Anatole France
Die Rote Lilie
Anatole France

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23

Als sie ihn am nächsten Morgen in dem verborgenen Gartenhäuschen der Via Alfieri wiedersah, fand sie ihn traurig gestimmt. Sie gab sich alle Mühe, ihn zu zerstreuen. Sie war liebevoll und heiter und umschmeichelte ihn mit der stolzen Demut eines liebenden Weibes, das sich rückhaltlos hingibt. Aber er wurde nicht froh. Er hatte die ganze Nacht über seinen Kummer nachgedacht, und das, was ihn quälte, hatte dabei immer festere Gestalt angenommen. Er hatte jetzt einen Grund gefunden, sich unglücklich zu fühlen. Seine Phantasie ließ ihn einen Zusammenhang ahnen zwischen der kleinen Hand, die vor der Statue des bronzenen Sankt Markus einen Brief in den Kasten gleiten ließ, und dem nichtssagenden und doch bedrohlichen Unbekannten am Bahnhof. Und so hatte sein Schmerz einen Namen und ein Gesicht bekommen. Von quälenden Bildern bestürmt, saß er in dem Lehnstuhl, auf dem Thérèse bei ihrem ersten Besuch geruht hatte. Sie hatte ihn jetzt darauf niedergezogen, beugte sich über ihn und hüllte ihn ein in ihr warmes Leben und ihre liebende Seele.

Sie wußte ja zu gut, was ihn quälte, um ihn ganz einfach danach zu fragen.

Aber um ihn auf andere Gedanken zu bringen, erinnerte sie ihn an die süßen Geheimnisse, die dieses Zimmer für sie beide barg, und an ihre gemeinsamen Spaziergänge durch die Stadt. Und sie wußte ihn an reizende kleine Vertraulichkeiten zu erinnern.

»Weißt du noch den kleinen Löffel mit der roten Lilie, den du mir unter der Loggia dei Lanzi geschenkt hast? Ich benutze ihn jeden Morgen, wenn ich meinen Tee trinke. Wenn ich aufwache, freue ich mich, ihn wiederzusehen, und daran fühle ich, wie sehr ich dich liebe.«

Aber er erwiderte nur ein paar traurige, inhaltlose Worte, und nun sagte sie: »Sieh, jetzt bin ich so dicht bei dir, und du kümmerst dich gar nicht um mich. Dich beschäftigt ein Gedanke, von dem ich nichts weiß. Und doch bin ich etwas, was wirklich existiert, und das andere ist eine bloße Idee – ein Nichts.«

»Glaubst du wirklich, daß eine Idee nichts ist? Eine Idee kann uns entweder glücklich oder elend machen. Wir können von einer Idee leben oder daran sterben. Und ich denke daran –«

»An was denkst du?«

»Warum fragst du? Du weißt es ja. Ich denke an das, was ich gestern abend gehört habe und was du mir verheimlicht hattest. Ich denke an deine gestrige Begegnung am Bahnhof, die nicht etwa durch einen Zufall herbeigeführt wurde, sondern durch einen Brief – weißt du es noch? –, den du damals bei der Kirche Or San Michele in den Kasten geworfen hast. Oh, ich mache dir keine Vorwürfe. Dazu habe ich kein Recht. Aber warum hast du mir angehört, wenn du nicht frei warst?«

Sie dachte, es sei unmöglich, die Wahrheit zu sagen.

»Du meinst jenen Herrn, den ich gestern am Bahnhof getroffen habe. Ich versichere dir, es war die nichtssagendste Begegnung von der Welt.«

Es berührte ihn schmerzlich, daß sie den Namen nicht auszusprechen wagte. Und nun vermied er es ebenfalls.

»Thérèse, ist er wirklich nicht deinetwegen gekommen? Hast du nicht gewußt, daß er in Florenz war? Ist er nichts weiter für dich als ein Mann, den du in Gesellschaften triffst und der in deinem Hause verkehrt? War er es nicht, um dessentwillen du damals am Arno sagtest: ›Ich kann nicht‹? Ist er dir nichts?«

