fleckchen an dieser Küste geben, wo der Fremdenfang nicht als alleiniges Gewerbe ausgeübt wird? Vielleicht überhaupt nicht?

Von jäher Hoffnung erfüllt, reiße ich mein Gepäck an mich und springe auf den Bahnsteig. Ein Träger mit kupfernem Nummernschild erschreckt mich: das schmeckt nach Fremdenverkehr! Doch da fährt mein Zug schon, und ich tröste mich, weil die Nummer eins ist. Vielleicht habe ich es nur mit einem Auswuchs der Selbstgefälligkeit zu tun, und es gibt gar keinen andren?

»Ich unterbreche,« sage ich zu dem Faschisten an der Sperre, der die Karte nach Spezia mustert. Bin ich nicht frei? Nichts und niemand erwartet mich, oder wenn doch, dann nicht mit Freude. Keine Angst, ich komme nicht wieder! – Das Gepäck lasse ich am Bahnhof und trete in das sinkende Dunkel hinaus, in völlige Fremde. Das ist meine Stunde: alles macht Feierabend, freut sich der Ruhe, ist zu Hause – da gehören ich und meinesgleichen auf die Straßen. Das grüßt und lacht und plappert – kein Gruß, kein Scherz gilt mir. Habe ich Hunger, möchte ich schlafen? Irgendwo wird man mir zu essen, wird man mir ein Bett geben, alles für Geld, mir wie jedem andern. Zucke nicht, du dummes Herz: »Wem nie von Liebe Leides kam, dem kam auch nie von Liebe Lust!«

Die Stadt – nun, die Stadt werde ich nicht nennen. Sie befindet sich in fieberhaftem Aufschwung, und ich finde es ungezogen, Städte, die doch weiblich sind, bei dieser Verrichtung zu belauschen oder die Aufmerksamkeit auf sie hinzulenken.

Niemals habe ich den Geschmack von Großmüttern begriffen, die sich ein Löwengebiß zwischen die morschen Kiefer klemmen, einen Lockenwust auf den kahlen Schädel, die sich die Runzeln mit Puder und Schminke überkleistern und sich in Stilkleider zwängen – anstatt in Seidentaft und Spitzenhäubchen ehrwürdig dazusitzen, den Enkeln eine Erbauung. Doch ach, die Großmütter sind selten geworden; ihre Märchen erzählt nun der Rundfunk, und da die Erfindung des Fernriechers vor der Türe steht, wird bald auch der Duft gebratener Äpfel die schnarrenden Klänge des Lautsprechers begleiten.

Und Städtegroßmütter haben es natürlich noch härter. Wenn sie ihr Alter unterstreichen, machen sie es schwerlich recht. Ich denke an Rothenburg, wo die Einwohner, um das Stadtbild zu beleben, mittelalterlich lächelnd ihre Holzköpfe zu den Fenstern herausstecken – nur die Köpfe, um nicht zu verraten, daß sie unterwärts in Nürnberger Konfektionsware gekleidet sind – und wo ein eigener Stromunterbrecher in den Glühbirnen hinter den Butzenscheiben das Blaken der alten Ölfunzeln vortäuschen hilft …

Andrerseits: kann und darf der Siegeszug der Wasserspülung, dieses Wahrzeichen unserer Gesittung, vor noch so historischem Gemäuer haltmachen? Hier liegt ein Problem! – Ich werde es heute nicht mehr lösen. Ich streiche durch die uralten Laubgänge, an Läden vorbei, die meist noch offen sind. Ich könnte zu dieser späten Abendstunde noch kanadischen Büchsenlachs kaufen, Salz, Tabak, Briefmarken, auch einen Hut, ein Hemd, ein Paar Schuhe. Die Tür eines Barbiers haucht mich mit Wohlgerüchen an. Ich brauche nichts – doch das bloße Bewußtsein, alles unter der Hand zu haben, nimmt der einsamen Nacht viel von ihren Schrecken.

Um die Ecke einer Seitengasse dringt Marschmusik, und Lichtschein springt davor her, wie gejagt. Es ist eine Prozession und zwar, wie man mir gleichmütig erklärt, die Oktave von Fronleichnam.

