Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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34

Als sie um neun Uhr den Hof von Jacques' Wohnung betrat, fand sie Fusellier, der im Regen den Hof kehrte und dabei seine Pfeife rauchte. Dann kam auch seine Frau aus der Loge. Beide zeigten verlegene Mienen. Madame Fusellier nahm zuerst das Wort: »Monsieur Jacques ist nicht zu Hause.«

Als Thérèse stumm und unbeweglich stehenblieb, trat Fusellier mit seinem Besen in der Hand auf sie zu, während er mit der andern seine Pfeife hinter dem Rücken verbarg.

»Monsieur Jacques ist noch nicht nach Hause gekommen.«

»Ich werde auf ihn warten«, sagte Thérèse.

Madame Fusellier führte sie in den Salon und machte Feuer an. Es wollte nicht gleich brennen, und so blieb sie gebückt, die Hände auf den Schenkeln, vor dem Ofen stehen und sagte: »Das macht der Regen, der drückt den Rauch nieder.«

Madame Martin meinte, es sei nicht der Mühe wert, erst Feuer zu machen, es wäre ihr nicht kalt.

Dann sah sie sich im Spiegel. Sie war bleich, und rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Und jetzt erst fühlte sie, daß ihre Füße ganz erstarrt waren. Sie trat näher an das Feuer heran. Madame Fusellier sah, daß sie unruhig war, und suchte nach einem tröstenden Wort.

»Monsieur Jacques wird jetzt gleich kommen. Wenn Madame auf ihn warten wollen, es wird gleich warm sein.«

Trübes Licht fiel mit dem Regen nieder auf das Glasdach. Die Dame mit dem Einhorn an der Wand, die Dame mit der steifen Geste und dem verblichenen Körper, verlor inmitten der Kavaliere und des von Blumen und Vögeln bunten Waldes ganz ihre Schönheit. Thérèse wiederholte sich immer von neuem: »Er ist noch nicht nach Hause gekommen«, bis sie den Sinn der Worte nicht mehr verstand. Mit brennenden Augen blickte sie nach der Tür. So blieb sie regungslos sitzen und konnte nicht mehr denken. Sie wußte selbst nicht wie lange, es mochte vielleicht eine halbe Stunde gewesen sein. Dann näherten sich Schritte, und die Tür ging auf. Er trat ins Zimmer. Sie sah, daß er vor Fieber glühte und von Regen und Schmutz durchnäßt war. Jetzt blickte sie ihn so offen und frei an, daß er ganz betroffen war. Aber gleich darauf kam sein ganzer Jammer ihm wieder zum Bewußtsein. »Was willst du noch von mir?« sagte er. »Du hast mir alles Leid angetan, das du mir antun konntest.« Sie erschrak vor dem Ton seiner Stimme, der durch die Müdigkeit etwas Mildes bekommen hatte.

»Jacques, hör mich an.«

Er gab ihr mit einer Bewegung zu verstehen, daß er nichts von ihr hören wollte.

»Jacques, du mußt mich hören. Ich habe dich nicht hintergangen. Nein, nein, ich habe es nicht getan. Wie wäre es denn möglich. Hast du –«

Er schnitt ihr das Wort ab: »Habe Mitleid mit mir. Verschone mich, ich bitte dich darum. Du hast mir schon weh genug getan. Wenn du wüßtest, was für eine Nacht ich hinter mir habe, würdest du nicht den Mut haben, mich noch länger zu quälen.« Dann ließ er sich auf denselben Diwan niedersinken, wo er sechs Monate früher ihre Lippen unter dem Schleier geküßt hatte.

Er war die ganze Nacht gegangen, immer aufs Geratewohl an der Seine entlang bis dahin, wo die Ufer von Weiden und Pappeln bestanden sind. Um seine Qual zu lindern, hatte er versucht, sich zu zerstreuen. Auf dem Quai de Bercy hatte er eine ganze Stunde zugesehen, wie der Mond durch die Wolken glitt, wie er zum Vorschein kam und wieder verschwand. Dann hatte er angefangen, mit peinlicher Genauigkeit die Fenster an den Häusern zu zählen. Dann begann es zu regnen, und er ging bis zu den Markthallen und trank in irgendeinem Wirtshaus ein Glas Branntwein. »Glücklich siehste gerade nich aus«, hatte dort ein dickes, schielendes Mädchen zu ihm gesagt. Dann war er auf der ledergepolsterten Bank eingeschlafen, das waren wenigstens ein paar gute Minuten gewesen.