Fest und bestimmt erwiderte sie: »Ja, er verkehrt bei uns. Der General Larivière hat ihn bei uns eingeführt. Mehr habe ich dir darüber nicht zu sagen. Ich versichere dir, daß er mir in jeder Beziehung gleichgültig ist und daß ich es nicht fasse, wie du etwas anderes glauben kannst.« Es gewährte ihr eine Art Genugtuung, diesen Mann zu verleugnen, der seine Rechte ihr gegenüber so gewaltsam und so hartnäckig geltend gemacht hatte. Aber schnell hielt sie inne; sie stand auf und blickte ihren Freund mit ihren schönen zärtlichen und ernsten Augen an: »Siehst du, von dem Tage an, wo ich mich dir hingegeben habe, gehört mein ganzes Leben nur dir. Wenn ein Zweifel oder ein beunruhigender Gedanke in dir aufsteigt, dann frage mich nur. Die Gegenwart gehört dir, und du weißt, daß nur du, du sie allein erfüllst. Und wenn du wüßtest, wie leer und nichtig mein vergangenes Leben war, würdest du vollkommen beruhigt sein. Ich glaube, keine Frau, die so wie ich zur Liebe geschaffen ist, hätte dir eine so unberührte Seele entgegenbringen können. Das schwöre ich dir. All die Jahre, in denen ich dich noch nicht kannte, habe ich in Wirklichkeit gar nicht gelebt. Laß uns nicht weiter davon sprechen. Es ist nichts darin gewesen, worüber ich mich zu schämen brauchte; ob ich etwas zu bedauern habe, ist eine andere Sache. Ja, ich bedaure, daß ich dich erst so spät kennengelernt habe. Warum bist du nicht früher gekommen? Vor fünf Jahren hätte ich mich dir ebenso freudig hingegeben wie heute. Aber du mußt mir vertrauen, und dann wollen wir das Vergangene nicht weiter aufrühren. Denke an Lohengrin. Wenn du mich liebst, bin ich für dich der Schwanenritter. Ich habe dich um nichts gefragt. Ich habe nichts wissen wollen. Ich habe dir keine Vorwürfe in bezug auf Mademoiselle Jeanne Tancrède gemacht. Ich sah, daß du mich liebtest, daß du littest, und das war mir genug – weil ich dich liebte.«

»Eine Frau kann gar nicht in derselben Weise eifersüchtig sein wie der Mann, und sie vermag nie nachzufühlen, was uns so leiden macht!«

»So, das weiß ich nicht. Und warum?«

»Warum? Weil es nicht in ihrem Fleisch und Blut liegt, diese sinnlose und doch so erhabene Leidenschaft, den Gegenstand seiner Liebe ganz allein zu besitzen, dieser uralte Instinkt, aus dem sich der Mann ein Recht gemacht hat. Der Mann ist der Gott, der da will, daß sein Geschöpf nur ihm gehört. Seit unvordenklichen Zeiten ist die Frau dazu geschaffen, Besitz des Mannes zu sein. Es ist die Vergangenheit, die dunkle Vergangenheit, die bestimmend auf unsere Leidenschaften wirkt. Wir sind ja schon so alt, wenn wir geboren werden.

Bei der Frau ist die Eifersucht nur gekränkte Eitelkeit. Aber beim Mann ist es eine tiefgehende, physische und moralische Qual. – Du fragst, warum? Siehst du, trotz der andächtigen Ehrfurcht, trotz der liebenden Scheu, die ich vor dir empfinde – du bist für mich die Materie, und ich bin die Idee, die sie beseelt, du bist die Form und ich der Inhalt, du der Ton und ich der Bildner. Oh, du brauchst dich nicht darüber zu beklagen. Was ist denn der armselige Töpfer neben dem schön geformten laubumkränzten Krug, der aus seiner Hand hervorgegangen ist?

Sein Werk atmet Ruhe und Schönheit, aber wie elend steht er daneben da. Er quält sich, er leidet unter seinem Wollen – denn Wollen bedeutet Leiden. O ja, ich bin eifersüchtig. Und ich weiß wohl, was alles in meiner Eifersucht liegt. Wenn ich meine Empfindungen prüfe, so finde ich ererbte Vorurteile und daneben den Stolz des Wilden, eine krankhafte Empfindlichkeit, ein Gemisch von sinnloser Gewalttätigkeit und grausamer Schwäche, eine törichte und böse Auflehnung gegen die Satzungen des Lebens und der Welt. Aber obwohl ich das alles weiß und einsehe, hört es doch nicht auf, mich zu quälen.

