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XX.
Antwerpen.

Lebensdauer. Bleichen in Armentieres. Un grand flandrin. Aussicht von Mont-Cassel. Dünkirchen. Dünen. Schleichhandel. Wachholderbranntwein und Salzsiedereien. Portal der Pfarrkirche. Ansicht des Hafens und des Meeres. Caricatur eines Theaters. Fahrt auf der Barke nach Fürnen, Nieuport und Ostende. Digression über das Völkerrecht und die geschlossene Schelde. Brügge. Die Barke von Gent. Geographische Kenntnisse eines Franzosen. Gent. Standbild Karl's V. Der Brand und Kindermord vom 14. und 15. November 1789. Verfassung der Provinz Flandern. Charakter der Flamänder und Flamänderinnen. Gemälde zu St.-Bavo. Reise durch Lockeren und St.-Niklaas nach Antwerpen. Erste Erblickung dieser Stadt.

Endlich haben wir erfreuliche Sonnenblicke statt des ewigen Nebels und Regens, der uns das Vergnügen unserer Küstenfahrt ein wenig schmälerte. Nur in Dünkirchen lächelte die Sonne einmal zwischen den Wolken hervor, und diesen heitern Zwischenraum ließen wir nicht unbenutzt. In den fünf Tagen, die wir auf der Reise von Lille hierher zugebracht haben, sind uns indeß so viele Gegenstände von mancherlei Art vor dem äußern und innern Sinn vorübergegangen, daß Du Dich auf einen langen Bericht gefaßt halten mußt. Wir ruhen hier aus, ehe wir von neuem unsere Augen und unsern Geist zur Beobachtung dieser großen Stadt anstrengen, die ihren Ruhm überlebt hat. Es gibt vielleicht keine Arbeit, welche so die Kräfte erschöpft als dieses unaufhörliche, mit aufmerksamer Spannung verbundene Sehen und Hören; allein wenn es wahr ist, daß die Dauer unsers Daseins nur nach der Zahl der erhaltenen Sensationen berechnet werden muß, so haben wir in diesen wenigen Tagen mehrere Jahre von Leben gewonnen.

Der Weg von Lille nach Dünkirchen führte uns über Armentieres, Bailleul, Cassel und Bergen. Es regnete beinahe unablässig den ganzen Tag; allein, ob uns gleich die Aussicht dadurch benommen ward, bemerkten wir doch, daß sie im Durchschnitt denen im Hennegau ähnlich bleibt. In Armentieres hielten wir uns nicht auf, so gern wir auch die dortigen Leinwandbleichen in Augenschein genommen hätten, wo man bereits die wichtige Erfindung des französischen Chemikers Berthollet Claude-Louis Berthollet (Forster schreibt ihn ungenau Bertholet), 1748-1822, berühmter französischer Chemiker, welcher unter anderm die hier mit den ältern wissenschaftlichen Ausdrücken bezeichnete Chlorbleiche erfand. Anmerkung d. Hg., mit dephlogistisirter Salzsäure schnell, sicher und unübertrefflich schön zu bleichen, in Ausübung gebracht haben soll. Die preußischen Bleichanstalten im Westfälischen folgen bereits diesem Beispiel, und selbst in Spanien wird diese Methode schon angewendet.

In Bailleul hörten wir das Volk auf dem Markt schon wieder vlämisch sprechen, und diese Sprache geht bis Dünkirchen fort. Das französische in dieser Gegend ist ein erbärmliches patois oder Kauderwelsch; es ist nicht sowol ein Provinzialdialekt als eine Sprache des Pöbels, der nicht seine eigene Muttersprache, sondern eine erlernte spricht. Die hiesige Menschenrasse ist groß und wohlgebildet; vielleicht bezieht sich die französische Redensart, un grand flandrin, auf diese Größe, wiewol sie auch den Nebenbegriff des Tölpischen oder Ungeschickten mit sich führt. In allen diesen Städtchen tragen die Weiber jene langen Kamelotmäntel wie im Hennegau; nur daß wir unter vielen grauen auch einige scharlachfarbene sahen.

Wir hielten unsere Mittagsmahlzeit zu Cassel (Mont-Cassel), das wegen seiner romantischen Lage auf einem Berge so berühmt, übrigens aber ein unbedeutender kleiner Ort ist. Im Sommer, an einem hellen Tage, wäre es fast nicht möglich, sich von diesem Anblick loszureißen. Die nächsten Hügel haben malerische Formen und sind ganz mit Wald gekrönt. Die unabsehlichen Gefilde von Flandern, Hennegau und Artois liegen ausgebreitet da und verlaufen sich in die dunkelblaue Ferne, wo nur die hohen Kirchthürme von Bergen, Dünkirchen, Fürne, Ipern und andern Städten wunderbar hinausragen, und ein Gefühl von Sicherheit und ruhiger Wohnung in dieser schattigen, mit unendlichem Reichthum abwechselnder Formen geschmückten Gegend einflößen. O dies ist das Land der lieblichen, der kühlen Schatten! Hier begrenzen die hochbewipfelten, schlanken Ulmen, Espen, Pappeln, Linden, Eichen und Weiden jedes Feld und jeden Weg, jeden Graben und jeden Kanal; hier laufen sie meilenweit fort in majestätischen Alleen, bekleiden die Heerstraßen, oder sammeln sich in Gruppen auf den weiten Ebenen und den Anhöhen, um die zerstreuten Hütten und um die stillen Dörfer. Die Anmuth, die Mannichfaltigkeit und Pracht dieser hohen, schöngestalteten Bäume verleiht den hiesigen Landschaften einen eigenthümlichen Charakter. Der Teppich der Wiesen ist in diesen nassen Tagen herrlich grün geworden; die Weizenäcker schimmern mit einer wahrhaften Smaragdfarbe; die Knospen der Bäume wollen trotz dem kalten Hauch der Nordwinde ihren Reichthum nicht länger verschließen; die Kirsch- und Birn- und Aepfelbäume in den Gärten, die Pfirsich- und Aprikosenbäume an den Mauern öffnen mitten im Regen ihre Blüten. Bei dieser üppigen Pracht des Frühlings entbehrten wir dennoch den Anblick der Dünen und des Meeres, den uns der Nebel neidisch verhüllte. Jener unermeßliche blaue Horizont, der sich an die Wölbung des azurnen Himmels anschließt, muß der hiesigen Aussicht eine erhabene Vollkommenheit geben, die nur in wenigen Punkten unserer Erde erreicht werden kann. Der Hügel, von welchem wir diesen Anblick genossen, scheint ein bloßer Sandhügel zu sein, deren es hier mehrere gibt, die weiter durch das Artois in die Picardie hinein fortsetzen und vermuthlich auf Kalk stehen. Vor Lille und in der dortigen Gegend findet man sehr weißen Kalkstein, und in der Picardie bekanntlich, wie in England, Kreide.

Die Schönheit der Landschaft war plötzlich, wie durch einen Zauber, verschwunden, sobald wir die kleine Festung Bergen (oder St.-Winoxbergen) hinter uns gelassen hatten. Wir befanden uns auf einer niedrigen offenen Fläche, wo, außer einigen Reihen von abgekappten Weiden in allerlei Richtungen, sonst kein Baum und keine Hecke zu sehen war. Die ganze ungeheuere Ebene bestand aus Wiesen und Viehtriften, und war längs dem Seeufer von nackten, weißen Sandhügeln, den sogenannten Dünen, umgeben. An einigen Stellen stach man Lehm zu Ziegeln, die sich gelb brennen lassen; übrigens aber schien uns alles öde und leer, zumal nach dem Anblick einer solchen Gegend, wie wir eben verlassen hatten. Der Steindamm, auf welchem wir fuhren, war indeß unverbesserlich, und bald erreichten wir das kleine, geschäftige Dünkirchen, welches, wie sein Name deutlich zu erkennen gibt, in den Dünen angelegt worden ist. Durch die Länge der Zeit und durch den Anbau ist aber alles dergestalt weggeebnet und abgetragen worden, daß man keine Erhöhung mehr gewahr wird und nur in einiger Entfernung zu beiden Seiten der Stadt die Hügel fortstreichen sieht.

Die unregelmäßige Gestalt dieser Sandhaufen, die sich wie die stürmischen Wellen des Meeres, das sie bildete, dem Auge darstellen, höchstens aber vierzig Fuß in senkrechter Linie über die Wasserfläche hinausragen und mit einigen Pflänzchen spärlich bewachsen sind, gibt der Gegend etwas Befremdliches, Verödetes, Abschreckendes. Ihre Veränderlichkeit verursacht den Einwohnern dieser Küsten manche Besorgniß; die Winde können den Flugsand, woraus die Dünen bestehen, stellenweis ganz verwehen und eine Lücke machen, wo das Meer bei außerordentlichen Fluten leicht durchbricht, sich in die niedrige Fläche ergießt und den lebendigen Geschöpfen sowol als dem Lande selbst das Dasein raubt. Wo diese fürchterlichen Katastrophen auch nicht erfolgen, sind wenigstens die angrenzenden Aecker und Wiesen dem Versanden ausgesetzt, welches sie auf ganze Jahrhunderte hinaus unbrauchbar macht. Nicht weit von Dünkirchen, auf der flandrischen Grenze, zeigte man uns ein merkwürdiges Beispiel von der Wirkung der Stürme. Ein Kirchthurm stand im Sande vergraben und nur seine Spitze ragte noch hervor. Das Pfarrhaus war gänzlich verschwunden, und man hatte sich genöthigt gesehen, weiter östlich von den Dünen das ganze Dorf neu anzulegen. Auch die Kaninchen, die in diesen Sandhügeln häufig graben und wühlen, tragen zur Schwächung dieser Vormauer gegen die See das ihrige bei.

