Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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26

Am nächsten Tage brachte sie eine Droschke nach einer belebten und dennoch öden Straße. Es war dort halb düster, halb heiter, Gartenmauern zwischen Neubauten. Der Wagen machte halt, wo die Straße unter der gewölbten Arkade eines Gebäudes im Regence-Stil hindurchläuft, das sich, verstaubt und vergessen, wie aus Laune quer über die Straße schiebt. Hier und da strecken sich grüne Zweige zwischen den Mauern hervor und geben diesem Stadtwinkel ein freundlicheres Gesicht.

Während sie an der kleinen Pforte die Glocke zog, sah sie sich um und erblickte in dem von Häusern umschlossenen Viereck eine Dachluke, über der ein Flaschenzug hing, und einen großen vergoldeten Schlüssel, der einem Schlosser als Wahrzeichen diente. Und sie nahm alle Einzelheiten dieser neuen Umgebung in sich auf, als ob sie ihr längst vertraut und bekannt waren.

Tauben flogen über sie hinweg, und sie hörte Hühner gackern. Dann erschien ein Diener mit mächtigem Schnurrbart, um sie einzulassen. Es lag etwas halb Militärisches, halb Ländliches in seinem Äußeren.

Sie trat jetzt in den kiesbestreuten Hof, auf den eine Platane ihren Schatten warf. Auf der linken Seite war das Pförtnerhäuschen; in seinen Fenstern hingen Käfige mit Kanarienvögeln. Daneben erhob sich der weinumrankte Giebel des Nachbarhauses; ein Bildhaueratelier lehnte sein Gebälk daran, hinter dessen großen Fensterscheiben verstaubte Gipsabgüsse schliefen.

Zur Rechten war der Hof durch eine niedrige Mauer abgeschlossen, in die kostbare Trümmerstücke von Friesen und zerbrochene Säulenschäfte eingelassen waren.

Im Hintergrund erblickte man das Wohnhaus. Es war nicht sehr groß und hatte an der Vorderseite sechs Fenster, halb verborgen unter Efeu und wilden Rosen.

Philippe Dechartre hatte darin, von der Architektur des 15. Jahrhunderts entzückt, mit großer Stilkenntnis den Charakter eines Privatbaues aus der Zeit Ludwigs XII. wiederzuerwecken versucht. Das Gebäude war um die Mitte des zweiten Kaiserreiches begonnen, aber nie zu Ende geführt worden. Der Erbauer so vieler Schlösser war gestorben, ehe er noch sein eigenes Nest hatte fertigstellen können. Es hatte dadurch aber nur gewonnen. Es war in einem Stil begonnen, der damals vielleicht seinen ausgezeichneten Wert hatte, während er jetzt banal und unzeitgemäß erscheint. Allmählich war es seines Rahmens weiter Gärten verlustig gegangen, und nun stand das kleine Palais Dechartres zwischen den Mauern hoher Häuser eingezwängt. Das rohe, unbehauene Steinwerk war in der vergeblichen Erwartung des vielleicht schon vor zwanzig Jahren gestorbenen Steinmetzen abgebröckelt; die drei Dachfenster waren in ihrer kunstlosen Plumpheit kaum herausgearbeitet; das Dach hatte die Witwe des Architekten nur ganz einfach und mit wenig Kostenaufwand decken lassen. Aber all diese glücklichen Zufälle des Unvollendeten und Unbeabsichtigten verbesserten die Unschönheit der allzu neuen Altertümlichkeit und archäologischen Romantik. Sie vertrugen sich mit der Bescheidenheit dieses durch die wachsende Bevölkerung verhäßlichten Viertels.

