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1.
Genua

Die Barke gleitet langsam durch das Hafenbecken. Der Bootsmann hat sich Stundenlohn ausbedungen, möchte nun, je nachdem, die Fahrzeit verlängern oder den eigenen Muskelaufwand verringern, und quillt über von Erläuterungen: »Hier die großen Getreidesilos, vor dem Kriege gebaut, von einer deutschen Firma, Herr. Deutschland ist ein sehr entwickeltes Land, bei Gott! Die Schiffe legen hier an den Kais an und werden durch Druckleitungen geladen und entladen, in wenigen Stunden, wo früher Tage nötig waren – es scheint wunderbar! Der Bau hat achthunderttausend Lire gekostet, Goldlire, Herr, das wären heute vier Millionen. – Die Lira gilt nur noch zwanzig Centesimi. Und dafür der lange Krieg! Ich verstehe nicht, wie es geschehen konnte …«

Ich verstehe es auch nicht und schweige. Wir nähern uns dem Ankerplatz der großen Überseer, und ich spähe eifrig nach vertrauten Wimpeln. – Nichts. – Kein deutsches Schiff. – Der Bootsmann begeistert sich: »Hier der große italienische Dampfer für den Dienst nach Südamerika – gegen ein kleines Trinkgeld könnte man das Schiff besichtigen? Eine Pracht! Un palazzo galleggiante …«

Ich rucke mit dem Kopf, schnalze leicht mit der Zunge und wackle dazu mit ausgestrecktem Zeigefinger, was in der landläufigen Gebärdensprache ein gleichmütiges Nein bedeutet. Der Bootsmann beklagt mit einem sprechenden Blick meine hölzerne Teilnahmslosigkeit und legt sich seufzend in die Riemen. Wie soll der Gute wissen, was ich hier suche? Ich bin auf größeren Schiffen gefahren, mein Freund, viel größeren, als du sie mir hier zeigen könntest; damals, als die Welt gerade noch weit genug war für meine Sehnsucht, und das Leben so glatt und leicht, daß man mitunter eine Reise aus reiner Bequemlichkeit unterließ: »Wozu die ewige Hast? Ich komme schon noch hin – morgen oder in drei Jahren ist auch noch Zeit.« Ich bin nicht jünger geworden seitdem, und das große Pendel tickt kürzer und lauter. – Da fahre ich nun in einem fremden Hafen umher, höre mit geschlossenen Augen Anker niederrasseln, höre das Schnaufen und Pfeifen der Schlepper, den Sirenengruß eines ausfahrenden Schiffes – und denke an die Zeit, wo das alles mir gegolten hat. Vorbei die Wanderjahre. – Ich sollte seßhaft sein, und bin es nicht. Ich suche müde nach den Fährten meiner jungen Jahre – und finde den Anlauf nicht mehr zu den hitzigen Sprungschritten. –

Der Bootsmann macht einen letzten Versuch: »Hier liegen die Schiffe auf Abbruch – wir nennen es den Schiffskirchhof. – Die ganze Einrichtung ist entfernt, jetzt werden die Wände mit dem Sauerstoffbrenner zerschnitten und gehen in die großen Hüttenwerke zurück!«

Da liegen die rostfarbenen Schiffskörper nebeneinander, zackig verstümmelt, manche schon bis zur Wasserlinie abgebaut, den Bug steil in die Luft gereckt. Hier und dort lodern die Stichflammen der Schneidbrenner auf, man hört ihr böses Zischen, hört aus den Hohlräumen, schaurig verstärkt, den Schlag der Hämmer, die die alten Nieten wegmeißeln.

Dies hier ist kein Kirchhof, mein Freund; dort wäre Ruhe. Dies ist die Anatomie, wo Leichen zerstückelt, eine Freibank, wenn du willst, wo alte Tiere ausgeschlachtet werden. Wer fragt, wie lange sie gedient, was sie erduldet haben?

»Sehr viele deutsche Schiffe sind darunter, Herr, dies hier und jenes, und dort die drei nebeneinander – – –«

Hier finde ich euch! – Vielleicht hat eines von euch mich einmal getragen, mich und meinen tänzelnden Überschwang? – Hier finde ich euch!

