Karl Emil Franzos
Moschko von Parma
Karl Emil Franzos

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Fünftes Kapitel

So ward Mosche Lehrjung bei Wassilj Grypko und blieb es durch vier Jahre. Dann kam der Freudentag, an welchem sich der Lustigmacher im Kampfe mit seinem Todfeind die größte Begeisterung seines Lebens erstritt und auch Abraham einen unerhörten Grad von Rührung erreichte; der festliche Tag, da Mosche freigesprochen wurde und Grypko unter den Freibrief sein Kreuz setzte: »Sein Handwerk kann er, Gott helfe ihm weiter, obwohl er nur eben ein Jude ist!« Aber das war kein Abschiedswort; der junge Schmiedegeselle blieb dann noch weitere drei Jahre im Hause seines düsteren Meisters.

Von seinen äußeren Schicksalen während dieser sieben Jahre wäre sehr wenig zu berichten. Aber desto mehr ist von seinen inneren Schicksalen zu erzählen. Es muß gezeigt werden, wie Mosche ward, als er so mit einem Teil seines Wesens draußen in der Schmiede Wurzel faßte und mit dem anderen im Ghetto wurzeln blieb. Wie er mit seinem Lehrherrn auskam, wie mit seinem fröhlichen Mitgesellen Hawrilo Dumkowicz, wie mit seinen Glaubensgenossen. Welche Gedanken ihm kamen, wenn er fünf Tage der Woche mächtig schaffte und zwei andere, den Sonnabend und Sonntag, notgedrungen müßigging. Und schließlich, wie er »sein Herz entdeckte«. Freilich geschah dies in so wenig poetischer Art, daß es ihm die Antipathie aller romantesken und zartbesaiteten Gemüter zuziehen dürfte. Denn bei 40 Mosche Veilchenduft äußerte sich die Liebe nicht wie bei dem Helden einer Novelle in Goldschnitt, sondern wie bei einem –Schmiedegesellen in Podolien . . .

Mosche Veilchenduft war ein glücklicher Bursche, und darum wurde er ein guter Mensch. Wie die Pflanze, welche vollen Sonnenschein genießt, gerade und tadellos heranwächst, so wird ein Herz, welches sich glücklich fühlt, brav und gut. Nur muß das Glück echt sein, und nicht etwa ein erlogenes, wie es Reichtum und Ansehen häufig sind. Mosche fühlte sich wohl, weil er Behagen fand an selbsterwählter Tätigkeit. Solches Behagen ist echtes Glück, vielleicht das einzige auf Erden.

Ein guter Mensch also ward Mosche, aber durchaus nicht ein Ideal, ein Ausbund aller Tugenden. Ein stillfröhlicher, gesetzter, fleißiger Bursche ward er, der auch zuweilen log, trank, raufte, fluchte; einer Dirne nachlief – aber alles mit Maß. Ehrgeizig war er wohl auch, aber sein Streben richtete sich äußerlich nur darauf, von Halbjahr zu Halbjahr einen schwereren Hammer schwingen zu können, wobei ihm Wassiljs Rieseninstrument als Ideal vorschwebte.

Freilich war des Meisters Hammer nur anscheinend das Ziel; in Wahrheit schwebte diesem jungen Juden Höheres vor, wobei der Hammer nur Mittel zum Zwecke war. Mosche Veilchenduft wußte, daß er der erste Mensch seines Glaubens war, der in diesem Lande das Schmiedehandwerk erlernte. Also muß ich zeigen, sagte er sich, daß auch ein Jud dazu taugt. Dies Bewußtsein machte ihn fleißiger, ernster und darum auch tüchtiger, als er sonst geworden wäre. Das war alles; stolze Gedanken über seine Bedeutung als Vorkämpfer kamen ihm wahrhaftig nicht. Höchstens dachte er zuweilen: Wenn ich einmal Meister bin und ein jüdisch Jüngel will Schmied werden, so nehm ich ihn auf. Aber dann werden ihn auch vielleicht Christen nehmen, denn sie werden ja an mir sehen, daß auch ein Jud dazu taugt.

