Karl Emil Franzos
Moschko von Parma
Karl Emil Franzos

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Das war ein starker, rotbackiger, flachshaariger Bursche, Hawrilo Dumkowicz, der Sohn eines armen Tagelöhners aus Korowla. Nachdem der Vater gestorben war und das Mißverhältnis zwischen dem gesunden Magen des Burschen und den Brotrationen im elterlichen Hause immer greller geworden, entschloß sich seine arme Mutter endlich, ihn zu Wassilj in die Lehre zu geben.

Es kostete sie aber schwere Herzenskämpfe, und ihr Gewissen fühlte sich tief beunruhigt. Wassilj Grypko ging nie zur Kirche! Und nun hatte er sogar einen jüdischen Lehrling im Hause; durfte sie ihren einzigen Sohn mit diesen beiden Menschen verkehren lassen?

Nun, sie entschloß sich doch dazu. Freilich befragte sie vorher eine sehr kompetente Persönlichkeit: den hochwürdigen Herrn Mikita Borodaykiewicz, den griechisch-katholischen Seelenhirten von Korowla. Das war ein dicker Mann, der eine dicke Frau hatte und drei dicke Töchter. Den Polen galt sein Haß, dem Schnaps seine Liebe. Im übrigen war er ein guter Mann, der gern ja sagte und ungern nein. Darum sagte er auch nicht nein, als ihm die Witwe ihren Plan vortrug. Weil er aber sowohl Familienvater als Seelsorger war, so vereinigte er das Angenehme mit dem Nützlichen, indem er einerseits die Gefahr nicht verhehlte, anderseits aber auch die Mittel zur Abwehr in Vorschlag brachte. »Der eine ist ein Heide«, sagte er gewichtig, 48 »der andere ein Jude, das ist freilich wahr. Aber wenn ich den Hawrilo in mein Gebet einschließe, und zwar täglich, so steht die Sache doch anders. In mein Gebet, versteht Ihr mich! das Gebet eines Priesters, und noch dazu täglich! Dann könnte ihm sogar der Verkehr mit dem Teufel nichts am Seelenheile schaden!«

Das Gebet eines Priesters! Dem armen Weibe leuchtete dies vollkommen ein. Gleichwohl fragte sie: »Und was wird es kosten?«

»Das Gebet eines geweihten Priesters! Das dürft Ihr nicht vergessen! Also, einen Gulden monatlich wird es kosten!«

Das war natürlich für die arme Witwe viel zu teuer, und sie begann zu feilschen. Vergeblich versicherte der gute dicke Mann, die Sache sei des Preises unter Brüdern wert. »Bedenkt doch nur, täglich muß ich mich seiner erinnern, wenn ich vor dem Altar stehe, das ist keine Kleinigkeit!« Schließlich mußte er doch mit dem Preise herabgehen, tief, ganz tief. Um monatlich dreißig Kreuzer mußte er sich verpflichten, den Hawrilo Dumkowicz täglich Gott zu empfehlen. Freilich bat er auch: »Versprecht mir wenigstens, daß Ihr niemand sagt, wie billig ich es Euch gelassen habe.«

Das Weib versprach es. »Aber du, hochwürdigster Vater«, bat sie, »mußt mir auch etwas versprechen: Du wirst es deshalb nicht schlechter tun, weil du es billiger tust.«

Auch dies gelobte Vater Mikita mit feierlichem Eidschwur. Er hat es sicherlich redlich gehalten. Und dieser mächtigen Verwendung ist es vielleicht zuzuschreiben, daß mindestens in den ersten Monaten das Seelenheil des Hawrilo in der Schmiede keinen Schaden nahm.

Seine unsterbliche Seele nicht. Aber desto mehr das Teil, was vergänglich war: die Jacke und die Hose und das junge Stück Menschheit, welches darin steckte. Die Kleider erhielten täglich andere Risse und die Menschheit andere Püffe. Christentum und Judentum vertrugen sich anfangs in der Schmiede bitter schlecht, und sooft der Meister den Rücken kehrte, gab es ein Gefecht; nach Schluß der Arbeit aber gerieten sie vollends täglich mit größter Regelmäßigkeit aneinander. Und da das Judentum stärker war, so ging es stets triumphierend heim, während sich das 49 Christentum still fortschlich und dabei fortwährend an der oder jener Stelle rieb.