Die Bilder dieser qualvollen Nacht spiegelten sich noch in seinen Augen wider.

»Ich habe an jene Nacht am Arno gedacht«, sagte er, »du hast mir alle Freude und alle Schönheit der Welt zerstört.«

Er flehte sie an, ihn allein zu lassen. Er fühlte in seinem ermatteten Zustand tiefes Mitleid mit sich selbst. Er hätte schlafen mögen – nicht sterben, nein, ihn schauderte vor dem Tode. Aber schlafen, um nie wieder aufzuwachen. Und jetzt stand sie vor ihm, so sehr begehrt, und ebenso begehrenswert wie einst, trotz ihrer fahlen Blässe und dem schmerzlich starren Ausdruck der tränenlosen Augen. Unerklärlich nun und geheimnisvoller als je, stand sie vor ihm, und mit seinem Schmerz lebte sein Haß von neuem auf. Mit einem bösen Blick suchte er an ihr die Spuren der Liebkosungen, mit denen der andere sie bedeckt hatte.

Thérèse streckte die Arme nach ihm aus: »Jacques, laß mich sprechen.«

Aber er machte ein Zeichen, daß es überflüssig sei. Und doch verlangte ihn danach, sie anzuhören, und schon horchte er begierig auf das, was sie sagte. Er wies schon im voraus mit Abscheu alles zurück, was sie ihm sagen würde, und doch war es das einzige, was ihn auf der Welt interessierte.

»Du hast es glauben können, daß ich dich verriete«, begann sie, »und daß ich nicht ausschließlich in dir lebte! Aber kannst du denn gar nichts begreifen. Siehst du denn nicht ein, daß dieser Mann anderswo als im Theater, als gerade in meiner Loge mit mir hätte reden können, wenn er wirklich mein Liebhaber wäre. Hätte er nicht tausend andere Mittel gehabt, ein Rendezvous mit mir zu verabreden? O nein, Jacques, seit mir das Glück geworden – selbst heute in meiner Verzweiflung und Qual sage ich noch, das Glück –, dich zu kennen, habe ich nur dir angehört. Wie hätte ich es denn fertiggebracht, einem andern das zu sein? Es ist etwas Ungeheuerliches, was du dir einbildest. Aber ich liebe dich. Ich liebe nur dich. Ich habe nie einen andern geliebt.«

Langsam und mit grausamem Nachdruck sagte er: »›Ich erwarte dich jeden Tag, jeden Tag von drei Uhr an in unserm Heim, Rue Spontini.‹ War das kein Liebhaber, war es nicht dein Liebhaber, der so zu dir sprach? O nein, es war wohl ein Fremder, es war jemand, den du gar nicht kanntest.«

Sie richtete sich hoch auf und sagte mit schmerzlichem Ernst: »Ja, ich habe ihm angehört. Du hast es wohl gewußt. Ich habe es abgeleugnet, habe gelogen, um dich nicht zu erzürnen, um dir keinen Schmerz zu bereiten; ich sah dich unruhig und voll Argwohn. Aber ich habe so wenig und so schlecht gelogen. Und du wußtest es. Mach mir keine Vorwürfe darüber. Du hast es gewußt: wie oft hast du mir von der Vergangenheit gesprochen, und dann hat man es dir auch damals im Restaurant gesagt. Aber du hast viel mehr vermutet, als je gewesen ist. Und wenn ich dich auch belog, hintergangen habe ich dich nicht. Wenn du wüßtest, wie wenig jener Mann in meinem Leben gewesen ist! Sieh, ich kannte dich ja noch nicht. Ich wußte nicht, daß du einmal kommen würdest. Ich langweilte mich.«

Sie warf sich auf die Knie: »Es war unrecht von mir. Ich hätte auf dich warten sollen. Aber wenn du wüßtest, wie tot das Vergangene für mich ist, wie wenig es jemals gelebt hat.«

Ihre Stimme ging in einen weichen, singenden Klageton über, während sie sagte: »Warum bist du nicht früher gekommen? Warum?«

Sie schleppte sich zu ihm hin, wollte seine Hände fassen, seine Knie umklammern. Aber er stieß sie zurück.

