Irene Forbes-Mosse
Ferne Häuser
Irene Forbes-Mosse

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Die Verlobung

Nun mahlte der Wagen schon zwei Stunden lang durch den Sand. Manchmal von Akazien, manchmal von Birken begleitet. Oder von Vogelbeerbäumen. Dann leuchteten die roten Büschel am blauen Septemberhimmel. Kirschbäume wie daheim gab es nicht an den Landstraßen.

»Es ist eine arme Gegend, unseres Herrgotts Streusandbüchse heißt sie ja wohl, aber zwischendurch gibt es gesegnete Landstriche, und wenn man an die zwanzigtausend Morgen sein eigen nennt, darf auch Sand und Moor dabei sein. Überhaupt, unsre reichen, übervölkerten Provinzen . . . ist noch die Frage, ob sie uns zum Segen gereichen.« Dies und noch mehr, zwischen kurzen Nickerchen von Tante Äbtissin hervorgebracht, die ihre Nichte Ernestine – mit Rufnamen Nesta – nach Groß-Randow geleitete, wohin sie eingeladen war . . . zur Besichtigung.

Eigentlich war Tante Äbtissin ob dieser ihr und ihrer Familie zugemuteten Vorführung – Nestas Reaktionen nahm sie weniger schwer – ziemlich verdrossen. Immerhin – zwanzigtausend Morgen und ein einziger Sohn . . . man mußte es schlucken. Keep smiling, wie diese Amerikaner sagten.

Natürlich wußte Nesta, warum sie die heiße Fahrt zu den nur flüchtig bekannten Randows mit Tante Äbtissin unternommen hatte. Peremptorisch wie immer, war sie plötzlich erschienen, sie abzuholen, und doch war gerade Einmachzeit, und die Hausschneiderin wurde erwartet, die so schwer zu haben war. Aber diese Einwände hatte Tante Äbtissin abgetan, als sei das alles gar nichts, und dann hatte Nesta 245 einiges aufgefangen, was Mama und Papa zusammen tuschelten, das heißt, Mama hatte getuschelt, von Papa hatte sie nur einige abwehrende Grunztöne vernommen.

Der Sommer war vorüber, aber die erfrischende Herbstluft hatte noch nicht eingesetzt, die Blätter hingen schlaff an den Zweigen, ihr Grün ohne Glanz. Ein Besinnen war über die Erde gekommen, es ging dem Ende zu, dann kam der Winterschlaf. Ja, war es all die Mühe wert gewesen?

Solche Stimmungen und Überlegungen waren der jungen Nesta fremd, aber ein Gefühl der Ungeduld, wie unter einer Last, hatte sie überkommen. O dieses mutlos hängende Akazienlaub, diese Stoppelfelder, diese welken Kartoffelstauden, endlos, endlos, ihr so konträr, und nun war ihr auch noch ein Fuß eingeschlafen – wie ein Elefantenbein kam er ihr vor – und das erlösende Prickeln hatte noch nicht eingesetzt. Am liebsten wäre sie aus dem Wagen hinausgerutscht, denn springen kann man nicht mit einem eingeschlafenen Fuß, oder sie hätte »Himmelsternkreuzhagelwetter« gesagt, nur um Tante Äbtissins eisblaue Augen – Gletscheraugen – sich öffnen zu sehen. Aber wer kommt an gegen die Lethargie eines heißen Spätsommernachmittags, wenn es seit Wochen nicht geregnet hat und der bedächtige Trott allzu wohlgenährter Pferde das Gehirn einlullt, wie es vorher schon – Frau Hansen, Frau Hansen, die dicke Frau Hansen – der Rhythmus der Kleinbahn getan? So blieb sie sitzen, wo sie saß, und stellte Betrachtungen an über Tante Äbtissins Maria-Theresia-Profil und das Schnurrbärtchen auf ihrer Oberlippe und fragte sich einmal wieder, ob es wohl wahr sei, daß sie so schön gewesen und ein sagenhafter Mr. Stanhope, der ein Schloß in Schottland besaß, mit Wassergräben und Hängebrücke, ganz Walter Scott, sie dorthin hatte entführen wollen; was sie aber eisern, wenn auch blutenden Herzens, abgelehnt hatte. Denn ach, der Unselige hatte ja schon eine Frau, die halbgelähmt und das Haupt voll blonder 246 Pudellöckchen, seit Jahren auf der Chaiselongue lag, Romane lesend und von einer Horde kleiner, sehr wertvoller Hunde umgeben, die ein eigens dazu angestellter Knabe aus der Waisenanstalt täglich spazieren führte. O armer Mr. Stanhope, dachte Nesta, konnte man es ihm verdenken? Und Tante Äbtissin mußte ein Herz aus Granit haben, sonst wäre sie doch mit ihm gegangen, durch dick und dünn.

Nur einmal hatte die alte Dame, Nestas Mutter gegenüber, den Schleier über der Vergangenheit ein wenig gelüpft: »Liebe Henriette, es gibt Reue, und es gibt Regrets. Das eine müssen wir mit Gott, das andre mit uns selber ausmachen. Was schwerer ist . . . ich will es nicht entscheiden.« »Kinder«, sagte Mama, »sie scheint euch kalt und steinern, aber das ist eine Kruste, unter der es immer noch glimmt.«

Nur eben, es kam nicht heraus, blieb in der Tiefe stecken, wie Maulwürfe, und niemand hatte etwas davon.