Ich winke dem Bootsmann: »Weiter!« Und er spuckt giftig ins Meer, bevor er wieder die Riemen faßt. Ewig in Eile, diese Ausländer, und nichts freut sie! Über den Schiffskirchhof hätte sich gut ein Viertelstündchen plaudern lassen.

Helfen kann ich dir nicht, mein Freund! Mit dem Überpreis, den ich dir stumm bewilligt habe, weil ich wehrlos und nicht aufs Feilschen gestimmt war, wirst du in einer knappen Stunde deinen Tagesunterhalt verdient haben, wirst dich auf der Kaimauer in die späte Sonne legen, dann zum Wein setzen und helle Haufen Pasta dazu verschlingen – mehr kann ich nicht für dich tun! Zeig mir den Ruderschlag, der mir so leicht weiterhülfe?

Nun fahren wir durch den Segelhafen. Unter den schmutzigen Frachtbarken sticht ein Viermaster hervor, der Rumpf schwarz mit reichem Goldzierat, das Deck schneeweiß, Masten und Rahen braun gebeizt, die Eisenteile schwarz lackiert, das Messing leuchtend geputzt. Eine goldene Harpyie als Galionsfigur – über dem Heck, in Goldlettern, der Name: » Flying cloud – fliegende Wolke!«

Wie ein schimmernder Fremdvogel im Hühnerhof liegt das Schiff da, wie ein Vogel der Sehnsucht im schmutzigen Käfig. Wen du auf deinem Rücken trägst, du fliegende Wolke, der wird wohl die Enge dieses Lebens vergessen können!

Der Bootsmann hat über die Schulter weg meine Blicke belauert und hält nun, neuer Hoffnung voll, im Rudern inne: »Die Jacht eines englischen Lords! Sie liegt schon drei Monate hier im Hafen, der Lord ist im Gebirge auf Sommerfrische! Sie hat Hilfsmotor – im Innern des letzten Mastes geht das Rauchrohr hoch – die Mastspitze ist ganz rußig, sehen Sie?«

Ich muß wieder abwinken. Was kümmern mich englische Lords und Hilfsmotoren? Mir solltest du keine drei Sommermonate im Hafen liegen, du fliegende Wolke –, aber ich neide dich deinem Besitzer nicht, dich nicht und den Sommer in irgendeiner alpinen Räuberburg nicht, die ihm zum Abschied, für viele gute Pfunde, ihre Wappenschildchen auf die Lederkoffer leimen wird. Hier sitze ich in einer wackeligen Barke, namenlos wie sie, ohne Anspruch auf die Hochschätzung des krummbeinigen Mischlings, der mich lässig rudert; gerade, daß er noch den Fetzen eines räudigen Bettvorlegers zwischen mich und die schmierige Sitzbank geschoben hat. Kein Edelsitz!

Doch wärst du mein – könntest du mir dann je das Glück schenken, das ich nun tiefatmend in dich hineinträume, du fliegende Wolke?

Nun will mich der Ruderer, halb verzweifelt, bei der Weichherzigkeit packen: »Ich habe Hunger, Herr! Der Verdienst ist gering, das Leben teuer. – Die Kraft fehlt!«

Sklave, ist dir die Faulheit, die dir durch die Rippen stinkt, jede Lüge wert? Warum wirst du nicht Straßenräuber und verdienst dir mit der Pistole dein täglich Brot? Ein freier Beruf, und ehrlich, ehrlich vor allem: »Ich will, was dein ist. Aber ich mache kein Rechtsgeschäft mit dir, keinen verzwickten Vertrag, kein Börsengegaukel! Ein Druck aufs Züngel, und die Geldkatze gehört mir!«

Ein Hoch allen Straßenräubern! Sie ziehen den Galgen dem Kommerzienratstitel vor! – Ich erhebe mich von den Sitzen und lüfte den Hut. Die Barke schaukelt, der Führer ist entsetzt, weil er zu spät erkennt, daß er einen Irren an Bord genommen hat. Ja, ich bin irre – doch nicht an dir, du Zecke – an dem Schicksal, das mich als Flohfraß erschaffen hat! – Ich könnte dich zwingen, mich noch eine halbe Stunde zu rudern, könnte dir ein Tröpfchen deines unschätzbaren Schweißes abpressen – aber ich will nicht! Du hast mich hart am Glück vorbeigefahren, hast mich, bittersüß, die alte Sehnsucht schmecken lassen – das will ich dir danken! Weißt du, was Sehnsucht ist? Nein, du weißt es nicht, du willst fressen! Hier, nimm den vollen Stundenlohn, und möge dir die Pasta aus den sieben Öffnungen des Leibes quellen! »Ans Land!«