Wir hofften vergebens beim ersten Anblick von Dünkirchen den Gegenstand der Eifersucht einer großen Nation an irgendeinem auffallenden Zuge zu erkennen. Die Stadt ist nichts weniger als glänzend, ob sie gleich 30000 Einwohner zählt, die mehrentheils von der Schiffahrt leben. Allein die Nähe der englischen Küste begünstigt hier den Schleichhandel und in Kriegszeiten die Kaperei so sehr, daß England mehr als einmal auf die Vernichtung des Orts bedacht gewesen ist und in seinen Friedenstractaten mit Frankreich die Demolition des Hafens und der Festungswerke bedungen hat. Von seiten Frankreichs aber hat man diese Bedingung jederzeit unerfüllt gelassen, und im Grunde gibt es auch kein wirksames Mittel gegen den Schleichhandel, das einzige ausgenommen, dessen sich der Minister Pitt durch den Commerztractat bedient hat, die Herabsetzung der Zölle, wodurch der rechtmäßige Kaufmann einen reichlichern Absatz gewinnt, indem das Risico des Contrebandiers zu groß wird.

Dieser Tractat scheint wirklich schon auf den Wohlstand von Dünkirchen einige nachtheilige Wirkungen zu äußern, wiewol die vielen Fabrikanstalten es noch aufrecht erhalten. Es sind hier verschiedene ansehnliche englische Handlungshäuser etablirt, und das reichste Comptoir im ganzen Orte gehört der irländischen Familie Conolly. Auch sieht man mehrere englische Kaffeehäuser, wo alles nach der in England üblichen Art eingerichtet ist und nichts als englisch gesprochen wird. Eine der größten Fabriken, die Gerberei vor der Stadt, ist ebenfalls eines Engländers Eigenthum. Gleich daneben liegt ein großes Glashaus, welches Flaschen von grünem Glase liefert.

Einer von den wichtigsten Handelsartikeln in Dünkirchen ist der Wachholderbranntwein ( genièvre), wovon ansehnliche Quantitäten nach England gehen und, weil noch immer eine sehr schwere Abgabe darauf haftet, mehrentheils auf verbotenem Wege hineingeführt werden. Dort, wie in den Niederlanden, hält man dieses Getränk für eine Panacee in Magenbeschwerden, ein Vorurtheil, das schon manches Leben verkürzt hat. Vor diesem zog man allen Wachholderbranntwein aus Holland; jetzt destilliren ihn die Einwohner von Dünkirchen selbst, seitdem sie einige Holländer, die sich darauf verstanden, zu sich herübergelockt haben.

Nicht minder wichtig für Dünkirchen ist die Raffinerie des Kochsalzes, welche gegen zwanzig Siedereien beschäftigt. Eine übelverstandene Geheimnißkrämerei scheint jedoch bei den Eigenthümern obzuwalten; denn man wies uns von zweien sogar mit einiger Ungefälligkeit zurück, wiewol das ganze hiesige Geheimniß vermuthlich nur darin besteht, daß man statt der viereckigen Pfannen runde braucht. Das Salz wird aus französischem Steinsalz bereitet und ist verhältnißmäßig sehr wohlfeil. Man leitet das Seewasser unmittelbar in die Behälter, wo jenes Salz aufgelöst wird; allein diese Bequemlichkeit der Lage wird durch das Ungemach, an gutem Trinkwasser Mangel zu leiden, gar zu theuer erkauft. Keiner von den Brunnen ist nur erträglich, und die Einwohner müssen sich kümmerlich genug mit Regenwasser behelfen. Im Sommer ist daher Dünkirchen ein ungesunder Aufenthalt.

Das Portal der Pfarrkirche hat mir dort gefallen. Ein schönes Fronton von richtigen Verhältnissen ruht auf einer Reihe prächtiger korinthischer Säulen; und wäre nicht die Füllung mit häßlichen, bausbackigen Engelsköpfen und steinernen Wolken verunstaltet, und ständen nicht über den Ecken des Frontons ein paar verunglückte pastetenähnliche Thürmchen, so wäre es wirklich mit dem einfachen Deo S., statt aller Aufschrift, eins der schönsten, die ich gesehen habe. Die Gemälde von Reyns, Porbus Franz Porbus oder Pourbus, genannt der Aeltere, aus Brügge, gest. 1580, war geachteter niederländischer Heiligen- und Porträtmaler; ebenso sein Sohn F. Porbus der Jüngere, gest. zu Paris 1622. – Die antwerpener Familie Claaßens, im 15. und 16 Jahrhundert, hat mehrere Künstler hervorgebracht – Ueber die sonst hier erwähnten Maler ist Näheres nicht bekannt. Anmerkung d. Hg., Elias, Leys und Claaßens, die das Innere der Kirche verzieren, kann ich füglich mit Stillschweigen übergehen. Daß aber eine Stadt mit 30000 Einwohnern nur Eine Pfarrkirche hat, ist ein trauriger Beweis von dem verkehrten Einfluß der Mönche, denen es hier an Klöstern nicht gebricht.

Seit zwölf Jahren zum ersten mal begrüßte ich hier wieder das Meer. Ich werde Dir nicht schildern können, was dabei in mir vorging. Dem Eindruck ganz überlassen, den dieser Anblick auf mich machte, sank ich gleichsam unwillkürlich in mich selbst zurück, und das Bild jener drei Jahre, die ich auf dem Ocean zubrachte und die mein ganzes Schicksal bestimmten, stand vor meiner Seele. Die Unermeßlichkeit des Meeres ergreift den Schauenden finsterer und tiefer als die des gestirnten Himmels. Dort an der stillen, unbeweglichen Bühne funkeln ewig unauslöschliche Lichter. Hier hingegen ist nichts wesentlich getrennt; ein großes Ganzes, und die Wellen nur vergängliche Phänomene. Ihr Spiel läßt nicht den Eindruck der Selbständigkeit des Mannichfaltigen zurück; sie entstehen und thürmen sich, sie schäumen und verschwinden; das Unermeßliche verschlingt sie wieder. Nirgends ist die Natur furchtbarer als hier in der unerbittlichen Strenge ihrer Gesetze; nirgends fühlt man anschaulicher, daß, gegen die gesammte Gattung gehalten, das einzelne nur die Welle ist, die aus dem Nichtsein durch einen Punkt des abgesonderten Daseins wieder in das Nichtsein übergeht, indeß das Ganze in unwandelbarer Einheit sich fortwälzt. –

Der Hafen von Dünkirchen ist klein, beinahe gänzlich durch Menschenhände gebildet und so seicht, daß er nur kleine Schiffe aufnehmen kann. Innerhalb desselben ist ein vortrefflich eingerichtetes Bassin, wo die Schiffe ausgebessert und neue vom Werft hineingelassen werden. Wir sahen und bewunderten die mechanischen Kräfte, wodurch man eine von diesen großen Holzmassen auf die Seite legte und ihr einen neuen Boden statt des ganz vermoderten gab. Die Sandbänke vor dem Eingang des Hafens und seine Krümmungen zwischen den Steindämmen (jetées) zu beiden Seiten gewähren den Schiffen vollkommene Sicherheit, so sehr sie ihnen auch das Ein- und Auslaufen erschweren. Die Dämme erstrecken sich weit ins Meer hinaus und bestehen aus eingerammelten Pfosten, die mit verflochtenem Strauchwerk oder sogenannten Faschinen verbunden sind und zwischen deren Reihen man alles mit Granit- und schwarzen Jaspisblöcken ausgefüllt hat. Auf jeder Seite des Hafens liegt eine kleine Schanze, welche den Eingang bestreicht. Es war jetzt Ebbezeit, und auf dem entblößten Sande lagen Seesterne, Meernesseln, Korallinen, Madreporen, Muscheln, Seetang, kleine Krebse, kurz allerlei, was in den Fluten Leben hat, in Menge angeschwemmt. Insbesondere erstaunten wir über die vielen viereckigen, gehörnten kleinen Beutelchen, von einer glatten, schwarzen, faserigen, lederartigen Substanz, die man Seemäuse nennt, ob sie gleich eigentlich die Hülsen oder Eierschalen der jungen Rochen sind. Wir beschäftigten uns einige Zeit mit der Einsammlung dieser Naturalien. Plötzlich umleuchtete uns die Sonne. Die düstere graue Farbe des Wassers verwandelte sich in durchsichtiges, dunkelbläuliches, auf den Untiefen blasseres Grün; die Brandung an den äußersten Sandbänken schien uns näher gerückt und brauste schäumend daher wie eine Schneelavine; große Strecken des Meeres glänzten silberähnlich im zurückgeworfenen Licht, und am fernen Horizont blinkten Segel, wie weiße Punkte. Eine neue Welt ging uns auf. Wir ahnten in Gedanken das gegenüberliegende Ufer und die entfernten Küsten, die der Ocean dem kühnen Fleiße des Menschen zugänglich macht. Wie heilig ist das Element, das Welttheile verbindet!

