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3.
In den Bergen

Giovanni, der Vielerfahrene, hat mich in ein Bergwirtshaus gebracht, das einsam an der großen Straße sieht. Der Abschied von den Brüdern und der Frau ist mir richtig schwer geworden – sie hielten mich, als wären wir eines Blutes. Doch haben sie wortlos verstanden, daß sie mir ihr Bestes gleich am ersten Tage gegeben hatten, und haben mich ohne Widerrede ziehen lassen. Geld wollten sie durchaus keines nehmen – so habe ich für Pippo ein großes Fliegennetz gekauft, das ihn vom Kopf bis zum Schwanz deckt und mit bunten Troddeln auch Brust und Flanken schützt. Giovanni hat ein wenig den Kopf geschüttelt über die Pracht, doch Pippo war sehr einverstanden damit. Er trug sich wie ein Andalusier, als wir das erstemal ausfuhren.

Wir fuhren ein Stück an der Küste entlang. Pippo bewies seine Dankbarkeit, indem er wie ein Uhrwerk trabte. Ich war trotz der Reizlosigkeit des Strandes doch verwundert, wie kühl mich das Meer ließ. Schlimm genug, die langen Reihen von Badehütten, mit Segeltuch verhangen, und die Menschheit davor, die ihr mürbes und mattes Fleisch durch Sonne und Salzwasser aufzufrischen bemüht war oder, in wenigen Fällen, auch mit Muskeln prunkte, denen so Sinn wie Seele fehlten. Schlimm auch die öde, ungebrochene Linie des schmalen Kiesstreifens, den sie dort die » spiaggia« nennen: keine Muscheln, keine Schnecken, keine Krabben, keine Seesterne, nicht einmal Quallen oder Tang – nur das Marmorgeröll in Schwarz, Weiß und Rot.

Doch weit draußen, außerhalb der langweiligen Bucht, lag doch das freie Meer, von Schiffen durchackert, deren Rauchfahnen verschwimmende Zeichen an den Himmel schrieben; das Meer, die Wiege aller Dinge, nach der ich mich so gesehnt hatte? Kein Widerhall! Am Meeresstrand zu sitzen, müßig in die Brandung oder in die Weite zu starren, ist kein Tun für einen Mann. Nur weibliche Sehnsucht kann ihr unerkanntes Ziel herbeiwünschen, ohne ihm kämpfend entgegen zu gehen. – Ich bin auch nicht geschaffen, im Gegenspiel von Wind und Wellen hinzutreiben, sonst wäre ich nicht von weiter Fahrt immer ins Feste zurückgekehrt. Meine Schicksalslinie weist nicht ins Uferlose – sie biegt sich in steiler Kurve zurück, immer wieder zurück, zur Begrenzung der Höhe: auf selbsterkorenem Gipfel stehen, fest an die Erde geklammert; andere, höhere Gipfel über sich wissen, Weite sehen und fühlen – und sie nicht begehren; das Glück des Standpunktes empfinden, die Sehnsucht, die nährt und nicht zehrt – das ist mein Ziel. Ich war ihm so nahe – und wollte mich nicht bescheiden. Nun heißt es neue Wege finden zu altem Glück.

Das Haus war fast leer, als ich ankam; ich konnte wählen und habe mir ein Eckzimmer im Obergeschoß ausgesucht. Unter dem Westfenster fällt die Hauswand steil ab zu dem alten Saumweg, der durch Jahrhunderte allein zu diesen Höhen führte. Vor wenigen Jahren endete die neue Straße hier, und jedermann mußte auf Maultieren weiter. Damals waren die großen Ställe und die vielen Zimmer ständig voll besetzt. – Nun haben sie die Straße ein Dutzend Kilometer höher in die Berge hineingeführt, und an ihrem jetzigen Endpunkt sind, aus alten Elendsdörfern, Luftkurorte im Entstehen; immer noch schlicht genug und in gesunden Grenzen, doch der Löwe des Fortschritts zeigt schon die Klauen.