»Ich war blind. Ich habe es nicht geglaubt, nicht gewußt – ich wollte es nicht wissen.« Dann stand er auf und sagte in plötzlich hervorbrechendem Haß: »Ich wollte nicht – nein, ich wollte nicht, daß es gerade der war.«

Sie setzte sich auf den Platz, von dem er eben aufgestanden war, und mit leiser, klagender Stimme sprach sie von ihrer Vergangenheit. Sie war damals so allein gewesen und hatte in einer so trostlos alltäglichen Umgebung gelebt. Es war dann alles so gekommen, und sie hatte nachgegeben. Aber sie hatte es gleich bereut. Oh, wenn er wüßte, wie trüb und öde ihr Leben gewesen war, er würde nicht eifersüchtig sein, sondern sie beklagen.

Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn durch die aufgelösten Locken an, die ihr über die Stirn herabhingen.

»Aber ich habe dir da von einer andern Frau erzählt. Ich habe nichts mit ihr gemein. Ich – ich selbst existiere ja erst, seit ich dich kenne, seit ich dein geworden bin.«

Er hatte angefangen, wie wahnsinnig im Zimmer auf und ab zu gehen, wie er vorhin am Ufer der Seine entlanggestürzt war, und jetzt brach er in schmerzerfülltes Lachen aus. »Nun, und während du mich liebtest – was tat da jene andere Frau, die nicht du war?«

Entrüstet sah sie ihn an: »Du kannst glauben . . .?«

»Du hast ihn nicht in Florenz gesehen – hast ihn nicht damals an den Bahnhof begleitet?«

Sie erzählte ihm, wie er ihr nachgereist war, daß sie ihn gesehen und mit ihm gebrochen hatte und wie er dann zornig fortgefahren war. Und seitdem versuchte er, sie zurückzugewinnen, aber sie hatte nicht einmal darauf geachtet.

»Jacques, ich sehe ja nur dich auf der Welt, ich weiß nur von dir.«

Er schüttelte den Kopf: »Ich glaube dir nicht.«

Sie lehnte sich auf: »Ich habe dir alles gesagt. Du magst mich anschuldigen, mich verdammen, aber kränke mich nicht in meiner Liebe zu dir. Das verbiete ich dir.«

Er schüttelte wieder den Kopf.

»Laß mich, du hast mir schweres Leid angetan. Ich habe dich so geliebt, daß ich jeden Schmerz, der von dir gekommen wäre, auf mich genommen, gehegt, ja geliebt hätte. Aber dieser Schmerz ist zu häßlich. Er flößt mir Abscheu ein. Laß mich, ich leide zu sehr. Lebe wohl.«

Sie stand vor ihm, die kleinen Füße fest auf dem Teppich. »Ich bin gekommen, weil ich um mein Glück, um mein Leben kämpfen muß. Du weißt, ich bin zähe, ich gehe nicht von dir.«

Und dann wiederholte sie ihm alles, was sie ihm schon gesagt hatte. Sie fühlte sich ihrer selbst völlig sicher, und mit ungestümer Offenheit erklärte sie ihm, wie sie das Band zerrissen hatte, das lange schon locker und ihr lästig geworden war; wie sie von dem Tage an, wo sie sich ihm im Gartenhaus in der Via Alfieri hingegeben, nur ihm angehört hätte – ohne Reue und ohne auch nur mit Blicken oder Gedanken jemals von ihm zu weichen. Aber daß sie überhaupt von dem andern sprach, reizte seinen Zorn von neuem, und er schrie ihr zu: »Ich glaube dir nicht.«

Und wieder begann sie alles noch einmal zu sagen, was sie gesagt hatte. Aber dann blickte sie plötzlich instinktiv nach der Uhr: »Mein Gott, es ist schon zwölf.«

Wie oft hatte sie diesen Ruf erschreckt ausgestoßen, wenn die Abschiedsstunde unerwartet schnell herbeigekommen war. Und Jacques erbebte, als er diese vertrauten Worte hörte, die heute so schmerzlich und verzweifelt klangen.

Unter Tränen und in eindringlichem Ton sprach sie noch einen Augenblick weiter. Aber dann mußte sie gehen, und sie hatte nichts erreicht.

