Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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4

Es war schon fast dunkel in dem verschwiegenen, kleinen Zimmer. Die Einrichtung machte mit all den Vorhängen, Portieren, Kissen, Bärenfellen und orientalischen Teppichen einen etwas überladenen Eindruck. An der Wand hingen Degen, die im Schein des aufflackernden Feuers blitzten, zwischen Schießblättern und den verblaßten Kotillonorden von drei verflossenen Wintern. Auf einem Sekretär von Rosenholz sah man einen silbernen Becher – es war irgendein Sportpreis –, und auf dem kleinen Tischchen mit buntbemalter Porzellanplatte dufteten weiße Fliederzweige in einer Kristallvase, um die sich Winden aus vergoldetem Kupfer schlangen. Überall zitterten Lichtreflexe in dem tiefen warmen Schatten auf.

Thérèse und Robert waren an dieses Halbdunkel gewöhnt und fanden sich leicht in der wohlbekannten Umgebung zurecht. Während sie, mit dem Rücken zum Kamin, vor dem Spiegel stand, der ihr Bild nur undeutlich zurückwarf, und ihre Haare ordnete, rauchte er eine Zigarette. Sie litt es nicht, daß er die Lampe oder ein Licht anzündete. Ihre Haarnadeln nahm sie aus einer kleinen Schale von böhmischem Glas, die neben ihr auf dem Tisch stand. So war sie es nun schon seit drei Jahren gewohnt. Robert sah ihr zu; ihre Hände, die so rasch durch die mattgoldene Haarflut glitten, waren hell beleuchtet, während das Gesicht in dem tiefen Schatten wie eine Bronzemaske aussah und einen geheimnisvollen, fast beunruhigenden Ausdruck annahm. Sie sagte kein Wort.

»Bist du immer noch unzufrieden mit mir, mein Schatz?« fragte er.

»Was soll ich dir darauf antworten?« erwiderte sie endlich, als er in sie drang, ihrem hartnäckigen Schweigen ein Ende zu machen. »Ich kann dir nur wiederholen, was ich schon vorhin gesagt habe. Es berührt mich etwas sonderbar, wenn ich deine Pläne erst durch den General Larivière erfahre.«

Er fühlte es wohl, daß sie immer noch ungehalten war. Sie war heute so steif und gezwungen mit ihm gewesen – nichts von jener reizenden Hingebung, die ihn sonst so an ihr entzückte. Aber er tat, als ob er es nur für eine vorübergehende Verstimmung hielte, die bald wieder verfliegen würde.

»Ich habe es dir doch schon erklärt, Liebste. Ich habe dir vorhin gesagt und wiederhole es jetzt: Als ich Larivière traf, hatte ich eben einen Brief von Caumont erhalten, der mich an mein Versprechen mahnte, ihm die Füchse aus seinem Forst wegzuschießen. Mit der nächsten Post hatte ich seinen Brief beantwortet und wollte es dir heute selbst sagen. Es tut mir leid, daß der General Larivière mir zuvorgekommen ist. Aber die Sache ist doch so unwesentlich.«

Sie hatte die Arme über den Kopf verschränkt und warf ihm einen ruhigen Blick zu, dessen Bedeutung er aber nicht verstand: »Du gehst also wirklich fort?«

»Ja, nächsten Dienstag oder Mittwoch. Ich bleibe höchstens zehn Tage fort.«

Sie setzte ihr Pelzbarett auf, das mit einem Mistelzweig geschmückt war, und fragte: »Kann es nicht aufgeschoben werden?«

»O nein, in einem Monat sind die Fuchsfelle nichts mehr wert. Außerdem hat Caumont einige gute Bekannte eingeladen, die es sehr übelnehmen würden, wenn ich nicht käme.«

Während sie ihr Barett mit einer langen Hutnadel feststeckte, runzelte sie die Stirn: »So eine Fuchsjagd ist wohl sehr interessant?«