Die wiederkehrende Flut, die allmählich alle Sandbänke bedeckte, rief uns von unserm Staunen in den engern Kreis der menschlichen Geschäftigkeit zurück. Wir trockneten unsere eingesammelten Schätze am Feuer und machten uns zur Abfahrt nach Fürnen ( Veurne) fertig. Ehe ich aber mit meiner Erzählung weiter eile, will ich Dir mit zwei Worten das Theater beschreiben, das wir noch am Abend unserer Ankunft in Dünkirchen besuchten. Truppe, Orchester und Publikum – alles schien uns Caricatur. Das Parket, der Balkon und fast alle Logen waren mit Offizieren angefüllt; denn es liegen hier zwei Regimenter in Besatzung. Von der lärmenden Conversation, die uns in den Ohren gellte, hat man keinen Begriff; man hätte denken sollen, morgen würde den Herren ewiges Stillschweigen auferlegt und hier bedienten sie sich zum letzten mal der Ungebundenheit ihrer Zunge. Sobald die Vorstellung anging, war es noch ärger; der ganze Schwarm sang oder heulte alle Arien der Operette nach. Zum Glück waren die Schauspieler so schlecht, daß es ziemlich gleichgültig sein konnte, wer uns die Zeit vertriebe. So urtheilte aber das hiesige Publikum nicht; vielmehr schien es an dem Geplärr, den Gesticulationen und dem ziemlich derben Scherz seiner Histrionen großes Wohlbehagen zu finden. Ich glaube, dieser ungebildete Geschmack bezeichnete nicht blos den Unterschied zwischen der Provinz und der Hauptstadt; die Verschiedenheit der Abstammung trägt gewiß auch das ihrige dazu bei. Die flämischen Organe sind um einige Grad gröber als die französischen, und bekanntlich, je roher der Mensch, desto plumper muß die Erschütterung sein, die seine Sinne befriedigt. Mozarts und Paesiello's Giovanni Paesiello oder Paisiello aus Tarent (1741-1816) verweilte zu Petersburg, Paris, zumeist in Neapel; berühmter Operncomponist. Anmerkung d. Hg. Kunst wird an die Midasohren verschwendet, die nur für Ditter's Karl Ditters von Dittersdorf, 1739 zu Wien, gest. 1799, beliebter Componist komischer Opern. Anmerkung d. Hg. Gassenhauer offen sind. Ebenso unempfänglich bleibt ein schlaffes ungebildetes Publikum für das Talent des Schauspielers, der die Natur in ihren zartesten, verborgensten Bewegungen erforscht und ihre Bescheidenheit nie überschreitet; wenn hingegen der Kasperl mit lautem Beifall Possen reißt, oder, was noch ärger ist, ein mittelmäßiger Acteur die abenteuerlichsten Verzerrungen und die schwülstigsten Declamationen als echte dramatische Begeisterung geltend macht. Irre ich indeß nicht, so sind die hiesigen Einwohner von manchem französischen Nationalfehler frei, ob sie gleich in Gesellschaft weniger glänzen; die ungezwungene Artigkeit ihrer südlichen Nachbarn gattet sich sehr angenehm zu ihrer eigenen Simplicität und Bonhomie, und bildet zwischen den Flämingern und Franzosen eine Zwitterrasse, der man leicht die gute Seite abgewinnt.

Die Barke nach Fürnen geht täglich um 3 Uhr nachmittags auf dem Kanal von hier ab, durch eine ärmliche, wenig bebaute und fast gar nicht beschattete Fläche, über welche diesmal ein scharfer, kalter Wind hinstrich, der uns, trotz unserer Mäntel, ganz durchdrang. Dazu trug freilich die Gebrechlichkeit des Fahrzeugs viel bei. Der innere Raum desselben stand voll Wasser und erhielt den Fußboden beständig angefeuchtet; auch waren in der Cajüte alle Fenster zerschlagen und der Wind hatte überall freies Spiel. Desto mehr bewunderten wir den Fleiß unserer Gesellschafterinnen, einer reichen Kaufmannsfrau aus Dünkirchen und ihrer achtzehnjährigen Tochter, die in einem fort strickten. Bei dem Dorfe Hoyenkerken befanden wir uns wieder auf flandrischem Boden und wurden von den Zollbedienten visitirt. Abends gegen 9 Uhr traten wir zu Fürnen im Stadthause oder vielmehr in der Conciergie ab, welche fast durchgehends in allen flandrischen Landstädten ein Wirthshaus vorstellt. Wir hatten diesmal Ursache, mit unserer Bewirthung vollkommen zufrieden zu sein, und bezahlten die Ehre, auf dem Schlafzimmer unserer Reisegefährtinnen zu speisen, blos mit der geduldigen Aufmerksamkeit, die wir ihrer Familiengeschichte widmen mußten.

Das kleine Städtchen hatte am Morgen ein freundliches Ansehen, die Häuser verkündigten, ihrer altmodischen Bauart ungeachtet, einen gewissen Wohlstand, und die Straßen waren so breit und reinlich gehalten, daß man es ihnen nicht anmerkte, welcher Handelszweig die Einwohner bereichert. Fürnen ist der größte Viehmarkt in Flandern, der die angrenzenden Provinzen von Frankreich mit fetten Ochsen versieht, und die Castellanei, der dieser Ort seinen Namen gibt, hat die vortrefflichsten Weiden im ganzen Lande. Die umliegende Gegend wird von Kanälen nach allen Richtungen durchschnitten, und auf einem derselben schifften wir uns wieder nach Nieuport ein. Unsere Barke war jedoch nicht besser als die von Dünkirchen, und selbst der Kanal hatte ein vernachlässigtes Aussehen, woraus man ziemlich sicher schließen darf, daß diese Reiseroute nur selten besucht wird.

Der ärmliche Anblick von Nieuport führte uns nicht in die Versuchung, so lange dazubleiben, bis die Barke nach Ostende abginge; wir mietheten lieber ein kleines Fuhrwerk mit einem Pferde, das unbehülflichste Ding, in dem ich je gefahren bin, und setzten unsere Reise zu Lande fort. In dem kleinen Hafen zählten wir nur funfzehn Fahrzeuge von ganz unbedeutender Größe, die jetzt während der Ebbe insgesammt auf dem Sande trocken lagen. Der hiesige Handel ist übrigens so geringfügig, daß sich mitten am Tage fast niemand auf der Straße regte. Unter den Fischerhütten, aus denen das kleine Städtchen besteht, bemerkten wir kaum ein gutes Gebäude. Jetzt fuhren wir also über eine weite kahle Ebene, wo die Viehtriften, die Gräsereien und Wiesen mit einigen Aeckern abwechselten. Die große Anzahl der umherliegenden, mit Gemüse- und Obstgärten umgebenen Dörfer bezeugte gleichwol die starke Bevölkerung dieser Gegend von Flandern. Allein so nahe an den unfruchtbaren Dünen waren die Kühe auf der Weide sehr mager und klein, die Pferde kurzbeinig und von plumper Gestalt. Die kümmerliche Nahrung dieses Sandbodens scheint dem genügsamen Esel angemessener zu sein; auch sahen wir diese Thiere überall haufenweis am Wege und zu mehrern Hunderten auf den Marktplätzen in Dünkirchen und Ostende, mit den Erzeugnissen des Landes beladen.

Wir hatten gelacht, als man uns in Brüssel erzählte, daß, wenn die Niederländer ihre Unabhängigkeit nicht mit Würde behaupten könnten, sowol England als ein anderer Nachbar die Gelegenheit wahrnehmen dürfte, um ihnen das Schicksal ohnmächtiger und uneiniger Republiken zu bereiten, wovon dieses Jahrhundert schon mehr als Ein Beispiel sah. Bei unserer Ankunft in Ostende aber schien uns der Anfang zur Ausführung schon gemacht und dieser Ort in eine englische Seestadt verwandelt. Das dritte oder vierte Haus ist immer von Engländern bewohnt, und nicht etwa nur Kaufleute und Mäkler, sondern auch Krämer und Professionisten von dieser Nation haben sich hier in großer Anzahl niedergelassen. Daher bemerkt man auch in den Sitten und der Lebensart der hiesigen Einwohner eine sichtbare Uebereinstimmung mit denen der britischen Inseln, die sich auf den Hausrath, die Zubereitung der Speisen und die Lebensmittel selbst erstreckt. So wahr ist es, daß diese unternehmende Nation, die bereits den Handel der halben Welt besitzt, keine Gelegenheit unbenutzt lassen kann, um sich eines jeden neuen Zweigs, der etwa hervorsproßt, zu bemächtigen. Wo ihre Schiffe nicht unter ihrer eigenen Flagge fahren, müssen fremde Namen sie decken. Mit ihren Capitalen und unter ihrem Einfluß handelt Schweden nach Indien und China, und indeß Holland durch die Auswanderung so vieler reicher Familien, durch die nachtheilige Verbindung mit Frankreich und eine Reihe von zusammentreffenden Unglücksfällen einen unheilbaren Stoß erlitten hat, indeß Frankreichs Handel wegen seiner innern Gärung darniederliegt, indeß Dänemark ungeachtet eines funfzigjährigen Friedens von seinen Administratoren zu Grunde gerichtet ist, und Spanien und Portugal durch Piastern und Diamanten weder reich noch mächtig werden können, blüht Englands Handel überall, umfaßt alle Weltheile und hat seit dem heilsamen Verlust der Colonien einen unglaublich großen Zuwachs erhalten. Diese bewundernswürdige Thätigkeit ist so augenscheinlich das Resultat der bürgerlichen Freiheit und der durch sie allein errungenen Entwickelung der Vernunft, daß selbst die äußerste Anstrengung der Regierungen in andern Ländern, dem Handel aufzuhelfen, blos an den Gebrechen der Verfassungen hat scheitern müssen. Was ein Monarch für die Aufnahme des Handels thun kann, hat Joseph II. hier großmüthig geleistet. Der Hafen von Ostende ist ein Denkmal seiner thätigen Verwendung für die Wohlfahrt der Niederlande; doch Vernunft und vernünftige Bildung konnte die Regentenallmacht nicht schaffen; das Gefühl von eigener Kraft und eigenem Werth, das nur dem freien Menschen werden kann, vermochte selbst Joseph nicht herauf zu zaubern.