Aber allmählich verloren diese Kämpfe für sie den Reiz der Neuheit, und sie prügelten sich nur noch aus Langeweile und prügelten sich so allmählich in eine Art behaglichen Verhältnisses hinein, ja schließlich in eine Art Freundschaft, eine wahrhaftige Freundschaft, welche durch mancherlei äußere Zeichen befestigt wurde. Aber schier jedes dieser Zeichen machte jenen »Wurm« im Herzen des armen Judenjungen stärker bohren.

Da war wieder einmal »Simchat Thora« im Städtchen gefeiert worden, das Fest, welches die Juden alljährlich in freudevoller Erinnerung daran begehen, daß ihnen Gott die Thora gegeben, die Quelle der Weisheit, den Schlüssel zum Jenseits. Die Erinnerung ist so lebhaft und die Freude so groß, daß an diesem Tage Met, Wein und Schnaps in unglaublichen Quantitäten vertilgt werden. Je frommer der Mann, desto größer sein Rausch. Ob dies die rechte Art ist, Jehova zu ehren, den Gott der Heerscharen, oder wie ihn Wassilj respektvoll zu nennen pflegte: »den alten Herrn Vater vom jetzigen Herrgott« – das bleibe dahingestellt. Genug, es geschieht, es geschieht sehr ausgiebig.

Auch Mosche hatte sich aus Freude über die Existenz des Pentateuch einen mächtigen Dusel angetrunken. Und da es an diesem Tage gleichfalls Sitte ist, in symbolischer Würdigung der vielen geistigen Süßigkeiten der Bibel sehr viele Rosinen und Mandeln zu essen, so hatte er auch dies redlich erfüllt. Aber dabei hatte er doch ein ganzes Säckchen voll der guten Dinge beiseite zu bringen gewußt, und zwar für einen, welcher freilich die Rosinen und Mandeln ohne jede symbolische Nebenbedeutung essen mußte: für Hawrilo Dumkowicz.

So saßen die beiden Jungen am nächsten Morgen – der Meister war über Land gegangen – friedfertig nebeneinander und griffen beide emsig in das Säckchen. Die süßen Rosinen machten auch das Herz des Hawrilo süß und lieblich. Ihn ergriff ein sanftes Fühlen, er gab seinem jüdischen Kameraden einen derben Schlag auf die Schulter und meinte mitleidig: »Ewig schade! Bist ein braver Kerl! Mußt aber deshalb doch in die Hölle, du ungläubiger Jud! – Ewig schade!«

Moschko sah ihn verdutzt an. Dann begann er zu lachen, 50 immer lauter, immer wiehernder – es klang wie ein Brüllen. Die Tränen stürzten ihm über die Backen, die Rosinenkerne gerieten ihm in die Luftröhre, aber er wieherte fort.

Hawrilo sah ihn verdutzt an. »Lach nur«, sagte er ärgerlich. »Wenn dich der Teufel in den Topf steckt und ans Feuer stellt, wirst du schon weinen!«

Aber Mosche lachte nur immer stärker. Es war auch wirklich gar zu komisch! Er, Mosche, hatte die Thora, den rechten Glauben, die Freuden des Jenseits! Er hatte es schwarz auf weiß, in den fünf Büchern und unzähligen dicken Bänden! Er hatte darum gestern Met getrunken und Rosinen gegessen! Nur weil dieser arme Christ nichts im Jenseits hoffen durfte, hatte er ihm wenigstens im Diesseits einige Rosinen zugewendet. Und nun ward er von diesem armen Jungen, dessen doch ganz bestimmt die Hölle wartete, bedauert! Er, ein »Auserwählter«, dessen vor dem Angesichte Gottes alle möglichen Freuden warteten! Es war zu komisch!