»Sehr interessant! Die Füchse sind nämlich schlau, und es ist sehr schwer, sie zu überlisten. Die Intelligenz dieser Bestien ist wirklich großartig. Ich habe einmal in der Nacht ein paar Füchse beobachtet, die ein Kaninchen verfolgten. Sie hatten eine regelrechte Treibjagd inszeniert, mit Treibern. Ich versichere dir, es gibt nichts Schwierigeres, als einen Fuchs aus seinem Bau herauszulocken. Bei diesen Jagdpartien geht es sehr fidel zu. Außerdem hat Caumont einen ausgezeichneten Weinkeller. Ich persönlich lege zwar keinen besonderen Wert darauf, aber er ist allgemein berühmt. Denke dir, neulich hat einer von seinen Pächtern ihm erzählt, er habe von einem Zauberer Sprüche gelernt, mit denen man die Füchse behexen könne. Dieses Mittel gedenke ich zwar nicht anzuwenden, aber ich verpflichte mich, dir ein halbes Dutzend der schönsten Felle mitzubringen.«

»Was soll ich denn damit anfangen?«

»Man kann sehr hübsche Fußdecken daraus machen.«

»Ah! . . . Und wirst du die ganze Woche auf der Jagd bleiben?«

»O nein! Es ist ganz in der Nähe von Sémanville, und da werde ich auf zwei Tage zu meiner Tante Lannoix gehen. Sie rechnet darauf, daß ich sie besuche. Voriges Jahr um diese Zeit war dort eine sehr nette Gesellschaft beisammen, ihre beiden Töchter und drei Nichten, alle mit ihren Männern – lauter hübsche, lustige, hochanständige junge Frauen. Zweifellos werde ich sie Anfang nächsten Monats wieder dort treffen, da sie zum Geburtstag meiner Tante kommen wollen, und dann bleibe ich wohl ein paar Tage dort.«

»Natürlich, mein Lieber, bleib nur, so lange dir's Spaß macht. Ich wäre untröstlich, wenn du meinetwegen einen so angenehmen Aufenthalt abkürzen wolltest.«

»Aber du, Thérèse?«

»Oh, ich werde mich schon damit abzufinden wissen.« Das Feuer war beinahe ganz ausgegangen, und die Schatten zwischen ihnen wurden dichter. In einem halb träumerischen, halb erwartungsvollen Ton sagte sie: »Es ist doch wahr – man soll eine Frau niemals allein lassen.«

Er trat auf sie zu und suchte im Dunkel ihren Blick. Dann faßte er ihre Hand: »Hast du mich lieb?«

»O gewiß, ich liebe keinen anderen. Aber –«

»Was wolltest du sagen?«

»Nichts weiter; ich dachte nur, den ganzen Sommer sind wir voneinander getrennt – im Winter bist du die halbe Zeit durch deine Familie oder deine Freunde in Anspruch genommen –, und da dachte ich eben, wenn man sich so wenig sieht, ist es eigentlich nicht der Mühe wert, sich überhaupt zu sehen.«

Le Ménil zündete die Kerzen an, hart und offen standen seine Züge im Licht. Er blickte sie an mit einem Vertrauen, das nicht so sehr aus der Eitelkeit kam, wie sie allen Männern gemein ist, wenn sie lieben, sondern aus einem inneren Bedürfnis nach Ordnung und Würde. Er glaubte an sie aus den Vorurteilen seiner Erziehung und seines arglosen Geistes heraus.