Nesta gegenüber, und eben darum konnte sie die Beine nicht ausstrecken, und der Fuß war ihr eingeschlafen, saß Minna Redlich, Tante Äbtissins langjährige Jungfer, von ihr kurzweg »Redlich« genannt, denn bei jenem schicksalsschweren Aufenthalt in England – long long ago – hatte sie beobachtet, daß dort die höhere Dienerschaft beim Familiennamen gerufen wurde, und hatte seitdem auch ihren Zofen diese Auszeichnung zugebilligt.

Redlich – sie hätte auch Rundlich heißen können, denn sie hatte im Gegensatz zu ihren dünnen, zierlichen Beinchen einen gewaltigen Busen, was ihr im Profil Ähnlichkeit mit einer Kohlmeise gab – Redlich war von Natur lebensfroh, ja auf ihre Weise genießerisch veranlagt. Denn man irre sich nicht: asketisch und sybaritisch sind subjektive Begriffe. Redlich machte, ohne zu mucksen, die religiösen Veranstaltungen mit, die zur Tagesordnung ihrer Gnädigen gehörten, aber lieber war ihr doch das Anhören und Besprechen aller möglichen Klatschgeschichten, vor allem, wenn es um 247 verbotene Liebe ging. Auch schmökerte sie mit Hochgenuß. Auf diese Fahrt zum Beispiel hatte sie einen zweibändigen Roman mitgenommen, der den verheißenden Titel trug: Die Dame ohne Herz.

Eben bog der Wagen in eine breite Lindenallee ein, deren eine Seite gepflastert war, und wohltuender Schatten umgab plötzlich die Insassen. Der grauhaarige Diener sagte, sich umwendend: »Nur noch zehn Minuten, gnädige Frau«, und die blankpolierten Braunen verfielen, das Endziel erkennend, in einen stattlichen Trab.

»Setz deinen Hut gerade, Kind«, sagte Tante und entnahm ihrer altmodischen Juchtentasche, die immer noch – »nach Jahrhunderten« hatte Nestas Schwester Sibylle gesagt – »wie ein russischer Großfürst roch«, einen Handspiegel, den sie der Nichte vorhielt. Nesta blickte hinein, ihr braunes Haselnußgesicht, ihre grünen, etwas schräg gestellten Augen sahen ihr entgegen: Nestakind, was tust du in diesem feudalen Rumpelkasten? Sie rückte an ihrem Hut, den ein Berberitzenzweig dekorierte, und wollte die vorquellenden Haare zurückschieben. Aber Tante Äbtissin, von plötzlicher Weltlichkeit erleuchtet, sagte: »Laß nur, die Löckchen stehen dir gut zu Gesicht.«

Die Lindenallee tat sich auf. Vor ihnen lag ein großes Rasenrondell, von Kavalierhäusern flankiert – die Kavaliere hatten sich längst verflüchtigt – und zwischen ihnen ansteigend erhob sich das große, blaßgelbe Herrenhaus, im klassischen, sogenannten Schinkelstil erbaut. In der offnen Haustür war die dreiköpfige Familie Randow versammelt, in deren Arme die junge Nesta sich nun stürzen sollte. Wie in einen Ziehbrunnen. So wenigstens kam es ihr vor.

Der Wagen machte eine schöne Kurve, der frisch geschüttete Kies spritzte auf, und ehe noch der Diener vom Bock klettern konnte, hatte ein schlanker, angegrauter Mann den Schlag geöffnet und sagte mit ungemein angenehmer Stimme: 248 »Willkommen, verehrte Domina, willkommen, Fräulein von Markwaldt.«

Neben ihm kam eine zierliche Gestalt zum Vorschein, ziemlich zerknittert, als hätte man sie eben aus einem Reisekoffer hervorgeholt. Der Schnitt ihres Seidenkleids war altmodisch, und um den Kopf hatte sie, turbanartig, ein gelbes Fransentuch gewunden, unter dem ihre tiefen, dunkel umschatteten Augen mehr brannten als leuchteten; ja, mit ihrer bräunlichen Haut, ihrem Turban, hätte sie gut in ein orientalisches Märchen gepaßt.

Die Stiftsdame reichte ihr mit einer gewissen Zurückhaltung ihre knöcherne Rechte, worauf sich die ältliche Scheherezade dem jungen Mädchen zuwandte, außer einigen aufgeregten Worten aber nur ein verlegenes Kichern hervorbrachte. Nun trat auch Olaf, des Hauses junger Sohn, den Angekommenen näher, leicht wippend wie auf Gummisohlen, und küßte der Äbtissin die Hand. Mit ihrer männlich tiefen Stimme sprach diese, um eine Nuance zu huldvoll – aber vielleicht war das Absicht – ihre Genugtuung aus, das schöne Groß-Randow kennenzulernen, dessen vorbildliche Landwirtschaft und Rosenkultur der Provinz zur Zierde gereiche. Herr von Randow nahm die wohlgerundeten Sätze mit der gewohnheitsmäßigen Ergebenheit eines Oberbürgermeisters entgegen, der einen fremden Potentaten durch die gemeinnützigen Anstalten seiner Stadt führen muß, und Olaf stand mit lauerndem Blick und zuckenden Nasenflügeln hinter seinem Vater. Nesta fand das kleine Lächeln, das dabei über sein Gesicht lief, recht gewinnend. Halt, dachte sie, hier ist etwas, das mir zuspricht. Der jüngere Randow war groß und dünn und hielt sich schlecht, aber es war doch mehr von einer Weidenrute an ihm als von einem geknickten Rohr, wie sie es nach Redlichs geflüsterten Berichten von einer schwierigen Rekonvaleszenz erwartet hatte.