Ich bin der Chemiker, der beim Probieren der Säure erkennt, mit welchen Basen sie neutralisiert wird, welche Salze sie bildet, und der dennoch von ihr verbrannt, bis auf die Knochen verbrannt wird.«

»Du wirst absurd, mein Lieber.«

»Ja, das bin ich, ich fühle es selbst besser als du. Ja, es ist sinnlos, eine Frau zu begehren, in der vollen Blüte ihrer Schönheit und ihres Geistes, eine Frau, die als Herrin ihrer selbst freiwillig und wissend über sich verfügt, die weiß, was sie tut und es dennoch wagt und dadurch nur noch schöner und begehrenswerter wird. Eine solche Frau zu lieben und nach ihrem Besitz zu verlangen, gerade weil sie so ist, und doch darunter zu leiden, daß sie nicht mehr jene farblose kindliche Unschuld hat, die bei ihr abstoßend wirken müßte, wenn sie sie wirklich besäße; gleichzeitig zu verlangen, daß sie das sein soll, was sie ist, und daß sie es doch wieder nicht sein soll; sie anzubeten, so wie das Leben sie gemacht hat, und dabei bitter zu bedauern, daß dieses Leben, das sie doch verschönte, sie überhaupt nur anrühren durfte – ja, das ist Wahnsinn. Ich liebe dich, hörst du, ich liebe dich, so wie du mein geworden bist, mit deinem Fühlen, deinem ganzen Wesen, mit all den Erfahrungen, mit alledem, was vielleicht von jenem Mann oder von andern herrührt – was weiß ich denn?

Darin liegt meine ganze Wonne und meine ganze Qual. Es muß doch ein tiefer Sinn darin liegen, daß die unvernünftige öffentliche Meinung unsere Liebe als Schuld verdammt. Wenn die Freude ins Unendliche wächst, wird sie immer zur Schuld. Siehst du, Liebste, das ist es, was mich so quält.«

Sie kniete vor ihm nieder, faßte seine Hände und zog ihn an sich.

»Ich will nicht, daß du leidest. Nein, ich will es nicht. Es ist sinnlos. Ich liebe dich und habe immer nur dich geliebt. Du darfst mir glauben. Ich lüge nicht.«

Er küßte sie auf die Stirn: »Ich würde dir nicht einmal zürnen, Liebste, wenn du mich getäuscht hättest. Im Gegenteil, ich wäre dir sehr dankbar dafür. Gibt es denn etwas Menschlicheres und etwas, was berechtigter wäre, als jemand zu täuschen, um ihm einen Schmerz zu ersparen? Mein Gott, was sollte denn aus uns werden, wenn die Frauen nicht so barmherzig wären, uns zu belügen. Ja, tue es, Geliebte, belüge mich aus Barmherzigkeit. Laß mich in dem Traum, der allen düsteren Kummer verschönt. Ja, du sollst lügen, du sollst dir keine Skrupel darüber machen. Du wirst dem Traumbild der Schönheit und der Liebe nur einen Trug mehr hinzufügen.«

Und dann seufzte er: »O der gesunde Menschenverstand, die triviale Weisheit.«

Sie fragte, was er damit sagen wollte und was diese triviale Weisheit wäre, und er erwiderte, daß er an ein Sprichwort dächte. Es wäre sehr zutreffend, aber ziemlich grob, und er wollte es lieber nicht sagen.

»Sag es trotzdem.«

»Wenn du es durchaus willst: Geküßter Mund bleibt immer jung. – Es ist auch wahr«, fügte er hinzu, »daß die Liebe die Schönheit erhält. Die Frau saugt immer neue Lebenskraft aus der Liebe wie die Biene den Honig aus den Blüten.«

Sie küßte ihn auf den Mund, um ihren Liebesschwur zu besiegeln: »Ich schwöre dir, daß ich nur dich geliebt habe. O nein, die Liebe ist es nicht gewesen, die mir dies bißchen Schönheit erhalten hat, das ich dir so gern darbringe. Ich habe dich ja so lieb, so lieb.«

Aber wieder dachte er an den Briefkasten bei der Kirche Or San Michele und an den fremden Mann am Bahnhof.