Kurz und gut, das kleine Haus besaß bei allem scheinbaren Verfall in seinem grünen Kleid genügend Reiz. Und plötzlich entdeckte Thérèse mit sicherem Gefühl noch andere Übereinstimmungen. In der vornehmen Vernachlässigung, die sich von den efeubedeckten Wänden bis zu den blinden Fensterscheiben des Ateliers, ja sogar bis auf die überhängende, mit ihren Rindenschuppen das üppige wilde Gras im Hofe bestreuende Platane erstreckte, erkannte sie den Geist des Bewohners, der gleichgültig gegen das Bestehende, nicht geschickt, zu bewahren, das ewige Ungenügen leidenschaftlicher Herzen in sich trug. Bei aller Freude empfand sie einen innersten Schmerz, als sie die Gleichgültigkeit gewahr wurde, mit der er die Dinge rings um ihn her behandelte. Sie erkannte darin eine lässige Vornehmheit, zugleich aber auch eine geistige Losgelöstheit, die ihrer eigenen Natur, ihrer Montessuyischen Seele voller Interessen und Fürsorglichkeiten ganz entgegengesetzt war. Sie dachte sofort, wie sie, ohne die verträumte Anmut dieses verwilderten Erdenwinkels zu stören, ihre ordnende Aktivität hineintragen, wie sie den Weg mit Kies bestreuen und in die Ecke, die ein wenig Sonne hatte, Blumenfreude pflanzen würde. Voller Mitgefühl betrachtete sie eine Statue, die sich aus irgendeinem verfallenen Park hierher verirrt hatte, eine am Boden liegende und über und über mit Moos bewachsene Flora, deren abgebrochene Arme neben ihr lagen. Sie träumte davon, wie sie sie bald wieder aufrichten würde als Figur für den Springbrunnen, dessen Wasser jetzt traurig in einen Eimer rannen, der das Becken ersetzen mußte.

Dechartre hatte schon seit einer Stunde nach ihr ausgeschaut. Er war froh und unruhig, und als er jetzt die Freitreppe hinabstieg, zitterte er in dem Übermaß seines Glücks.

Als sie auf den kühlen Flur traten, wo die ernste Pracht der Bronze- und Marmorstatuen aus dem Halbdunkel hervorleuchtete, blieb Thérèse stehen, betäubt vom Schlagen ihres Herzens, das in ihrer Brust Sturm läutete.

Er drückte sie an sich und küßte sie lange. Durch das Brausen, das durch ihre Schläfen klang, vernahm sie seine Stimme, und sie dachte dabei an die kurze, wilde Liebesstunde des vorigen Abends. Sie sah den Bettvorleger wieder vor sich mit seinem Berberlöwen, und ermattet vor Wonne erwiderte sie Jacques' Küsse.

Dann führte er sie eine hölzerne Wendeltreppe hinauf in das große Zimmer, das seinem Vater als Arbeitskabinett gedient hatte und wo er selbst zeichnete, modellierte und vor allem las. Die Lektüre war für ihn ein Zaubertrank; über einer halbgelesenen Seite konnte er sich in Träumen verlieren.

Auf den verblaßten gotischen Gobelins, die über den Schränken hingen und bis an die bemalten Balken des Plafonds reichten, sah man inmitten eines phantastischen Waldes eine Dame mit hohem spitzem Kopfputz, zu deren Füßen ein Einhorn im Grase ausgestreckt lag.

Er führte sie zu dem breiten, niedrigen Diwan hin, dessen Kissen mit prächtig leuchtenden Stücken Brokat von spanischen und byzantinischen Kirchengewändern überzogen waren. Aber sie ließ sich daneben auf einem Lehnstuhl nieder.

»Endlich sind wir wieder zusammen«, sagte Jacques, »jetzt mag die Welt untergehen.«

»Früher habe ich an den Weltuntergang gedacht«, antwortete sie, »aber ich fürchte ihn nicht. Monsieur Lagrange hatte ihn mir aus Galanterie versprochen, und ich wartete darauf. Ich habe mich so viel gelangweilt, ehe ich dich kannte.«

Dann blickte sie um sich und betrachtete die Vasen und Statuetten, die auf den Tischen standen, die Gobelins und das glänzende Gewirr von Waffen, Schmelzarbeiten, Marmorfiguren, Malereien und alten Büchern: »Was für schöne Sachen du hast!«

»Sie stammen zum größten Teil von meinem Vater, der im goldenen Zeitalter der Sammler lebte. Die Bildteppiche mit der Geschichte vom Einhorn, deren vollständige Folge sich in Cluny befindet, hat er achtzehnhunderteinundfünfzig in einem Gasthaus in Meung-sur-Yèvre entdeckt.«

Voller Neugier und etwas enttäuscht sagte sie dann: »Aber ich sehe nichts von dir, weder eine Statue noch ein Relief, keine deiner in England so gesuchten Wachsarbeiten, weder eine Statuette noch eine Plakette oder ein Medaillon.«

»Glaubst du etwa, daß es mir Freude machen würde, inmitten meiner eigenen Werke zu leben? Die Figuren, die ich selbst gemacht habe, kenne ich zu genau, und sie langweilen mich. Was kein Geheimnis in sich birgt, hat auch keinen Reiz mehr.«