Es fand sich aber zunächst kein solcher Nachfolger, denn diese Menschen sind sehr zähe und halten fest an ihren Vorurteilen. Bezüglich unseres Mosche schickten sie sich freilich allmählich ins Unabänderliche und betrachteten ihn trotz seines Handwerks nach und nach wieder als einen der Ihrigen. Kam ein Mann aus Barnow in die Nachbarschaft, so erzählte er gewiß 41 von ihm, nicht als von einem, auf den man stolz sein darf, durchaus nicht! – aber wie man eben von einer Kuriosität erzählt, deren man sich just nicht zu schämen braucht. Und zum Schluß hieß es immer: »Er betet täglich, er hält alle Gebote. Wir haben's nicht gerne zugelassen, aber man müßte lügen, wenn man sagen wollt, daß es ihm an seiner Jüdischkeit geschadet hat.«

Aber da irrten die Juden von Barnow. Mosche ward allmählich ein anderer Jude als sie. Er arbeitete am Sabbat nicht und betete täglich und hielt alle Gebote – das ist wahr. Aber in seinem Kopfe ging es eigen zu, und über sein Herz kamen schwere Kämpfe. Er blieb gläubig, er zweifelte nicht einmal an dem Wunderrabbi von Sadagóra, viel weniger an Gott. Aber er ahnte, daß der Mensch zunächst ein Mensch sei und dann erst ein Christ oder ein Jude. Er zweifelte nicht, daß es Gott wohlgefällig sei, wenn ihn jeder nach seinem Bekenntnis verehre, aber er grübelte darüber, warum Gott die verschiedenen Religionen gestatte und damit den Haß und Streit unter den Menschen. Er rüttelte nicht daran, daß ein Jude keine Christin heiraten dürfe, aber das Herz tat ihm dabei weh, und wieder forschte er nach den Gründen für diese Notwendigkeit und wieder vergeblich.

Die Leute von Barnow erfuhren es nie. Wir aber wollen es sogar des näheren erkunden. Es ist vielleicht der Mühe wert. Ja! es ist der Mühe wert, zu sehen, wie sich jene großen, ewig gültigen Gesetze, nach denen sich alles geistige Wachstum auf Erden richtet, das gesamte Treiben der Menschheit regelt, auch im einzelnen offenbaren. Und nicht bloß in einer herrlichen, machtvollen Persönlichkeit, sondern im Geringsten und Unscheinbarsten: in dem armen Herzen eines rohen Arbeiters in einem armseligen Winkel der Erde. Die Liebe und die Arbeit, sie allein brechen unsere Ketten und geleiten uns aus der dumpfen Niedrigkeit gemeiner Instinkte und trüber Vorurteile auf die Höhe reinen Menschentums. Die Arbeit erhellt uns das Hirn, die Liebe – die Geschlechts-, die Eltern-, die Kindesliebe – erhellt uns das Herz. So bei den Völkern, so bei den Heroen der Menschheit und nicht anders bei Mosche Veilchenduft.

»Wie ein Wurm hat es sich mir eingebohrt«, pflegte er später darüber zu erzählen, »schreien hätte ich manchmal mögen, wie 42 es so gebohrt hat, aber ich bin still geblieben. Wem hätte ich auch klagen sollen oder wen anklagen? Es war ja niemand daran schuldig, ich selbst, ich allein habe mir jenen Wurm in das Herz gesetzt.«

Da irrte er freilich. Es war auch nicht sein Verschulden, nicht sein Wille gewesen. Jener »Wurm«, der in jedem Menschen schlummert, war ohne sein Zutun in ihm wach geworden, während er so vom Morgen bis zum Abend einsam bei der Arbeit stand und die müßigen Gedanken unwillkürlich den Gegensatz erwogen zwischen seinem eigenen Geschick und dem der Glaubensbrüder drüben im Ghetto.

