Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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16

Als sie in ihrem hellbraunen Reisemantel um halb sieben am Lungarno Acciaoli ankam, begrüßte Dechartre sie mit einem so strahlenden und zugleich so demütigen Blick, daß sie gerührt war.

Die untergehende Sonne warf ihren roten Schein auf die mächtig angeschwollenen Fluten des Arno.

Zuerst schwiegen sie beide. Während sie dann an der eintönigen Reihe der Palazzi entlang zum Ponte Vecchio gingen, begann sie das Gespräch: »Sie sehen, daß ich gekommen bin. Ich dachte, ich müßte es tun. Ich fühle mich nicht ganz schuldlos an dem, was geschehen ist. Ich weiß wohl, daß ich Sie zu Ihrem jetzigen Benehmen veranlaßt und Sie auf Gedanken gebracht habe, die Ihnen sonst ferngelegen hätten.«

Er schien sie nicht zu verstehen, und sie fuhr fort: »Ja, ich bin egoistisch und unvorsichtig gewesen. Ich war gern mit Ihnen zusammen. Ihr Geist hat mich angezogen, und ich konnte Ihre Gesellschaft nicht entbehren. So habe ich getan, was ich konnte, um Sie an mich zu ziehen, Sie zu fesseln. Ich habe mit Ihnen kokettiert. Ich war dabei weder kalt noch berechnend, aber ich war kokett.«

Er schüttelte den Kopf und behauptete, daß er nichts davon bemerkt habe.

»Ja, gewiß, ich kokettierte mit Ihnen, und doch ist das sonst nicht meine Art. Aber mit Ihnen habe ich es getan. Ich sage nicht, daß Sie versucht hätten, das auszunutzen, obgleich Sie vollkommen dazu berechtigt gewesen wären. Sie haben sich auch nichts darauf eingebildet. Überhaupt habe ich nicht gefunden, daß Sie eitel sind. Vielleicht haben Sie es gar nicht bemerkt. Männer, die geistig hochstehen, haben oft keinen besonderen Scharfblick. Aber ich weiß sehr wohl, daß ich so gewesen bin, wie ich nicht hätte sein sollen. Und ich bitte Sie deshalb um Verzeihung. Deshalb bin ich hierhergekommen. Lassen Sie uns gute Freunde bleiben, weil es noch nicht zu spät ist.«

Aber in schwermütig mildem Ton sagte er ihr jetzt, daß er sie liebe. Im Anfang hatte ihm diese Liebe Stunden harmlosen und köstlichen Glückes gebracht. Er hatte sich nur danach gesehnt, sie zu sehen und immer wieder zu sehen. Aber dann hatte ihre Nähe angefangen, ihn zu beunruhigen, sie hatte ihn hin und her gerissen und aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Plötzlich und gewaltsam war es über ihn hereingebrochen, eines Tages, als sie auf der Terrasse in Fiesole saßen. Und jetzt hatte er nicht mehr den Mut, schweigend zu leiden. Alles in ihm schrie nach ihr. Er war nicht mit einer bestimmten Absicht gekommen. Und wenn er ihr von seiner Leidenschaft gesprochen hatte, so war es gegen seinen Willen geschehen, weil er nicht anders gekonnt hatte. Es hatte ihn unwiderstehlich getrieben, mit ihr über sie selbst zu sprechen, weil sie das einzige Wesen auf der Welt war, das für ihn existierte. Er lebte nicht mehr in sich selbst, er lebte nur noch in ihr. So mochte sie es denn jetzt erfahren, daß er sie liebte. Ja, er liebte sie, aber es war keine weiche, ziellose Schwärmerei – nein, es war eine unerbittliche, heiße Glut, die ihn zu ihr hintrieb. Ach, seine Phantasie zeigte ihm alles so klar und deutlich. Er wußte, er sah beständig, was er begehrte, und das war eine Qual.

Und dann schien es ihm, daß sie beide zusammen die Fähigkeit hätten, sich Wonnen zu schaffen, für die es wert war, das Leben gelebt zu haben. Ihr Dasein würde ein herrliches Kunstwerk sein, verborgen vor den Augen der Welt. Sie würden alle ihre Gedanken miteinander teilen, alles gemeinsam empfinden und verstehen und sich so eine wunderbare Welt des Fühlens und Denkens erschaffen.

»Wir würden uns das Leben zu einem Märchengarten machen«, sagte er.

Aber Thérèse tat, als ob sie alles, was er gesagt hatte, nur als unschuldige Phantasien auffaßte.