Sie sah ihn mit erheucheltem Unwillen an: »Du hast mir bisher nie gesagt, daß man jeden Reiz für dich verliert, wenn man keine Geheimnisse mehr für dich hat.«

Er legte seinen Arm um ihre Hüften: »Ach, das Lebendige ist nur zu geheimnisvoll. Und du, meine Geliebte, bleibst immer ein Rätsel für mich, dessen unbekannter Sinn alle Seligkeiten des Lebens und alle Schrecken des Todes in sich faßt. Habe keine Angst, dich mir hinzugeben. Ich werde nie aufhören, dich zu begehren, und ich werde dich niemals ganz ergründen. Besitzen wir überhaupt jemals das, was wir lieben? Alle Küsse und Liebkosungen – sind sie etwas anderes als wonnige und doch hoffnungslose Versuche, ineinander einzudringen? Wenn ich dich in meinen Armen halte, suche ich immer noch nach dir, und niemals habe ich dich ganz, weil ich dich immer noch begehre, weil ich in dir das Unmögliche und das Grenzenlose will. Wenn ich es jemals wüßte, was du wirklich bist! Siehst du – weil ich ein paar schlechte Figuren geschaffen habe, deshalb bin ich noch lange kein Bildhauer. Ich bin eher eine Art Dichter oder Philosoph, der in der Natur nach den Ursachen dessen forscht, was uns quält und beunruhigt. Die bloße Empfindung der Form genügt mir nicht. Meine Kollegen lachen mich aus, weil ich die Sachen nicht so einfach nehme wie sie. Und sie haben recht. Und dieser Tölpel Choulette hat ebenfalls recht, wenn er verlangt, daß man lebt, ohne zu denken und ohne zu begehren. Unser Freund, der Schuster von Santa Maria Novella, ist ein Meister der Lebenskunst, weil er nichts von alledem ahnt, was ihn ungerecht oder unglücklich machen könnte.

Meine Liebe zu dir sollte naiver sein und frei von dieser metaphysischen Leidenschaft, die mich töricht und schlecht werden läßt. Nicht wissen und vergessen – das ist das beste auf der Welt. Komm, komm zu mir, die Sehnsucht nach dir hat mich entsetzlich gequält während unserer Trennung. Komm, Geliebte, ich muß dich selbst in deinen Armen vergessen. Nur in dir kann ich das Vergessen finden und mich selbst verlieren.«

Er schloß sie in die Arme und hob den Schleier empor, um sie auf den Mund zu küssen.

Aber sie zog den schwarzen Tüll bis über das Kinn herab, eine gewisse Scheu überkam sie in diesem großen, fremden Saal, und sie fühlte sich verlegen unter dem Blick der unbekannten Dinge.

»Hier? Aber was denkst du denn?«

Er sagte ihr, daß sie ganz allein im Hause seien.

»Allein? Aber der Mann mit dem furchtbaren Schnurrbart, der mir die Tür geöffnet hat?«

Jacques lächelte: »Das ist Fusellier, der alte Diener meines Vaters. Mein ganzer Haushalt besteht nur aus ihm und seiner Frau. Über die kannst du ganz ruhig sein, sie sitzen den ganzen Tag treu und bissig in ihrer Portierloge. Du wirst auch seine Frau kennenlernen, aber ich sage dir im voraus, daß sie dich sehr familiär behandeln wird.«

»Sag mal, warum trägt denn Fusellier als Portier und Haushofmeister einen solchen Tatarenschnurrbart?«

»Aber, Liebste, die Natur hat ihm seinen Bart gegeben, und ich lasse ihn ihm gern. Es gefällt mir, daß er aussieht wie ein alter Feldwebel, der sich auf den Obstbau verlegt hat. Es kommt mir beinah vor, als ob er mein Gutsnachbar wäre.«

Dann setzte er sich auf eine Ecke des Diwans und zog sie auf seine Knie nieder, und sie küßten sich. Aber plötzlich stand sie rasch auf: »Du mußt mir auch die andern Zimmer zeigen. Ich bin sehr neugierig und will alles sehen.«

Er führte sie nun in die zweite Etage. Die Wände des Korridors waren mit Aquarellen von seinem Vater bedeckt. Dann öffnete er eine Tür, und sie traten in das Zimmer seiner Mutter, das mit Palisandermöbeln ausgestattet war.