Der äußere Anlaß zu solchen Vergleichen bot sich oft genug. Da war er einmal bei einem Familienfest gewesen. Seinem Bruder Mendele, dem goldenen Menschen mit den zwei Anzügen, hatte der liebe Gott nun auch einen Sohn beschert. Die Beschneidung wurde überaus reich und fröhlich gefeiert. Und da sah er sich so den blassen, hochmütigen Menschen an und wie gut es ihm erging. Er arbeitete nichts, er war nur Tag und Nacht »fromm«. Und doch ehrten alle den Müßiggänger, und ihn, Mosche, der so mühsam arbeitete, blickten sie scheel an. Ist das gerecht? fragte sich der Bursche, als er wieder vor seinem Amboß stand. Sie sagen, das sei Gott wohlgefällig. Aber kann es Gott gefallen, wenn ein Mensch müßiggeht? Und kann es Gott mißfallen, daß ich arbeite? Die Weisen sagen es so, aber vielleicht verstehen sie nicht, was Gott als Gesetz hat aufschreiben lassen. Oder wenn sie es verstehen, dann ist das Gesetz schlecht!

Nein! nein! rief es in ihm. Was Gott will, ist vernünftig. Bei uns muß es eben anders zugehen als bei den Christen. Wir sind ja sein Volk . . . Wir müssen uns heiligen, und darum ist ihm das Lesen im Gesetze die liebste Arbeit. Wir müssen uns heiligen, wir müssen stolz dastehen vor anderen Völkern.

Stolz! Er richtete sich hoch empor und schwang den Hammer wuchtiger. Aber jählings brach er zusammen wie unter dem Druck einer Riesenfaust. Über ihn war der Gedanke gekommen, wie erbärmlich es in Wirklichkeit um sein Volk stand. »›Hundsblut‹ pflegt man uns zu rufen«, seufzte er, »ach ja, schlechter als Hundsblut werden wir behandelt!« Er erinnerte sich, was er 43 neulich zufällig auf der Straße mit angesehen. Da war der Herr Baron Starsky durch die Stadt geritten. Beer Blitzer, der Faktor, war demütig herangetreten und hatte gefragt, ob der gnädigste Herr nichts brauche. Der gnädigste Herr brauchte nichts, er spie dem Juden schweigend ins Antlitz. Und was tat Beer Blitzer? Er trocknete sein Gesicht und sagte: »Also vielleicht ein andermal!« Beer Blitzer war der schlechteste Mensch in der Gasse und ein schamloser Kriecher. Aber angenommen, es hätte ein anderer Jude die Schmach erfahren. Nicht er, Mosche, er hätte den Baron vom Pferde herabgerissen und entsetzlich zugerichtet. Aber jeder andere? Er hätte schweigend sein Gesicht getrocknet und wäre stumm davongeschlichen, ohne den entsetzlichen Schimpf zu rächen. Und wir sind sein Volk! schrie es in Mosche. Und wir sind auserwählt vor allen Völkern! Es dünkte ihm wie Hohn, bitterster, grimmigster Hohn!

Das waren die ersten, schweren Kämpfe, die seine Seele durchringen mußte. Der Gedanke senkte sich ihm bleiern in die Glieder, er fühlte sich müde davon, müder als von der schwersten Arbeit. Aber diesmal fand er noch den Ausweg. Das Jenseits fiel ihm ein. Aller Jammer ist ja nur in dieser Welt, tröstete er sich. Drüben sind wir ja wirklich das auserwählte Volk. Da gehen wir in einem schönen Garten spazieren, wo ewiger Frühling ist, und essen und trinken sehr gut. Niemals Arbeit, niemals Not. Und die Christen? Die müssen in der Hölle sitzen, in der dunklen, eiskalten Hölle und beben und hungern . . .

Aber der schöne Garten und das gute Essen im Jenseits blieben nicht lange sein Trost. Schon die spärlichen Gespräche mit dem düsteren, wortkargen Meister ließen jenen »Wurm« immer wieder erwachen.

Da war einmal am Freitag eine dringliche Bestellung gekommen. Sie mußte bis zum nächsten Morgen erledigt sein. Aber als die Sonne sank, legte Mosche den Hammer aus der Hand und rüstete zum Gehen. »Es wird Sabbat, Meister.«

»Könntest du nicht heute doch vielleicht dableiben?« fragte Wassilj.