Ostende ist übrigens nur ein schlechter Ersatz für die geschlossene Schelde. Die Küste läuft in gerader Richtung, ohne Einbucht fort, und der Zugang zu dem Hafen wird durch viele Untiefern erschwert und unsicher gemacht. Zwischen zwei Dämmen sieht man die kleine, enge, unbequeme Oeffnung, die nur bei gewissen Winden und nur mit der Flut zugänglich ist. Daher steht am Eingang, auf der Batterie, die ihn bestreicht, ein hoher Flaggenstock errichtet, wo man eine Flagge ganz zu oberst wehen läßt, solange es hohes Wasser ist; bei halber Ebbe läßt man sie am halben Stock herunter, und sobald das Wasser den niedrigsten Standpunkt erreicht, wird sie ganz eingezogen. Alsdann liegen die Schiffe beinahe trocken im Hafen. Wir zählten in allem nur vierzig Fahrzeuge, obgleich der Hafen eine weit größere Anzahl aufnehmen kann. Eigentlich ist er nur ein tief ausgegrabener Kanal mit einem dauerhaften pilotis zu beiden Seiten, zwischen welchem ein festes Geflecht von Strauchzäunen in vielen Reihen übereinander fortläuft. Dadurch sucht man zu verhindern, daß die Ebbe und Flut den Hafen nicht versande, indem sie den Sand vom Ufer mit sich fortreißt. Ueber jeder jetée stehen Baaken aufgepflanzt und links an der Mündung des Hafens dient eine Säule mit großen, klaren Laternen den Schiffenden des Nachts zum Merkzeichen. In den Hafen öffnen sich mehrere geräumige Bassins; allein bei allen diesen kostbaren Einrichtungen kämpft man vergebens mit den Schwierigkeiten der Lage, mit der geringen Tiefe, mit der unvermeidlichen Verschlemmung und mit der Veränderlichkeit der Sandbänke längs der Küste.

Ostende hatte nur einen glänzenden Augenblick; den nämlich, als es der einzige neutrale Hafen an der Küste war, als während des amerikanischen Kriegs England, Frankreich und Holland wechselseitig ihren Handel der feindlichen Kaperei preisgeben mußten, und des Kaisers Flagge allein unangefochten den Ocean beschiffte. Die Geschäftigkeit und der Wohlstand jenes Zeitpunkts verschwanden aber mit dem Friedensschlusse um so plötzlicher, da sie nicht sowol Wirkungen der eigenen belgischen Betriebsamkeit als vielmehr täuschende Erscheinungen waren, welche fremde Kaufleute hier zu Wege gebracht hatten. Auch die freie Schiffahrt nach Ostindien, welche Joseph II. diesem von ihm so sehr begünstigten Hafen trotz der holländischen Reclamation zusicherte, blieb so unbedeutend, daß sie auf den Flor von Ostende keinen Einfluß hatte.

Ist es nicht erlaubt, bei jener widersinnigen Einschränkung des belgischen Handels, bei dem Verbot, nach Indien zu schiffen, bei der Verschließung der Schelde, über den Ton mancher Publicisten zu lächeln, die das heilige Wort Recht noch auszusprechen wagen? Diese unnatürliche Forderung der Holländer an ihre Nachbarn ist der siegreichste Beweis, daß die Eifersucht der Staaten, wo sie sich zur Uebermacht gesellen kann, ohne Bedenken alle, selbst die evidentesten Rechte der Menschheit verletzt und alle Grenzen des Völkerrechts willkürlich überschreitet. Joseph's Vorfahren mußten sich diese durch keinen Vorwand zu beschönigende Gewaltthätigkeit gefallen lassen, weil das Schicksal es so wollte. Und wer forderte dieses unbillige Opfer? Wer verbot den Brabantern auf ihren eigenen Flüssen in See zu fahren? Dasselbe Volk, das über Ungerechtigkeit schrie, als Englands Häfen ihm nicht offen blieben, das über Cromwell's berühmte Navigationsacte, dieses Bollwerk des englischen Seehandels, die Welt mit seinen Wehklagen erfüllte. Die Geschichte ist ein Gewebe von ähnlichen Inconsequenzen und Widersprüche; die Verträge der Nationen untereinander, wie die der Fürsten mit ihren Untergebenen, sind fast nirgends auf natürliches Recht, auf Billigkeit, die der Augenschein und der gerade Verstand zu erkennen geben, gegründet; überall zwingt der Uebermuth des Mächtigern dem Schwachen eine Aufopferung ab, die kein Mensch von dem andern zu fordern berechtigt ist und die dann auch nicht länger gelten kann, als die Gewalt fortdauert, welche sie ertrotzte. Wir wundern und ärgern uns, daß jedes Jahrzehnt uns immer wieder dasselbe Schauspiel gibt welches bereits seit Jahrtausenden die Völker entzweite; daß die Grenzstreitigkeiten, die man längst beigelegt glaubte, immer von neuem ausbrechen; daß die Federn der Diplomatiker und Staatsmänner unaufhörlich mit Deductionen beschäftigt sind, worin man sich auf beschworene Verträge, auf anerkannte Vergleichspunkte und darin gegründete Ansprüche beruft; daß die streitenden Höfe in einer subtilen Auslegungskunst, zu bequemen Reticenzen, zu schwankenden vieldeutigen Ausdrücken ihre Zuflucht nehmen und endlich doch den verworrenen Knoten mit dem Schwerte lösen. Allein die fruchtbare Quelle ihrer Mishelligkeiten strömt unvermindert fort; und wer begreift nicht, daß sie nie versiegen kann, solange man von Friedenstractaten, Verfassungen und Gesetzen ausgeht, die, weil sie nicht auf dem unerschütterlichen Grunde der allgemeinen vernünftigen Natur des Menschen ruhen, sondern Convenienzen des Augenblickes oder Blendwerke politischer Sophismen sind, die Feuerprobe der Wahrheit nicht bestehen können? Keiner Nation, keiner Macht, keinem Stande wird tausendjähriger Besitz ein unveräußerliches Recht übertragen; die Ansprüche der Vernunft auf alle Menschenrechte dauern ewig und werden durch gewaltthätige Uebertäubung eher verstärkt als verjährt. Nach tausend und zehntausend Siegen der räuberischen Uebermacht, die nur das Maß ihrer Ungerechtigkeit häufen, kehrt der wahre, dauernde Friede dann erst zurück, wenn jeder Usurpation gesteuert worden und jeder Mensch in seine Rechte getreten ist.

Wir würden den Tyrannen verwünschen hören, der dem einzelnen Menschen den freien Verkehr auf offener Heerstraße, außer den Mauern seines Hauses oder den Grenzen seines Erbstücks untersagte; unser Gefühl empört sich wirklich, wenn wir nur von Verboten dieser Art lesen, die ein asiatischer Herrscher ergehen läßt, so oft es ihm gefällt, seine Heerde von Beischläferinnen frische Luft schöpfen zu lassen. Wer indeß zugeben will, daß eine despotische Gewalt rechtmäßig sein könne, dem ließe sich auch diese willkürliche Anwendung derselben als gesetzmäßig erweisen. Die Verordnungen der japanischen und chinesischen Kaiser, die von ihren Reichen alle Fremden entfernen, scheinen uns zwar elende Verwahrungsmittel einer feigen, mistrauischen, kurzsichtigen Politik; allein wir bestreiten nicht das Recht dieser Despoten, innerhalb der Grenzen ihres Landes jedem Ausländer den Zutritt zu wehren oder zu gestatten. Hingegen das ausschließende Eigenthumsrecht irgendeines Volks zum Ocean ist eine so lächerliche Absurdität, daß der Uebermuth gewisser Seemächte statt einer Anerkennung ihrer Anmaßungen nur den Haß, den Neid und Groll der Nebenbuhler hat erregen können. Wo bleibt also nun der Schatten des Rechts, kraft dessen die Holländer ihren Nachbarn die Schelde verschließen und den Handel auf dem Meere verweigern durften? Der allgemeine Congreß des Menschengeschlechts müßte allenfalls einstimmig beschlossen haben, daß die Belgier ihre Flüsse von der Natur umsonst empfangen, daß der Ocean vergebens ihre Küsten bespült; doch, was sage ich, auch dieser Ausspruch würde noch ungerecht sein, wenn nicht zugleich ein Nationalverbrechen erwiesen werden könnte, das jene Ausschließung als Strafe oder vielmehr als Nothwehr nach sich zöge. Ein solches Verbrechen aber einer ganzen Nation gegen die ganze Menschengattung, worin anders könnte es bestehen, als in einer gänzlichen Verkennung aller Rechte der Nachbarn? Das strafbare Volk müßte selbst entweder aus eigener Willkür oder im gemisbrauchten Namen der Gottheit die Welt unterjochen und ihre Bewohner unumschränkt beherrschen wollen, es müßte ein Volk von Eroberern oder von Priestern sein. Wie man einen Rasenden bindet, um nicht ein Opfer seiner Wuth zu werden, so sind auch alle Maßregeln erlaubt, welche die Selbsterhaltung gegen eine Gesellschaft von solchen Grundsätzen heischt; sobald sie fremdes Recht mit Füßen tritt, ist sie alles eigenen verlustig.