»Thérèse, ich habe dich lieb, und ich weiß, du liebst mich auch. Warum willst du mich so quälen? Du hast manchmal etwas so Kaltes und Hartes in deinem Wesen, das mich wirklich peinlich berührt.«

Heftig schüttelte sie ihren kleinen, zierlichen Kopf: »Was willst du: Ich bin eigensinnig und herb, aber das liegt mir im Blut, ich habe es von meinem Vater. Du kennst Joinville, du hast das Schloß gesehen, mit den Plafonds von Lebrun, mit den alten Gobelins, die noch von Fouquet herstammen, du kennst unseren Garten, der nach einem Plan von Le Nôtre angelegt ist. Du kennst den Park und die Jagd – du sagtest, es gäbe keine schönere in ganz Frankreich –; aber etwas hast du nicht gesehen, nämlich das Arbeitskabinett meines Vaters, seinen einfachen weißen Holztisch und das Büchergestell von Mahagoni. – Das, mein Lieber, ist der Punkt, von dem alles andere ausgegangen ist. An diesem Tisch, vor diesem Bücherbrett hat mein Vater vierzig Jahre lang gesessen und gerechnet, zuerst in einem kleinen Zimmer an der Place de la Bastille und später in der Wohnung Rue de Maubeuge, wo ich geboren bin. Wir waren damals noch nicht reich. Ich erinnere mich noch sehr gut an den kleinen Salon mit den roten Damastmöbeln, mit dem mein Vater seinen Hausstand gründete und den meine Mutter so liebte.

Ich bin die Tochter eines Emporkömmlings, oder sagen wir eines Eroberers, es kommt auf eins heraus. Wir sind gierige, eigensüchtige Leute. Mein Vater wollte Geld verdienen, wollte besitzen, was käuflich ist, das heißt: alles. Und ich will auch etwas erringen und festhalten – was, das weiß ich nicht –, vielleicht das Glück, das ich besitze oder auch nicht besitze. Ich bin gierig auf meine Art, begierig nach Träumen und Illusionen. Oh, ich weiß wohl, daß alles das die Mühe nicht lohnt, die man sich darum gibt. Aber gerade in dieser Mühe liegt der Wert; denn diese Mühe, das bin ich, das ist mein Leben. Ich bin gierig, das zu genießen, was ich liebe oder was ich zu lieben geglaubt habe. Ich will nicht verlieren. Ich bin wie mein Vater: Ich fordere, was man mir schuldig ist. Und dann – –«, hier senkte sie die Stimme, »ich habe Sinne. Das ist es, mein Lieber! Ich quäle dich; aber was ist da zu machen? Du hättest mich nicht nehmen sollen.«

Er war es gewohnt, sie manchmal so leidenschaftlich reden zu hören; aber es verdarb ihm das Vergnügen. Übrigens beunruhigte er sich nicht weiter darüber; er war sehr empfindlich für alles, was sie tat, aber kaum für das, was sie sagte. Es kam ihm nicht in den Sinn, bloßen Worten, besonders wenn sie von einer Frau herrührten, große Bedeutung beizulegen. Er selbst sprach sehr wenig, und er war himmelweit davon entfernt zu denken, daß Worte auch Taten sind.

Obgleich er sie liebte – vielleicht gerade, weil er sie so sehr liebte und ihr so fest vertraute –, glaubte er, ihren Launen, die er albern fand, entgegentreten zu müssen. Es gelang ihm wohl, den Herrn zu spielen – wenn er sie nicht ärgerte, und in seiner Einfalt tat er es immer.

»Du weißt doch, Thérèse, daß ich mich immer bemüht habe, dir in allem gefällig zu sein; ich bitte dich also, verschone mich mit Launen.«

»Aber warum denn? Damals, als ich mich von dir hinreißen ließ oder mich dir freiwillig gab, geschah es doch auch nicht aus Vernunft oder aus Pflicht, sondern einfach aus Laune.«

Er blickte sie überrascht und bekümmert an.