Es bleiben die Gleisanlagen des Frachtbahnhofes zu durchqueren. An der Kaimauer stehen in langen Reihen die Drehkrane, Ketten mit Greifhaken an den Armen. Aus dem tiefen Hafenbecken holen sie, von den Flößen weg, die mächtigen Vierkantbalken, zehn, zwölf Meter lang, schwenken sie durch die Luft und legen sie in Frachtwagen nieder, flink und spielerisch sauber. So ordnet ein Kind Streichhölzchen in eine Schachtel ein. Es ist schwer, zu denken, daß der kümmerliche Hautbeutel, mit etwas Fleisch, Knochen und Hirn gefüllt, der Mann, dessen Negerschopf aus dem Führerfenster weht, die Seele dieser geordneten Bewegung sein soll. Der eine Kran scheint meine Gedanken erraten zu haben. Während er einen Balken über mich wegschwingt, daß ich den Luftzug spüre, grinst er mir aus Elefantenaugen zu: »Meine Stunde kommt schon noch – ich fresse euch alle! – Bis dahin tue ich hier mit, weil's mir Spaß macht, nicht weil es der kleine Affe auf meinem Nacken so will!«

Jenseits der breiten Straße, die dem Hafen entlangführt, zieht sich die Altstadt einen Hang hinauf; schmucklose Häuser, schmalbrüstig und hoch; drei, vier, fünf Stockwerke. Die Eingänge und Stiegen eng und niedrig. In den Blütezeiten der Republik mußte sich das Volk eng zusammendrängen. Einmal, um der Arbeitsstätte, dem Meer, möglichst nahe zu bleiben, dann auch, um die Hügelrücken für die Paläste der Signori freizuhalten, endlich, um bei den vielen Landungen räuberischer Feinde die Erdgeschosse schnell verrammeln und aus den Stockwerken geschlossenen Widerstand leisten zu können. Und das enge Aufeinander hat die Häuser hochgetrieben. – Gassen dazwischen, wie Schluchten, die sich ein Wildbach durch Felsberge frißt. Über die Gassen weg sind in der Höhe jedes Stockwerks Schnüre und Drähte gespannt, die auf Rollen laufen, wie Flaggenleinen. Nur daß, statt Flaggen, allerlei Wäschestücke gehißt werden.

Dort oben im vierten Stock holt eine wackere Bürgerin eben ein Bettuch ein und singt dazu mit reichem Tremolo ein Klagelied, als wäre sie dabei, die Flagge aller Hoffnung zu streichen und sich und ihr Haus einem erbarmungslosen Feind zu übergeben. Eine Gevatterin, die mit zwei Kupferkesseln vom Brunnen heimkehrt, ruft sie von unten her schallend an: »O Nina!« Die langgezogene Endsilbe macht es zu einem Schrei letzter Not. Oben der Gesang bricht ab, und es beginnt ein hitziges Hinundher, in einer Sprache, die mit ü und ö und französischem Jot ganz wenig mehr mit Italienisch zu tun hat. Die Wörter werden verstümmelt, die Endungen gekappt, als wäre auf Schritt und Tritt der rauhe Seesturm da, den Leuten den Hauch vom Mund zu reißen.