Man trat in den kühlen Vorplatz, von dem aus eine 249 zweiteilige Treppe nach dem oberen Stockwerk führte. Ein rotbäckiges und rotarmiges Stubenmädchen in hellem Kattunkleid zeigte vorangehend den Gästen den Weg zu ihren Zimmern. Die kleine beturbante Dame mußte wohl in eine Mauerritze geschlüpft sein, plötzlich war sie verschwunden.

*

Sie war – Tante Äbtissin hatte sich genau informiert – die leibliche Mutter des Hausherrn, Olafs Großmutter also, hieß nun aber – es ließ sich nicht ableugnen – Kraszewski. Hatte sie doch, zum Entsetzen ihrer Angehörigen, ja der ganzen Provinz, nach kurzer Witwenschaft und in ihrem neunundvierzigsten Lebensjahres einen Förster geheiratet, oh, keinen staatlichen, pensionsberechtigten Oberförster mit Dienstwohnung und vielen Untergebenen, nein, einen ganz gewöhnlichen Wald- und Wiesenförster, der achtzehn Jahre jünger war als sie, in einer grünen Joppe mit Hirschhornknöpfen einherging und vor dem alten Randow die Hacken zusammennahm, wenn dieser ihm Anordnungen gab. Nun aber lebte auch Kraszewski nicht mehr.

Frau Kraszewski hatte den Tod ihres zweiten Gatten viel tragischer aufgenommen als den des ersten, des seligen Randow, Vater ihrer drei Kinder, ja man fürchtete eine Zeitlang um ihren Verstand. Da aber, wie es einer ihrer Schwiegersöhne liebevoll ausdrückte, die Sitte der Witwenverbrennung leider noch nicht eingeführt war, nahm Herr von Randow ein Jahr später seine Mutter wieder zu sich und erklärte seinen Schwägern, wenn es diese störe, fernerhin Frau Kraszewski zu begegnen, so müßten sie eben ihre Besuche auf Groß-Randow einstellen; nie und nimmer würde er seine Mutter dauernd in einer Nervenheilanstalt unterbringen, wie es ihm von ihnen mehr oder weniger deutlich nahegelegt worden sei.

So war Frau Kraszewski, wenigstens dem Namen nach, wieder Schloßfrau auf Groß-Randow geworden, denn Olafs 250 Mutter, ein von ihrem Gatten aufs äußerste verwöhntes Wesen, das sich von Olafs Geburt niemals ganz erholt hatte, war unterdessen gestorben.

Mit der Schwiegermutter hatte sich Frau Nelly von Randow, sanft und nachgebend wie sie war – ihre Schwägerinnen nannten es indolent – in den Jahren ihres Zusammenlebens ausnehmend gut vertragen, ja bei ihr Hilfe und Zuspruch in schwierigen Momenten gefunden, wie zum Beispiel wenn der Gatte, ihrer Verzärtelung Olafs wegen verstimmt, allerhand spartanische Maßregeln plante; und auch über Fehler und Nachlässigkeiten im Haushalt half ihr die Ältere, sei's durch Vertuschen oder durch robustes Eingreifen, unbekümmert hinweg.

Den ersten Teil des Kraszewski-Dramas hatte die jüngere Frau von Randow noch miterlebt; teilnehmend, vielleicht sogar verständnisvoll; hatte sie doch so viele Romane gelesen, daß ihr die außergewöhnlichsten Situationen begreiflich waren. Jedenfalls hatte sie nie eingestimmt, wenn ihre Schwägerinnen in erregten Flüstertönen den Familienskandal besprachen. Die Rückkehr und Neuinstallierung der Schwiegermutter aber erlebte sie nicht mehr. Immer dichter hatte sie sich eingesponnen in ihre Krankheit, ihre Einbildungen, wie in ein schützendes Kokon, eingesponnen in ein weltfernes, verschwimmendes Dasein. Es gab viele, die sie für einen Hemmschuh im Leben ihres Gatten ansahen. Vielleicht war sie's ja auch eine Zeitlang gewesen. Aber so, wie sie war, war sie ein Stück von ihm geworden, und alles an ihr war ihm so gewohnt, daß er kaum merkte, wie sie immer leichter wurde, wenn er sie auf die Couchette im Wohnraum trug. Dort lag sie dann stundenlang, von Blumen und Büchern umgeben, einen alten, halbblinden Stallhund neben sich, den sie zärtlich liebte, und versicherte lächelnd, es gehe ihr besser, erstaunlich besser, seit sie das neue, psychische Heilverfahren anwendete, eine Art Autosuggestion, die wahre Wunder 251 vollbrachte. Trotz dieser Beteuerungen – waren es Illusionen oder ein nur halbbewußtes Festklammern an das sichtbare Leben – war sie erloschen, geschwunden, einer seltenen Blume gleich, die in einer Vase verwelkt.