»Das Wort Laune scheint dich zu verletzen, mein Freund. Sagen wir also aus Liebe. Ich habe es wirklich von Herzen gern getan, und weil ich sah, daß du mich liebtest. Aber die Liebe soll eine Freude sein, und ich habe darin bis jetzt nicht die Befriedigung gefunden, die ich suchte. Du nennst das Laune, was mein innerstes Verlangen, der Inhalt meines Lebens ist: mein Bedürfnis nach Liebe. Wenn ich die nicht finde, will ich lieber ganz allein sein. Du bist sonderbar. Meine Launen! . . . Gibt es denn anderes im Leben? Ist deine Fuchsjagd etwa keine Laune?«

»Ich schwöre dir, Thérèse«, sagte er, »wenn ich es nicht versprochen hätte, würde ich dir dieses kleine Vergnügen mit tausend Freuden opfern.«

Er meinte es aufrichtig, und sie fühlte, daß er die Wahrheit sagte. Sie wußte, daß er auch in den geringfügigsten Kleinigkeiten sein Wort zu halten pflegte. Gerade durch diese Gewissenhaftigkeit war er unaufhörlich an gesellschaftliche Verpflichtungen gebunden, denen er mit der peinlichsten Genauigkeit nachkam.

Wenn sie noch weiter in ihn gedrungen wäre, hätte sie es leicht erreichen können, daß er blieb, das sah sie wohl. Aber jetzt war es zu spät. Es lag ihr nicht mehr daran, das Spiel zu gewinnen. Sie fand jetzt sogar eine Art von schmerzlichem Reiz darin, es zu verlieren. So tat sie, als ob sie diesen Grund, den sie lächerlich fand, ernst nähme. Sie gab nach und machte sich im Grunde über ihn lustig.

»Allerdings, wenn du es versprochen hast.«

Er war anfangs etwas überrascht, dann beglückwünschte er sich im stillen, daß er sie dazu gebracht hatte, Vernunft anzunehmen, und war ihr dankbar dafür, daß sie ihren Eigensinn fahrenließ. So faßte er sie um die Taille, küßte sie zur Belohnung wie ein guter Ehemann auf Nacken und Augen und zeigte den besten Willen, seine letzten Tage in Paris ausschließlich ihr zu widmen.

»Ehe ich abreise, Liebling, können wir uns noch drei- oder viermal wiedersehen, sogar noch öfter, wenn du willst. Ich werde dich, sooft du magst, hier erwarten. Willst du morgen kommen?«

Es gewährte ihr jetzt eine stille Genugtuung, ihm zu sagen, daß sie weder morgen noch an einem der folgenden Tage kommen könne. Im freundlichsten Tone von der Welt gab sie ihm ihre Gründe an, es waren auf den ersten Blick nur kleine Hindernisse: Sie hatte Besuche zu machen, ein Kleid anzuprobieren, und dann mußte sie zu einem Wohltätigkeitsbasar, Ausstellungen besichtigen, Stickereien ansehen, die sie vielleicht kaufen wollte. Aber bei näherer Betrachtung wuchsen die Schwierigkeiten: Die Besuche konnten nicht aufgeschoben werden, es war nicht ein Basar, sondern mehrere, und sie mußte unbedingt hingehen; die Ausstellungen wurden nächstens geschlossen, und die Stickereien sollten nach Amerika geschickt werden. Kurz, es war ganz unmöglich, daß sie ihn vor seiner Abreise noch einmal sah.

Da es in seinem Charakter lag, derartige Gründe für bindend zu halten, so fiel es ihm gar nicht auf, daß es ganz gegen ihre sonstige Art war, sich durch so etwas hindern zu lassen. Verstrickt in diesem leichten Gewebe gesellschaftlicher Verpflichtungen, erhob er keine Einwände, sondern schwieg und machte ein unglückliches Gesicht.

Mit dem hocherhobenen linken Arm schob sie die Portiere zurück, legte die Rechte auf den Türgriff und stand so, eingerahmt von den saphirblauen und rubinroten Bahnen des türkischen Stoffes. Dann wandte sie den Kopf nach dem Freund, den sie verließ, und sagte, leicht spöttisch, aber mit einem tragischen Unterton: »Leb wohl, Robert, und amüsier dich gut. Meine Besuche, meine Besorgungen, deine kleinen Reisen – das hat alles nichts zu bedeuten. Aber diese Nichtigkeiten machen das Schicksal. Adieu.«

Damit ging sie. Er hätte sie gern begleitet, aber er hielt es nicht für richtig, sich mit ihr auf der Straße sehen zu lassen, wenn sie es nicht absolut verlangte.