»Sie wissen sehr wohl, wie Sie mich durch den Reichtum Ihres Geistes angezogen haben. Es ist mir zum Bedürfnis geworden, Sie zu sehen und Ihnen zuzuhören. Ich habe das Ihnen gegenüber nur zu sehr durchblicken lassen. Zählen Sie auf meine Freundschaft, und quälen Sie sich nicht länger.«

Damit reichte sie ihm die Hand, aber er nahm sie nicht und antwortete ungestüm: »Ich will Ihre Freundschaft nicht. Mir liegt nichts daran. Ich will Sie ganz besitzen oder Sie nie wiedersehen. Das wissen Sie selbst sehr gut. Warum halten Sie mir Ihre Hand hin und sagen mir spöttische Worte? Ob Sie es gewollt haben oder nicht, Sie haben ein verzweifeltes Verlangen in mir wachgerufen, eine tödliche Sehnsucht danach, Sie zu besitzen. Sie sind mein Schmerz, mein Leid, meine Qual – und jetzt verlangen Sie von mir, daß ich nichts weiter für Sie sein soll als ein angenehmer Gesellschafter. Jetzt, in diesem Augenblick sind Sie kokett und grausam. Wenn Sie mich nicht lieben können, so lassen Sie mich meiner Wege gehen. Ich werde fortgehen – wohin weiß ich nicht – und Sie vergessen oder Sie hassen. Denn im Grunde meiner Seele schlummert ein Gefühl von Haß und Zorn gegen Sie. Oh, ich liebe Sie – liebe Sie!«

Sie glaubte alles, was er sagte; sie fürchtete, daß er wirklich fortgehen würde, und das Leben erschien ihr so freudlos und leer ohne ihn. So sagte sie: »Sie sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, und ich will Sie nicht wieder verlieren. Nein, ich will es nicht.«

Schüchtern und zugleich ungestüm stammelte er, die Worte erstarben ihm in der Kehle.

Von den fernen Bergen sank die Dämmerung herab; auf dem Hügel von San Miniato erlosch der letzte Widerschein der Sonne.

»Wenn Sie mein Leben kennen würden«, sagte Thérèse, »wenn Sie wüßten, wie leer es war, ehe ich Sie traf, dann wüßten Sie auch, was Sie für mich sind, und Sie würden nicht mehr daran denken, mich zu verlassen.«

Aber der ruhige Ton ihrer Stimme und das gleichmäßige Geräusch ihrer Schritte auf dem Pflaster reizte ihn nur noch mehr. Und nun schrie er ihr ins Gesicht, wie er litt, wie das Verlangen nach ihr in ihm brannte, wie der Gedanke ihn quälte. Er sah sie ja überall vor sich, Tag und Nacht, zu jeder Stunde, und dann rief er nach ihr und breitete die Arme nach ihr aus. Ja, jetzt hatte er sie kennengelernt, die himmlische Krankheit.

»Ihre kühne Eleganz, die Anmut Ihrer Gedanken, Ihren stolzen Geist, ich atme es ein wie den Duft Ihres Körpers. Wenn Sie sprechen, ist mir, als ob Ihre Seele Ihnen auf die Lippen trete, und ich möchte vergehen, weil ich sie nicht von Ihrem Munde wegküssen darf. Ihre Seele ist für mich nur der duftende Atem Ihrer Schönheit. Meine Sinne waren ruhig, aber jetzt haben Sie alles in mir aufgewühlt. Und ich fühle, daß meine Liebe zu Ihnen primitiv und wild ist.«

Sie blickte ihn sanft an und antwortete nicht.

In diesem Augenblick sahen sie in der Ferne Lichter aufblitzen und vernahmen düstere Gesänge, die durch die hereinbrechende Nacht auf sie zu kamen. Und nun nahte eine Schar schwarzer Büßer, wie Gespenster, die vom Wind getrieben werden. Vor ihnen her schwankte das Kruzifix. Es waren die Barmherzigen Brüder, die mit verhülltem Gesicht, Psalmen singend und Fackeln in den Händen, einen Toten auf den Kirchhof trugen. Nach italienischer Sitte ging der Zug bei Nacht und im raschen Tempo. Jacques und Thérèse drückten sich an die Mauer, um den düster schaurigen Wirbel von Priestern, Chorknaben und vermummten Gestalten vorüber zu lassen. Der Sarg, die Kreuze und Fahnen schwankten hin und her, während sie über den verlassenen Quai dahinschritten, und daneben galoppierte der Tod, der unwillkommene Gast, der noch nie mit Freuden begrüßt wurde auf dieser wollustatmenden Erde.