Gegen die Römer, als sie nach der Alleinherrschaft über die bekannte Erde dürsteten, gegen Philipp II., gegen die Hildebrande und die Borgia sollte der allgemeine Völkerbund aufgestanden sein, ihre Schwerter und Scepter zerbrochen und ihren Mörderhänden Fesseln angelegt haben. Spaniens Ohnmacht zur Zeit des münsterschen Friedens drohte ja den europäischen Mächten mit keiner Universalmonarchie; die schwache Seele Philipps IV. durfte und konnte diesen Riesengedanken nicht denken. Allein das Schlimmste vorausgesetzt, so hatten doch die Belgier nicht verdient, statt ihres Herrschers zu büßen. Wenn also die unerbittliche Nothwendigkeit ihnen damals eine stillschweigende Einwilligung in die Verschließung ihrer Flüsse abdrang, wird heute etwas anderes als dieselbe Furcht vor feindlicher Ueberlegenheit ihre Enkel abhalten können, ihr angeborenes, nie zu veräußerndes Recht zurückzufordern und den schimpflichen Vergleich zu zerreißen? Ein zerrissener Vergleich, ein Riß im Westfälischen Frieden! Das sind freilich gräßliche Worte am Ohr des Actenlesers, der über dieses Lesen seine Menschheit verwelken und verdorren ließ; allein wie mancher Schwertstich hat nicht schon das alte Pergament durchlöchert? Was die Potentaten von Europa einander garantiren, sollte freilich ewig dauern müssen; nur schade, daß die Erfahrung hier die Theorie so bündig widerlegt und jedem Fürstenvertrage keine längere Dauer verspricht, als bis zur nächsten Gelegenheit, wo er mit Vortheil gebrochen werden kann. In der Seele der Politik ist ein Friedensact vom Augenblick der Unterzeichnung an vernichtet; denn in diesem Augenblick hatte sie ihren Endzweck durch ihn erreicht.

Gegen die Theorie selbst möchte der gesunde Verstand auch wol erhebliche Einwendungen machen. Wie? es hätte nur der Uebereinkunft etlicher hohlen oder schiefen Köpfe bedurft, um einem Volk den Gebrauch eines untheilbaren Elements einzuräumen und ihn dem andern abzusprechen? Dann könnte es wol auch einem Friedenscongreß einfallen, diesem oder jenem Volke Luft und Feuer zu verbieten, oder ihm vorzuschreiben, wo und wann es athmen solle? Doch es ist unmöglich, die Anmaßungen der Politiker hypothetisch weiter zu treiben, als sie wirklich in der Ausübung getrieben worden sind. Hat man sich doch allem, was der Menschheit heilig ist, zum Hohn nicht entblödet, in Friedensschlüssen vorzuschreiben, welche Modificationen des Denkens und Glaubens erlaubt sein sollen! Es mag ein köstliches Ding um das Bündniß von 1648 sein, das doch bekanntlich den Ausbruch von zehn oder mehr blutigen Kriegen nicht verhindert hat; es mag einer gewissen Klasse von Menschen bequemer sein, den Krüppelbau der Politik auf seinem morschen Grund fortzusetzen, als die ewigen Pfeiler, Natur und Vernunft, zu Stützen eines unerschütterlichen Friedenstempels zu wählen; einträglicher, den Stoff zu neuem Zwist und Kriege beizubehalten und die Beschlüsse der Unwissenheit und der Despotenarroganz für Quellen des Rechts und Gesetzes auszuschreien, als jenes unselige Joch der Autoritäten abzuschütteln; nur hoffe man nicht, daß eine Gesetzgebung, der es an innerer Gerechtigkeit gebricht, aus Ueberzeugung befolgt werden könne; nur beschuldige man die Völker nicht des Mangels an Moralität, wenn sie Tractate verletzen, deren Erhaltung einzig und allein auf Furcht und Eifersucht beruhte. Der Ocean ist keines Menschen Eigenthum; er ist und bleibt allen gemein, die ihn benutzen wollen. Mit diesem Refrain will ich Ostende verlassen.

Wir fuhren zu Lande nach Brügge. Bis an das Dorf Gessel sieht man immerfort jene kahle Fläche, die mit wenig Abwechselung für das Auge von den Dünen bis an die etwas höher gelegene Ebene von Flandern reicht. Zwischen Gessel und Jabick wechseln große Strecken Heide mit Eichen- und Buchengebüsch, nebst einigen Fichten und einem reichlichen Vorrath von Pfriemen ( Spartium scoparium); näher hin nach Brügge verdichtet sich der Eichenwald. Die Stadt ist von mittlerer Größe und nach altflämischer Art zum Theil sehr gut gebaut. Allein umsonst bemühten wir uns, in ihr die Spur des berühmten Handelsemporiums zu erblicken, das im 14. Jahrhundert alle nordischen Nationen mit Waaren des Luxus versorgte. Wir bestiegen die mit Recht gepriesene Barke, welche die Staaten von Flandern für die Fahrt nach Gent unterhalten. Hier vergaßen wir das Ungemach der bisherigen Reise; denn bequemer ist Kleopatra auf dem Cydnus und Katharina auf dem Dnepr nicht gefahren. Sowol im Hintertheil als im Vordertheil dieses sehr geräumigen Fahrzeugs findet man eine schöngetäfelte Kajüte mit großen Fenstern und weichgepolsterten Bänken. Die Reinlichkeit grenzt hier überall an Pracht und Eleganz. Eine dritte, noch geräumigere Abtheilung in der Mitte diente den Reisenden aus der geringen Volksklasse zum Aufenthalt; daneben sind Küchen, Vorrathskammern und Bequemlichkeiten aller Art zur Verpflegung der Passagiere angebracht. Das Kaminfeuer in unserer Kajüte verbreitete eine wohlthätige Wärme, bei welcher wir in Erwartung der Mittagsmahlzeit unsere Aufzeichnungen über das am vorigen Tage Gesehene ins Reine brachten.

Die Tafel wurde sehr gut und um billigen Preis servirt. Die Gesellschaft, die zuweilen funfzig Personen stark sein soll, war diesmal zufälligerweise sehr klein und bestand aus einem Priester, einem Offizier der Freiwilligen von Brügge, einem französischen Nationalgardisten und Kaufmann aus Lille und einer Spitzenhändlerin aus Gent. Am Ton des flämischen Offiziers konnten wir sogleich abnehmen, daß er nicht zur aristokratischen Partei gehörte, die überhaupt in Flandern weder so viele noch so eifrige Anhänger als in Brabant haben soll. Die Ungezogenheit seiner Ausfälle gegen die Geistlichkeit, in Gegenwart eines dem Anschein nach bescheidenen Mannes von diesem Stande, konnte nur durch die Erbitterungen des Parteigeistes entschuldigt werden. Der Franzose hinterbrachte uns die Neuigkeit, daß der König von England nach Deutschland reisen würde, um seine Güter unweit Strasburg zu besehen. Wir versuchten es ihm begreiflich zu machen, daß vom Kurfürstenthum Hannover die Rede sei; allein es war verlorene Mühe, seine geographischen Kenntnisse berichtigen zu wollen: Hamburg und Strasburg galten ihm gleich; genug, beide lagen jenseit der Allemagne française. Diese Unempfänglichkeit darf man indessen nicht gerade Beschränktheit nennen; vielmehr ist sie nur die Folge jenes alles vor sich hinwerfenden Leichtsinns, dem es so lächerlich scheint, in der Bestimmtheit gewisser für den jetzigen Augenblick nicht interessirender Begriffe ein Verdienst zu suchen, als wir die Verwirrung finden, die aus solchen Vernachlässigungen entspringt. Wir wissen freilich mehr und thun uns viel darauf viel zugute; allein ist es wol eine Frage, wer von beiden an dem, was er hat, durch schnelle Verarbeitung und mannichfaltige Verbindung, der Reichste ist?