Anfangs irrte Olaf wie ein junger, dünnhäutiger Jagdhund umher, frierend und suchend, bis sich auch an ihm die Schicht bildete, die den Menschen das Weiterleben ermöglicht. Da war zunächst die Zeit selbst, dies unbeirrte Wanduhrticken, das man erst wahrnimmt und erkennt, wenn es innehält; dann aber wurde ihm Hilfe durch eine jener leidenschaftlichen, reingeglühten Freundschaften, die wie ein Sporenstich alles Mutige und Großherzige in ihm weckte, daß die Lebenslust aufschäumte und ihm jeder neue Tag neuen Zauber bot. Es war nur ein armer Stallbursche, der das Wunder bewirkte, mehrere Jahre älter als er, und seine Schulbildung war recht mangelhaft. Aber er brachte eine Saite in Olafs Wesen zum Klingen, die bisher stumm gewesen, nun aber bis zum Ende seines Lebens nicht ganz verklingen würde. Seine Gesundheit besserte sich, er zeigte Mut und Ausdauer, wo er früher gleichgültig und ausweichend gewesen, und sein Vater begann zu hoffen, daß er kräftig genug sein würde, die in seinen Verhältnissen übliche Entwicklung durchzumachen. Freiwilligenjahr, Universität, nette Freundschaften, auch fürs spätere Leben von Nutzen, und überhaupt, ein bißchen Jurisprudenz konnte nie schaden, treten doch oft Fragen an einen Gutsbesitzer heran, für deren Lösung der gesunde Menschenverstand allein nicht ausreicht, und warum immer von Anwälten und Rechnungsführern abhängig sein? Denn wenn Olaf einmal heiratete, sollte er das zweite Gut übernehmen, das hübsche Waldgut Riede, ehemals eine Försterei. Und wenn er auch viel mehr Reiter als Jäger war, er würde gut dorthinein passen, es wehte eine gewisse romantische Stimmung um das alte Jagdschlößchen, und das bißchen Wolkenkuckucksheim war dem guten Jungen zu gönnen – solche 252 Phasen machte wohl ein jeder einmal durch. Ja, und Olafs immer noch schwankende Gesundheit, seine von der armen Nelly ererbte ungewisse Art, das Leben anzufassen, so ein Gemisch von Übermut und plötzlicher Scheu, wie ein junges, weichmäuliges Pferd . . . da mußte man manchmal auch nachgeben.

So ungefähr hatte sich's Herr von Randow zurechtgelegt, und seine Schwestern, die seit Frau Kraszewskis Rückkehr das Elternhaus nur selten aufsuchten, fanden seine Pläne standesgemäß und daher selbstverständlich. Seit Generationen ging es in ihrer Familie standesgemäß zu, und gerade darum war die Kraszewski-Episode so bestürzend gewesen. Zum Beispiel hatte seit undenkbaren Zeiten keine Ehescheidung im Hause Randow stattgefunden; Schuldenmacherei der Söhne kam wohl vor, aber doch in Grenzen, es hatte noch keiner über See gemußt. Eigentlich waren sie wohl alle etwas langweilig veranlagt, er selbst mit einbegriffen, dachte Herr von Randow, der sich gern eines objektiven Urteils rühmte. Wenn er sich die ganz landesüblichen Ehen seiner Schwestern vorstellte, zuckte er innerlich die Achseln. Zum Auswachsen, gewiß; aber vielleicht doch besser so. Da waren keine Erdbeben zu befürchten. Wenn sich zwei Langweiler zusammentun, geht es wohl immer glatt. Besser als wenn zwei Feuergeister aneinandergeraten, da stieben die Funken. Unsere berühmten Männer hatten ja auch – gewiß ganz instinktiv – in der Mehrzahl recht hausbackene Gefährtinnen erwählt. Das erlaubte ihnen, daheim den olympischen Ornat abzulegen und es sich in Schlafrock und Pantoffeln wohl sein zu lassen. Geistige Erneuerungspausen, sozusagen; nur Götter bedürfen ihrer nicht.

Olaf hatte, wenn auch reichlich spät, das unerläßliche Examen bestanden, dem das Dienstjahr in einem berühmten Kavallerieregiment folgte, dessen Kommandeur ein Vetter seines Vaters war. Die verwandtschaftliche Beziehung spielte 253 dabei keine Rolle. Wäre auch ganz unnötig gewesen. Olaf hatte eine ausgesprochene Begabung fürs Reiten gezeigt, wenn er auch etwas schlampig-jockeyhaft im Sattel saß, und auch alles andre war gut gegangen, vielleicht dank der mysteriösen Eigenschaft, die sich unübersetzbar Charme nennt und wie ein flüchtiger Duft nicht definieren läßt.

Das kindliche Vertrauen und eben diese – nicht anders konnte man's nennen – charmante Art, wie er höhere Vorgesetzte ansprach, vor denen es üblich war, die Ohren steif zu halten, zeitigte eine Lawine von teilweis erfundenen Anekdoten. Dieselbe freundliche Harmlosigkeit zeigte er übrigens auch im Gespräch mit seinen Rekruten, und einen allgemein gefürchteten Wachtmeister hatte er gezähmt wie durch eine Zauberformel. Allerhand Witze und Spitznamen illustrierten seine Weltfremdheit, seine Unschuld.

