Karl Emil Franzos
Moschko von Parma
Karl Emil Franzos

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Zweites Kapitel

Sellner!

So heißt im Jargon der Soldat, der Söldner. Aber die bloße Übersetzung macht es noch nicht klar, warum die Juden von Barnow diese Standeswahl so entsetzlich fanden, warum der Entschluß des Knaben sie traf wie ein Blitz. In der Tat wie ein Blitz; er blendete ihr sonst so scharfes Auge. Diese Leute, gewohnt, jede Sache schärfstens und von allen Seiten zu betrachten, vergaßen diesmal das Wichtigste: wer es war, der diesen Entschluß gefaßt, daß es ein Knabe war, trotz seiner Größe und Stärke fast noch ein Kind, dem die Ausführung unmöglich gelingen konnte. Sie vergaßen es und grübelten nur erschreckt darüber, wie ein solcher Gedanke überhaupt in ihrer Mitte hatte geboren werden können. Denn ein Sellner werden, das ist nicht bloß ein Unglück, sondern auch eine Schmach, ja eine Beleidigung Gottes. Wie konnte ein jüdisch Kind dies freiwillig auf sich nehmen und sich selbst zu den Toten werfen, zu den verachteten Toten, deren man nicht weiter gedenken mag? Denn wie einen geliebten Toten beweinen sie auch denjenigen, den ohne sein Zutun dies Schicksal trifft, und flehen zu Gott, daß er ihm seine Sünde vergebe. Es ist kaum zu unterscheiden, ob sie das Sterben für ein größeres Unglück halten oder den Soldatenrock. Darum ist ihnen kein Opfer zu groß, kein Weg zu krumm, diesem Schicksal zu entgehen.

Warum? Weil der Jude feig ist, hört man häufig. Aber diese Antwort ist nicht die richtige. Wohl gibt es sehr viel Feiglinge unter den Juden des Ostens, und es wäre auch seltsam genug, wenn dem nicht so wäre. Mut ohne Körperkraft ist kaum denkbar. Der Jude aber ist, der frühen Heiraten wegen und weil durch den Glauben jede Rassenkreuzung ausgeschlossen ist, schwächlich, und die Erziehung leistet überdies an 16 Verweichlichung und Unnatürlichkeit das Schlimmste. Mut ist ferner nicht denkbar ohne Selbstvertrauen. Und wie hätte dies in den Abkömmlingen eines Volkes Wurzel schlagen können, dessen Heldentum durch Jahrhunderte im Dulden bestand, das ruhelos über die Erde gehetzt wurde wie wildes Getier, das noch heute im Osten hier und da nicht jene Stufe der Behandlung erklommen, deren sich nützliche Haustiere erfreuen! Fürwahr, es gehört große Unvernunft dazu, sich darüber zu wundern, daß ungestümer kriegerischer Sinn just nicht ein Hauptzug der jüdischen Volksseele geworden!