Dann trocknete er sich die Tränen und schob dem Hawrilo das Säckchen zu. »Da! Du armer Teufel, greif hinein und iß. Drüben kriegst du ohnehin nichts mehr. Da hockst du dort in der ewigen Kälte und in der ewigen Dunkelheit und mußt beständig arbeiten, du weißt nicht was und wozu!« So stellen sich die Chassidim die Hölle vor. Bei einem trägen Volke des Südens kann dieses Bild für ewigen Jammer nicht befremden. –

Aber nun ward es an Hawrilo, heiter zu werden. Er, der das Sakrament der Taufe empfangen, er, dessen der hochwürdige Mikita Borodaykiewicz täglich gegen einen Monatlohn von dreißig Kreuzern vor dem Altar gedachte, er in die Hölle kommen! Und der christliche Knabe begann nun seinerseits zu wiehern und Moschko mit, obwohl er diese Heiterkeit eines Kandidaten der Hölle nicht begriff . . . Vielleicht hat über ihnen beiden irgendwo im All der ewige Weltgeist herzlich mitgelächelt . . .

Als sich die Jungen müde gelacht, blickten sie einander wieder mitleidig an.

»Ja, du kommst in die ewige Kälte –«

»Aber ich bitte dich, du Jud, so sei doch vernünftig. Du mußt ja ins ewige Feuer –«

»Ich muß? woher weißt du das?«

51 »Aber es steht ja in den Büchern –«

»Und in unseren Büchern steht, daß wir das auserwählte Volk sind. Und unser ist der Himmel! Und unsere Bücher sind von Gott selbst –«

»Hahaha! Das sind ja die unsrigen. Bei euch steht dummes Zeug –«

»Hawrilo!« Der junge Riese ballte die Fäuste. Dann besann er sich. »Sage mir«, sagte er, »woher weißt denn du, daß eure Bücher von Gott sind?«

»Weil es in den Büchern steht! Und unser hochwürdiger Herr Pfarrer sagt es jeden Sonntag. Und bei den großen Feiertagen, oder wenn er früher getrunken hat, so schluchzt er immer dazu, wenn er es sagt –«

»Der Pope!« rief Mosche verächtlich.

»Der Rabbi!« näselte Hawrilo. »Aber woher weißt du, daß ihr in den Himmel kommt?«

»Weil es in den Büchern steht – und weil es unsere Frommen sagen – und . . .«

Er hielt inne. Es fiel ihm plötzlich jäh aufs Herz, daß er für seinen richtigen Glauben eigentlich auch nicht bessere Quellen habe als Hawrilo für seinen Irrglauben. Und wer konnte wissen, ob . . . Er dachte diesen Gedanken nicht aus, er wagte es nicht . . .

So saßen die Jungen schweigend nebeneinander und aßen die Rosinen und Mandeln, bis das Säckchen leer war.

Da begann Moschko zögernd, wie scheu: »Du, Hawrilo, ich möchte . . .«

»Was?«

»Genau wissen, wer von uns beiden in die Hölle kommt.«

»Bah! Vielleicht keiner!«

»Oder beide!« sagte Moschko grimmig und sprang auf und eilte in die Schmiede.

Er hämmerte an jenem Tage ganz fürchterlich. Aber seine Gedanken schlug er nicht tot . . .

Es kommt nicht oft vor, daß Lehrjungen über Religion und Unsterblichkeit grübeln. Auch die beiden Burschen in der Barnower Schmiede machten hierin keine Ausnahme. Wenn sie gleichwohl zuweilen in ein solches Gespräch gerieten, so fügte 52 sich dies naturgemäß, weil der ungeheure Unterschied der Anschauungen, in denen sie erzogen worden, bei mancher Gelegenheit hervortreten mußte.

Da gingen sie einmal im Mondschein heim, von Wolowce nach Barnow. Auf der Heide, welche sie durchschritten, stand wenige Schritte vom Wege ein mächtiges Kruzifix aufgerichtet, übergroß und plump gefügt.

Die Nebel wallten um das Bild des Gekreuzigten, und der Mond schien hell darauf. Fromm entblößte Hawrilo sein Haupt und schlug ein Kreuz. Aber sein Kamerad blickte scheu zu Boden und schritt rasch vorbei.