Als dann aber, nach einem weiteren, auf einer berühmten Universität verbrachten Jahr, dem ein längerer Aufenthalt in der Schweiz folgte, Olaf heimkehrte, hatte er sich – das merkte jedermann – traurig verändert. Der körperlich zarte, aber doch lebensfrohe, ja wilde Junge war es nicht mehr. »Von einem, der auszog, das Gruseln zu lernen« – so heißt ein Märchen. Und es geht gut aus. Aber hier? . . . »Wir werden's in die Reihe bringen«, sagte sich der Vater, der ihn heimgeholt hatte, wenn er, kaum die Wimpern hebend, einen Blick auf ihm ruhen ließ. Der Arzt hatte es ja versichert. Ach, es ist nicht nur das Vergangene, Durchlebte, das feine, harte Striche in ein Antlitz gräbt, es kann auch das Kommende sein, das einen geisterhaften Schleier breitet, unter dem sich unmerkbar die Konturen ändern und verwischen.

Zur Universität hatte Olaf damals gar keine Lust verspürt. Denn er war ein Einzelgänger, und auch das Regimentsleben wäre ihm zuwider gewesen, wenn nicht die absorbierende Liebe zu den Pferden und allem, was mit der Reitkunst zusammenhing, seine Gedanken erfüllt hätte. Wie ein junger 254 Zentaur kam er sich manchmal vor, so – beinah hellseherisch – konnte er sich in sein Pferd hineindenken, hineinfühlen – »als wär's ein Stück von mir . . .« Und es war ein Vortasten in neblige Fernen, ein geheimnisvoller Zauber dabei, der ihm den verlorenen Freund wieder nahebrachte, ganz plötzlich, der bei einer anstrengenden Übung, einem gefährlichen Hindernis dessen Stimme ertönen ließ, anfeuernd, mäßigend, je nachdem: ja, manchmal hatte er gemeint, die harte, magre Knabenhand zu spüren, wie sie sich, überlegen, auf die seine legte, die Zügel anziehend oder lockernd, unsichtbar.

Es wäre ja nicht allzu schwer gewesen damals, den Vater umzustimmen, ihm klarzumachen, daß er sich zum Korpsleben nicht eignete. Aber eine angeborene Trägheit oder Fatalismus, den Olaf schon als Kind erkennen ließ, wenn ihm ein versprochenes, lang erhofftes Vergnügen verhagelte – so ein Hochziehen der Schultern, das »nun, und wenn auch« besagte – ließ ihn sich wortlos in das nun einmal Beschlossene fügen. Herr von Randow, der selber ein paar vernarbte Schmisse im Antlitz trug, die er an derselben Hochschule erworben, konnte die Sache für nicht so bedeutungsvoll halten. Gewiß, diese blöden Saufereien und daraus resultierenden Magenzustände, die oft recht unappetitlichen Witze – ach ja, das Niveau war allerdings betrüblich – die Zeitvergeudung . . . es war das alles recht geschmacklos, und der Junge mußte sich erst mal die Hornhaut wachsen lassen, an der so was abprallt. Aber schließlich – es war ein Durchgangsstadium, vielleicht ein nützliches. Denn das Leben selbst ist der allerstrengste Fuchsmajor; man tut gut, sich darauf vorzubereiten.

Aber als er dann den Sohn abholen mußte, der körperlich und seelisch in Not geraten war und einen Riß davongetragen hatte, der sich mit der Zeit verkitten, aber wohl nie ganz ausheilen würde, klang das bittre Wort »es war nicht nötig, daß es so kam« in seinem Gewissen, und die 255 beruhigenden Reden seiner Bekannten – wenn sie es überhaupt wagten, den wunden Fleck zu berühren – waren ihm eine Pein, der er nur mit frostigem Schweigen begegnete. Optimistisches Geschwätz, als ob sie auf den Warmwasserhahn drückten, so kam es gerieselt.

Nach und nach wurde das jahrelang gezwungene Verhältnis zwischen Vater und Sohn natürlicher, weniger verkrampft. Aber immer noch gingen sie behutsam miteinander um, man hätte es schamhaft nennen können. Der Vater von nie ganz verstummenden Selbstvorwürfen gepeinigt, der Sohn in zauderndem Erkennen der menschlichen Seiten einer ihm bisher fremd gebliebenen Natur. Wenn sie nun zusammen ausritten oder durch die Wälder gingen, wo der Ältere so viel mehr wußte und verstand als der Junge, nie aber in belehrenden Ton verfiel, so spürte er doch, wie dem Sohn, obschon er kein landwirtschaftliches Examen hätte bestehen können, so manches durch seine fünf Sinne zugeflogen war, was durch Studium allein nicht zu gewinnen ist: ein instinktives Verstehen der Dinge, die von der Erde sind. Und Olaf selbst, auf dem Waldboden stillstehend, hatte manchmal gemeint, ein guter, starker Strom dringe aus der Erde in seine Fußsohlen und immer höher, bis sich alle Adern und Äderchen seines aufhorchenden Leibes füllten mit sanfter, überzeugender Lebenskraft.

Doch daneben erkannte der Vater immer deutlicher die Ähnlichkeit mit seiner armen Nelly, die ja noch stärker war, als er wußte; denn es tauchten Vorlieben und Abneigungen in Olaf auf, ganz unbezwinglich, gerade wie Gebärden und Intonationen, die jener eigen gewesen und den Vater plötzlich aufmerken ließen. Ja, er war seiner Mutter Kind, er hatte ihr Freiheitsbedürfnis geerbt und gleichzeitig ihre Scheu, die sich nichts erkämpfen, nichts aneignen wollte oder konnte.