Die schwarze Lawine war vorüber. Weinende Frauen liefen hinter dem Sarg her, den die Gespenster mit ihren groben Nagelschuhen davontrugen. Und Thérèse seufzte: »Was hilft es, wenn wir uns hier auf der Erde quälen?«

Er schien ihre Worte nicht zu hören und begann in ruhigerem Tone: »Ehe ich Sie kannte, fühlte ich mich nicht unglücklich. Damals liebte ich das Leben; meine Träume und mein Wissensdrang hielten mich daran fest. Ich genoß die schönen Formen und den Geist, der ihnen innewohnt, ich freute mich an jedem anmutig schmeichelnden Schein. Es war mein ganzes Glück, zu schauen und zu träumen. Ich genoß alles und war von nichts abhängig. Unbeschwert ließ ich mich von leichten und ziellosen Wünschen leiten. Ich nahm teil an allem und begehrte nichts. Nur das Begehren schafft Leiden; das weiß ich jetzt. In mir war kein dunkles Wollen; ich war glücklich, ohne es zu wissen. Oh, das war wenig, nur soviel, wie man zum Leben braucht. Aber jetzt besitze ich es nicht mehr. Durch Sie ist mir alles verlorengegangen. Was damals meine Freuden ausmachte, das Interesse, das ich für die Bilder der Kunst und des Lebens empfand, das lebhafte Vergnügen daran, mit meinen eigenen Händen einer Traumgestalt Form zu verleihen. – Sie haben mir alles genommen, und Sie haben mir nicht einmal den Schmerz darum gelassen. Ich sehne mich nicht nach meiner Freiheit, nach meiner einstigen Seelenruhe zurück. Es kommt mir vor, als ob ich nicht gelebt hätte, ehe ich Sie sah. Und jetzt, wo ich zum Leben erwacht bin, kann ich weder in Ihrer Nähe noch ferne von Ihnen leben. Ich bin tausendmal elender als jene Bettler, die wir auf dem Wege nach Ema gesehen haben. Die hatten wenigstens Luft zum Atmen. Aber ich? Sie sind die Lebensluft, die ich brauche und die mir versagt ist. Und doch bin ich froh, daß ich Ihnen begegnet bin. Es ist das einzige Ereignis, das für mein Leben wirklich von Bedeutung gewesen ist. Eben noch habe ich geglaubt, Sie zu hassen. Aber es ist nicht so. Ich bete Sie an, und ich segne Sie selbst für das Leid, das Sie mir angetan haben. Ich liebe alles, was mir von Ihnen kommt.«

Sie waren jetzt bis zu den düsteren Bäumen gekommen, die am Anfang des Ponte San Niccolo stehen. An der anderen Seite des Flusses breitete sich ödes Land aus, das im nächtlichen Dunkel einen noch trostloseren Eindruck machte als sonst.

Sie sah, daß er ruhiger geworden war. Eine milde Müdigkeit schien über ihn gekommen zu sein, und sie glaubte, seine Liebe und sein Verlangen seien nur Worte und phantastische Träume gewesen. Sie hatte nicht erwartet, daß er sich so schnell in sein Schicksal ergeben würde, und fühlte sich beinahe enttäuscht, daß sie der Gefahr, die sie gefürchtet hatte, so schnell entronnen war.

Jetzt streckte sie ihm noch einmal die Hand hin und sagte mutiger als das erstemal: »Kommen Sie, lassen Sie uns Freunde sein. Es ist schon spät, wir müssen umkehren. Begleiten Sie mich zu meinem Wagen, zur Piazza della Signoria. Ich werde immer Ihre Freundin sein, wie ich es bis jetzt gewesen bin. Ich fühle keinen Groll gegen Sie.«

Aber er zog sie mit sich fort auf die einsame Ebene zu, die sich an den Ufern des Flusses hindehnte.