»Nein!« sagte Mosche erschreckt. »Was würde mein Vater sagen – und die Leute!«

»Die Leute!« Der Riese grinste. »Sie schreien und beten genug 44 in euerer Schule, jeder schreit für drei, da könnte es auch für dich langen.«

»Aber Gott würde mich strafen!«

»Bitte ihn morgen um Verzeihung, oder beichte es dem Rabbi, der absolviert dich.«

»Wir haben keine Beichte, Meister«, sagte der Bursche. »Und unser Gott verzeiht nicht so leicht eine absichtliche Sünde. Er ist ein Gott der Rache.«

»Der Rache!« Der Greis nickte beifällig. »Weißt du, daß mir euer Gott ganz gut gefällt? Gerechtigkeit! Rache! Die Rache ist das Notwendigste auf Erden. Was meinst du? Aber du bist noch zu dumm dazu! –Nun – geh heim – ich will dich nicht verführen, daß du diesen Gott der Rache beleidigst. Er gefällt mir. Geh!«

Mosche hatte dieses Gespräch bald vergessen, aber der Meister nicht. Einmal – es waren Wochen seit jenem Abend vergangen – kam er plötzlich wieder darauf zu sprechen. Er ließ den Hammer ruhen, stützte sich nachdenklich auf denselben und rief hinüber:

»Du, Jud, ich will dich um etwas Wichtiges fragen. Darum überlege die Antwort gut!«

»Ja, Meister!«

»Euer Gott ist ein Gott der Rache?«

Mosche nickte.

»Verhilft er auch jedem zu seiner Rache?«

»Ja, ich glaube –«

»Jedem? verstehst du, Jud? Jedem? Ich meine, ob er auch einem Christen dazu verhelfen würde, falls ihn dieser darum anflehen wollte –«

Mosche zögerte. »Da müßte man im Talmud nachschlagen –«

»Dann frage deinen Rabbi!«

In der Tat entledigte sich Mosche des seltsamen Auftrags. Mit welchem Erfolge, läßt sich leicht erraten. Der alte Chassid, den er befragte, erwiderte ihm im Geiste dieser fanatischen Sekte: »Nein!« Mosche berichtete dies dem Meister. Aber dieser glaubte wohl dem Rabbi nicht recht. Nur durch diese Annahme wird das Folgende erklärlich.

Einige Wochen nach jener Unterredung sollte an der 45 Synagoge das große Tor beschlagen werden. Wassilj und sein Lehrling fertigten den Beschlag. Als alles niet- und nagelfest war, kam Jossef Grün, der Säckelmeister der Gemeinde, zu Wassilj, um die Arbeit zu bezahlen. Natürlich war er für jeden Fall entschlossen, aufs äußerste zu feilschen. Aber Wassilj machte ihm die Ausführung dieses Entschlusses recht schwer. Er forderte nur zehn Gulden, einen überaus billigen Preis.

Der Jude war freudig überrascht. »Viel zu teuer!« rief er natürlich doch.

»Nein!« war die ruhige Antwort. »Viel zu billig!«

»Zu teuer!« wehklagte Jossef.

»Zu billig – aber ich nehme auch die Hälfte!«

»Die Hälfte?« Der Vorsteher wußte sich vor Staunen kaum zu fassen. Er beeilte sich, den Papierschein rasch hinzulegen. »Hier sind fünf Gulden. Ich geb Euch, was Ihr selbst wollt.«

»Hol Euch der Teufel!« war die höfliche Antwort. »Nicht Euretwegen hab ich es getan, sondern . . .«

Er brach ab und griff zum Hammer.