Weißgekleidete Kinder voraus, Knaben und Mädchen gesondert; dann und wann ein Kreuz, ein reichgesticktes Banner; zu beiden Seiten Greise, die abwechselnd schöngetriebene alte Messinglaternen an roten Stangen tragen, oder dicke Kerzen. Priester in langer Soutane flankierenden Zug und sehen auf Ordnung. Das scheint nötig, denn die Musik ist aufreizend weltlich – man könnte auch Polka danach tanzen, oder sonst etwas. Da kommen die Alumnen des Priesterseminars, die meisten käsig in früher Selbstverneinung erstarrt, doch auch frische Gesichter darunter. Hinter ihnen die Stadtkapelle, gut fünfundzwanzig Mann stark. Die meisten spielen ohne Noten, doch alle fehlerlos rein und taktfest. Die Flöten und Klarinetten werfen spielerisch die Melodie den Hörnern zu, die sie schallend ausspinnen und an die Bässe weitergeben; wenn die ihre Meinung zu Gehör gebracht haben, setzen einträchtig die »tutti« ein und verständigen sich über den Fall. Aus dem harmonischen Wirrsal heben sich wieder die Klarinetten heraus, und das Spiel wiederholt sich.

Hinter der Kapelle eine Schar Priester in Chorgewändern, dann der Prunkhimmel mit dem Allerheiligsten, wieder Priester, endlich eine zweite Kapelle, schwächer als die erste, doch nur an Zahl. Sie setzt ein, sobald der vorderen die Luft ausgegangen ist, was übrigens erstaunlich lange auf sich warten läßt.

Drei Häuserreihen weiter hat der Zug seinen Ausgangspunkt, eine kleine versteckte Kirche, erreicht und löst sich auf. Die Musiker schmettern vereint die Königsfanfare. Recht so: Gebt Gott, was Gottes, und dem König, was des Königs ist. Die braven Stadtmusikanten wollen dartun, daß sie nicht aus politischer Überzeugung die Prozession mitgemacht haben und daß sie in der Hauptsache immer und einzig Italiener sind. Wie mag der Geistlichkeit in der Kirche der Abschiedsgruß klingen?

Genug, genug – ich dresche fremden Weizen! Von dem, was herauskommt, werde ich nicht fett! Wie ist mir flau und blümerant! Seit dem frühen Mittag habe ich nichts mehr gegessen, und wie ich nun prüfend in mich hineinhorche, merke ich, daß ich auch jetzt nichts essen möchte. Es ist wahr, ich habe seither eine Stadt und ein Städtchen verdaut, mit etwas Sehnsucht als Vorspeise und einem leichten Weltschmerz als Nachtisch … aber ein wenig Alkohol könnte nicht unbekömmlich sein? Setzen wir den inneren Menschen unter Spiritus, daß Gehabtes und Gewolltes fröhlich durcheinanderschwimmen! Die Gelegenheit ist günstig, die Auswahl bedeutend.

Das große Kaffee ist rasch gefunden. Nun heißt es, den weißkitteligen Kellner nicht durch Zaudern erzürnen. Wein? Kein Wein in dieser Stunde! Zu nahe liegt sein Zeitwort hinter mir! – Schnaps? Geduld, ihr schillernden Teufelstränen, eure Stunde kommt noch, ich fühle es! Doch gleich zu Beginn erschreckt ihr die leeren Magenwände. – Wählen wir den guten Mittelweg, die scheinheilige Bibita! Vier Finger hoch Wermut in ein Kelchglas, ein wenig Zeder und Tamarinde dazu, Seltz darüber und, obenauf schwimmend, ein Stück Zitronenschale und ein Brocken Eis. Das ganze heißt »Americano« – es sieht so himbeersaftig, so alkoholfrei aus, und tut doch seinen Dienst gegen Durst und Nüchternheit.

Ha, wie wirkt ein guter Schluck zu rechter Zeit! Dieser Platz, heute im Entstehen begriffen, von Schutthaufen und Häusergerippen umlagert, wird zweifellos in wenigen Jahrhunderten ungemein historisch wirken und eine treffliche Weide für Kunstwissenschaftler abgeben. Habe ich ein Recht, mich heute vor ihm zu entsetzen? Habe ich mich übrigens entsetzt? Kein Wort gegen Aufschwung! Ich selbst werde zusehends gewichtloser. Es ist ein Zugeständnis an die minderbemittelten Zeitgenossen neben mir, wenn ich bürgerlich sitzen bleibe, anstatt mich frei in die Luft zu erheben.