Aber die Frage über Mut oder Feigheit gehört sehr wenig zur Sache. Und wären alle podolischen Juden Helden wie Judas Makkabäus, sie würden deshalb doch nicht gern k. k. Soldaten werden. Und zwar hindert sie daran jenes Moment, um dessentwillen sie leben: ihr Glaube, direkt durch seine Satzungen, indirekt durch die Weltanschauung, welche er in seinen Bekennern herausgebildet. Durch seine Satzungen – aber man darf dies nicht mißverstehen. Der jüdische Glaube verbietet den Kriegsdienst nicht, und er gebietet, dem Staate, in dem man lebt, treu anzuhangen. Aber dieser Glaube gebietet auch, die Speisegesetze streng einzuhalten und alle Zeremonien des Gebetes treu zu erfüllen. Wer dies nicht tut, begeht eine ebenso schwere Sünde, als wenn er etwa die Hand gegen die Eltern erhübe. Denn er erhebt die Hand gegen Gott, er tritt seine Gebote mit Füßen. Und wäre es das Unbedeutendste, was er verbrochen, schon die leiseste Mißachtung eines Gebotes drängt den Sünder aus der Schar der Gläubigen; das altgläubige Judentum kennt keine Kompromisse. Wer aber Soldat wird, kann die Formen des Gebetes nicht einhalten und muß froh sein, wenn er überhaupt ein Stücklein Fleisch bekömmt, auch wenn ein christlicher Metzger den Ochsen geschlagen. Kurz, wer Soldat wird, ist kein Jude mehr, er verliert die Anwartschaft auf die Freuden des Jenseits. Das Jenseits aber ist der einzige Trost dieses armen, verdüsterten Volkes, das selige Land, wo der Jude nicht mehr verachtet und verhöhnt wird, sondern stolz einhergeht vor dem Antlitz seines Gottes. Einst, als dies Volk als herrschender Stamm in stolzer Machtfülle auf seinem eigenen Erbe saß, da kannte es den Gedanken der Unsterblichkeit nicht, es brauchte ihn nicht; 17 die Erde genügte ihm. Aber als es ein Paria und Ahasver unter den Völkern wurde, da faßte es diesen Gedanken, da hielt es ihn fest als einzigen Trost. Und noch heute hängt niemand so innig an diesem Glauben wie der Jude. In all seinem Tun und Lassen hält er als Ziel fest, das Anrecht auf die Freuden des künftigen Lebens nicht zu verlieren. Wer sündigt, verliert dieses Anrecht und geht entsetzlich arm durch das Leben, ohne zu wissen, wozu und wohin . . . Und jeder Sellner muß ja »sündigen«!

Aber auch seine Weltanschauung läßt den Juden in dem Soldatenrock die Verkörperung alles Unglücks erblicken. Je heftiger die Dränger einst von außen einstürmten, desto enger schlossen sich die Juden aneinander, desto fester ward ihre Überzeugung: hier, im Inneren des Familienlebens, im Inneren der Gemeinde, sei alles gut, draußen alles schlecht; die Außenwelt ward ihnen zu einem unverständlichen, feindlichen Chaos, das sie grollend und drohend umflutete, vor dem sie einzig Rettung fanden im Bannkreise des Ghetto. Die Zeit ward milder, milder ward man auch gegen die Juden; aber was Jahrhunderte bewirkt, vermögen Jahrzehnte nicht auszutilgen. So bangt dem Juden auch heute noch unsäglich vor der Welt, und ein Schritt in die Fremde ist ihm ein Schritt ins Elend. Und als Sellner muß man ja fort, in die fremdeste Fremde, wer weiß wohin?!

Darum faßten es die Juden von Barnow nicht, daß einer von ihnen freiwillig Sellner werden wollte. Aber warum empfanden sie dies als ein Unglück für die Gesamtheit, welches die Gesamtheit abzuwehren verpflichtet sei? Der alte Rabbi sprach es aus: »Wir müssen etwas tun, denn er will Gott beleidigen, und wir haben die Pflicht, Gottes heiligen Namen vor jeder Schmähung zu schützen. Und dann, führt er den Frevel aus, so spottet ganz Israel über unsere Gemeinde, wie wir unsere Kinder erziehen. Und wenn sich nach Jahren wieder ein solcher Frevler findet, so werden sie mit Fingern auf uns weisen und sagen: ›Von ihnen ist das böse Beispiel ausgegangen!‹ Also tun wir etwas; ich weiß nur noch nicht, was. Gut wenigstens, daß wir es rechtzeitig erfahren haben!«

Was das letztere betrifft, so war der arme Mosche allerdings anderer Ansicht als jener würdige Greis. Freilich hatte er nur unter erklecklichem Zwange sein Geständnis abgelegt. Was die 18 harten Worte und die Elle des Vaters nicht vermocht, das bewirkten am Tage darauf die milden Reden und die Faust der Mutter. Sie sprach dem Sohne gütig zu, ihr sein verstocktes Herz zu offenbaren, und vergrub dabei die Faust immer dichter in sein krauses, schwarzes Haargestrüpp. Diesen Mitteln widerstand er nicht und rief endlich jammernd: »Ein Sellner . . .«

