Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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15

Nachdem sie sich von Dechartre getrennt hatte, frühstückte sie mit ihrer Freundin und Madame Marmet bei einer alten Florentinerin, die Viktor Emanuel einst geliebt hatte, als er noch Herzog von Savoyen war. Jetzt hatte sie seit dreißig Jahren ihren Palazzo am Arno nicht verlassen. Sie trug eine violette Perücke, war geschminkt und gepudert, ging in den großen weiten Sälen umher und spielte Gitarre. Die erste Gesellschaft von Florenz verkehrte bei ihr, und auch Miß Bell war oft dort.

Die alte, siebenundachtzigjährige Einsiedlerin fragte Gräfin Martin über die Pariser Gesellschaft aus, deren Tun und Treiben sie in den Zeitungen und im Gespräch mit einer Frivolität verfolgte, die durch ihr Alter ehrwürdig wurde. Sie war in ihrer Einsamkeit dem Kultus der Lebensfreude treu geblieben.

Als sie den Palazzo wieder verließen, führte sie Miß Bell, um dem scharfen Wind, dem Libeccio, der über den Fluß hinwehte, zu entgehen, durch alte enge Straßen zwischen düsteren Häusern, die sich plötzlich überraschend gegen den Himmel hin auftaten und in der klaren Luft einen lächelnden Hügel und drei schlanke Bäume durchblicken ließen. Im Gehen zeigte Vivian an den schmutzigen, mit roten Fetzen überhangenen Fassaden hier und dort ein marmornes Kleinod, eine Madonna, eine Lilie, eine heilige Katharina in einer Blattvolute. Sie gingen durch die engen Gäßchen der Altstadt bis zur Kirche Or San Michele, wo sie sich mit Dechartre verabredet hatten. Thérèse dachte mit tiefstem und bis ins kleinste gehenden Interesse an ihn. Madame Marmet wollte sich einen Schleier besorgen. Man hatte ihr Hoffnung gemacht, daß sie auf dem Corso einen finden würde. Die Angelegenheit brachte sie auf eine Geschichte, eine Zerstreutheit von Monsieur Lagrange, der eines Tages in seiner Vorlesung vom Katheder herab statt seines Taschentuches einen goldgepunkteten Schleier aus der Tasche gezogen und sich damit die Stirn gewischt hatte. Die Zuhörer waren überrascht und tuschelten. Es war der Schleier seiner Nichte, Mademoiselle Jeanne Michot, den sie ihm am Abend vorher anvertraut hatte, als er sie ins Theater begleitete. Und Madame Marmet setzte auseinander, wie er ihn in seiner Manteltasche gefunden, im Gedanken an die Rückgabe zu sich gesteckt und nun aus Versehen entfaltet und seiner lächelnden Hörerschaft entgegengeschwenkt habe.

Bei dem Namen Lagrange erinnerte sich Thérèse an den flammenden Stern, den der Gelehrte verkündet hatte, und trübe sich selbst verspottend, dachte sie, daß jetzt der Moment für den Weltuntergang da sei, wenn sie aus der Affäre gezogen sein wollte. Aber über die köstlichen Mauern der alten Kirche blickte der blaßblaue Himmel, den der Seewind getrocknet hatte, unerbittlich hernieder. Miß Bell wies auf eine der Bronzestatuen, die im Steinwerk der Nischen die Fassade schmückten.

»Sehen Sie doch, Darling, wie jung und stolz der heilige Georg ist. Sankt Georg, der Ritter, von dem einst die jungen Mädchen träumten. Wissen Sie, daß Julia beim Anblick Romeos rief: ›Wahrlich, er ist ein schöner Sankt Georg‹?«

Aber Darling fand ihn korrekt, langweilig und eigensinnig. Und im gleichen Augenblick fiel ihr plötzlich der Brief ein, den sie noch in der Tasche hatte.

»Ich glaube, da kommt Monsieur Dechartre«, sagte die gute Madame Marmet.

Er hatte sie in der Kirche vor dem Tabernakel Orcagnas gesucht. Er hätte aber daran denken sollen, welche unwiderstehliche Anziehungskraft der heilige Georg Donatellos auf Miß Bell ausübte. Auch er war voller Bewunderung für dies berühmte Werk, aber er hatte eine ganz besondere Freundschaft für den ehrlich bäurischen Sankt Markus, den sie in der Nische zur Linken sehen konnten, gegenüber dem Gäßchen mit dem Schwibbogen, der sich an das alte Zunfthaus der Wollenweber anlehnt.

Während sie auf die Statue zugingen, die er ihnen wies, entdeckte Thérèse einen Briefkasten an der Mauer des schmalen Gäßchens, auf das der Heilige hinabsah. Dechartre hatte inzwischen einen Platz ausgesucht, von wo man seinen Markus am besten betrachten konnte, und sprach von ihm mit überströmender Zuneigung.