Wie schön ist so ein Monolithbau! Alles aus einem Guß, der rechte Winkel herrscht erfreulich vor. Ist das Gerippe mit Hohlziegeln ausgemauert, verputzt und gestrichen, dann werden äußerlich noch ein paar Emailkacheln angepickt und, in verzweifelten Fällen, etwa ein Spruch in Goldlettern:

» Planities, montes recreant me purus et aer!«

Und das soll kein Stil sein? Wo bleibt dagegen die Barockschnecke oder noch älterer Zierat? Nebenbei konnte sogar das große Erdbeben in Japan mit diesen Eisenbetonpalästen nichts anfangen und mußte sie unverrichteter Dinge stehen lassen. Nun wird wohl das neue Japan ganz monolithisch wieder aufgebaut werden. Keine Hoffnung, doch ein Trost – ich komme ja doch nicht hin.

Noch einen Americano! Jawohl, es ist der dritte, ich leugne nichts. Auch stehen ja die leeren Gläser vor mir, nach guter Landessitte. – Wer mag wohl der sympathische Fremdling sein, der mich vom Nebentisch her so hingebend mustert? Das kragenlose Hemd wölbt sich aus tiefsitzendem Leibgurt, die kleine Knopfleiste verwegen vorgestreckt. Gesicht und Hände erzählen von Freude an der Muße, wenn nicht von der an Seifenwasser. Ich sehe ihn an, er lächelt. Ich lächle, er lacht. Ich lache mit – da sitzt er neben mir und klatscht mir auf den Schenkel. Nun denn – richten wir uns nach den Landessitten! Gefahr ist nicht dabei, denn, Bursche, solltest du nach Golde gieren, es mir abzugaunern, gar zu entmördern hoffen – du würdest mit furchtbarer Gewalt auf Stein beißen! Erstens komme ich aus dem Lande des Goldpapiers – wenig Papier und gar kein Gold gibt Goldpapier – und dann ist meine Handschuhnummer größer als der Habensaldo meines Bankkontos. Hoffe nichts und fürchte alles!

Aber die Americani müssen meinen Drohblick verwässert haben – der Fremdling bleibt heiter und zutunlich. Mir ist es auch nicht ernst mit der Ablehnung; es war eine Formsache. Seien wir menschlich, meine Freunde!

Das gegenseitige breite Grinsen, von Alkohol befruchtet, gebiert ein Gespräch. Der Fremde fragt mich nach Woher und Wohin. Das erste kann ich ihm sagen, das zweite nicht. Ob ich hierbleiben wolle? – Schwerlich. – Warum nicht? Die Stadt sei herrlich schön, mitten in außergewöhnlicher Entwicklung (er sagt: sviluppo straordinario) alle die prachtvollen neuen Paläste … »Dreck!« sage ich träumerisch vor mich hin. Er keckert ein wenig und fragt weiter: ob ich für heute nacht schon ein Zimmer hätte? – Nein! – Ob er mich in eines führen dürfe? Ein schönes Zimmer, sehr sauber, kein Hotel! Im Hause seines Bruders, ehrlich gesagt! Den Freunden der Familie stünde es stets gerne zur Verfügung. –

Mir wird warm und leicht: vor wenig Stunden noch so bitter einsam, und jetzt nicht nur der Freund eines wackeren Bürgers, nein, einer ganzen Familie, die ich gar nicht kenne! An meine Brust, du Retter! Bist du vom Himmel gesandt, meiner Sehnsucht Führer zu sein?

Wir wandern von den neuen Vierteln weg durch die Altstadt, die nun still und dunkel liegt. Der Mond hat sich dienstbeflissen aufgemacht und stellt allenthalben Stimmungsbilder. Ich liebe den bleichen Nachtwandler nicht, dessen laue Wärme eben hinreicht, um alles Gemütsschmalz zu erweichen, während es in der Sonnenhitze spurlos verdampft.