Entsetzt schrie die Frau auf und fiel, ein Büschel Haare in der Rechten, in Ohnmacht. Sie kam sehr bald zur Besinnung. Und wie die Kunde im Städtchen wirkte, ist gleichfalls schon berichtet. Aber nicht jeder war so ratlos wie jener fromme Greis. »Die Eltern sollen ihn schlagen«, empfahlen die einen. Aber das nützte nichts, obwohl die Elle zerbrach und viele krause, schwarze Haare in des Schulklopfers Stube umherflogen. »Der Rabbi soll beten«, meinten die anderen. Aber auch das fruchtete nichts, Gott hörte das Gebet nicht, obwohl der alte Mann beängstigend schrie. Und so war man schon im Begriffe, fremdem Rate zu folgen, dem jenes Handelsjuden aus Bessarabien. Er empfahl, Mosche zum Wunderrabbi von Sadagóra zu führen und ihm von diesem gewaltigen Manne, welcher mit Engeln und Dämonen auf gleich gutem und vertrautem Fuße stehe, den Soldatenteufel austreiben zu lassen. Da fand sich aber in Barnow selbst Rat und Hilfe: sie kam von Isaak Türkischgelb, dem »Marschallik« des Städtchens.

Der Mann spielt eine wichtige Rolle in dieser Geschichte, schon darum will er gebührend gewürdigt sein. Aber da muß vor allem gesagt werden, was ein Marschallik ist, und das ist schwer. Sehr schwer! Mit der bloßen Übersetzung des Namens ist hier vollends nichts getan. Das Wort stammt aus dem Polnischen, in dieser Sprache bedeutet es Haushofmeister. Aber der hat sich ja nur um eine Familie zu kümmern, und zudem auch nur in gewissen Beziehungen. Der Marschallik aber hat sich um alle zu kümmern und um alles.

Um alle und alles! Aber dabei hat er doch anscheinend absolut nichts zu tun. Ihr könnt ihn an Wochentagen während der Betstunden in der »Schul«, die übrige Tageszeit hindurch auf der Gasse und im Wirtshause finden; am Sonnabend aber macht er außer den Betstunden regelmäßig Besuche bei den Honoratioren. So ist es ein Rätsel, wovon er lebt, und er ist auch 19 zumeist ein blutarmer Teufel. Aber was kümmert sich auch ein Marschallik um sich selbst; er hat ja keine Zeit dazu! Er weiß alles, ohne Ausnahme alles, was in der Gemeinde vorgeht, und berichtet ebenso genau, in welchem Gliede den alten Rabbi das Zipperlein quält oder wieviel Essig Frau Golde Hellstein trinkt, um magerer zu werden, wie er bei Heller und Pfennig herzählen kann, welchen Profit Nathan Silberstein an seinem letzten Tokaier gemacht. Er ist stets bereit, mit jedermann zu plaudern, ihm fehlt es nie an Zeit, nie an einer erheiternden Neuigkeit, nie an guter Laune. Seine Zunge ist stets gleich scharf gespitzt und weiß der besten Sache, dem edelsten Menschen eine lächerliche Seite abzugewinnen, aber auch wieder jeder trüben Sache eine helle, heitere Seite. So ist er Klatschbase und Neuigkeitskrämer, öffentliches Gewissen und Zeitvertreib zugleich, mit einem Worte: das lebendige, ewig durstige, auf zwei Beinen einherschlotternde Lokalblatt der Gemeinde.