Inzwischen hat sich, nach dem Brauch der Regenküste, ein Gewitter zusammengezogen und platzt mit Gewalt los. Ich trete in den Laden eines Vogelhändlers und frage nach Papageien. Ich weiß plötzlich, daß ein Papagei, nur ein Papagei mich erlösen wird, und verstehe gar nicht, wieso mir das jetzt erst einfällt. – »Papageien, natürlich! Herrliche Papageien, seltene Tiere, zwei, hier! Der eine spricht, der andre nicht!« Und der Händler windet sich, verdreht die Augen und gurgelt mit gespitzten Lippen den Vogel an. »Bello – – Bel – lo? … Haha – hahaha … Bello?« Der Vogel schweigt. Der Mann will ihn mit dem Finger an der Kehle krauen; der Vogel hackt ihn und schweigt. Der Mann macht sich noch papageienhafter. Seine Laute haben nichts Menschliches mehr. Ich erwarte geradezu, daß er sich mit den Zehen die Nase kratzen wird, wie es die Art der Papageien ist. »Bel – lo, Bel – Io, Bel – Io?« Der Vogel schweigt. Und mich überfällt es: bin ich nicht selbst ein verschlissener, mürrischer Papagei, der auf seinem Stänglein hockt und nie das sagen kann, was die Leute gerne hören möchten? Aber dir, mein Vogel, geben sie wenigstens zu fressen, während ich …

Tränenblind ziehe ich meinen dicken Lederhandschuh an und suche den Papagei brüderlich zu streicheln. Er faucht, zwickt mir ein Löchlein in den Zeigefinger und schweigt wieder. Recht so, recht so, mein Vogel, bleib stolz und immer du selbst!

Nun stößt der andere Papagei einen Laut aus, der wie ein ersticktes Lachen klingt. Der Händler stellt beseligt fest: »Auch dieser spricht!« Ich entschließe mich zu einem Lob: »Sie scheinen beide gleich gut zu sprechen!« Und der Händler, glücklich, als hätte er einen Schatz gefunden: »Tatsächlich, so scheint es! Und ich hatte es nie gemerkt! Welchen wünschen Sie zu kaufen?«

Doch ich will keinen Papagei mehr kaufen. Ich kann es mir nicht leisten, einen stolzen Schweiger ständig vor Augen zu haben. Der Händler hofft, mich doch noch zu verführen, lockt, gurrt, dreht sich, wie liebeskrank. Der Vogel schweigt. Der Mann wird böse, weil ihm das Tier den Handel verdirbt, und schreit: »Bello!« Der Vogel dreht sich auf seiner Stange um, kehrt ihm den Rücken zu und schweigt.

Gott erhalte dich, mein Vogel! Wer könnte, wie du – –

Die Wände des Ladens sind vom Boden bis zur Decke verstellt mit aufeinandergestapelten Käfigen, in denen es flitzt, flattert und piept. Sittiche und Inséparables, Kolibris und exotische Finken. Fast allen ist ein Stück vom Brustbein des Tintenfisches durch die Stäbe geschoben, und ich versenke mich in die Betrachtung, wie es wohl die Kinder der Luft in Freiheit anstellen mögen, um zu dieser ihrer Lieblingsnahrung zu kommen? Taucht der Kolibri, nimmt er auf dem Meeresgrund den Kampf mit dem grimmen Tintenfisch auf, besiegt ihn, stülpt ihn um wie einen alten Handschuh und entreißt ihm den begehrten Körperteil? Vom Harzer Roller war es mir bekannt – aber der Kolibri? Wunder der Natur!

Der Regen hat inzwischen eingesehen, daß es ihm mit den hergebrachten Mitteln nicht gelingen wird, diese alte Stadt ins Meer zu schwemmen, und entfesselt letzte Gewalten. – Für den Händler habe ich alle Bedeutung verloren, da er mich als Nichtkäufer erkannt hat. Mürrisch wie eine Spinne hockt er im Hintergrund des Ladens und bastelt an neuen Käfigen. Ich trete in die Türe und sehe den Bächlein zu, die die Gasse herunterplätschern. Da und dort öffnen sich Haustore, Männer und Frauen treten heraus, Säcke über Kopf und Schultern gezogen, Besen in der Hand, und beginnen die Unrathäufchen vor den Türen geschickt den Wassern in den Weg zu kehren. Die Bächlein nehmen alles willig mit, Gemüsereste, Stroh, Federn, bis zur nächsten Türe, wo, zugleich mit neuem Zuwachs, neuer Antrieb kommt. Hinunter, hinunter! Unten, an der großen Straße, wird sich ein Plätzchen finden, wo man in Ruhe den Müllwagen erwarten kann, der alles ins Meer führt, in die große Heimat.