Das alte Einkehrgasthaus scheint von der Straße wie von der Zeit überholt. Doch es trauert nicht, steht ruhig und fest auf dem alten Fleck, unter Kirschbäumen und Akazien, läßt die vielen Autos lächelnd vorbeisausen, immer vorbei, und schickt Abend für Abend, wie in mildem Spott, aus seinen Fenstern das Licht der Kerzen, der Karbid- und Petroleumlampen zu der Starkstromleitung hinüber, die wenige hundert Meter weiter weg von den Bergen herunterkommt. Giovanni hat mich gut beraten.

Den weitläufigen Betrieb versehen vier Geschwister, zwei Brüder und zwei Schwestern, die das geschäftige Nebeneinander dem unvermeidlichen Streit der Erbteilung vorgezogen haben. Der älteste Sohn macht den Wirt und greift in Haus, Keller und Feld zu, wo es nötig ist. Der zweite Sohn führt die Landwirtschaft, die eine Tochter Küche und Rechnung, die zweite hat Gast- und Fremdenzimmer unter sich. Die alte Mutter hilft Zusammenhalten und sparen. Alles scheint reibungslos zu laufen; doch ich gäbe viel darum, zuhören zu dürfen, wenn bei Jahresschluß die Eingänge, Ausgaben und der persönliche Verbrauch der Geschwister verrechnet werden. – Merkwürdiges Gesetz, das den Vater hindert, seinen Besitz geteilt den Kindern zu vermachen, das auch keinem Kind die Handhabe bietet, anders als in gütlichem Einvernehmen die Teilung zu erreichen; das vielmehr die jährlich wiederkehrende Auseinandersetzung über die Ertragsteilung ausdrücklich vorsieht. – Wie fest muß das Band der Familie sein, wenn ihm der Gesetzgeber solche Belastung zutrauen darf?

Ippolito, der Wirt, hat mir gleich beim Empfang tröstlich versichert, die Stille werde nicht lange mehr anhalten: in wenig Tagen beginne der Transport der Holzkohle von den Bergen herunter, und dann solle ich einmal sehen – den Betrieb! Hundert Maultiere mit ihren Treibern, vielleicht noch mehr, und die vielen Lastautos! Dann kämen auch die Herrschaften aus Genua und noch weiter her zur Sommerfrische, und die vielen Ausflügler in Autos und Wagen – ah, ein erstaunliches Leben!

Falls ich übrigens ein Freund der Jagd wäre, so sei hier der geeignetste Ort dafür, geradezu ein Paradies; er selbst sei leidenschaftlicher Jäger. Auch der Fischfang sei ergiebig, der aber reize ihn nicht, den überlasse er dem Bruder Camillo.

Nun, ich habe schon vor Jahren, in der Heimat, einen Strich unter alles Weidwerk gezogen und bin nicht in dieses Land gekommen, um mich der alten Leidenschaft wieder in die Hand zu geben. Doch die Begeisterung des Nimrods steckt mich an, und die Stunde ist günstig für Geschichten von Hatz und Büchsenknall: wir sitzen auf dem Rasen unter den alten Bäumen hinter dem Hause und sehen tief ins Land hinunter. Der Abendschein, der uns und die Hänge über uns noch beleuchtet, hat sich dort unten schon in grauen Dunst verloren. In dem tiefen Talkessel sitzt die Nacht wie ein sprungbereites Tier. Von den Bergen, stetig wachsend, weht ihr der Abendwind entgegen und trägt den Geruch der vielen Meiler mit sich, die nun dort oben brennen. Die Luft ist rein und kühl, ich höre ringsum Bäche springen und rauschen. Mir ist weinerlich vor Glückseligkeit, ich bin froh, den Fremden neben mir zu haben, sonst wollte ich wohl den Kopf in den kurzen Bergrasen stecken, zwischen Quendel und Pfefferminz, und – – na ja.