Jacques hatte es ganz so gelassen, wie es war, in seiner Vergangenheit des Gestern, der einzigen, die uns wahrhaft rührt und uns traurig stimmt, und obgleich es nun schon seit neun Jahren nicht bewohnt war, hatte es sich noch nicht in die Einsamkeit ergeben. Der Spiegelschrank sah aus, als ob er darauf wartete, daß die alte Dame sich in seinen Scheiben betrachten würde, und auf der Stutzuhr aus Onyx stand eine nachdenkliche Sappho, die sich zu langweilen schien, weil sie den Pendel nicht mehr hin und her schwingen hörte.

An der Wand hingen zwei Porträts. Das eine war von Ricard und stellte Philippe Dechartre dar mit blassem Gesicht und wogender Haarfülle. Um seinen Mund lag ein Zug von Güte und Beredsamkeit, und die feuchten Augen blickten wie in romantische Träumereien versunken vor sich hin. Das andere, von einer ruhigeren Hand gemalt, war seine Frau, eine schlanke, feurige Dame mittleren Alters; man hätte sie beinah schön nennen können.

»Das Zimmer meiner lieben Mama gleicht mir«, sagte Jacques, »es vermag nicht zu vergessen.«

»Du siehst deiner Mutter ähnlich«, sagte Thérèse, »du hast ganz ihre Augen. Paul Vence hat mir erzählt, daß sie dich vergötterte.«

»Ja«, erwiderte er lächelnd, »sie war eine herrliche Frau, so intelligent und zartfühlend und dabei so entzückend kindisch. Ihre Mutterliebe ging ins Extreme, sie ließ mich keinen Augenblick in Ruhe. Auf die Weise quälte sie mich und sich selbst.«

Thérèse betrachtete eine Bronze von Carpeaux, die auf der Kommode stand.

»Du siehst hier«, erklärte er, »den Kronprinzen mit seinen Ohren wie Zephirflügel, die sein kaltes Gesicht heiter machen. Die Bronze ist ein Geschenk Napoleons des Dritten an meine Eltern. Sie waren in Compiègne. Als der Hof sich in Fontainebleau aufhielt, nahm mein Vater den Grundriß des Schlosses auf und zeichnete die Galerie. Morgens stand der Kaiser gewöhnlich im Gehrock, die Meerschaumpfeife im Mund, neben ihm, wie ein Pinguin auf einem Felsen. Ich war damals nicht dabei, aber ich hörte diese Geschichten bei Tisch, und sie sind mir im Gedächtnis geblieben. Der Kaiser war damals ruhig und friedlich. Seine Schweigsamkeit unterbrach er nur selten mit ein paar Worten, die der buschige Schnurrbart fast erstickte. Erst allmählich wurde er lebhafter, und dann setzte er meist seine Maschinenbauideen auseinander, denn er war ein Techniker und Erfinder. Mit einem Taschenbleistift zeichnete er seine Figuren auf die Skizzen meines darüber untröstlichen Vaters. So verdarb er ihm zwei oder drei Entwürfe in jeder Woche. Er schätzte meinen Vater sehr und versprach ihm Arbeiten und Ehren, die niemals kamen. Der Kaiser ist ein guter Mensch, aber er hat keinen Einfluß, pflegte meine Mutter zu sagen. Ich war damals noch ein Kind, aber stets ist mir eine unbestimmte Sympathie für diesen Mann geblieben, der zwar kein Genie war, wohl aber eine liebevolle und schöne Seele hatte und in den großen Abenteuern des Lebens natürlichen Mut und ruhigen Glauben an das Schicksal zeigte. Und zudem war er mir schon sympathisch darum, weil er von Menschen geschmäht und bekämpft wurde, die sich an seine Stelle setzen wollten und die doch im Grunde ihrer Seele nicht einmal seine Liebe zum Volke hatten. Wir haben sie ja inzwischen zur Macht kommen sehen. Beim Himmel, was sind es für niedrige Seelen! Senator Loyer zum Beispiel, der sich bei euch im Rauchzimmer die Taschen voll Zigarren steckte und mich noch aufforderte, ein gleiches zu tun. ›Für den Weg‹, meinte er. Dieser Loyer ist ein böser Mensch, hart gegen Unglückliche, Schwache und Niedere. Und dann Garain. Findest du nicht auch, daß er ein widerlicher Mensch ist? Erinnerst du dich, wie ich das erstemal bei euch aß und man über Napoleon sprach? Du trugst das Haar tief im Nacken mit einem Diamantpfeil in einem entzückend trotzigen Knoten. Paul Vence sagte allerlei feine Dinge, die Garain nicht verstand. Du fragtest auch mich nach meiner Meinung.«