»Wenn du mich wirklich liebtest, dann würdest du mich allein lieben.«

Jetzt stand sie entrüstet auf: »Du glaubst also doch, daß ich einem andern angehöre? Aber es ist furchtbar, daß du so etwas auszusprechen vermagst. So denkst du also über mich. Und du sagst, daß du mich liebst. – Sieh, ich habe Mitleid mit dir, weil du von Sinnen bist.«

»Bin ich das wirklich – bin ich von Sinnen? Sag es mir – sag es mir noch einmal.«

Sie war vor ihm niedergekniet. Ihre Hände umfingen seine Schläfen und seine Wangen. Und nun wiederholte sie ihm, daß es sinnlos sei, sich über ein ganz gewöhnliches und bedeutungsloses Zusammentreffen zu beunruhigen. Sie zwang ihn zu glauben oder vielmehr zu vergessen. Er sah und fühlte jetzt nichts mehr als ihre zarten Hände, ihre glühenden Lippen, ihre gierigen Zähne, ihre volle Brust, ihren ganzen Körper, der sich ihm darbot, und hatte keinen andern Gedanken mehr, als in ihren Armen zu vergehen. Alle Bitterkeit und aller Zorn waren von ihm geschwunden, und es war nichts zurückgeblieben als das brennende Verlangen, alles zu vergessen und auch in ihr jeden Gedanken auszulöschen, mit ihr hinzusinken in den Taumel der Wollust. Und sie selbst, von Unruhe und Verlangen gestachelt, fühlte die heiße Leidenschaft, die sie in ihm hervorrief. Sie fühlte, daß sie alles über ihn vermochte, und zugleich, wie machtlos sie war. Und mit einer Glut wie nie zuvor gab sie ihm Liebe um Liebe. Es war eine unbewußte Raserei, ein dumpfes Begehren in ihr, sich rückhaltloser als jemals hinzugeben, und sie ging so weit, wie sie selbst es nie für möglich gehalten hätte.

In warme Schatten gehüllt lag das Zimmer da. Goldene Lichtpfeile schossen durch die Vorhänge und ließen den Korb mit Erdbeeren aufleuchten, der neben einer Flasche Asti auf dem Tischchen stand. Die venezianische Dame lächelte mit ihren farblosen Lippen auf das Bett hernieder, und auf den Wandschirmen zogen die Schäfer von Bergamo und Verona in stummem, fröhlichem Reigen dahin. Von einer vollerblühten Rose, die in einem Glase auf dem Tisch stand, fiel langsam Blatt um Blatt herab. Und durch das stille Gemach wehte nur der schwüle Atem der Liebe.

Sie gaben sich ihrer wollüstigen Ermattung hin. An der Brust des Geliebten schlief sie ein, und durch den leichten Schlummer bebten die genossenen Wonnen nach. Als sie die Augen wieder aufschlug, sagte sie voller Glück: »Ich liebe dich.«

Er hatte die Arme auf das Kissen gestützt und sah sie mit dumpfer Bangigkeit an. Sie fragte, warum er traurig sei: »Eben noch warst du so froh, warum bist du es nicht mehr?« Und als er schweigend den Kopf schüttelte: »So sprich doch ein Wort. Ich will lieber deine Klagen als dein Schweigen.«

Und nun sagte er: »Willst du es wirklich wissen? Aber sei nicht böse. Ich leide mehr als je zuvor, weil ich jetzt weiß, was du zu geben vermagst.«

Sie fuhr jäh zurück und blickte ihn voller Schmerz und Vorwurf an.

»Und du kannst glauben, daß ich jemals einem anderen das gewesen bin, was ich dir jetzt war? Du triffst mich gerade da, wo ich am empfindlichsten bin – in meiner Liebe zu dir. Das verzeihe ich dir nicht. Ich liebe dich. Ich habe nur dich geliebt und nur durch dich gelitten. Aber du kannst zufrieden sein. Du hast mir sehr weh getan. Bist du im Grunde deines Herzens böse?«

»Thérèse, wenn man liebt, ist man niemals gut.«

Sie saß im Bett und ließ wie eine Badende ihre nackten Beine herabhängen. So blieb sie lange unbeweglich und in Gedanken sitzen. Ihr Gesicht, das vorhin vor Glück erbleicht war, rötete sich jetzt wieder, und eine Träne netzte ihre Wimpern.

»Thérèse, warum weinst du?«

»Verzeih mir, mein Freund, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich liebe und daß ich wirklich geliebt werde. Ich fürchte mich.«

 


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