Mein Gefährte hängt anderen Möglichkeiten nach: »Wenn das ganze Jahr Vollmond wäre,« meint er sinnend, »dann könnte man viel Beleuchtung sparen!« Das rührt mich; so spricht ein Sohn von Möglichkeiten, die sein Vater übersehen hat, und deren Ausnützung sein Erbe vergrößert hätte. Den Schöpfungswillen durch Rücksichten auf die Sparstrümpfe christlicher Pfahlbürger geregelt denken – welch innige Nähe zu Gott! Ich nehme den Arm des Mannes, um seiner Auserwähltheit enger verbunden zu sein. Er gesteht mir freudig: »Sie haben mir gleich so gut gefallen, weil Sie erst so traurig waren, und dann, ganz für sich, so heiter geworden sind. – Man muß zu trinken verstehen, dann ist das Leben nicht mehr so hart! – Wir sind geboren, um zu leiden. Das Leben ist ein Schiffbruch, wir schleppen uns dahin und erwarten den Tod! Ist es nicht so?« Goldene Worte! – Heute erwarte ich ihn übrigens nicht, den Ruhespender, heute will ich mich gerne noch mit dem Schlaf begnügen. Doch ich sehe keine Möglichkeit … – Wo ist das Haus des Gastfreundes? Wir wandern in einer breiten Alleestraße zwischen Gartenvillen. Magnolien, Oleander, Rhododendren blühen; der Mondschein macht sie zu Fabelgewächsen, die mit gekräuselten Fangarmen auf Beute lauern. – Ich weiß ein Zimmer, weit im Norden, wo all das in Ziertöpfen wuchs und blühte, von langen, schmalen Händen betreut, die auch mein Herz hielten; und wenn der Mond auf unser Lager schien, dann mußte er sich durch das Gewirr seinen Weg suchen und nahm Blättern und Blüten die Farbe und Wohlgestalt – dem Leib der süßen Freundin aber konnte er nichts von seiner Weiße nehmen, nichts von seinem Ebenmaß, der blühte licht und schlank, bei Nacht wie bei Tage, und mein Glück blühte in seinem Schoß – –

Verdammt – hänge ich immer noch am Haken? Habe ich ihn mir nicht, hart genug, aus dem blutenden Fleisch gerissen? Nichts mehr von Mondschein – nichts von seinem Schattenspiel auf Frauenleibern! Jetzt gehen andere Augen dem Geäder nach, andere Lippen kosten die Süße. – Hätte ich doch mehr getrunken, einen vierten, sechsten, zehnten Americano! Der Nachtmarsch hat mich nüchtern gemacht, nun werde ich wieder daliegen, in die Kissen verwühlt, und mich schlaflos sehnen. – Nimmt dieser Weg kein Ende?

Ich sehe nach meinem Gefährten. Er duselt im Gehen vor sich hin, und jetzt merke ich auch, daß er sich mehr an meinem Arme hält, als ich an seinem. Haben wir, ich im Träumen, er im Schlafen, das Ziel überrannt? Da ist schon die Hütte des Stadtzollwächters, – dahinter führt eine Landstraße zwischen Hecken in Weinberge und waldige Hügel. Wo soll der Bruder wohnen? Der Genosse wird munter. »Beruhigen Sie sich,« sagt er, als hätte ich schäumend getobt, »gleich sind wir da!«

Wir gehen in weichem Staub, ich trete gewachsenen Boden. Kein Pflaster mehr. Ringsum atmet nächtiges Land. Weit weg, in Berghäusern, blitzt da und dort ein Licht, rot im Mondschein. So vertraut alles, und ohne Schrecken. Ich weiß nicht, wer du bist, Mensch an meiner Seite. Ich weiß nicht, wohin du mich führst. Ich nehme an, daß dein Haarwuchs üppiger ist als deine Vermögensverhältnisse. Doch diese Nachtstunde will ich dir immer danken, voll Frieden und Allheimatsgefühl. – Zum Teufel mit allem Baedekermißtrauen und aller Fünfpfennig-Vorsicht!