»Ich wollte dich glänzen sehen. Ich war schon damals stolz auf dich.«

»Nein, vor so ernsthaften Leuten hätte ich nicht ein einziges Wort reden können. Und doch hatte ich große Lust zu erklären, daß mir Napoleon der Dritte mehr zusagte als der Erste und daß ich seine Gestalt viel rührender finde. Aber dieser Gedanke hätte damals wahrscheinlich sehr schlecht gewirkt. Und außerdem bin ich nicht talentlos genug, um mich mit Politik zu beschäftigen.«

Er ging jetzt im Zimmer umher und blickte die einzelnen Möbel mit vertraulicher Zärtlichkeit an. Dann öffnete er eine Schublade des Sekretärs: »Sieh, da ist Mamas Brille. Wie oft hat sie danach gesucht! Aber jetzt will ich dir mein eigenes Zimmer zeigen. Wenn es nicht ganz in Ordnung ist, so bitte ich in Frau Fuselliers Namen um Entschuldigung. Sie ist darauf dressiert, meine Unordnung zu respektieren.«

Die Vorhänge waren herabgelassen, und er zog sie auch nicht auf.

Eine Stunde später schlug Thérèse selbst die Gardinen von rotem Satin zurück. Und das helle Sonnenlicht fiel ihr blendend in die Augen und spielte auf ihrem gelösten Haar. Nach längerem Suchen fand sie einen venezianischen Spiegel mit breitem Ebenholzrahmen und trübem Glas. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, um sich darin sehen zu können, und sagte: »Bin ich das wirklich – dieses düstere, verschwommene Gespenst da? Über den Spiegel hat dir gewiß noch keine Dame, die sich darin sah, Komplimente gemacht.«

Als sie ein paar Stecknadeln vom Tisch nahm, entdeckte sie eine kleine Bronze, die sie bisher nicht gesehen hatte. Es war eine alte italienische Arbeit in flämischer Manier: eine nackte Frauengestalt mit kurzen Beinen und schwerem, verfaltetem Leib, die mit ausgestreckten Armen zu laufen schien. Sie fand den Ausdruck der Figur gemein und komisch zugleich und fragte, was sie eigentlich täte.

»Sie macht nichts anderes als Frau Welt über dem Portal vom Münster zu Basel.«

Thérèse war zwar in Basel gewesen, aber Frau Welt kannte sie nicht. Sie musterte also die kleine Bronze von neuem, verstand nicht und fragte: »Etwas sehr Unpassendes? Wie kann hier etwas schwer zu sagen sein, was sich über einem Kirchenportal zuträgt?«

Plötzlich wurde sie unruhig: »Gott im Himmel, was werden Fusellier und seine Frau von mir denken?«

Dann entdeckte sie an der Wand ein Medaillon, das von Dechartre modelliert war, das Profil eines kleinen Mädchens mit lustigem und lasterhaftem Ausdruck.

»Wer ist das?«

»Ach, das ist Claire. Ein kleines Zeitungsmädchen aus der Rue Demours, das mir jeden Morgen den ›Figaro‹ brachte. Sie hatte Grübchen in den Backen, die wie zum Küssen geschaffen aussahen. Und einmal habe ich ihr gesagt: ›Ich möchte ein Porträt von dir machen.‹ Darauf erschien sie an einem Sommertag mit Ohrgehängen und Ringen, die sie sich auf dem Jahrmarkt in Neuilly gekauft hatte. Aber später ist sie nicht mehr gekommen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Sie war zu elementar, um eine richtige Kokette zu werden. Soll ich sie wegnehmen?«

»O nein, sie macht sich sehr gut hier in der Ecke. Auf diese Claire bin ich nicht eifersüchtig –«

 

Es war jetzt Zeit für sie, nach Hause zu gehen. Aber sie konnte sich nicht entschließen, aufzubrechen. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Freundes: »Oh, ich liebe dich! Und du bist heute so froh gewesen und hast so viel gelacht. Das steht dir so gut. Es liegt etwas Feines und Leichtes in deiner Fröhlichkeit. Ich möchte dich immer froh machen. Ich sehne mich nach Freude, beinah ebensosehr wie nach Liebe. Und wer soll mir Freude geben, wenn du es nicht tust?«

 


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