Aber das ist noch gar nichts! Die Zeitung kann man vielleicht entbehren, aber wer wäre so vermessen, zu behaupten, daß man einen Marschallik entbehren kann? Ohne ihn wäre ja keine Beschneidung möglich, keine Verlobung, keine Hochzeit, kein Familienfest. Denn er lädt die Gäste ein, er dekoriert die Feststube, er bestimmt die Speisen und die Weine, er kennt die Formen und weiß, wann sich dies schickt, wann jenes, er unterhält die Gesellschaft, er bringt die Trinksprüche aus, er improvisiert, er erzählt Schwänke, er macht Witze, kurzum: er ist die Seele des Festes, und ohne ihn ist es tot. Man kann dreist behaupten, daß bei einer Hochzeit eher der Bräutigam fehlen könnte als der Marschallik. Denn wenn der Bräutigam fehlt, so langweilt sich nur die Braut, fehlt aber der Marschallik, so gähnt die ganze Gesellschaft.

Das ist schon immerhin etwas, aber noch lange nicht das Wichtigste. Wißt ihr wohl, daß ohne diesen Würdenträger (freilich erwirbt oder ererbt man diese Würde nicht, kann auch hiezu nicht gewählt werden, sondern sie fällt dem Talent von selbst in den Schoß; zum Marschallik muß man geboren sein, wie etwa zum Dichter), daß also ohne den Marschallik das Menschengeschlecht in Podolien, wenigstens insofern es jüdischen Glaubens ist, glattweg aussterben müßte?! Das soll keine zarte 20 Anspielung auf die unbestreitbare Tatsache sein, daß der Marschallik ebenso regelmäßig mit einem Überfluß an Kindern gesegnet ist wie mit einem Überfluß an Geldmangel – nein! er erwirbt sich, von diesem direkten Wege abgesehen, auch noch anderweitig hundertfältige Verdienste um die Vermehrung der Menschheit. Denn er ist das einzig autorisierte und patentierte Heiratsbüro. Er führt ein Verzeichnis aller nur erdenklichen »Partien« in der Gemeinde und auf zehn Meilen im Umkreis, ein Verzeichnis, in welchem kein Jüngling zwischen vierzehn und achtzehn fehlt und keine Jungfrau zwischen dreizehn und siebzehn. Darum kann er auch jeder Nachfrage entsprechen. Sucht ihr einen gesunden, stattlichen Jüngling? Er kennt einige, gegen welche der Riese Simson ein Krüppel wäre! Oder eine schöne Braut? Hier sind welche, neben denen sich die leibhaftige Sulamith nicht sehen lassen dürfte! Oder fragt ihr nach Reichtum? Hier sind Millionen! Oder seht ihr auf eine vornehme Familie? Er kennt ein Dutzend Sprößlinge aus Davids königlichem Stamme! Der Marschallik ist mit allem versehen, er kommt nie in Verlegenheit. Würde ihm jemand sagen, er sei gesonnen, nur aus Neigung zu heiraten, er könnte ihm allsogleich sogar eine Braut mit Neigung liefern. Und er eröffnet nicht bloß die Präliminarien, sondern er allein setzt auch die Verhandlungen fort und führt sie zum gedeihlichen Abschluß.

Aber nicht bloß verwaister Herzen nimmt er sich an, sondern auch der verwaisten Gemeinde, des ratbedürftigen Staates. Er ist patentierter Agitator, er macht den Gemeindevorstand und entwickelt auch bei den Landtagswahlen ungeheure Emsigkeit. Nur von einem Zweig öffentlicher Tätigkeit hält sich der Marschallik ferne: Bestechungsagent bei der Rekrutierung ist er nicht. Dazu ist der arme Teufel zu ehrlich.

Nun wißt ihr beiläufig, was ein Marschallik ist. Freilich nur eben beiläufig, denn die ganze wundersame Vielseitigkeit und Bedeutung dieser Würde zu offenbaren ist dem armen, dürftigen Menschenwort unmöglich.