Ein Eisverkäufer hat sich mit seinem Karren in ein Haustor gerettet. Der Regen dauert ihm zu lang, er singt in das Geplätscher hinaus: »Gefrorenes! Gefrorenes!« Doch der Bedarf an Abkühlung scheint augenblicklich gedeckt – kein Käufer meldet sich. Warum traust du dem Kalender, mein Freund, und bietest im Juli Eis an? Vielleicht wird im Winter, wenn du Grog und heißen Tee herumfährst, grelle Sonne scheinen? – Ein Schicksal!

Nun beginne ich zu merken, daß der Regen mich persönlich meint und eine dumme Freude daran findet, mich bei den Papageien festzuhalten. Halt – noch bin ich Herr meiner Schritte! Dem stolzen Schweiger einen Abschiedsblick, einen stummen Gruß – dann bin ich draußen in der blankgewaschenen Gasse. Nach wenigen Schritten läßt der Guß nach, wird schwächer – es überrascht mich nicht. Der Wasserdampf ballt sich, kriecht die Häuser hoch – sobald er die Dächer überklettert hat, wird er als neuer Regen herunterkommen. Nützen wir die Zeit, um einen Kaffee zu trinken.

Die eine Hälfte des Raumes nimmt der Schenktisch ein, mit Flaschenbatterien und der kupfernen Expreßmaschine, die andere ist mit kleinen Tischchen und Hockern vollgestellt. Ein Kellner fragt nach meinem Begehr und brüllt meinen Auftrag dem Mann an der Bar zu, der ihn brüllend bestätigt. Da der Raum so klein ist, so sind die Wechselrufe kaum verklungen, als auch schon der Kaffee mit Schwung vor mich hingesetzt wird. Das heiße ich bedient sein, o Gott! Ich muß mich ein wenig zurechtsetzen und vier Finger zwischen die Westenknöpfe schieben, um mein Machtgefühl besser genießen zu können.

Zwei Tische neben mir sitzen zwei Männer in weißen Leinenjacken einander gegenüber, eine staubige Weinflasche zwischen sich. Sie tuscheln und flüstern, werfen sich in lautloser Entzückung zurück, fassen einander bei den Händen, bei den Schultern; jetzt streichelt der eine dem anderen liebkosend die Wange, dann schielen sie zu mir her und grinsen verstockt. Nach alledem könnten sie einen Mord planen – vielleicht erzählen sie sich aber nur von ihren Mädchen. Doch nein – es soll ein Mord sein! Gilt es mir? Ruhe, Ruhe – zu seiner Zeit werde ich es wissen; vielleicht keinen Nutzen mehr daraus ziehen können, aber wissen! Gibt es Schöneres?

Draußen ist es wieder grau geworden. Es wird Zeit, dem Regen zu zeigen, daß er mich eben doch nicht meinen kann. Ich erhebe mich, sammle letzte Würde in Haltung und Gebärde und schreite langsam am Tisch meiner Mörder vorbei. Mein Blick sprüht Zitate: Bist du der Mann, den Marius zu töten?

Sie blöken mir ein trunkenes Lachen ins Gesicht. Vielleicht sind sie keine Mörder – vielleicht bin ich kein Marius? Erkenne dich selbst!

Der Regen hat die Herausforderung angenommen und macht sich über mich her, doch mit guter Art. Die Tropfen klinkern auf der breiten Krempe meines Hutes, streicheln mir Schultern und Arme, dann und wann auch das Gesicht, wenn ich durch die Häuserspalte nach dem Himmel schaue. Oh, dieser linde, graue Regen in der fremden, fremden Stadt! Das viele Wasser um mich her macht mich rührselig – ich stolpere tränentropfend meinen Weg ohne Ziel. An meine Brust, du Fremde! Ich weiß, du magst mich nicht – doch hier, dies Herz steht dir weit offen!