Die Scheu auch vor dem Vater: würde er sie je überwinden? Denn das resignierte Lächeln, das Herr von Randow nicht immer rasch genug unterdrücken konnte, ließ ihn auch heute 256 noch erstarren wie damals als Zwölfjährigen. Wie es der schärfste Tadel militärischer Vorgesetzten niemals vermocht hatte. Es war ja nur ein kurzer Frostschauer, der bald wieder wich, so daß er sich selber fragen mußte: was ist es nur, das mir das Herz plötzlich dehnt und weitet, schmerzhaft und doch auch wonnevoll, aber nachher bleibt Öde und Trockenheit zurück? Denn das neue Gefühl kämpfte, ihm selber undeutlich, mit dem jahrelangen Groll, der ihn noch immer überkam, dieser Ranküne der Schwachen, die zu schwach waren, ihr kostbares Gut zu verteidigen und zu bewahren. Und dazu die bittre Flut der Erkenntnis, daß jene erste Enttäuschung an allem, was später kam, Schuld gewesen.

So verging etliche Zeit, und Olaf hatte sein dreiundzwanzigstes Lebensjahr beendet.

*

Tante Äbtissin benützte die Gelegenheit, nun sie sich in diesem Landesteil befand – wozu noch die Annehmlichkeit der ihr zur Verfügung gestellten Equipage kam – um einige Jugendfreundinnen zu besuchen, die auf benachbarten Gütern lebten. Nesta blieb fast immer zurück, anfangs mit einigem Unbehagen. Dadurch, daß Frau Kraszewski, einem nicht übelwollenden aber ausweichenden Schloßgespenst ähnlich, eine nur schattenhafte Rolle spielte, fehlte es in dem großen, kühlhallenden Hause an einem verbindenden Element, einem Mittelpunkt, der Behagen ausströmte. Wozu es durchaus keiner höheren Bildung bedarf, denn es kann eine alte, ausrangierte Kinderfrau sein oder sonst ein treues, mit dem Hause verwachsenes Wesen, das mit unversiegbarer Teilnahme die Zerstreuten um sich sammelt. Aber hier ging ein jeder seine eigenen Wege, und man vereinigte sich eigentlich nur bei den Mahlzeiten. »Liberty Hall« nannte es Herr von Randow, ein wenig schief lächelnd. Er hatte es nie anders gekannt.

Schon oft hatten auf Tante Äbtissins Lippen Worte gezögert, Ratschlägen ähnlich, wie sie ein ergrauter Angler einem 257 Neuling gibt, ihm die günstigste Tageszeit, den besten Köder nennend, womit der Fisch zu überlisten sei. Aber die Sorge, etwas »Unfeines« zu tun – welche Sorge oft wirksamer ist als die Gebote des Katechismus – schloß ihr die Lippen. So auch heute, als ihr die Großnichte beim Einsteigen in dasselbe ehrwürdige Gefährt half, das sie hergebracht hatte. Es war, als wollte die alte Dame sprechen, aber es wurde nur ein kleiner Seufzer daraus, sie preßte ihre dünnen Lippen auf Nestas Stirn und schlug selber den Wagenschlag zu; ein kleiner, leicht gereizter Knall, wie man ihn sich eben noch gestatten konnte. Die Pferde zogen an, der Kies knirschte, und das alte, tadellos gehaltene Gefährt verschwand in der Lindenallee, die in den Kronen vergoldet, zwischen den Stämmen aber schon düster war.

Nesta sah ihr nach. Sie lächelte. Mußte an ihre Schwester Sibylle denken. An ihre Witze und Vergleiche. Sie habe »ein loses Maul«, hatte Tante gesagt, und es wogte seitdem ein stiller Krieg zwischen den beiden. Aber Nesta fand das alles eher melancholisch. Melancholisch und grotesk. So durch und durch ehrenwert, von so unerschütterlicher Rechtlichkeit. Und was war nun das Ergebnis? Aber trotzdem, als Mitwirkende in einem Scheidungsprozeß wäre Tante undenkbar gewesen. Dafür hätte ihr Heldentum nicht ausgereicht. Nein besser so: La Chanoinesse du Saint Sépulcre, wie es zum höchsten Staunen ausländischer Prälaten auf ihren Visitenkarten stand; schwarzes Moirée und blaues Ordensband; redlich, devot bis zur Kretinisierung . . . Und diese Existenz: sparsam, sparsam, aber niemals schäbig. Zehnmal gewaschene Handschuhe, aber generöse Trinkgelder. Ja, das harmonierte, das paßte zusammen. Ach, aber ein bißchen jämmerlich war es doch.

*

Nesta ging durch eine kleine Gittertür, die seitwärts in den Park führte. Ein ziemlich verwilderter Park, und daher voll unerwarteter Reize. Die beiden düstern Baumgänge, rechts 258 und links einer langen Wiese, in deren Mitte das Bronzestandbild eines berühmten Windhunds grünlich in der Sonne glänzte; aufblickend, die rechte Vorderpfote erhoben, als warte er auf den Befehl eines Herrn, den irdische Jagdgründe nicht mehr kannten. Rechts davon eine Quelle, in riesigem Huflattich verborgen, geheimnisvoll rieselnd. Und weiter ab dann, auf der nämlichen Seite schimmerte der See durchs Gezweig, auf dem in der Frühe Hunderte von Seerosen ihre Silberschalen öffneten. Die Ufer ganz verschilft, und beim Nähertreten hörte man die Frösche ins Wasser plumpsen.