In Barnow bekleidete, wie erwähnt, Herr Isaak Türkischgelb diese Würde. Er war ein Marschallik im vollen, ganzen Sinne des Wortes, damit ist genug gesagt. Sein Spitzname »Itzig Schicker« erregte Schmunzeln im ganzen Kreise, wo immer er genannt 21 wurde. Es war dies ein ehrenvolles Prädikat, ein nom de guerre, den er sich redlich erkämpft. Mit welchen Waffen? Man sah's ihm deutlich an. Denn er trug auf dünnen Beinen ein dickes Bäuchlein und im Gesichte einen feuerroten Berg, eigentlich ein Bergsystem, an jener Stelle, wo andere Menschen eine schlichte Nase tragen. Der Mann haßte jedes geistige Getränk mit der ganzen Kraft seiner Seele und vertilgte es daher, wo er es antraf, in unglaublichen Quantitäten. »Schicker« heißt Trunkenbold. Aber obgleich Itzig Schicker schwerlich den Bodenstedtschen »Mirza-Schaffy« gelesen, so hielt er es doch mit diesem Weisen, sein Rausch war nichts als gesteigerte Begeisterung.

Als jedoch über alle Leute von Barnow der Rausch des frommen Entsetzens kam, da blieb er allein nüchtern und heckte einen Plan aus, das verirrte Schäflein zu retten. Der Plan war verständig, einfach, das Ei des Kolumbus, und darum war er gut. Und er offenbarte ihn auch zu guter Stunde.

Das war an jenem Sabbat, welcher die schläge- und folgenreiche Woche im Leben Mosches beschloß, und in der Dämmerung. Da standen und saßen die Männer nach verrichtetem Nachmittagsgebete müßig vor der alten Betschul und erharrten das Erscheinen der ersten drei Sterne am Himmelszelte, um das Abendgebet beginnen zu dürfen. Es ist dies eine Stunde, wo man sich so recht vergnüglich und mit Muße aussprechen kann. Das geschah auch heute, nur daß das Gespräch gar nicht vergnüglich klang. Und ganz besonders laut jammerte Abraham Veilchenduft.

Da trat der Marschallik auf ihn zu.

»Was klagt Ihr?« fragte er würdevoll. »Hört mich an! So wahr mir der Herr Kreishauptmann voriges Jahr gesagt hat: ›Türkischgelb‹, hat er gesagt, ›Sie sind ein feiner Kopf!‹ – so wahr bring ich Euer Jüngel zur Vernunft zurück und zu einem ehrlichen Brot. Was nützt das Schlagen? das kann ein Bauer auch! Die Vernunft ist die Hauptsache, versteht Ihr?! ein feiner Plan! Und so einen Plan hab ich mit Euerem Mosche, und ich werd ihn ausführen, wenn mir Gott hilft und wenn Ihr mir mindestens fünf Gulden gebt für meine Mühe!«

Des Schulklopfers bekümmertes Antlitz erglänzte freudig. »Was hab ich immer gesagt?« beteuerte er und erhob die Hände 22 gegen Himmel. »Ein feiner Kopf ist er, hab ich immer gesagt, aber ein gut Herz hat er auch! Also wollt Ihr mich wirklich erretten aus meiner Not? Gott wird Euch gewiß helfen bei dem guten Werke und Euere Mühe tausendfach lohnen, aber wo soll ich fünf Gulden hernehmen?«

Der Marschallik wiegte sich bedächtig in den Hüften und musterte dabei seine Fußbekleidung, welche allerdings genauerer Betrachtung wert war, denn sie war merkwürdig zerrissen. »Ach ja! hab ich's Euch schon erzählt?« fragte er dann, wie aus tiefem Sinnen emporfahrend. »Gestern früh war ich bei dem krummen Manasse, dem Schuster. Ich hab ihn gebeten, daß er mir neue Schuhe oder mindestens neue Absätze an die alten Schuhe macht, Gott wird ihm die Mühe tausendfach lohnen. Schaut selber nach, ob er's getan hat!«

Die Umstehenden lachten. Aber Nachum Hellstein sagte: »Wenn Ihr es wirklich zuwege bringt, Reb Itzig, könnt Ihr Euch bei mir einen Gulden abholen!«