»Warum grüßest du Gott nicht?« fragte Hawrilo.

»Gott kann man nicht sehen. – Und warum sprichst du so? Willst du wieder einmal Prügel haben?«

»Aber es ist doch wenigstens der Sohn deines Gottes?«

»Wir Juden sind alle Söhne Gottes. Er war ja auch ein Jude. Aber ein Irrlehrer war er.«

Hawrilo ballte die Fäuste. »Moschko –«

»Also sage du, was war er?«

»Gottes Sohn, das Lamm, der Erlöser. Nämlich: die verfluchten Juden haben ihn gekreuzigt, und durch seinen Martertod ist die Erbsünde von uns genommen, und wir Christen kommen alle in den Himmel!«

Moschko dachte nach. »Also ihr kommt in den Himmel, weil ihn die Juden gekreuzigt haben?«

»Natürlich!«

»Und wenn wir ihn nicht gekreuzigt hätten, so wäret ihr noch mit der Erbsünde beladen?«

»Freilich!«

»Nun, dann solltet ihr uns ja nur dankbar sein, daß wir ihn gekreuzigt haben. Sonst kämet ihr alle in die Hölle. Warum verfolgt ihr uns deswegen?«

Darauf wußte der verblüffte Hawrilo nichts zu erwidern.

»Ich glaube aber«, fuhr Moschko fort, »wenn ein Mensch in den Himmel kommt, so geschieht es deswegen, weil er es verdient. Aber nicht, weil jemand vor so langen Jahren gekreuzigt worden ist. Es sind ja schon vielleicht zehntausend Jahre . . . Übrigens, ich hätte ihn nicht kreuzigen lassen. Wenn er schon 53 den Tod verdient hat, so hätten ihn unsere Leute mit einem Gewehr totschießen sollen. Wozu einen Menschen quälen? Aber man sagt, daß er ein Irrlehrer war. Sage mir, was hat er denn eigentlich gelehrt?«

»Und das weißt du nicht? Also, er hat gelehrt, daß man in der Kirche beten soll und nicht in der Synagoge. Und dann, daß man alles essen darf und nicht so nur einiges wie die dummen Juden. Er hat ausdrücklich gesagt, daß man oft Schweinebraten essen soll. Und dann hat er noch manches anbefohlen, zum Beispiel:

›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‹«

»Das ist nicht wahr«, rief Moschko, »das kann er nicht gesagt haben! Das steht ja bei uns geschrieben! Rabbi Hillel hat es gesagt! Wir beten es täglich am Morgen!«

»Aber bei uns steht es im Katechismus!«

»Und handelt ihr danach?«

»Nein! – Und ihr?«

»Es ist wahr«, sagte Moschko, »wir beten es, aber wir tun es auch nicht! Sonderbar! Also bei euch ist es auch so? Jeder sagt es, und keiner richtet sich danach – warum?«

Schweigend gingen sie weiter. Dann blieb Hawrilo plötzlich stehen. »Moschko, mir fällt etwas ein. Es gibt einen alten Jäger in Korowla, Milian Hruszko, der hat einmal in der Schenke gesagt: ›Wenn Christus ein Jäger gewesen wäre, so hätte er nicht gesagt: ’Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!‘ Dann hätte er gewußt, daß dies unmöglich ist. Die Tiere bekämpfen einander, und der Starke mordet den Schwachen, und dasselbe Gesetz ist für den Menschen. Aber‹, hat der Jäger gesagt, ›Christus war ein Gelehrter, war ein Jude, und die kommen selten in den Wald hinaus. Wer im Walde lebt‹, hat der Milian gesagt, ›der lernt die Welt verstehen und weiß, wie töricht jenes Wort ist!‹«

»Wer weiß«, erwiderte Moschko, »vielleicht hat der Jäger recht. Es wäre schwer, nach dem Worte zu handeln. Aber schön wäre es! Und wenn es wirklich unmöglich ist, warum steht es geschrieben?«

Nun wißt ihr, wie der »Wurm« beschaffen war. Aber schwereren Kampf, den schwersten, hat die Liebe über unseren Moschko gebracht.


 << zurück weiter >>