 

Als sie zu Hause ankam, saßen im Vorzimmer Marktfrauen, die mit Blumensträußen auf sie warteten.

Es fiel ihr wieder ein, daß ihr Mann Minister geworden war. Ganze Stöße von Telegrammen, Karten und Briefen waren für sie angekommen, die Glückwünsche oder Bitten enthielten. Auch Madame Marmet hatte ihr geschrieben, um sie zu bitten, bei General Larivière ein gutes Wort für ihren Neffen einzulegen.

Sie trat in das Speisezimmer und sank erschöpft auf einen Stuhl. Monsieur Martin-Bellème war eben mit seinem Frühstück fertig. Man erwartete ihn jetzt im Ministerrat und bei dem bisherigen Finanzminister, dem er seinen Besuch machen mußte. Die wohlberechnete Unterwürfigkeit, die das Personal ihm entgegenbrachte, schmeichelte ihm und beunruhigte ihn gleichzeitig. Er war ihrer schon überdrüssig.

»Vergiß nicht, mein liebes Kind, einen Besuch bei Madame Berthier d'Eyzelles zu machen. Du weißt, sie ist sehr empfindlich.«

Thérèse gab keine Antwort. Während er seine gelblichen Finger in eine Schale mit Wasser tauchte, erhob er den Kopf, und als er sah, wie müde und verstört sie aussah, wagte er kein Wort mehr zu sagen. Er fühlte, daß er hier vor einem Geheimnis stand, das er nicht wissen wollte, vor einem Herzenskummer, der auf ein einziges Wort hin zum Ausbruch kommen konnte. Und das erfüllte ihn mit Unruhe, mit Furcht, ja beinahe mit Ehrfurcht.

So warf er seine Serviette hin und sagte nur: »Entschuldige mich, Liebste.« Damit ging er hinaus.

Sie versuchte etwas zu essen, aber sie brachte nichts hinunter. Sie empfand einen unüberwindlichen Ekel vor allem.

Gegen zwei Uhr ging sie wieder zu Jacques. Sie traf ihn in seinem Zimmer. Er rauchte seine kurze Pfeife, und eine beinah geleerte Kaffeetasse stand vor ihm. Er sah sie mit einem so harten Blick an, daß es sie wie ein eisiger Schauder überlief. Sie wagte nichts zu sagen, denn sie fühlte, daß jedes Wort ihn nur noch mehr kränken und verletzen würde, ja daß, selbst wenn sie schwiege, ihr bloßer Anblick seinen Zorn von neuem erregte.

Er hatte gewußt, daß sie wiederkommen würde, und er erwartete sie mit der ganzen Ungeduld des Hasses und dabei doch mit derselben Unruhe im Herzen wie einst in der Via Alfieri. Das wurde ihr jetzt plötzlich klar, und sie fühlte, daß sie lieber nicht hätte kommen sollen. Solange sie nicht da war, hätte er sich nach ihr gesehnt, sie herbeigewünscht, vielleicht sogar gerufen. Aber es war zu spät, und sie wollte auch nicht klug sein.

So sagte sie: »Du siehst, ich bin wiedergekommen, ich konnte nicht anders. Und dann war es ja auch ganz selbstverständlich, denn ich liebe dich. Du weißt es.«

Sie hatte gewußt, daß alles, was sie sagte, ihn nur noch mehr irritieren würde. Er fragte, ob sie in der Rue Spontini ebenso zu reden pflege.

Tieftraurig sah sie ihn an: »Jacques, du hast mir manchmal gesagt, daß du im Grunde deiner Seele ein Gefühl von Haß und Zorn gegen mich empfändest. Es macht dir Freude, mich zu quälen, das sehe ich jetzt.« Und mit nimmermüder Geduld sprach sie lange und eindringlich mit ihm. Sie erzählte ihm noch einmal ihr ganzes Leben, wie wenig alles gewesen war und wie trostlos. Und wie sie nur noch durch ihn und in ihm gelebt hätte, seit sie ihn kannte.

Ihre Worte waren so klar wie ihre Augen. Sie saß dicht neben ihm, dann und wann streifte sie ihn scheu mit den Händen, und ihr heißer Atem strich über sein Gesicht. Er hörte ihr mit böser Begier zu, und grausam gegen sich selbst, wollte er alles wissen, von dem letzten Rendezvous mit jenem andern und wie sie dann mit ihm gebrochen hatte.