Die Straße windet sich weiter durch Hecken, die Hügel rücken näher heran. Die langen Hebestangen eines Ziehbrunnens ragen in den Himmel, von Glühwürmchen umtanzt; die Grillen geigen unverdrossen, als hätten sie aller Dinge Grundlage zu sein. In einem Wasserloch glöckeln ein paar Unken. Nun kommt noch, von irgendwoher durch die Nacht, der weiche Klagelaut einer Kuh, der sie wohl das Kalb genommen haben.

In solchem Frieden habe ich Jahre gelebt, lange Jahre. Warum habe ich ihn damals nicht begriffen? Warum muß ich in dieser fremden Nacht erst die Heimat wiederfinden und das Glück, das sie mir geboten und dem ich mich verschlossen habe? Wie ich aufatme in dieser Ruhe, die laut ist von heimlichem Leben! Wie ich die Kraft fühle, die mir aus dem Boden, dem fruchtwilligen, ins Herz wächst!

Wer bist du, unscheinbares Männchen an meiner Seite? Ach, du brauchst kein Himmelsbote zu sein, kein Schutzengel – nur ein Mensch, der Leid erfahren und Güte bewahrt hat, der fremdes Leid erkannte und ihm nach besten Kräften steuern wollte. Ich kann dir nicht anders danken als mit dem Versprechen: selbst wieder gütig zu sein, wenn mir fremdes Leid begegnet! Freund, du!

Nun hebt sich eine kleine Lichtinsel aus dem dunklen Grün, die Hecke löst ein Drahtzaun ab, wir biegen in einen Hof, der im milchigen Schatten alter Nußbäume liegt. Mein Führer ruft zu einem kleinen Fenster hinauf, das uns erleuchtet grüßt: »Giovanni!« – »Ich komme!« klingt es durch die Scheiben, und ich höre Schritte tappen. »Giovanni ist mein Bruder,« erklärt mir der Genosse. »Er steht immer um diese Stunde auf!«

Steht um diese Stunde auf, wo ich ans Schlafengehen denke? Und da sehe ich: die Nacht ist um; was ich für Mondlicht hielt, das ist das Silbergrün des Olivengeästes, das sind die Grasnebel im Morgengrau. Es beschämt und bedrückt mich; hat mich die Stadtzeit schon so bodenfremd gemacht, daß ich das Auf und Ab von Sonne und Mond nicht mehr körperlich mitmache, es erst mit der Uhr messen muß?

Es ist eine Stalltüre, vor der wir stehen. Durch das kleine Gitterfenster dringt der süßliche Schlafdunst gesunden Viehs. Ich höre Ketten klingeln und das mahlende Wiederkäuen.

»Mein Bruder handelt mit Vieh,« geht die Erklärung weiter. »Er fährt viel im Lande herum, und am liebsten bei Nacht, weil da die Fliegen und die Hitze nicht so arg sind.«

Ein Viehhändler? O weh! Ich denke an die Vertreter der Gattung, die mir von Hause bekannt sind: vom Bauern die Ungestalt, vom Städter die Warenhauseleganz, knallig laut und ohne Treue. – Da werde ich wohl wieder einmal vergebens Güte und Menschlichkeit erwartet und mich schließlich nur zu wehren haben, daß mir Hemd und Haut am Leibe bleiben!

Die Schritte sind ganz nahe gekommen. Eine Stimme fragt aus dem Hause: »Giulio, bist du's?« – Auf das Ja meines Begleiters öffnet sich die Türe, und im Zwielicht steht ein untersetztes Männlein vor uns, mit unendlich gutmütigen Augen in dem breiten, lachenden Gesicht. Die Ähnlichkeit mit dem Bruder ist unverkennbar. Giulio gibt markigen Aufschluß: »Ein Freund – wir haben uns im Café getroffen … Er ist fremd hier … ich habe ihn mitgebracht!«

»Einen Augenblick!« sagt Giovanni und verschwindet. Man hört ihn im Hausinnern an Schlössern rumoren. Schließlich geht im Winkel neben uns die eigentliche große Haustüre auf, und Giovanni gibt mit einladender Gebärde die Schwelle frei: »Bequemen Sie sich, mein Herr!« Wir treten ein. Ein großer Raum, wohl sieben Meter im Geviert. In der Mitte ein langer, nackter Fichtentisch, von Strohsesseln umringt, an einer Wand der offene Kamin mit dem baumelnden Kessel, zäh berußt, nichts sonst. Und doch fehlt selbst in diesem gefährlichen Frühlicht ein Eindruck von Gastlichkeit und Frohsinn nicht. Unergründliches Geheimnis dieses Landes, dessen Sonne allgegenwärtig scheint!