Als Thérèse draußen war, fühlte sie sich plötzlich einsam, ganz allein auf der Welt, ohne Freude und ohne Schmerz. Sie ging wie gewöhnlich zu Fuß nach Hause. Es war schon ganz dunkel, die Luft war kalt, klar und ruhig.

Aber die Straßen, die sie entlangging im lichterbesäten Dunkel, umhüllten sie mit dem lauten Atem der Städte, der den Städtern so angenehm ist und den sie selbst in der Kälte des Winters spüren. Zu beiden Seiten standen verwahrloste baufällige Häuser, hölzerne Landhäuschen, Schuppen: Überbleibsel aus Zeiten, als Auteuil noch ein Dorf war, dazwischen erhoben sich vereinzelte Mietskasernen und zeigten ihre langweiligen Giebelmauern. Die kleinen Krämerläden, die eintönigen Fensterreihen, sie sagten ihr nichts. Dennoch fühlte sie geheimnisvoll die Freundschaft der Dinge; die Steine, die Haustüren, die Lichter oben hinter den Fenstern schienen ihr gewogen. Aber sie war allein, und sie wollte allein sein.

Der Weg zwischen den beiden Wohnungen, in denen sie fast gleichermaßen zu Hause war, dieser Weg, den sie so oft gegangen war, schien ihr heute ein Weg ohne Wiederkehr. Warum? Was hatte dieser Tag gebracht? Eine kleine Meinungsverschiedenheit, nicht einmal ein Streit zu nennen. Und doch hatte dieser Tag einen sonderbaren, zwar schwachen, aber nachwirkenden Geschmack, einen nie gekannten Reiz, der nicht mehr vergehen würde. Was war geschehen? Nichts. Und dieses Nichts löschte alles aus. Mit dunkler Gewißheit fühlte sie, daß sie jenes Zimmer nie wieder betreten würde, das vor kurzem noch das Geheimste und Teuerste ihres Lebens umschloß.

Es war kein oberflächliches Verhältnis gewesen. Sie war seine Geliebte geworden, weil sie ein tiefes Verlangen nach Glück empfand. Aber bei all ihrer Fähigkeit, sich liebend hinzugeben, war sie doch immer klarsehend geblieben. Sie hatte niemals die Überlegung und das Gefühl ihrer eigenen Sicherheit verloren, das bei ihr sehr stark ausgebildet war.

Ausgewählt hatte sie sich ihren Geliebten eigentlich nicht. Aber wählt man denn überhaupt? Sie hatte sich ihm auch nicht aus bloßem Zufall hingegeben, oder weil er sie überrascht hatte. Sie hatte getan, was sie wollte, soweit man in solchen Dingen tut, was man will. Und sie brauchte nicht zu bereuen, was sie getan. Er war für sie gewesen, was er ihr hatte sein sollen, das mußte sie ihm lassen – diesem Mann, der in der Gesellschaft beliebt war und alle Frauen haben konnte, nach denen er verlangte.

Trotz alledem fühlte sie, daß es zu Ende war, ganz einfach zu Ende, und sie dachte kalt und düster: ›Drei Jahre! Er ist ein guter Mensch; er liebt mich, und ich habe ihn geliebt. Ja, ich habe ihn geliebt, sonst hätte ich ihm nicht angehört. Ich bin nicht leichtfertig.‹

Aber sie konnte sich nicht mehr in die Empfindungen jener vergangenen Zeiten zurückdenken, in diesen geistigen und körperlichen Aufruhr, als sie sich ihm gab. Dabei erinnerte sie sich noch an die kleinsten und geringfügigsten Umstände. Es war in einem Hotelzimmer gewesen. Sie sah es noch vor sich mit den künstlichen Blumen und den geschmacklosen Bildern. Sie besann sich noch auf die beinahe rührenden und ein bißchen komischen Worte, die er damals gesagt hatte. Aber es kam ihr vor, als ob es eine ganz andere Frau gewesen sei, die dieses Abenteuer erlebt hatte, eine Fremde, die ihr nicht besonders sympathisch war und die sie kaum noch verstand.