Getreulich berichtete sie ihm alles, was im Hôtel d'Angleterre vorgefallen war, nur verlegte sie die Szene in eine Allee im Stadtpark von Florenz, aus Angst, das Bild jener letzten traurigen Zusammenkunft in einem verschlossenen Zimmer möchte ihn noch mehr empören. Dann erklärte sie ihm das Zusammentreffen an der Bahn. Sie hatte einen leidenschaftlichen Menschen in seinem Schmerz nicht zur Verzweiflung bringen wollen. Seitdem hatte sie nichts wieder von ihm gehört, bis zu dem Tage, an dem er sie in der Avenue Mac-Mahon angeredet hatte. Sie wiederholte, was er damals gesagt hatte. Zwei Tage später war er dann während der Oper in ihre Loge gekommen. Sie hatte ihn ganz gewiß nicht dazu ermutigt. Das war die Wahrheit.

Ja, es war die Wahrheit. Aber das Gift, das sich schon seit langer Zeit in ihm angesammelt hatte, brannte in seinen Adern. Durch ihre Geständnisse beschwor sie die Vergangenheit – die Vergangenheit, die nie wiedergutgemacht werden konnte, wieder vor ihm herauf. Und er sah lauter quälende Bilder vor sich.

Dann sagte er: »Ich glaube dir nicht, und selbst wenn ich dir glaubte, könnte ich dich nicht wiedersehen, wenn ich nur daran denke, daß dieser Mann dich besessen hat. Ich habe dir das schon gesagt und geschrieben – als du in Dinard warst, du erinnerst dich. – – Wenn es nur nicht gerade der gewesen wäre. Und seitdem – –«

Als er innehielt, sagte sie: »Du weißt es wohl, daß seitdem nichts mehr zwischen ihm und mir bestanden hat.«

Aber mit dumpfer Hartnäckigkeit fuhr er fort: »Seitdem habe ich ihn gesehen.«

Lange Zeit schwiegen sie beide. Endlich sagte sie klagend und in tiefem Staunen: »Aber, mein Freund, du konntest dir doch denken, so wie alles liegt – mein Temperament und meine Ehe . . . Wie oft sieht man Frauen, die viel mehr an ihrer Vergangenheit zu tragen haben als ich und die dennoch geliebt werden. Ach Gott, meine Vergangenheit – wie wenig das gewesen ist.«

»Ich weiß, was du zu geben vermagst. Dir kann man nicht verzeihen, was man einer andern verzeihen würde.«

»Aber, Jacques, ich bin doch ebenso wie die andern.«

»Nein, das bist du nicht, dir kann man nicht verzeihen.«

Er sprach mit geschlossenem Mund, seine Zähne preßten sich fest aufeinander vor Haß. Und seine Augen, die sie einst so groß und in mildem Glanz gesehen hatte, blickten jetzt hart und kalt auf sie, mit einem fremden Blick zwischen den zusammengekniffenen Lidern. Sie erschrak vor ihm. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl im Hintergrund des Zimmers. Das Herz war ihr schwer, und sie bebte von unterdrücktem Schluchzen, während sie mit großen Augen um sich blickte wie ein erschrockenes Kind. Schließlich fing sie an zu weinen.

»Warum habe ich dich gekannt?« seufzte er.

Und unter Tränen antwortete sie: »Ich bereue es nicht, dich gekannt zu haben. Ich gehe daran zugrunde, aber ich bereue nichts. Ich habe doch einmal geliebt.«

Er fühlte selbst, daß es schlecht von ihm war, aber er konnte es sich nicht versagen, sie noch mehr zu quälen.