Giovanni hat uns Platz angeboten und seine Frau herbeigerufen. Sie kommt vom Melken, trocknet sich die Hände an der groben Schürze und begrüßt uns befangen. Ihr Gesicht ist mild und ruhig, überstrahlt von schönen, braunen Tieraugen. Die Küche ist nebenan. Durch die offene Türe sehe ich wuchtiges Kupfergerät an den Wänden. Die Frau verläßt uns nach kurzer Verständigung mit Mann und Schwager. Ich höre ihr bedächtiges Hantieren in der Küche; Papier und Reisholz knistern, dann blakt Feuerschein auf, und Holzrauch zieht zu uns herein. Nun kommt sie wieder, und das Herdfeuer hinter ihr loht wie eine Gloriole ihrer Weiblichkeit. Sie legt ein grobleinenes Tischtuch auf, stellt Teller, einen Butterballen, einen Käse und einen Brotlaib vor uns hin – Giovanni hat inzwischen eine Flasche geholt und füllt nun drei nicht unbedeutende Gläschen. Er schiebt mir eins mit der Linken zu und hebt mir das seine entgegen: »Seien Sie willkommen, Herr, und lassen Sie sich's bei uns gefallen!« – »Gesundheit und Ruhm!« wünscht Giulio.

Wir trinken, schütteln uns ein wenig, blasen über vorgestreckte Unterlippen in die Nüstern, riechen an den leeren Gläsern, kurz, wir nehmen alle die Verrichtungen wahr, die gereiften Männern bei starkem Trunk wohl anstehen. Es ist Grappa, der Schnaps aus Traubenkernen, scharf und heilsam wie reines Feuer. Ich bin mit einem Schlage wieder prall gefüllt mit Blut und Lebenslust und wippe auf meinem Sitz.

Giovannis Frau bringt große, henkellose Tassen – sie sehen wie einschläfrige Suppenterrinen aus –, dazu in großen Kannen Milch und Kaffee. Alle sind mit Fragen besorgt, ob mir die Mischung so behagt, ob ich mehr Milch oder mehr Kaffee wünsche, Stück- oder Staubzucker. Giulio gießt mir für alle Fälle einen Schuß, geradezu einen Mörserschlag Grappa in die Tasse: »Sie werden sehen, daß es Ihnen gut tut,« meint er. – Ich zweifle nicht daran, Lieber, Guter. Du ahnst aber nicht, um wieviel besser als der Grappa mir diese Aufnahme tut, diese Gastfreundschaft, die nichts erwartet, nichts verlangt, als des fremden Gastes Wohlsein. Auch ich hatte einmal ein Zuhause, und nahm Gäste auf, Fremde wie Freunde, von denen heute keiner mehr einen Gedanken für mich hat – –

Da wird mir wackelig um die Kiefer, das Butterbrot mit Käse quillt mir im Munde und drückt und würgt, daß mir Augen und Nase überlaufen. Milchkaffee mit Grappa nach, in großen Schlucken, und Schluß damit! Ein Wolf hat seine Freiheit, das ganze runde Jahr – dafür hat er auch im Winter keinen warmen Stall. Friere ein wenig, du Wolf, und jammere nicht! Die Kälte tut gut!

Die Brüder haben ein eifriges Gespräch über die Vorzüge eines Pferdes begonnen, das Giovanni nachher besichtigen soll. Als ich mich verstohlen schneuze, meint Giovanni: »Der Grappa ist ein wenig scharf, für einen, der ihn nicht gewohnt ist!« – »Aber rein ist er,« beteuert Giulio. »Wir brennen ihn selbst, er tut nicht weh!« – »Nein, er tut nicht weh,« bestätige ich freudig. – Ich wüßte Geheimräte und Generäle, die von euch, ihr Brüder, Zartgefühl lernen könnten, wenn es sich lernen ließe! Bei allen Göttern, wie ist mir wohl und warm!