Am Ende der Allee war ein kleiner Hausgarten, wo sich der Geruch von Dill und Sellerie mit dem Duft von Reseda und Levkojen mischte, die in dem moorigen Boden Wunder vollbrachten. Weiter ab erst kamen die großen Gemüsefelder, auch die von der Äbtissin lobend erwähnte Rosenschule. Was in dieser geschult wurde, war unklar, denn sie enthielt eigentlich nur wohlbekannte und altmodische Sorten, die anderswo fast ausgestorben waren. Aber gerade durch dies Beharren hatte sie eine Art Berühmtheit bei Kennern erlangt.

Wenn Olaf sonst nicht beschäftigt war, schlenderte er gern da herum. Auch heute fand ihn Nesta vor, mit einer Flitspritze die Rosenstöcke bestäubend.

»Ja, hier stehe ich und streue den Tod aus«, sagte er, »Blattläuse, rote Ameisen, Ohrenzwicker, was haben sie eigentlich für einen Zweck? Das eine Ungeziefer ist da, um das andre aufzufressen, und wird selber von einem dritten verspeist. Damit es nicht überhandnehme. Zeitraubend und umständlich. Sind scheußlich anzusehen und haben keinerlei ästhetische Berechtigung. Aber sie seien Gottes Werk und deshalb bewunderungswürdig. Eine logisch unzulängliche Begründung. Bei meiner Schweizer Bonne mußte ich's lernen:

Aux petits des oiseaux il donne la pâture
Et sa bonté s'étend sur toute la nature . . .
259

Ach Cousinchen, le Bon Dieu! Da bleibt man eben stumm.«

Nesta und Olaf hatten festgestellt, daß sie mütterlicherseits einen gemeinsamen Urahnen hatten; daher die Anrede.

»Ja, Olaf«, sagte Nesta, »so einen innern Drang und Zwang nach Gerechtigkeit hat wohl ein jeder, und die einzige Rettung ist doch wohl, auf eine Macht zu hoffen, die alles einmal in die Reihe bringen wird . . . sonst wär's ja auch zum Verzweifeln.«

»Aber einstweilen frißt das eine das andere auf, oft mit ganz raffinierten Torturen. Ein ewiger Krieg über und unter der Erde. Denn auch die Wurzeln gönnen einander nicht das Leben. Und die Menschenkriege erst: die haben noch die Heuchelei als Beigabe. Zum Schluß gibt es dann Tedeum, Fahnen und Marschmusik, und alles schwimmt in Wonne. Bis zum nächsten Mal. Bis sich bei der Gegenpartei wieder genug Gas angesammelt hat, Neid und Mißgunst und auch respektablere Rachegefühle, die sich gegen die Ungerechtigkeit aufbäumen. Ja, und was haben die Unglücklichen davon, die in Lazaretten unter Qualen sterben oder irgendwo in einem Graben verschmachtet sind? Kopfschüsse sind ja leider selten. Nein, Cousinchen, da komm' ich nicht mit. Die alten Knaben – ich glaube Perser – mit ihrem Ormuzd und Ahriman waren die einzigen Logischen: es muß einen Gegenspieler geben, sonst ist die Sache sinnlos.«

Nesta hatte sich über solche Dinge nie den Kopf zerbrochen. Ihre Mutter, eine überbürdete Frau, die einen krittligen Mann zu betreuen und einen großen Haushalt mit wenig Geld zu meistern hatte, sagte, wenn solche Fragen aufkamen: ›Tut erst mal das Nächstliegende, Kinder, das Weitere findet sich.‹ Und Nesta, die mehr Augenmensch als Denkmensch war, fand das Nächstliegende auch meistens interessanter als alles Spintisieren. Labyrinthe sind langweilig, fand sie.

»Unsere kleine Nesta ist eigentlich recht terre à terre«, meinte ihr Vater, »aber ein gutes Tierchen ist sie.« 260

»Und deshalb für die Ehe prädestiniert«, hatte Tante Äbtissin gesagt.

Das Nächstliegende schien ihr nun in diesem Fall, den guten Olaf, dem oft so ein kurioses Lächeln den Mund krumm zog, zum Auftauen zu bringen. Denn er kam ihr vor wie ein junger, scheuer Jagdhund, der um Liebe bettelt, sofort aber zurückschrickt, wenn sich eine freundliche Hand nach ihm ausstreckt, und ganz allmählich nur und mit Unterbrechungen brachte sie ihn dazu, von seiner Kindheit zu reden, seinen Schuljahren, und das hieß auch von Vater und Mutter.

Von dieser war ihm am lebhaftesten die Erinnerung an eine große, plötzliche Lücke geblieben, ein Gefühl der Öde, des Suchens, als sie auf einmal verschwunden war. Zwar wußte er ganz deutlich, daß sie graue Augen hatte, mit goldenen Pünktchen drin, und eine liebe, verschleierte Stimme und daß sie ein bißchen schief lächelte – als spräche sie nicht alles aus – aber ein Ganzes brachte er nicht zusammen, es blieben Splitter. Nur wenn in ihrem Wohnzimmer ein bestimmter Schrank geöffnet wurde, war da ein ganz besonderer Duft, der sie wie eine dünne Wolke an ihm vorübergleiten ließ. Den Vater liebte er wohl in einer scheuen, heimlichen Weise, aber Nesta merkte, daß da ein Hindernis war, über das er nicht wegkam.