Und was heute geschehen war, die Spuren seiner Küsse auf ihrem Körper, das lag alles schon so fern. Das Bett, der weiße Flieder in der Kristallvase, die kleine Schale aus böhmischem Glas, aus der sie ihre Haarnadeln genommen hatte – alles das sah sie vor sich wie durch ein Fenster, in das man im Vorübergehen blickt. Sie fühlte keine Bitterkeit, ja sie war nicht einmal traurig.

Sie hatte nichts zu verzeihen – leider nicht. Daß er auf eine Woche fortgehen wollte, das war ja kein Verrat an ihr, es war kein Unrecht gegen sie, es war nichts – und alles. Es war das Ende, das wußte sie ganz genau. Sie wollte ein Ende machen. Sie wollte es, wie der fallende Stein fallen will. Es war ein Ja zu allen verborgenen Kräften ihres Wesens und der Natur. »Ich habe keinen Grund, ihn weniger zu lieben als sonst«, sagte sie sich. »Liebe ich ihn wirklich nicht mehr – und habe ich ihn überhaupt jemals geliebt?«

Sie konnte sich nicht klar darüber werden, und eigentlich war es ihr auch gleichgültig.

Drei Jahre lang hatte sie ihm angehört – zweimal die Woche, manchmal auch viermal. Es hatte sogar Zeiten gegeben, wo sie sich jeden Tag sahen. Hatte das denn gar nichts für sie zu bedeuten? Aber das ganze Leben hat ja nicht viel zu bedeuten, und was man selbst hineinlegt, ist so bitterwenig. Nein, sie hatte gar keinen Grund, sich zu beklagen, aber es war besser, wenn die Sache einmal ein Ende nahm.

Alle ihre Reflexionen gipfelten in diesem einen Punkt. Es war kein Entschluß – Entschlüsse kann man ändern –, es war viel mehr als das, es war eine körperliche und geistige Umwandlung, die in ihr vor sich gegangen war.

Als sie an den Platz kam, mit seinem Brunnenbecken und der Kirche im Rustikastil, in deren offener Turmarkade man die Glocke hängen sieht, dachte sie wieder an das Veilchensträußchen für zwei Sous, das er ihr eines Abends auf dem Petit-Pont, dicht bei Notre-Dame, gekauft hatte. An jenem Tage war etwas anderes in ihrer Liebe gewesen als gewöhnlich, mehr Hingabe und etwas Phantastisches. Es wurde ihr weich ums Herz, als sie daran dachte. Sie suchte sich wieder zurückzurufen, was es eigentlich gewesen war, aber sie konnte es nicht. Der arme, verwelkte kleine Veilchenstrauß war alles, was ihr im Gedächtnis geblieben war.

Während sie so nachdenklich dahinging, redeten verschiedene Vorübergehende sie an, die durch ihre einfache Toilette irregeführt wurden. Einer schlug ihr vor, mit ihm in einem Séparée zu dinieren und ins Theater zu gehen. Sie amüsierte sich darüber, und es zerstreute sie. Innerlich war sie ganz ruhig, es war keine seelische Krise. ›Wie machen es denn andere Frauen?‹ dachte sie. ›Und ich war so stolz darauf, mein Leben nicht zu verpfuschen! Ach, es ist nicht viel wert, das ganze Leben!‹

Jetzt erblickte sie die klassizistische Kuppellaterne des Musée des Religions. Die Straße war hier wegen unterirdischer Arbeiten aufgerissen. Zu beiden Seiten der Grube war schwarze Erde aufgeworfen, lagen Haufen von Pflastersteinen und Berge von Fliesen. Als sie das schmale schwankende Brett betrat, das als Übergang diente, sah sie am anderen Ende einen Herrn stehen, der auf sie zu warten schien. Er hatte sie erkannt und grüßte. Es war Dechartre. Als sie an ihm vorüberging, glaubte sie zu bemerken, daß er sich über diese Begegnung freute. Lächelnd erwiderte sie seinen Gruß, und er fragte, ob er sie ein Stückchen begleiten dürfe. So gingen sie zusammen über den weiten Platz, über den ein frischer Luftzug hinstrich.