»Werden Sie nun nicht ruhen wollen? Sie müssen müde sein, nach der schlaflosen Nacht?« fragt die Frau. Aber ich bin nicht müde. Nur jetzt kein Zimmer, kein Bett, und wäre es aus Eiderdaunen! In einer halben Stunde muß die Sonne da sein, die soll mich im Freien finden!

Giovanni erhebt sich: »Sie werden mich entschuldigen, ich muß nun fahren. Bis Mittag bin ich wieder zurück!« – Fahren Sie alleine?« frage ich zurück. – »Gewiß, ja!« »Könnten Sie mich mitnehmen?« – »Aber gerne, gerne!«

Giulio begeistert sich: »Ein guter Einfall! Die frische Luft wird Ihnen gut tun – der Morgen ist so schön!«

Wir eilen einträchtig hinaus, ziehen das zweirädrige Eschenwägelchen aus dem Schuppen, Giulio trägt das Geschirr herbei, Giovanni macht im Stall das Pferdchen los; es kommt frei hinter ihm her aus der Türe und stellt sich auf leisen Anruf zwischen die Gabeldeichsel. Ein spickfetter Rappe, sardische Bergrasse, wie Giovanni stolz erklärt. Kaum fünfzehn Faust hoch, aber gedrungen und stämmig. Das Einschirren geht sehr schnell, das Pferdchen hilft willig mit, so weit es kann. Giovannis Frau sieht uns lächelnd zu, wie spielenden Kindern. Kaum sind wir aufgestiegen, da trabt der kleine Rappe los. Ich wende mich und sehe die Frau und Giulio winkend in der Hofeinfahrt stehen.

Wir fahren den Bergen zu. Ringsum Grün und silbriges Grau, von der nahen Sonne durchglüht. Im Tale haben noch alle Dinge schwimmende Umrisse, werfen keinen Schatten. Die Bergkanten vor uns leuchten klar. Dort ist Sonne.

Der schnelle Hufschlag unseres Pferdchens, das flinke Räderrollen stimmen gut zu dem neuen Licht, dem Aufatmen um uns her. Ich deute verlangend auf die Zügel: »Darf ich?« Und Giovanni reicht sie mir willig. Der Rappe schüttelt leicht den Kopf bei dem Wechsel der führenden Hand, doch wir haben uns schnell verständigt. Der Trab bleibt gleichmäßig. »Sie sind sehr tüchtig im Lenken!« lobt Giovanni. – Ja, das bin ich. Bei Pferden. Nicht bei mir und meinesgleichen. Und wie nun der straffe Zügel auf die Narbe am kleinen Finger drückt, denke ich an andere Zügel, die daran gerieben haben, an weite Fahrten und Ritte, und suche mit geschlossenen Augen den Geruch, der damals immer sich mit dem warmer Pferde und geputzten Lederzeugs mengte: altes Lavendelwasser. Nichts, nichts. Verweht alles. – Du magst treu und gut sein, Giovanni, gottgesandter Freund, treuer und besser als die Gefährtin jener Tage – nach Lavendel duftest du nicht! Das nimmt dir nichts von deinem Wert, gewiß nicht. Und verzeihe meiner Nase, sie war unbescheidener als mein Verstand!

Nun liegen die Weingärten hinter uns, wir sind im Kastanienwald, und die Straße steigt steil bergan. Pippo, der Rappe, läßt sich nur ungern überzeugen, daß es mit dem Traben vorbei ist. Er tänzelt dahin. – Als ich ihn ganz verhalten möchte, um abzusteigen, widersetzt er sich heftig, sein Herr übrigens auch: »Sie wollen zu Fuß gehen? Welche Idee! Das Pferd spielt ja nur mit der leichten Ladung! Ich könnte noch zwei Meterzentner Korn und ein schweres Kalb auflegen, und es wäre auch nicht zuviel!« Pippo nickt dazu. Er kennt seinen Dienst, der wackere Bursche, und weiß, daß er nicht zum Fressen auf die Welt gekommen ist. Dienenkönnen, schöne Tugend, warum bist du so selten geworden?