Kurz vor mir entsteht Getöse. Mit wenigen Schritten bin ich an einer Kreuzung, wo von meiner Winkelgasse ein lächerliches Gäßchen steil bergab führt, in Dunkel und Grauen. Die Häuser schwarz, ungegliedert, blicklos, wie ausgestellte Särge. Ein lotteriges Weib, furchtbar betrunken, taumelt bergab und sprudelt grellen Unflat vor sich hin, rennt an die Wände, rechts und links, entsetzt sich vor klaffenden Torwegen, wirft in Haß und Wut fluchgierige Fäuste gegen das Ritzchen Regenhimmel. Hinter ihr beleben sich Türen und Fenster, gespenstisch: können es wirkliche Menschen sein, die diesen Totenwinkel bewohnen? »Es ist die Maddalena,« zischt eine zahnlückige Megäre. »Wie sehr sie betrunken ist!« – »Es kann nicht vom Wein sein,« schätzt ein Sachverständiger. »Vielleicht haben ihr fremde Matrosen Opium gegeben?« – »Gewiß, natürlich,« erhebt sich ein giftiger Chor. »Und dann hat man sie liegen lassen, ohne Geld – darum flucht sie so entsetzlich – warum geht sie mit jedem, das Aas?« – »Was wollt Ihr, es ist ihr Gewerbe,« mummelt ein Graubart und spritzt Tabaksaft aus dem Mundwinkel.

Das Weib ist kreischend und torkelnd irgendwo verschwunden, als wäre sie kerzengerade zur Hölle gefahren. Arme Maddalena, du wirst keinen Christus finden, der dich aufrichtet! Verzeih, daß ich mich zum Zeugen deines Elends gemacht habe! An den Gespenstern aber, die deine ehrliche Trunkenheit zu richten wagten, weil sie selbst zufällig nüchtern waren – an ihnen will ich dich rächen!

Und ich schwenke die Arme, lasse den Regenmantel flattern und schicke ein schauriges Teufelsgelächter in den Torweg der Hölle hinunter. Die Köpfe fahren erschreckt herum, starren mich an, wenden sich gleichmütig ab, verschwinden: ein verrückter Ausländer – nichts Besonderes! Die Ausländer sind meistens verrückt! – Keine Rache für Maddalena! Und ich gehe schamvoll weiter, ein Geschlagener. Eben hätte ich eine Religion gründen können und habe es nicht fertiggebracht. Bin ich nicht blaß genug, bin ich nicht lang und hager wie eine Sterbekerze, war das Lachen nicht über jeden Begriff schaurig, daß mich jetzt noch die Angst vor mir selber schüttelt? – Mag sein, mag alles sein – aber ich konnte nicht überzeugen, daraus kommt es an! Gute alte Kassandra – wie sehr ich dich verstehe! Dir diesen Gruß!

Und nun genug mit Elend und Verzweiflung! Seit wann habe ich es mit der christlichen Nächstenliebe? Herbei, herbei, du schöner Heidenstolz! Des Lebens letzter Sinn: friß oder laß dich fressen! Mag ich zur Hälfte gefressen sein, oder zu drei Vierteln meinetwegen – der Kopf sieht noch heraus, und der soll schnappen, verdammt, nicht mit altem Öl gurgeln!

Wo ich mich befinde, weiß ich nicht. Reiseführer aller Art sind mir so fremd wie Regenschirme. Doch immerhin: ich gehe bergauf. Und wer lange genug bergauf geht, muß auf die Höhe kommen. Dieser Satz gilt sicherlich auch für die fremdeste Stadt. Ich sehe mein Gäßchen ins Weite münden, dort singt schon eine Straßenbahn in einer Biegung, und ein Auto flitzt vorüber. Bald stehe ich auf einem weiten Platz und sehe schräg unter mir den Dom. Kein Gotteshaus in dieser Stunde, ich bin vorübergehend verdorben dafür! – Und sonst? Da reihen sich die Paläste, da wartet auf Schritt und Tritt Geschichte auf den Kenner. – Nicht heute! Ich bin so wund und müde – ich will nicht nach alten Schätzen tauchen, nicht den Abstand messen von einst und jetzt – ich will ein wenig an der Oberfläche schwimmen, ein tiefes Meer unter mir fühlen und den Himmel über mir. Nichts weiter.

Ein Autoführer ruft mich an: »Eine Rundfahrt, Herr?« Jawohl, das ist es, was ich suche! Und wir fahren los. Der Mann ist stolz auf seine Stadt, wie jeder Italiener auf seinen Heimatsort, weiß viel und bringt es geschickt an. Er hat mit großen Herren große Reisen gemacht. »Jetzt gibt es wenig reiche Herren mehr; und denen, die es noch gibt, mag ich nicht dienen. Ich fahre lieber mein Taxi!« So sagt er, der stolze Sklave, und ich liebe ihn dafür. Fühlst du auch, daß kein Geld der Erde schlechtes Blut besser macht? Daß dir zum Herren neuer Prägung nur ein Haupttreffer fehlt, oder die Laune einer amerikanischen Erbin, die sich deine kraushaarige Mannheit wünscht?