Ippolito erzählt: »Ich also jage am liebsten den Fuchs, im Winter. Wissen Sie, wieviel Schnee wir hier haben? Sie werden es nicht glauben – aber oft bis zum Knie, auf den Bergen liegt er sogar bis zu einem Meter und darüber. Da suche ich die Spur des Fuchses, und wenn ich seinen Paß richtig festgestellt habe, lege ich eine tote Katze dahin. Der Fuchs nämlich liebt die Katzen. Dann warte ich drei Tage, auch vier, um ihn sicher zu machen. Dann gehe ich nachsehen, und wenn die Katze angefressen ist, so lege ich mich nahe dabei in den Hinterhalt. Der Fuchs kommt, ich töte ihn. Das Fell wird teuer bezahlt. Manche essen auch das Fleisch, es soll wie Kaninchen schmecken.

Es gibt noch andere Arten, den Fuchs zu jagen; man könnte viel davon erzählen.«

Eine gelbweiße Hündin, Kreuzung zwischen Bracke und Foxterrier, ein Glöckchen am Halsriemen, kommt suchend auf unserer Fährte und umspringt liebelnd ihren Herrn. Er weist mit Besitzerstolz auf sie hin: »Mein Jagdhund – ein ganz ausgezeichneter Hund! Wenn er einen Hasen hochgemacht hat, jagt er ihn unermüdlich und kommt nicht nach Hause; oft war er schon drei Tage fort! Seltene Ausdauer!« – Ich neige mich tief zu dem Fiasco, der zwischen uns steht, fülle mein Glas und erhebe es auf das Wohl des wackeren Jagdgefährten. Auch Ippolito trinkt. Dann schüttelt er leicht den Fiasco, um zu hören, ob noch ein Glas voll darin wäre; da er ihn leer findet, stellt er ihn mißbilligend zurück ins Gras.

»Dann natürlich gibt es noch die Vogeljagd,« erzählt er weiter, »auf Amseln, Drosseln, Spatzen und so weiter. Ich schieße Amseln und Drosseln; die Spatzen und die Kleineren nur dann, wenn sie in Haufen sitzen, daß ein Schuß viele tötet; denn ein Spatz gilt zwanzig Centesimi, eine Patrone aber fünfzig. Da lohnt es nicht. – Werden bei Ihnen in Deutschland auch Vögel geschossen?«

Ich verneine stumm. Soll ich Vorträge über Vogelschutz halten? Mag es traurig sein, wenn Zaunkönige, Finken und ihresgleichen schonungslos gemordet werden: schließlich sind Angehörige aller Völker dabei, den wilden Elefanten zum Fabeltier zu machen. »Auch Patroklus mußte sterben, und war mehr als du!« – Der Jammer der tierlosen Welt rührt mich an – doch ich glaube nicht, daß er durch Menschenhand abgewendet werden könnte. Wir haben die Maschine in die Welt gesetzt – die würgt nun und frißt, unserer Hand längst entwachsen, hetzt uns durcheinander, gegeneinander; der Fortschritt jagt kurzatmig vor ihr her – die Muße aber hinkt beschämt hinterdrein. »Zu viel Eisen über der Erde!« sagte mein Freund, der Menschenhasser. Vielleicht, wenn unsere Erde ganz mit Schienen, Kabeln, Leitungsnetzen umsponnen ist und, von Maschinen wie von Pocken übersät, wie ein Panzergeschoß durch den Raum schwirrt – vielleicht erbarmt sich dann der Herr der Welten, kehrt mit einem Kometenschweif das Gerümpel fort – und läßt den reinen Boden ein neues Geschlecht tragen. Ein weiter Weg bis dahin – und ich fühle mich nicht berufen, der Noah dieser gasigen Sündflut zu sein, die ich erwarte, erwünsche – und doch kaum überleben werde.

Wozu aber den Mann an meiner Seite mit solchen Betrachtungen vergiften? Dem Wackeren ist diese Welt so recht, und er gefällt sich so gut darin! Und wozu soll ich selbst alte Galle Wiederkäuen? Noch lebe ich – und solange irgendwo solcher Bergwind unter solchem Sternenhimmel weht, ist das Leben noch der Mühe wert! Einiges könnte anders sein – doch das gilt sicher auch für mich selbst. Noch duften Blumen durch die Nacht und hoffen auf die Sonne – hoffe auch du, mein Herz!


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