Der Kanal ist sehr breit und wohl unterhalten; seine Ausgrabung zwischen den hohen Ufern muß große Summen gekostet haben. Anstalten dieser Art, die zuerst die Erhaltung des trockenen dem Ocean abgewonnenen Landes, demnächst den Handel und zuletzt die Bequemlichkeit zur Absicht hatten, können nur nach und nach zu ihrer jetzigen Vollkommenheit gediehen sein. Fünf Pferde zogen uns in den stillen Gewässern dieses Kanals, ohne daß wir die leiseste Bewegung spürten. Der Wind begünstigte uns überdies, sodaß wir ein großes Segel führten und in etwas mehr als sechs Stunden Gent erreichten. Hier standen schon mehrere Miethkutschen in Bereitschaft, um die Reisenden in ihr Quartier zu bringen.

Gent ist eine große, schöne, alte Stadt. Ihre Straßen sind ziemlich breit, die Häuser massiv, zum Theil von guter Bauart, die Kirchen zahlreich und mit großer Pracht geschmückt. Alles scheint hier den ehemaligen Wohlstand der Einwohner und Spuren von dem jetzigen zu verrathen: doch ist die Volksmenge, wie in allen niederländischen Städten, nach Verhältniß des Umfangs zu gering und es fehlt überall an Betrieb. Der erste Anblick einer Stadt, wobei man so lebendig in verflossene Jahrhunderte und ihre Begebenheiten versetzt wird, hat gleichwol etwas Einnehmendes, das zuweilen bis zur Erschütterung gehen kann. Ich wurde recht lebhaft an den Stolz Karls V. auf sein blühendes Gent und zugleich an die Tyrannenleidenschaft erinnert, womit er selbst dem Wohlstand desselben den tödlichsten Streich versetzte, als ich sein Standbild auf einer hohen Säule am Marktplatz erblickte. Als Kunstwerk betrachtet, macht es keinen vortheilhaften Eindruck. Der Kaiser steht wirklich sehr unsicher auf dieser gefährlichen Höhe; das Scepter und der Reichsapfel von ungeheuerer Größe scheinen ihn völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen; seine Knie sind gebogen, und bald möchte ich fürchten, er sei im Begriff herabzugleiten. Im Glanz der Abendsonne, welche diesen vergoldeten Koloß bestrahlte, konnte ich mich einer Reminiscenz aus Blumauer's Aloys Blumauer aus Steier (1755-98), Censor, dann Buchhändler zu Wien, erregte seinerzeit Aufmerksamkeit durch seine Dichtung »Virgil's Aeneis travestirt« (3 Bde., Wien 1784-88), ein mannich fach witziges, aber häufig auch plattes und abstoßendes Werk. Anmerkung d. Hg. travestirter Aeneis nicht erwehren; ich dachte an jenes Backwerk, wo der fromme Held zu oberst »ganz von Butter« stand. Es hat schon etwas Unnatürliches, Statuen auf den Dächern unserer Häuser anzubringen, die nicht, wie im Orient, zum Aufenthalt der Menschen eingerichtet sind; allein noch ungleich widersinniger scheint es, einen Menschen auf den Gipfel einer Säule zu stellen, den nur ein Verrückter oder Phantast, wie Simeon Stylites d. i. der Säulenheilige, aus Cilicien, gest. 460, verbrachte einen Theil seines Lebens, um ein beschauliches Leben zu führen, auf dem Gipfel einer Säule. Anmerkung d. Hg., bewohnen kann. Wenngleich die Alten uns das Beispiel solcher Denkmäler gegeben haben, so bin ich doch nicht der Meinung, daß wir ihrem Muster blindlings folgen sollen. Auch war bereits der gute Geschmack in Verfall gerathen, als man z. B. in Alexandrien auf die schöne Porphyrsäule die Statue des Kaisers Severus stellte. Die Aufmerksamkeit, die ein großer Mann blos durch die Höhe seines Standorts erregen kann, ist sicherlich seiner nicht werth. Allerdings gibt es aber auch Fürsten in Menge, die man nicht hoch genug stellen kann, damit sich nur jemand ihrer erinnere. Die Nachwelt vergißt die Wohlthaten, sie vergißt aber auch die Ungerechtigkeit der Regenten; wie wäre es sonst möglich, daß Kaiser Karl auf dieser Säule noch über den Köpfen einer so tief beleidigten Gesammtheit sicher steht? Für den philosophischen Geschichtsforscher verwandeln sich freilich unter solchen Umständen die Ehrensäulen in Denkmäler der Schande.

Der Brand vom 14. und 15. November des vorigen Jahrs hat in der Gegend des Schlosses fürchterlich gewüthet. Viele der schönsten und prächtigsten Gebäude sind ein Raub der Flammen geworden, womit die Kaiserlichen damals die Stadt in einen Schutthaufen zu verwandeln drohten und ihren Vorsatz auch ausgeführt hätten, wenn das Regenwetter ihnen nicht so ungünstig gewesen wäre. Wenn es im Kriege erlaubt ist, sich aller Mittel ohne Unterschied gegen den Feind zu bedienen – ein Satz, der doch auch seine vielfältige Einschränkung leidet – so gehörte es gleichwol zu den unglücklichen Verkettungen des Schicksals, welches den verstorbenen Kaiser so rastlos verfolgte, daß sich unter den Befehlshabern seines niederländischen Heers ein Mann befinden mußte, der eine entschiedene Neigung äußerte, die härtesten Maßregeln zu ergreifen, und dem das Blut seiner Mitbürger ziemlich feil zu sein schien. Jene schauderhafte Vernichtung von Brüssel, welche der Herzog von Ursel am 20. September 1787 so glücklich verhütet hatte, wollte jetzt der Erfinder dieses grausamen Anschlags mit Gent wirklich beginnen. Es war nicht etwa ein zügelloser Pöbel, wie der parisische, der sich einen Augenblick vergaß und an einzelnen Opfern die tausendjährige Schuld seiner Unterdrücker rächte; deutsche Soldaten, denen die Flamänder noch vor kurzem die gastfreiste Pflege hatten angedeihen lassen, wurden hier von ihren Offizieren angeführt zur Plünderung ihrer Wohlthäter, zur Einäscherung der Stadt und zum nächtlichen Kindermord. Die Ereignisse jener zwei schrecklichen Nächte sind von der gräßlichen Art, daß sie in der Geschichte der feudalen Zerrüttungen, nicht in das 18. Jahrhundert zu gehören scheinen, daß sie neben den übrigen Atrocitäten, welche das Ungeheuer der willkürlichen Gewalt ausgebrütet hat, ihre Stelle verdienen. Neunundsiebzig Kinder und Erwachsene wurden von den Soldaten theils getödtet, theils mit ihren Häusern verbrannt. Die Unmenschlichkeiten, die dabei vorgingen, mag ich nicht nachschreiben; aber sie gehören der Geschichte, welche der Nachwelt die folgenschwere Wahrheit beurkunden muß, daß, wenngleich die Aufwallungen der Ungebundenheit in einem lange gemisbrauchten Volke zuweilen in blutige Rache ausarten können, sie gleichwol von der barbarischen Fühllosigkeit des rohen Söldners weit übertroffen werden. Traurig ist die Wahl zwischen zwei großen Uebeln; allein es liegt schon in der Natur der Sache, daß die Folgen der Anarchie, wie schwarz die Miethlinge des Despotismus sie auch schildern mögen, nur Kinderspiele sind gegen die Schandthaten beleidigter Sklaventreiber. Ihre Erbitterung wird giftiger durch die vermeinte Kränkung ihrer Herrscherrechte; ihr Zweck ist nicht blos Unterjochung, sondern zugleich Rache und Strafe; sie sind immer Krieger und Henker zugleich; sie zerstören und verwüsten aus Grundsatz und nach einem vorher bedachten Plan.

Ich begreife jetzt, wie der Anblick solcher Greuel den Muth der Bürger und Freiwilligen bis zur Tollkühnheit entflammen mußte. Arberg verfehlte gänzlich seinen Endzweck und sah sich genöthigt, unter Begünstigung der Nacht das Schloß zu räumen und seinen Rückzug anzutreten. Das kleine Patriotenheer, verstärkt durch die junge Mannschaft, die aus Courtray den Gentern zu Hülfe gekommen war und die Kaiserlichen von einem Thore vertrieben hatte, stürzte am 16., nachdem es, unter den Waffen stehend, dem im Portal der Nikolauskirche gefeierten Hochamte beigewohnt und sich durch die allgemeine Absolution zu seinem Unternehmen gestärkt hatte, mit unwiderstehlicher Gewalt auf die Kasernen los und erstieg die dort befindlichen Batterien. Buben von siebzehn Jahren stachen die Kanoniere über den Haufen, die mit brennender Lunte in der Hand das Geschütz gegen sie lösen wollten. Schon hatten sie das Thor erreicht und schleppten Holz zusammen, um die Kasernen in Brand zu stecken, als die österreichischen Offiziere unbewaffnet und mit entblößtem Haupte ihnen entgegengingen und sich zu Kriegsgefangenen ergaben. Die Flamänder waren in diesem leidenschaftlichen Augenblick besonnen genug, ihrem Unwillen, der so hoch gereizt worden war, zu gebieten. Sie nahmen ihre Feinde in Schutz, als hätten diese mit erlaubten Waffen und nur gegen Männer gefochten.