Wir fahren an den Palästen der alten Geschlechter vorbei. Die meisten haben ihre Bestimmung gewechselt – hier ist die Universität eingezogen, dort ein Museum. Wo noch in einem ein später Enkel haust, mag er mühsam genug an der alten Größe zu schleppen haben.

Im Fluge sehe ich in einem Innenhof ein schmiedeeisernes Gitter vor einem Bogenfenster, fein wie ein Spitzenmuster. Weiter, weiter! Ich verschließe mich trotzig allem, was mir von reicheren Tagen erzählen möchte. Ich bin in diese götterlose Zeit hineingeboren – was soll das wehmütige Rückwärtsschauen? Was soll mir ein Renaissanceportal, mit einer Bogenlampe davor und mit Telephon und Feuermelder in der Pförtnerloge?

Ist es nicht angebrachter, festzustellen, daß der Führer zeitweilig, in der Hitze des Erklärens, sich ganz zu mir umwendet, das Lenkrad nur noch hinterrücks mit zwei Fingern hält, und daß das schlanke Fahrzeug doch gutwillig seinen Weg weiterfindet? Ein gefährliches Haustier, dies schlanke Ding, katzenhaft langgestreckt und höchst bedrohlich in der stählernen Spannung seines Ebenmaßes! Wie ein zahmer Panther etwa. Fahren wir noch? Oder trägt uns ein reißendes Tier, das wir ahnungslos großgepäppelt haben, in seinem Rachen spazieren, sehr wohl imstande, uns zu verschlingen, wenn ihm die Zahmheit langweilig wird? Abgründe, Abgründe! Ich wittere heißen Raubtieratem und falte ergeben die Hände.

Nun queren wir den großen Platz vor der Oper. Nichts von Verkehrsordnung, keine winkenden, tobenden Schutzleute zu Fuß und Roß, kein Zwang zu rechts und links, zu Mitte frei und Schneckentempo. Alles unnötig bei einem Volk, das zu Wachsamkeit gegen Gefahren erzogen ist. Autos, Straßenbahnen, Droschken, Schwerfuhrwerk, Handkarren und Fußgänger – das greift ineinander und löst sich wieder, wie ein Zahnradgetriebe. Einem Mann vor uns, der einen Karren mit Zeitungsballen schiebt, wird die Aufgabe zu schwer. Er bleibt stehen und trocknet sich die Stirne. Unser Auto saust in scharfer Wendung um ihn herum – der Führer nimmt sich nicht die Mühe, zu fluchen: er zeigt nur kurz auf die Stirne, um anzudeuten, daß das Beginnen ein andermal gefährlicher sein könnte. Ein Stadtwächter sieht gleichmütig herüber: will sich der Mann töten lassen? Nein, das will er gewiß nicht. Folglich wird er wohl von selbst Platz machen? Richtig geraten!

Der Platz ist übrigens in vollem Umbau, wie ganz Italien. Jenseits türmen sich die modernen Riesenbauten. Der Führer begeistert sich: »Hier der Palast, ganz aus rotem Granit, der dort aus Sandstein – – deutscher Stil, Renaissance Wilhelm II.« – Ich werde klein und häßlich unter dem Lob. Dies, o Gott, dies sind die Friedensgreuel, von denen uns die Geschichte kaum je freisprechen wird, wenn schon die Kriegsmärchen zu den Urwaldaffen verbannt sein werden, von denen sie ausgegangen sind. Nachbarin, Euer Fläschchen! Hier herrschen, in brüderlichem Wettstreit vereint, das rege Leben und Treiben und der fieberhafte Aufschwung! Nichts davon für mich! Ich meinte zu leben, und war doch nur getrieben. Und gar erst der Aufschwung! Schmeckt er nicht nach Vater Jahn und den vier F? Bockt auf ein hölzernes Pferd und meint die Sonnenrosse zu lenken? Vorüber, ach vorüber! Ich verhülle mein Angesicht in der Ellbogenbeuge.