»Und bei mir fünfzig Kreuzer!« rief ein anderer reicher Mann. Dann versprach ein dritter vierzig, ein vierter zwanzig Kreuzer, und so fort. Schließlich fehlte nur noch ein Sechser, das geforderte Honorar voll zu machen. Besagten Sechser spendete nach längerem Zögern Froim Luttinger, genannt »Froim Chammer«. Letzteres Prädikat ist nicht sonderlich ehrenvoll, denn »Chammer« heißt zu deutsch Esel. Aber dieser jugendliche Hausvater war besser als sein Ruf, ein weitsichtiger Denker, das bewies die Motivierung seiner Gabe. »Ich opfere es«, sagte er, »weil gar niemand berechnen kann, was über ganz Israel kommen würde, wenn einer von uns freiwillig Sellner würde.«

»Es wird nicht geschehen!« versicherte der Marschallik feierlich. »Freilich ist mit den fünf Gulden nicht alles getan. Jetzt müßt ihr mir noch für mich und Mosche ein Fuhrwerk beschaffen, welches uns nach Zalesczyki bringt und wieder zurück. Und schließlich brauche ich natürlich auch die Wegzehrung für uns beide.«

»Nach Zalesczyki?« rief Abraham. »Wozu?«

»Weil ja dort das ›Werbbezirk‹ ist«, erwiderte Herr Türkischgelb mit ruhigem, überlegenem Lächeln.

»Das ›Werbbezirk‹?« brach der Lärm aus zwanzig Kehlen 23 zugleich los. »Er will den Verrückten noch selber hinführen! Er foppt uns! Keinen Heller geb ich!« klang es im wirren Chorus. Am lautesten schrie Froim Luttinger.

Der Marschallik ließ den Lärm vertoben. Dann sprach er wieder ruhig und würdevoll: »Gottlob, jetzt hab ich gefunden, was ich mein ganzes Leben vergeblich gesucht hab, den Unterschied zwischen Froim und einem Esel. Jetzt weiß ich's: wenn ein Esel schreit, so schweigen die Pferde, aber wenn Froim schreit, so schreit ihr alle mit. Aber ihr solltet mich doch besser kennen! Bin ich ein Frevler? werd ich spaßen, wo es sich um Israel handelt? Bin ich ein Narr? werd ich spaßen, wo es sich um fünf Gulden handelt? Ich sag euch nur kurz: laßt mich mit Mosche zum ›Werbbezirk‹ fahren, dort kurier ich ihn. Bring ich's nicht zustande, so schlagt mich tot, oder nennt mich sogar mit demselben Namen, welchen sich Froim bei euch verdient hat!«

Diese Energie wirkte. Simon der Kutscher erklärte, er habe am nächsten Morgen ohnehin einen Wagen voll frommer Weiber zum Wunderrabbi nach Sadagóra zu fahren, und da könnten auch noch die beiden hinten aufsitzen und bis zur Kreisstadt mitkommen. Auch die übrigen Schwierigkeiten lösten sich durch die Freigebigkeit Nachum Hellsteins. So verrichteten schließlich alle beruhigten Gemütes das Abendgebet. Der Marschallik wird es schon richten, dachten sie.

In der Tat machte sich der Mann ihres Vertrauens auch noch am selben Abend ans Werk, indem er dem vielgeprügelten Gegenstande seines Experiments einen Besuch abstattete. Aber Mosche war unsichtbar, in stummem, drohendem Schweigen kauerte er hinter dem väterlichen Ofen. Türkischgelb mußte alle seine Beredsamkeit entfalten, um den jungen Riesen zur Reise zu bestimmen. Endlich gelang's. »Gut«, sagte Mosche und kam zögernd hinter dem Ofen hervor, »ich will mit Euch fahren. Aber wenn Ihr nur so einen Spaß mit mir vorhabt oder gar noch Schlimmeres, dann« – er ballte die Fäuste –, »dann fahr ich Euch an die Kehle!«

»Gut«, erwiderte der Marschallik freundlich und fuhr über das durch Mutterliebe so arg gelichtete Haar des Jungen, »dann, Moschele, darfst du mich erdrosseln, wenn es dir Spaß macht, warum nicht? – ich will sogar keinen Muck tun.«


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