Als der Vorsteher gegangen war, hörte Mosche den Greis sagen: »Vielleicht hätte ich auch die fünf Gulden nicht nehmen sollen . . . Es ist sein Haus, und ich bin ein Greis; wenn der Tag der Rache nicht bald kommt, so erlebe ich ihn nicht mehr!«

Einige Zeit darauf konnte der Lehrling belauschen, wie sich der unglückliche Mann noch in anderer Art auf diesen Tag vorbereitete. Das war im heißen August; der schöne Hochsommertag ging zur Rüste, und der Widerschein der abendlichen Glut erfüllte so hell die Schmiede, daß der Schein des kleinen Feuers dagegen fast verschwand. Der Lehrling wollte es eben gänzlich löschen – denn Arbeit gab es für heute nicht mehr, und morgen war ein Feiertag –, als ihm der Meister befahl, es recht anzufachen, so glühend, als es nur der Ofen vertrage. Mosche gehorchte und sah staunend zu, wie der Meister, der heute noch finsterer war als gewöhnlich, den größten Amboß herbeirückte, der sonst gar nicht in Gebrauch kam. »Und nun geh!« befahl er.

Mosche gehorchte und schlich heim. Aber die Neugier quälte den Burschen, und so machte er sich gegen die elfte Nachtstunde auf und ging zum Städtchen hinaus, gegen die Schmiede. 46 Der Mond lag hell auf der Heide, silbern wogten darüber leichte Nebel, aber schon von weitem sah er dazwischen, wie rotes Gold, das Feuer der Schmiede schimmern; so gewaltig war die Glut, daß der Knabe anfangs heftig erschrak, er glaubte das Haus in Flammen. Dann schlich er näher und duckte sich hinter einen Baum, auf dem sonderbares Licht lag. Über den Zweigen stritt der Mond mit der Herdglut. Nun konnte der Knabe alles deutlich sehen. Drinnen stand hochaufgerichtet der Meister, und sein schwerster Hammer fiel langsam und wuchtig auf ein gewaltiges, unförmliches Eisenstück. Die Funken stoben, das Eisen ächzte, die Schläge dröhnten, aber vernehmbar über all dem Getön schwebte dumpf und feierlich die Stimme des Schmiedes: »Keule, ich weihe dich! Werde schwer, werde hart! Spalte den Polen den Kopf! Bring einem den Tod, bring ihn zweien . . . dreien . . . vieren.« Und bei jedem Wort fiel der Hammer wuchtiger nieder.

Da übermannte den Horcher das Grauen, und er floh, aber bis in den tiefsten Traum folgte ihm das grausige Bild.

Als er am zweitnächsten Morgen wieder in die Schmiede kam, fand er den Meister ruhig wie immer. Eine neue Eisenkeule lehnte an der Wand. »Die dreißigste«, sagte Wassilj. »Ich habe nicht geglaubt, daß mich Gott dazu verdammen wird, so viele zu schmieden. Aber vielleicht ist es notwendig.«

»Wozu?« fragte furchtsam der Lehrling.

»Zur Vertilgung der Polen! Sooft sich der Todestag meiner Tochter jährt, schmiede ich eine Keule. Daran zähle ich die Jahre, welche ich durchharren muß. Dreißig Jahre! es ist eine lange Frist! Aber vielleicht ist es notwendig, bis das Maß der Leiden voll ist, bis sich mein Volk erhebt.«

Der Riese starrte vor sich hin. Dann fragte er: »Werdet ihr Juden uns auch helfen? Ihr seid ja auch die mißhandelten Knechte der Polen! Wollt ihr nicht auch euere Rache?«

Der Bursche wußte keine Antwort; er schwieg.

»Es ist seltsam!« fuhr der alte Mann fort. »Sehr seltsam! Euer Gott ist der Gott der Rache, und ihr – ihr seid das Volk der hündischen Demut. Ihr werdet uns nicht helfen, ihr seid ja alle feig!«

»Ich bin nicht feig!« sagte Mosche.

47 »Nein, du nicht, das ist wahr! Vielleicht bist du ein gestohlenes Christenkind. Sonst wär's unerklärlich. Du bist wirklich anders als die Juden. Freilich, eine solche Nase kann kein Christ haben. Es ist unerklärlich.«

Da hörte der Bursche aus fremdem Munde dasselbe Wort, auf welches er einst selbst in seiner Not geraten. »Anders als die Juden – und doch ein Jude!« Das Wort klang in ihm nach und wollte nicht wieder verstummen. Aber noch stärker begann jener »Wurm« zu bohren, als er einen christlichen Jüngling zum Kameraden bekam.


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