»Wenn ich nach Florenz komme, gehe ich zuerst hierher«, sagte er. »Nur ein einziges Mal habe ich ihn nicht aufgesucht, aber er wird es mir nicht nachtragen: Er ist ein vortrefflicher Mensch. Vom großen Haufen wird er kaum geschätzt; er zieht die Blicke nicht auf sich. Aber ich fühle mich wohl in seiner Gesellschaft. Er lebt. Und ich kann verstehen, daß Donatello, da er ihm eine Seele gegeben hatte, ihm zugerufen haben soll: ›Markus, warum sprichst du nicht?‹«

Madame Marmet hatte bald genug von dem Heiligen, und der scharfe Wind belästigte sie. So zog sie Miß Bell mit sich fort in die Via Calzaioli, um ihren Schleier zu kaufen. Die beiden entfernten sich und überließen Darling und Dechartre ihrer Begeisterung. Bei der Modistin wollten sie sich wiedertreffen.

»Ich habe den Sankt Markus immer geliebt«, fuhr der Bildhauer fort, »weil ich in ihm, mehr noch als im heiligen Georg, die Hand und den Geist Donatellos erkenne, der sein Leben lang ein guter einfacher Arbeiter war. Und heute liebe ich ihn noch mehr, weil er mich in seiner ehrwürdigen und rührenden Schlichtheit an den alten Schuhmacher von Santa Maria Novella erinnert, mit dem Sie heute morgen so freundlich gesprochen haben.«

»Ach«, sagte sie, »ich weiß nicht einmal mehr, wie er heißt. Mit Monsieur Choulette nennen wir ihn Quentin Matsys, weil er an die Greisengestalten dieses Meisters erinnert.«

Als sie um die Ecke bogen, um die Fassade der Kirche zu betrachten, die auf das alte Zunfthaus der Wollenweber mit seinem Wappenlamm unter dem roten Ziegeldach blickt, entdeckte sie einen Briefkasten, der so verstaubt und rostig aussah, als ob er niemals geleert würde. Thérèse ließ ihren Brief hineingleiten, unter dem arglosen Blick des heiligen Markus.

Dechartre hatte es gesehen, und es fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz. Er wollte weitersprechen, er versuchte zu lächeln, aber er sah immer wieder die kleine behandschuhte Hand vor sich, wie sie den Brief in den Kasten warf. Es fiel ihm wieder ein, daß er heute morgen Briefe von Thérèse auf der Schale in Miß Bells Vorzimmer gesehen hatte. Warum hatte sie diesen einen zurückbehalten? Der Grund war nicht schwer zu erraten.

Ganz in Gedanken versunken blieb er stehen und blickte um sich, ohne etwas zu sehen. Er versuchte sich zu beruhigen – vielleicht war es ein ganz gleichgültiger Brief, den sie vor Madame Marmets aufreizender Neugier verbergen wollte.

»Monsieur Dechartre, ich glaube, es ist Zeit, unsere Freundinnen wieder einzuholen.«

Vielleicht hatte sie an Madame Schmoll geschrieben, die mit Madame Marmet überworfen war. Aber gleich darauf fühlte er, wie töricht alle diese Vermutungen waren. Es war ja ganz klar. Sie hatte einen Liebhaber und schrieb an ihn. Vielleicht hatte sie ihm geschrieben: ›Ich habe Dechartre heute gesehen, der arme Kerl hat sich in mich verliebt.‹ – Aber mochte sie nun das geschrieben haben oder etwas anderes – daß sie einen Geliebten hatte, stand fest. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Aber jetzt fühlte er plötzlich einen furchtbaren Schmerz. Sein ganzer Körper und seine ganze Seele erbebten unter dem Gedanken, daß sie einem andern angehörte. Es war, als ob diese Hand, diese kleine Hand, wie sie den Brief in den Kasten gleiten ließ, sich seinem Gedächtnis eingebrannt hätte.

Sie begriff nicht, weshalb er mit einemmal so stumm und finster geworden war. Erst als sie sah, daß er einen beinah ängstlichen Blick auf den Briefkasten warf, erriet sie den Grund. Und sie fand es sonderbar, daß er eifersüchtig war, ohne irgendein Recht dazu zu haben. Aber es war ihr nicht unangenehm.

Als sie auf den Corso kamen, erkannten sie schon von weitem Miß Bell und Madame Marmet, die gerade aus dem Laden der Modistin kamen.

Und nun sagte Dechartre mit fordernder und dabei flehender Stimme zu Thérèse: »Ich muß mit Ihnen reden, mit Ihnen allein sein. Kommen Sie morgen abend um sechs Uhr an den Lungarno Acciaoli.«

Sie gab keine Antwort.

 


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