Da bricht die Prunkstraße unvermittelt ab – ein altes Tor steht gegen den Himmel, darunter, in einem Rasenfleckchen eingezäunt, ein romanischer Säulenhof, spielerisch frei, und ein Häuschen, wie ein gezogener Schneidezahn.

Das Häuschen wurde zerschnitten, der Säulenhof abgetragen und dort neu aufgebaut. Beide standen anderswo und mußten der neuen Prunkstraße weichen. In dem Häuschen wurde Cristoforo Colombo geboren; man hat nur das Geburtszimmer erhalten. Nun, nun – man weise mir das eidesstattliche Attest der Hebamme, oder gestatte mir ein mildes Lächeln. Immerhin: merke, o Erdenwurm, den Finger Gottes! Der Amerikanismus hat vor dem Entdecker Amerikas nicht haltgemacht!

Wir haben gewendet und flitzen weiter durch die Stadt. Auf einem Rasenplatz, inmitten blühender Rabatten, das unvermeidliche Denkmal des großen Königs. Wie merkwürdig einheitlich alle großen Fürsten des späten 19. Jahrhunderts in Stein und Bronze verewigt sind! Sie sitzen so lebenswahr, so photographisch getreu auf ihren, je nachdem, kurbettierenden oder schlafenden Pferden, als wollten sie jeden Augenblick heruntersteigen, oder als wüßten sie, daß die meisten ihrer Enkel es inzwischen getan haben!

Doch was sind das für befremdliche Auswüchse auf Schultern und Helm? Übergänge zum Jugendstil? In mein kurzsichtiges Zwinkern bringt der Führer Erleuchtung: »Viktor Emanuel und seine Tauben!« Nun – ich bin kein Umstürzler, ich will nichts gesehen haben! Aber die Skulptur ist vielleicht wirklich eine sterbende oder tote Kunst, und die Vögel der Unschuld deuten stumm an, wozu ihre Erzeugnisse taugen?

Wir haben sausend eine Bastion erklommen, unter mißmutigem Kopfschütteln einiger aufgestörter Boccia-Spieler. Hier soll sich ein Blick auf das neue Genua bieten, ganz in wilhelminischer Renaissance – ich lasse ihn ungeworfen.

Der Hafen, weit, das Meer – ein Schiff zwischen den Türmen der Einfahrt. Grüßt mir die Welt!

Und jetzt will ich nicht mehr! Was tue ich Städtehasser in Steinwüsten? Habe ich nicht Jahre meines Lebens, wenn ich im Schritt meiner Ochsen durch den Acker ging, das Schüttern des Pfluges in Armen und Hirn, habe ich nicht geträumt davon, so einst den Pflug über Stadtgrund zu führen, das Steinpflaster aufzuackern und den verfluchten Asphalt, die gewachsene Scholle der Sonne wiederzugeben? Dem Heimatboden bin ich entflohen, weil ich die Kraft nicht fand, ihm sein Geheimnis abzutrotzen – und fahre nun im Auto, der Teufelsdroschke, über fremdes Pflaster? Weg – ich will nicht mehr! Kein Wort weiter von den Städten! Zum Bahnhof – ich fahre mit dem nächsten Zug!

Eine letzte Neugier zwickt mich noch: Was mögen das für Häuser sein, hinter der hohen Umfassungsmauer, an der wir entlangfahren? Schmucklos, rechteckig, alle Fenster in der unteren Hälfte durch schräggestellte grüne Blendläden verdeckt – ein Gefängnis? Dafür ist der Anstrich zu gepflegt.

Es ist ein Kloster, das Frauenkloster zur heiligen – zur heiligen – – ich weiß nicht mehr, welcher Heiligen: »Wer hier eintritt, kommt nie wieder heraus,« erklärt der Führer. »Und der Eintritt kostet hunderttausend Lire!« Keine allzustarke Summe, bei der Valuta. Immerhin: besäße ich sie, ich würde sie schwerlich hingeben, um mich dafür einsperren zu lassen! Es muß billigere Wege geben, sich vor der Welt zu schützen!

Da sind wir am Bahnhof. –


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