Die Einwohner haben das Schloß demolirt, weil es nicht länger haltbar war; dagegen erfreute uns der Anblick vieler neuen Häuser, die bereits überall aus den Ruinen hoch emporstiegen und vom Reichthum der hiesigen Bürgerschaft ein gutes Vorurtheil bei uns erweckten. Ich weiß nicht, war es diese zufällige Scene der Geschäftigkeit, oder lag es vielmehr wirklich im Charakter der Flamänder, daß wir uns gleich auf den ersten Blick einen günstigern Begriff von ihnen als von ihren brabantischen Nachbarn abstrahirten. Soviel ist wenigstens gewiß, daß diese Provinz, ob sie gleich weit später als Brabant gegen die Bedrückung der Regierung reclamirte, dennoch früher und mit mehr Entschlossenheit zu entscheidenden Maßregeln griff; daß sie zuerst sich zu Gunsten des Comité von Breda und der Unabhängigkeit öffentlich erklärte, bei der Errichtung der freiwilligen Corps den größten Eifer bewies und an der völligen Vertreibung der österreichischen Armee den stärksten Antheil hatte. Eine Spur von Seelenadel konnte wirklich den Flamändern ihre freiere Verfassung aufbewahrt haben. In der Versammlung ihrer Stände sind der Geistlichkeit zwei, dem Adel zwei, den Städten drei und dem platten Lande ebenfalls drei Stimmen zugetheilt; dergestalt, daß der dritte Stand allemal sicher auf die Mehrheit rechnen kann, sobald es ihm ein Ernst ist, sich dem aristokratischen Einfluß zu entziehen. Die Wiederherstellung des Adels, als eines votirenden Standes in der Staatenversammlung, ist ein Werk der Revolution. Seit dem Anfang des 17. Jahrhunderts hatte der flandrische Adel Sitz und Stimme verloren, weil er eine Zeit lang die ganze Macht der Stände usurpirt hatte. Da es ihm nicht gelungen war, unter der österreichischen Regierung seine Rechte wiederzuerlangen, so hatte er sich auf einem andern Wege zu behaupten und sein Interesse dadurch zu sichern gesucht, daß er so viele seiner Mitglieder als nur möglich war, zu Deputirten der größern und kleinern Städte wählen ließ. Diese Einrichtung dauert noch fort und erklärt die eifrige Theilnahme der Staaten von Flandern an der in Brabant so gegen die demokratische Partei glücklich ausgeführten Verfolgung. Das Volk und die Bürger murren indessen über die Gefangensetzung des Generals van der Mersch und fordern laut von ihren Ständen, daß sie sich seiner gegen den Congreß annehmen sollen.

Das Raschere, das Entschiedenere im Charakter dieses Volks ist auch in den Gesichtszügen ausgedrückt, und wohlgebildete Männer sind uns in diesem Theil von Flandern häufiger als in Brabant vorgekommen; allein ihre Erziehung ist der brabantischen zu ähnlich, um uns hoffen zu lassen, daß sie mit ihrem Jahrhundert weiter als jene Nachbarn vorgerückt sein könnten. Auch hier gibt es keinen Namen, den man im übrigen Europa mit Achtung oder mit Bewunderung nennt. Zwar können ganze Völker bei dieser Mittelmäßigkeit glücklich sein, solange sie ruhig bleiben; doch wehe den Empörern, an deren Spitze kein größerer Mensch einhergeht!

Auch unter dem hiesigen Frauenzimmer habe ich manches hübsche flämische Gesicht bemerkt, und in einem Buchladen glaubte ich an der Frau vom Hause das Ebenbild einer von Rubens' Frauen zu sehen; nur schade, daß diese schönen und zum Theil auch feinen Züge, dieses völlige Gesicht mit den großen, offenen braunen Augen, den starken Augenbrauen, der kleinen geraden Nase, den zarten, rosenrothen Lippen und der durchschimmernden Röthe auf dem lebendigen Weiß des Teints, so stumm und seelenlos erscheinen und von jener Empfänglichkeit, die überall das Erbe des Weibes sein sollte, nichts verrathen. Fern sei es, daß ich hier die ausgebildeten Reize des ideenreichen Wesens fordern sollte, die nach den Umständen unmöglich hier anzutreffen sind; aber Seele könnte doch das Auge strahlen, leise, sanft und innig könnten auch ungebildete Mädchen empfinden. Von diesem allen zeigt das Aeußere der Flamänderinnen keine Spur. Eine Schlaffheit des Geistes, die sich in Europa kaum abgespannter denken läßt, scheint sie für jeden Eindruck, der außer dem Bezirk des mechanischen Hausregiments und der ebenso mechanischen Religionsübungen liegt, durchaus unempfindlich zu machen. Wenn nicht die Nähe von England und Frankreich, der Handel von Ostende und die Fabriken, die aus jener bessern Zeit im Lande noch übriggeblieben sind, französische und englische Moden einführten, würde man es hier kaum merken, daß der Begriff des Putzes auf den Begriff des Schönen eine Beziehung hat.

Die Beschreibung der öffentlichen Gebäude und Kirchen, die man aus so vielen Reisebeschreibungen kennt, wirst Du mir gern erlassen; ich schweige also von dem ungeheuern Rathhause, von den dreihundert Brücken, die alle Theile dieser von Kanälen durchschnittenen Stadt verbinden, und selbst von der großen gothischen Masse der Kathedralkirche zu St.-Bavo, mit den darangeklebten Stücken der griechischen Architektur, die den Eindruck ihrer Größe stören. Die Verschwendung von weißem und von schwarzem Marmor in dem Innern dieses Tempels würde mir indeß aufgefallen sein, wenn mich nicht auf eine weit angenehmere Art die Kunst beschäftigt hätte. Die zahlreichen Kapellen enthalten einen Schatz von flämischen Gemälden der ersten Klasse, von denen ich Dir wenigstens ein paar bekannt machen muß, die für mich etwas Merkwürdiges hatten. Zuerst nenne ich die Auferstehung Lazari, ein Meisterwerk von Otto Venius, einem Lehrer des gepriesenen Rubens. Dieses in Absicht auf die Composition sehr fehlerhafte Stück, dessen Umrisse zum Theil verzehrt, dessen Schatten schon ein wenig schwarz geworden und dessen Farben trocken sind, hat dennoch einzelne schöne Partien. Die Hauptfigur, der in der Mitte stehende Christus, ist wie gewöhnlich verfehlt; er ist kalt, jüdisch und uninteressant, seine Draperie ist schwer und ungeschickt geworfen, seine aufgehobene Hand ruft nicht, winkt nicht, segnet nicht. Lazarus liegt halb im Schatten, wirklich schön von Angesicht und Gestalt; er blickt edel und seelenvoll zu seinem Retter auf und ist ungleich besser als alles übrige colorirt. Seine Schwester Maria sitzt an seiner Gruft im Vordergrunde. Ihr Gesicht und die ganze Figur machen mit dem übrigen Bilde den merkwürdigsten Contrast; denn ihre Züge, ihre Kleidung und das ganze Costüm sind gänzlich aus der römischen Schule entlehnt. Man glaubt eine Madonna von Rafael copirt zu sehen, so ruhig und doch so edel gerührt ist dieser schöne Kopf. Martha und Magdalena sind dagegen hübsche Flamänderinnen im kurzen buntseidenen Corset. Petrus bückt sich, um dem Lazarus herauszuhelfen; sein blaues Gewand über dem breiten Rücken thut vortreffliche Wirkung. Die übrige Gruppe von Köpfen ist gar zu gedrängt voll und geht zu hoch in dem Bilde hinauf; auch fehlt es ihr an Auswahl.

Du erinnerst Dich des schönen Sebastian von van Dyck in Düsseldorf. Hier ist einer von Honthorst Gerhard Honthorst (Forster schreibt unrichtig Hondhorst), geb. 1592 zu Utrecht, gest. 1662 im Haag, Historienmaler; besonders ausgezeichnet sind seine großen Bilder mit Kerzenbeleuchtung. Anmerkung d. Hg., der viel Verdienst hat. Aus dem schönen Körper zieht eine schwarzgekleidete weibliche Figur die Pfeile aus. Sehr leicht ruht ihre Hand auf dem zarten verwundeten Körper; aber ihr Gesicht ist ohne Ausdruck, und mit eben den Zügen würde sie Spitzen waschen. Die Alte, ebenfalls ein gemeines Gesicht, empfiehlt Behutsamkeit mit Blick, Stellung und Hand. Das leidende Gesicht Sebastian's ist edel und voll unbeschreiblicher Milde; sein Auge ist schön, sanft redend und voll Vertrauen. Die Farbengebung ist zwar nicht ganz natürlich, aber weich und von einem harmonischen modesten Ton. Doch die Stellung des angebundenen, auseinandergedehnten Körpers zieht zuerst den Blick des Zuschauers auf sich, und man muß in der That unparteiisch das Verdienst hervorsuchen wollen, wenn dieser erste Eindruck nicht wegscheuchen und alle nähere Untersuchung verhindern soll. Daß die Künstler es nicht fühlen, wie diese Marter den Zuschauer leiden läßt und wie unmöglich es ist, mit einigem Gefühl ein solches Kunstwerk liebzugewinnen! Uebrigens hat es mir wohlgethan, hier das Studium italienischer Meister und Honthorst's langen Aufenthalt in Italien zu erkennen; wo ich nicht irre, habe ich schon etwas von Michel Angelo gesehen, woran mich die frei und fest gezeichnete Figur dieses Sebastian erinnerte.