»Ja, es ist schon möglich, daß du auch mich geliebt hast – trotz alledem.«

Und sie, mit sanfter Bitterkeit: »Ich habe nur dich geliebt, ich habe dich zu sehr geliebt, und dafür strafst du mich jetzt. Oh, und du bist imstande zu denken, daß ich mit einem andern so gewesen bin wie mit dir.«

»Warum nicht?«

Kraftlos sah sie ihn an, und der Mut verließ sie. »Sag, ist es denn wirklich wahr, daß du mir nicht glaubst?« und ganz leise fügte sie hinzu: »Würdest du mir glauben, wenn ich mich tötete?«

»Nein, ich würde dir auch dann nicht glauben.«

Sie trocknete sich die Augen und hob den tränenfeuchten Blick auf ihm auf:

»Dann ist also alles vorbei.«

Sie stand auf und blickte sich noch einmal im Zimmer um. Sie sah die tausend Dinge, mit denen sie in lachender, wollustatmender Vertraulichkeit zusammengelebt, die ihr gehört hatten und die jetzt auf einmal nichts mehr für sie bedeuteten und sie fremd und feindlich ansahen. Sie sah die nackte Frauengestalt wieder, deren Gebärde er ihr nicht gedeutet hatte, die Medaillons aus Florenz, die sie an die seligen Stunden in Fiesole erinnerten, und die kleine Skizze von Dechartre – diesen lachenden Mädchenkopf mit den hübschen, etwas kränklichen Zügen. Einen Augenblick blieb sie so stehen und blickte von Sympathie erfüllt auf das kleine Zeitungsmädchen, das auch hierhergekommen und dann wieder verschwunden war, untergetaucht in dem unheimlichen, gewaltigen Strom des Lebens.

Sie sagte noch einmal: »Dann ist also alles vorbei?« Er schwieg.

Die Dämmerung begann allmählich die Formen der Gegenstände zu verwischen. Thérèese sagte: »Was soll aus mir werden?«

»Und was aus mir?« antwortete er.

Sie sahen sich voller Mitleid an, denn jeder fühlte Mitleid mit sich selbst.

Dann sagte Thérèse noch: »Und ich, die sich davor fürchtete, älter zu werden, um deinet- und um meinetwillen, damit unsere schöne Liebe niemals ein Ende nehmen sollte! Besser wäre es, nie geboren zu sein. Ja, mir wäre besser, wenn ich nie geboren wäre. Welch Vorgefühl meines Schicksals hatte ich doch, als ich als kleines Mädchen unter den Linden von Joinville, vor den Marmornymphen bei der großen Fontäne, mich danach sehnte zu sterben!«

Mit herabhängenden Armen und gefalteten Händen stand sie da und hob ihre tränenfeuchten Augen, die durch die Dämmerung leuchteten, zu ihm empor.

»Gibt es denn nichts, wodurch ich das Gefühl in dir erwecken könnte, daß ich die Wahrheit gesagt habe? Daß niemals, seit ich dir gehöre – – niemals – niemals . . . Wie hätte ich es denn tun können? Der bloße Gedanke kommt mir wahnsinnig und entsetzlich vor. Kennst du mich denn so wenig?«

Er schüttelte traurig den Kopf: »Nein, ich kenne dich nicht.«

Noch einmal warf sie einen fragenden Blick auf all die Dinge, die hier in diesem Zimmer Zeugen ihrer Liebe gewesen waren.

»Dann war also alles umsonst, was wir einander gewesen sind . . . alles umsonst . . . alles nichts! Man zerbricht aneinander, aber man wird doch niemals eins!«

Sie lehnte sich dagegen auf. Es war ja nicht möglich. Er mußte fühlen, was er für sie war.

Und mit der ganzen Glut ihrer zerrissenen Liebe warf sie sich auf ihn und bedeckte ihn mit Küssen und Tränen. Sie schrie laut auf und preßte ihre Zähne in sein Fleisch.

Und er vergaß alles, er nahm sie in seine Arme, so wie sie war – leidermattet und glücklich, und drückte sie mit wildem, rasendem Verlangen an sich. Schon lag ihr Haupt zurückgeworfen auf dem Kissen, und sie lächelte unter Tränen. Aber dann riß er sich schnell von ihr los: »Ich sehe dich nicht mehr allein – ich sehe immer den andern neben dir – immer!«

Stumm, empört und verzweifelt sah sie ihn an. Dann erhob sie sich und brachte mit einem Gefühl von Scham, wie sie es nie empfunden hatte, ihr Kleid und ihre Haare in Ordnung.

Jetzt fühlte sie, daß wirklich alles vorbei war. Noch einmal blickte sie wie erstaunt um sich, aber ihre Augen sahen nichts mehr.

Dann ging sie langsam hinaus.

 


 


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