Er sagte, er habe sie schon von weitem an dem ihr eigenen Rhythmus der Linien und des Ganges erkannt, und fügte hinzu: »Schöne Bewegungen sind Musik für das Auge.«

Sie erwiderte, daß sie mit Vorliebe zu Fuß ginge, es machte ihr Freude und hielte sie gesund.

Ihm ging es ebenso, er machte gern weite Wanderungen in einer schönen Gegend oder durch belebte Straßen. Es lag ein geheimnisvoller Reiz darin. Auch reiste er gern; obwohl es heutzutage so bequem und trivial geworden war, hatte das Reisen für ihn seinen mächtigen Zauber behalten. Er hatte goldene Tage und schimmernde Nächte gesehen, er kannte Griechenland, Ägypten und den Bosporus. Aber am meisten zog es ihn immer wieder nach Italien, es war ihm, als ob dort seine geistige Heimat läge.

»Ich reise nächste Woche wieder dorthin«, sagte er, »ich möchte Ravenna wiedersehen, wie es an dem öden Gestade unter schwarzen Pinien schlummert. Kennen Sie Ravenna, Madame? Es ist ein verzaubertes Grab, in dem leuchtende Gespenster erscheinen; dort wohnt der dunkle Zauber des Todes. Die Mosaiken von San Vitale, von Sant' Apollinare Nuovo und Sant' Apollinare in Classe, mit ihren barbarischen Engeln und den Kaiserinnen im Heiligenschein, lassen die ungeheuerlichen Wonnen des Orients ahnen. Das Grabmal der Galla Placidia in der dunkel leuchtenden Krypta macht einen unheimlichen Eindruck, besonders heute, da man es seines Silberüberzuges beraubt hat. Wenn man durch eine Spalte des Sarkophags blickt, glaubt man die Tochter des Theodosius noch auf ihrem goldenen Sessel zu sehen, wie sie steif und unbeweglich dasitzt mit ihrem edelsteinübersäten, mit Szenen aus dem Alten Testament bestickten Gewand; mit dem schönen, grausamen Gesicht, das durch Einbalsamieren schwarz und hart geworden ist, während die ebenholzfarbenen Hände auf den Knien ruhen. Dreizehn Jahrhunderte hindurch hat sie sich in dieser düsteren Pracht erhalten, bis eines Tages ein Kind mit einer Kerze an die Öffnung des Grabes kam und den Leichnam samt seinem Prunkgewand verbrannte.«

Madame Martin fragte, was diese stolze Tote für ein Leben geführt habe.

»Sie war zweimal Sklavin«, sagte Dechartre, »und wurde zweimal wieder Kaiserin.«

»Dann war sie gewiß sehr schön«, meinte Madame Martin. »Aber Sie haben mich zu tief in ihr Grab hineinschauen lassen, und mir graut vor ihr. Gehen Sie nicht auch nach Venedig, Monsieur Dechartre, oder sind die Gondeln, die mit Palästen umsäumten Kanäle und die Tauben am Markusplatz Ihnen langweilig geworden? Ich muß gestehen, daß ich Venedig immer noch liebe, obgleich ich schon dreimal dort war.«

Er stimmte ihr bei, denn er hing ebenfalls sehr an Venedig. Jedesmal, wenn er dort war, wurde er vom Bildhauer zum Maler und machte Studien. Es waren Luft und Himmel, die er dort malen wollte.

»Anderswo, selbst in Florenz«, sagte er, »scheint der Himmel so weit entfernt, so hoch über uns zu sein. Aber in Venedig ist er überall; er liebkost die Erde und das Wasser, umhüllt zärtlich die Bleikuppeln und Marmorfassaden und wirft auf die schimmernde Fläche den Glanz von Perlen und Kristall.