Der St.-Bavo von Rubens hat mir ungleich weniger gefallen; das Stück ist in zwei Gruppen übereinandergetheilt, wovon die unterste aus vielen ziemlich ekelhaft durcheinander gewundenen Figuren besteht. Links im Vordergrunde stehen ein paar plumpe Dirnen von Fleisch und Blut. Auch der Zeitgenosse von Rubens, der um den Ruhm eines großen Künstlers mit ihm wetteifernde Crayer, leistete mir hier kein Genüge. Die Kreuzigung, die man von ihm in der Bischofskapelle bewundert, ist schön colorirt, aber der Körper ist verzeichnet. Sein Hiob ist interessanter: er blickt auf voll Vertrauen, das sogar an Ekstase und Freude grenzt; dagegen hört er auch nicht, was sein Weib, eine sehr gemeine Hexe, ihm sagt. Von den drei Freunden sitzen zwei mit niedergebücktem Haupt und träumen, indeß der dritte mit den Fingern spricht. Noch ein gepriesenes Gemälde dieses Meisters ist hier die Enthauptung des Täufers Johannes; aber welch ein Anblick! Eine zerrissene, unzusammenhängende Composition, verwischte Farben, ein scheußlicher Rumpf und ein Bologneserhündchen, welches Blut leckt! Solch ein Gegenstand und solch eine Phantasie schicken sich füreinander, und um alles zu vollenden, gehört nur noch der Zuschauer dazu, der mit uns zugleich vor dem Bilde stand und voll Entzücken ausrief: » Ah quelle superbe effusion de sang!«

Unter einer großen Anzahl von Gemälden, wovon die besten von Seghers Gerhard Seghers aus Antwerpen (1589-1651), Heiligenmaler. – Nikolaus de Liemaker, genannt Roose, aus Gent (1575-1646), Heiligenmaler. Anmerkung d. Hg., van Cleef, Roose und Porbus gemalt sind, keines aber hervorstechende Vorzüge besitzt, halte ich ein uraltes Stück von den Gebrüdern van Eyck Hubert und Johann van Eyck lebten in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts zu Brüssel; sie sind die gefeiertsten Meister der ältern flandrischen Malerschule. Anmerkung d. Hg. noch für nennenswerth, weil es vielleicht das erste war, das in den Niederlanden mit Oelfarben gemalt wurde. Der Gegenstand ist aus der Offenbarung Johannis entlehnt: die Anbetung des Lammes. Der Composition fehlt es, wie man es sich von jener Zeit vorstellen kann, sowol an Ordnung und Klarheit, als an Wirkung und Größe. Bei aller Verschwendung des Fleißes bleibt die Zeichnung steif und incorrect; Perspective und Haltung fehlen ganz und gar; die Farben sind grell und bunt und ohne Schatten. So malte man aber auch in Italien vor Perugino's Zeiten, und was uns dieses Gemälde merkwürdig macht, ist daher nicht der Geist, womit es ersonnen und ausgeführt worden ist, sondern die wichtige Erfindung der Oelmalerei, die damals in den Niederlanden zuerst an die Stelle des so lange üblich gewesenen al Fresco trat, wenn sie auch in Deutschland bereits weit länger bekannt gewesen sein mag. Ich bin zwar weit entfernt, den Coloristen einen Vorzug vor den richtigen Zeichnern einräumen zu wollen; allein ich halte es wenigstens im Angesicht der Meisterwerke des flamändischen Pinsels für ein gar zu hartes Urtheil, die Erfindung, worauf der ganze Ruhm dieser Schule beruht, mit Lessing um des Misbrauchs willen, der damit getrieben worden ist, lieber ganz aus der Welt hinweg zu wünschen. Der Vorwurf einer übeln Anwendung, selbst einer solchen, welche völlig zweckwidrig ist, trifft wol mehr oder weniger eine jede menschliche Erfindung; und wenn es nicht geleugnet werden kann, daß die Erlernung der beim Oelmalen erforderlichen Kunstgriffe manchen wackern Künstler mitten in seiner Laufbahn aufgehalten und in die Klasse der Mittelmäßigkeit geworfen oder gar vom rechten Ziel der Kunst entfernt hat, so bleibt es doch auch unbestritten, daß mit Oelfarben manches unnachahmliche Bild auf die Leinwand hingezaubert worden ist, dessen Schönheiten bei jeder andern Behandlung verloren gegangen wären. Am Colorit, als solchem, ist freilich so viel nicht gelegen; aber durch die Verschmelzung der Farbenschattirungen, welche nur ihre Vermischung mit Oel möglich machte, sind feine Nuancen des Ausdrucks erreicht worden, wodurch die Kunst selbst an Würde gewonnen hat und für den Psychologen lehrreich geworden ist.

Der Wunsch, in den übrigen Kirchen, Klöstern, Prälaturen, auf dem Rathhause und in den Privatsammlungen zu Gent den Denkmälern der flämischen Kunstepoche nachzuspüren, mußte für jetzt der Nothwendigkeit unsers Reiseplans weichen. Mit Tagesanbruch eilten wir durch die reichste Gegend von Flandern hierher nach Antwerpen. Der Weg ging über eine herrlich bebaute Ebene. Triften, Wiesen, Aecker und Heerstraßen waren mit hohen Bäumen und Gebüschen eingefaßt; der Steindamm war den größten Theil des Wegs so gut wie im übrigen Brabant und Flandern. Die Vegetation schien indeß kaum noch weiter vorgerückt, als wir sie in unserer milden mainzer Gegend verlassen hatten; die Saaten allein prangten mit ihrem frischen Grün, und des Oelrettigs dichte, goldgelbe Blüten bedeckten oft unabsehliche Strecken. Das Erdreich war an vielen Stellen leicht und mit Sand gemischt, mithin gewissen Gattungen von Getreide vorzüglich angemessen. Ueberall sahen wir den Anbau zu derjenigen Vollkommenheit getrieben, wo bereits der Wohlstand der Einwohner durch ihren Fleiß hervorschimmert. Wie leicht müßte nicht hier, bei einer bessern Erziehung des Landvolks und gehöriger Anleitung von seiten der Gutsbesitzer, die Landwirthschaft mit der schwedischen und englischen wetteifern können! Allein es ist ja alles hier gleichsam darauf angelegt, den alten Vorurtheilen einen Charakter heiliger Unfehlbarkeit aufzuprägen. Mit Erstaunen und Freude mußten wir indeß einander bekennen, daß wir solche Flecken und solche Dörfer, als womit dieser Weg und die ganze Gegend gleichsam besäet ist, auf dem festen Lande noch nicht angetroffen hätten. Lockeren, St.-Nikolas u. a. beschämen die Städte vom dritten und vierten Range, die man in andern Ländern über ihresgleichen rühmt. Sie sind beinahe Viertelmeilen lang, durchaus von Backsteinen sauber erbaut, mit breiten Straßen, gutem Pflaster und Reihen von Bäumen wohl versehen. Ordnung und Reinlichkeit, die unverkennbaren Begleiter des Wohlstandes, herrschten im Innern der Häuser, und der treuherzige Ton der Bewillkommnung, den wir von den Einwohnern vernahmen, bestätigte uns in der guten Meinung von ihrer Wohlhabenheit. Wir fanden alle Hände mit der Verfertigung von grober Leinwand zu Segeltuch, Gezelten u. dgl. aus selbstgezogenem Hanf und Flachs beschäftigt. Dieser Anbau nebst den darauf beruhenden Manufacturen und dem reichlichen Ertrag des Getreidebaues scheint die Hauptquelle des hiesigen Reichthums zu sein.

Eine halbe Meile von Antwerpen verschwanden die Bäume, Gebüsche und eingezäunten Felder; die Gegend verwandelte sich in eine weit ausgebreitete Lande, eine kahle Ebene, wo Viehweiden und Wiesen aneinander grenzten, und an deren Horizont wir ringsum beschattete Dörfer, in der Mitte aber Antwerpen in seiner imposanten Größe liegen sahen. Ein Wald von Thürmen und vorzüglich der ungeheuere gothische, wie Filigran gearbeitete Spitzthurm der Kathedralkirche ragte hoch empor; die Citadelle auf einer kleinen Erhöhung vergrößerte und verschönerte diesen Anblick, und die Bewegung auf- und absegelnder Barken auf der Schelde, die wir zwischen ihren Ufern noch nicht sehen konnten, hatte etwas Zauberähnliches. Bald erblickten wir ihre gedemüthigten Gewässer und seufzten von neuem über europäische Politik und europäisches Völkerrecht. Der schöne, herrliche Fluß ist, wie die Themse, zum Handel gleichsam geschaffen; die Flut steigt darin zwanzig Fuß hoch vor den Mauern der Stadt und verdoppelt alsdann seine Tiefe. Hier ist er nicht so breit wie der Rhein vor Mainz; aber er trägt wegen des beträchtlichen Steigens und Fallens keine Brücke. Etliche Meilen weiter hinabwärts breitet er sich aus zu eines Meerbusens Weite. Wir sahen einen Hafen, wo zweitausend Schiffe Raum finden würden, mit einigen kleinen Fahrzeugen besetzt. In wenigen Minuten führte uns ein kleiner Nachen von dem sogenannten Haupt (oder der Spitze) von Flandern hinüber in die Stadt.



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