Die steile Straße bringt uns rasch in die Höhe. Die waldigen Kämme, die vom Tal als Gipfel erschienen, liegen bald als läppische Ausläufer unter uns, von Wiesenkuppen überhöht. Giovanni zeigt mir in dunstiger Ferne eine Häusergruppe, die an einen Hang gepickt ist: unser Ziel. Es scheint eine gute Tagereise bis dahin. Aber Giovanni lacht nur: »Die Berge täuschen! In einem Stündchen sind wir dort!« Pippo läßt es sich angelegen sein, den Gebieter nicht Lügen zu strafen. Er drängt in den Zügel, sein Schritt ist immer noch ein halber Trab. Um ihn nicht unnütz zu ermüden, gebe ich ihm schließlich den Kopf frei, und er atmet befriedigt auf: ausländische Mätzchen!

Nach einer halben Stunde ist der zweite Hügelzug erklommen, und es geht durch eine leichte Senke, die Pippo im Fluge nimmt, dem nächsthöheren zu. Dort endet die Straße, vor einem weitläufigen Bau, der uns lange schon wie eine Burg der Verheißung, rosenrot, entgegengegrüßt hat. Es ist eine verräucherte Osteria, inmitten eines Weingartens.

Wir steigen ab, Pippo wird im Schatten alter Pinien angebunden. Giovanni weist mit der Hand auf einen Saumpfad, der wagerecht unter dem Kamm hinführt: »Dort hinter dem Vorsprung liegen die Häuser, in die ich will! Zwanzig Minuten zu gehen! Kommt der Herr mit?«

Nein, ich möchte nicht mit. Ich bin kein Freund des Handelns und will den neuen Freund lieber nicht feilschen hören, Fehler suchen um jeden Preis und die Marktlage in düsteren Farben schildern. Es wird hier nicht anders sein als anderswo: Zwei Lügen werden aneinandergerieben, bis die schwächere zerkrümelt ist oder bis, bestenfalls, ein Fünkchen Wahrheit herausspringt. Das heißt dann Geschäft.

Giovanni eilt grüßend davon, mit Schritten, kurz und schnell wie die seines Pferdchens. Ich verziehe mich von der Straße weg die Halde hinauf. Wo ein Felsbrocken durch die Grasnarbe bricht, sitze ich nieder und gebe mich der Landschaft hin, wartend, daß der Rhythmus der Höhen und Tiefen mich überkomme. Ich fühle beglückt, daß die Erde mich nicht vergessen hat, daß sie mich wieder treu annimmt: ein neues Maß kommt in meinen Blutschlag, der Atem geht langsam und tief, und ich weiß, daß ich in wenig Augenblicken die Sprache der Dinge verstehen werde. Schon höre ich ein vielfältiges Summen, Zirpen, Schrillen, das sicher schon längst andauert, mir aber jetzt erst zum Bewußtsein kommt. Hügel und Täler, soweit ich sehen kann; ganz weit fort, im Blau der Ferne ertrunken, schroffe Gipfel, wie Hochgebirg. Ich weiß aus der Karte, daß die höchste Spitze in diesem Landstrich achtzehnhundert Meter nicht übersteigt. Doch die schroffen Grate und Wände dort scheinen meiner Bücherweisheit zu spotten. Meine Sehnsucht ist wieder da, drängt den Höhen zu, und ich ergebe mich beseligt.

Wie ich mich, müde vom Ringen mit dem Entschluß, zurücksinken lassen will, jagt mich ein zuckender Schreck auf: Lavendel! Bist du wieder bei mir, Freundin, liebste?

Nichts. Ich bin allein. Aber am Fuße meines Felsensitzes wuchern in Büscheln die blaßlila Blüten. Ich fasse hinein, zerreibe die Blätter zwischen bebenden Fingern, versenke mich mit geschlossenen Augen in meine Sehnsucht. Wie ich tief den vertrauten Duft einatme, wächst ein Bild vor mir auf, ein Frauengesicht mit großen Augen, kühn und treu. – –

Da, seit langer Zeit zum ersten Male, wehre ich mich nicht. Ja, treu! Treu dir selbst, treu dem Boden, treu dem Besten in mir, süße Freundin! Ich selbst bin mir untreu geworden. Habe ich mich wieder, so wirst auch du an meiner Seite sein. Da alles zu dir drängt, soll meine Sehnsucht irren, wenn sie mich in die Berge weist? Dort will ich suchen!


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