»Nein, ich lasse Sie nicht gehen, ehe ich Ihnen alles gesagt habe. Aber ich kann nicht mehr reden, ich finde nicht die richtigen Worte. Ich liebe Sie, und ich will Sie besitzen. Ich will wissen, daß Sie mir gehören – ich schwöre Ihnen, daß ich nicht noch eine Nacht in diesen qualvollen Zweifeln zubringen will.«

Und nun zog er sie an sich, schloß sie in seine Arme und suchte durch den dunklen Schleier den Glanz ihres Blickes. »Sie müssen mich lieben. Ich will es, und Sie haben es auch gewollt. Sagen Sie mir, daß Sie mein sein wollen – sagen Sie es.«

Sie hatte sich sanft von ihm losgemacht und antwortete mit schwacher Stimme: »Ich kann nicht, nein, ich kann nicht, Sie sehen, daß ich aufrichtig zu Ihnen bin. Ich habe Ihnen eben gesagt, daß ich keinen Groll gegen Sie hege – aber das, was Sie von mir wollen, kann ich Ihnen nicht geben.«

Sie dachte an den, der in der Ferne auf sie wartete, und wiederholte: »Nein, ich kann nicht.«

Er beugte sich zu ihr hinab und sah ihr ängstlich fragend in die Augen, deren Sterne zitterten und sich verschleierten. »Und warum nicht? Ich sehe, daß Sie mich lieben, ich fühle es. Ja, Sie lieben mich. Warum wollen Sie so schlecht an mir handeln, warum mir nicht angehören?«

Er zog sie an seine Brust und suchte ihre Lippen, um ihr seine ganze Seele in einem langen Kusse hinzugeben. Aber dieses Mal entwand sie sich ihm rasch entschlossen und sagte: »Es ist unmöglich. Fragen Sie nicht weiter ich kann Ihnen nicht angehören.«

Seine Lippen bebten, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich, während er rief: »Sie haben einen Geliebten, dem alle Ihre Gedanken gehören. Warum haben Sie mich so zum besten gehalten?«

»Ich schwöre Ihnen, daß ich das nicht getan habe. Wenn ich jemals einen Mann lieben würde, so könnten nur Sie es sein.«

Aber er hörte nicht mehr auf das, was sie sagte.

»Lassen Sie mich. Lassen Sie mich.«

Damit floh er von ihr fort in das Dunkel hinein.

Der Arno war über seine Ufer getreten und bildete zahllose Lachen auf dem lehmigen Uferland, in denen der halbverschleierte Mond sich in zitternden Glanzlichtern widerspiegelte.

In blinder, wahnsinniger Eile ging er über den aufgeweichten Boden, mitten durch die Wasserlachen dahin.

Von Schrecken erfüllt, stieß Thérèse einen lauten Schrei aus. Sie rief seinen Namen, aber er wandte nicht einmal den Kopf und gab keine Antwort. Mit unheimlicher Ruhe floh er immer weiter. Nun eilte sie ihm nach. Ihr Rock troff von Wasser, und die Kieselsteine verletzten ihre Füße. Als sie ihn eingeholt hatte, zog sie ihn heftig zu sich heran: »Was wollten Sie tun?«

Er blickte sie an und las in ihren Augen die Angst, die sie um ihn ausgestanden hatte: »Fürchten Sie nichts. Ich ging wie ein Blinder. Ich versichere Ihnen, daß ich mir nichts antun wollte. Oh, seien Sie unbesorgt. Ich bin verzweifelt, aber ganz ruhig. Ich wollte vor Ihnen fliehen, und ich bitte Sie jetzt um Verzeihung. Aber ich kann Sie nicht mehr sehen, nein, ich kann es nicht mehr. Lassen Sie mich, ich bitte Sie darum. Leben Sie wohl.«

Schwach und aufgewühlt antwortete sie: »Kommen Sie. Wir werden tun, was wir müssen.« Aber er verharrte in seinem düsteren Schweigen. Und nun wiederholte Sie: »Kommen Sie, kommen Sie.«

Dann nahm sie seinen Arm, und er fühlte sich neu belebt, als er die sanfte Berührung ihrer warmen Hand fühlte.

»Sie wollen also«, sagte er.

»Ich will Sie nicht verlieren.«

»Wollen Sie mir versprechen –«

»Ich muß wohl.«

Und in all ihrer Angst und Besorgnis mußte sie fast lächeln, wenn sie daran dachte, daß er durch sein sinnloses Benehmen so rasch über sie gesiegt hatte. Dann sagte er: »Morgen!«

Aber sie suchte instinktiv sich zu wehren und antwortete lebhaft: »O nein, nicht morgen.«

»Sie lieben mich nicht. Es reut Sie schon, daß Sie mir etwas versprochen haben.«

»Nein, ich bereue nichts – aber –«

Er bat und flehte. Sie blickte ihn an, dann wandte sie den Kopf, zögerte und sagte ganz leise: »Samstag.«

 


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