Die Schönheit Venedigs liegt in seinem Himmel und in seinen Frauen. Was für entzückende Geschöpfe sind diese Venezianerinnen mit ihrem kühnen, reinen Wuchs und dem geschmeidigen Körper, der sich so voll unter dem schwarzen Brusttuch abzeichnet! Wenn von diesen Frauen nur ein Knöchelchen übrigbliebe, würde man darin die Anmut ihres erlesenen Gliederbaues wiederfinden. Sonntags stehen sie in der Kirche in bewegten, lachenden Gruppen zusammen, ein Durcheinander von schön geschwungenen Hüften, zierlichen Nacken, von blühendem Lächeln und feurigen Blicken. Und mit der geschmeidigen Anmut von jungen Tieren beugt alles das Knie, wenn ein Priester vorüberkommt, mit einem Kopf wie Vitellius und das Kinn auf sein Meßgewand gesenkt, der, begleitet von zwei Chorknaben, den Kelch in der Hand trägt.«

Er ging in etwas ungleichem Tempo, bald schnell, bald langsam, wie sein Gedankengang es gerade mit sich brachte. Sie machte regelmäßigere Schritte und war immer etwas voraus. Er blickte sie von der Seite an und bewunderte ihren kräftigen und doch graziösen Gang. Wenn sie eigenwillig den Kopf bewegte, sah er, wie der Mistelzweig an ihrem Barett für Augenblicke leise zitterte.

Ohne sich selbst darüber klar zu sein, erlag er dem Zauber dieses unerwarteten Zusammentreffens mit einer jungen Frau, die er fast gar nicht kannte.

Sie waren zu der Stelle gekommen, wo die breite Allee ihre vier Reihen Platanen entfaltet, und gingen nun an der von einer Buchsbaumhecke überragten steinernen Brüstungsmauer entlang, die zum Glück die häßlichen militärischen Gebäude verdeckt, die sich unten am Quai hinziehen. Weiter drüben ließ die milchige Luft, die an nebelfreien Tagen über dem Wasser liegt, den Fluß erraten. Der Himmel war klar. Die Lichter der Stadt vermischten sich mit den Lichtern des Himmels; im Süden funkelten die drei goldenen Sterne vom Gürtel des Orion.

»Voriges Jahr in Venedig«, fuhr Dechartre fort, »sah ich jeden Morgen, wenn ich aus dem Hause trat, ein entzückendes Mädchen vor seiner Tür, drei Stufen über dem Wasser des Kanals. Ein zierliches Köpfchen, der Hals rund und kräftig, von kecker Anmut die Hüfte – so stand sie da, in der Sonne und im Schmutz, makellos wie eine Amphora, berauschend wie eine Blume, und lächelte. Welch ein Mund! Das köstlichste Juwel im schönsten Licht. Beizeiten merkte ich, daß dieses Lächeln einem Metzgerburschen galt, der mit seinem Korb auf dem Kopf sich hinter mir aufgepflanzt hatte.«

An der Ecke der kleinen Straße, die zwischen Gärtchen zum Quai hinabführte, verlangsamte Madame Martin den Schritt.

»Ja, es ist wahr«, sagte sie, »die Venezianerinnen sind sehr schön.«

»Sie sind fast alle schön – das heißt, ich spreche nur von den Mädchen aus dem Volk, den Zigarrenmacherinnen, den kleinen Arbeiterinnen aus den Glasbläsereien. Die anderen sind wie die Frauen überall.«

»Die anderen? Meinen Sie damit die Damen der Gesellschaft – und lieben Sie die nicht?«

»Die Damen der Gesellschaft? O ja, es gibt reizende Geschöpfe darunter. Aber sie lieben, das ist nicht so einfach!«

»Meinen Sie?«

Damit reichte sie ihm die Hand und bog dann schnell um die Straßenecke.

 


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