»Er ist so schrecklich erfolgreich, weißt du, alles, was er anfaßt, gelingt. Nur ich bin ihm nicht gelungen. Wenn ich aus Stahl wäre oder aus Stein, da wüßte er etwas mit mir anzufangen – aber nun bin ich aus Porzellan! Was soll er da mit mir? Und dann, siehst du, er ist immer für Schwarz oder Weiß, und ich gehöre wohl zu den Grauen, denn ich kann nie finden, daß einer ganz recht hat oder ganz unrecht . . . und das geht ihm auf die Nerven. Ich seh' schon immer, wie er die Brauen hochzieht, wenn ich einen Satz mit ›Aber‹ beginne.«

»Aber du bist doch oft fort gewesen, Olaf, bist du da 261 niemand begegnet, dem du dich anschließen konntest und alles durchsprechen, so ganz offen?«

»Gott, Cousinchen, solche Leute sind spärlich ausgesät. Die Menschen sind sich selber am wichtigsten. Auch die Jungen. Ja, die erst recht. Da sind sie denn so lauwarm. Und viele recht ordinär. Und murkelig. Murkelig in ihrer Denkart, mein' ich. Glücklich bin ich nur eine kurze Zeit gewesen. Das war hier bei uns, aber eben, es hat nicht lang gewährt. Wir hatten damals einen Stalljungen, Fritz Müller, kein romantischer Name, nicht wahr? Nun, der hat mir das Reiten beigebracht und die Angst ausgetrieben, o keine Gewaltkur, es ging ganz ruhig und selbstverständlich zu, und dann auf einmal – beim Schwimmen war's ebenso – hatte ich es weg. Von da an hab' ich vor dem breitesten Graben keine Angst mehr gehabt und vor keinem Gaul, und darum schnitt ich dann im Regiment so gut ab. Die hatten gemeint, weil ich so mickerig war, ich müßte ein Angsthase sein, und hatten mir den allerbockigsten Gaul der ganzen Schwadron gegeben, aber es ist was an mir, muß mir wohl von Fritz angeflogen sein – ich versteh' es selber nicht, aber die Pferde spüren es, und ich kann mit ihnen machen, was ich will. Und da ging denn alles wie geölt.«

»Da war doch dein Vater gewiß stolz auf dich?«

»Vielleicht, aber er dachte wohl, das dürfte man sich nicht merken lassen. Das gehört zur berühmten Autorität. Und er hatte schon früher etwas getan – wegen Fritz – ach nein, reden wir nicht davon.«

»Sprich nur weiter, Olaf, vielleicht tut dir's gut, ich sag es ja niemanden, und auch nachher, wenn dir's lieber ist, reden wir nicht mehr davon.«

»Nun also, Papa hat gemeint, Fritz sei kein Umgang für mich, erst war's ihm recht, weil ich reiten und schwimmen lernte bei ihm, aber dann haben die Tanten wohl gestänkert, gräßliche alte Eulen, sonst hört er ja nicht auf sie, aber 262 item – als ich das zweitemal zu den großen Ferien heimkam, war Fritz nicht mehr da. Das war zur Zeit, als mich Papa in Pension gegeben hatte, übrigens gar nicht weit weg von euch – zu einem Lehrer.«

»Hatte man dir's denn nicht geschrieben?«

»Nein, es sollte wohl eine freudige Überraschung sein. Zum Geburtstag. Ich wurde damals grade fünfzehn.«

Da waren wieder die Fältchen an seinen Mundwinkeln und das Zucken, spöttisch und traurig.

»Ja und Fritz schrieb so ungern, er war kein Held mit der Feder, und er dachte wohl, ich erfahr' es immer noch früh genug. Später hat er mir einmal geschrieben, er war an einem großen Rennstall angekommen und ritt die Pferde zu. Das gefiel ihm gut. Und dann, ganz bald, brach er sich das Genick. Auf Golden Dream, einer Fuchsstute . . . herrliches Tier. Man mußte sie gleich erschießen, so sind sie beide zusammen gestorben, das ist mir sogar ein Trost. Wenn er doch in aller Ewigkeit mit ihr über große Ebenen reiten dürfte, weißt du, so wie die Indianer sich den Himmel denken. Ach was erzähl' ich dir da für Zeug. Aber du frugst mich nach Papa, und wie da alles zwischen ihm und mir . . . Und ich sage dir, ich seh' ja, was gut ist an ihm, und ich bewundre ihn auch, mehr als er weiß – aber das . . . das . . . hätte er mir nicht antun dürfen.«

Er nahm die Flitspritze wieder auf. »Rosenkäfer verschon' ich, das kann der Gärtner tun, sie sind so hübsch.«

»Hattest du nachher keinen Freund mehr, an der Schule oder beim Lehrer?«

»Nein, weißt du, so eine große Freundschaft frißt alles andre auf. Und bei dem Lehrer? Red mir nicht davon. Schon der Geruch im Vorplatz, wo die Mäntel hingen. Nach Seifenwasser. Oder dann nach Kohl. Ich war der einzige Pensionär, es war noch ein Sohn da, der mich verachtete, weil er meinte, ich bildete mir was ein. Lieber Himmel, worauf denn? Und 263 bei Tisch saß die Tochter neben mir, sie hatte ewigen Stockschnupfen, gräßlich. Zum Schluß standen wir auf Kommando auf, machten eine Kette mit den Händen und schrien alle zusammen ›Mahlzeit‹. Das galt als Humor. Genug davon!«

»Nun ja, Olaf, aber daran stirbt man nicht, es gibt Schlimmeres, denk an so arme Jungen, Lehrlinge, Laufburschen, die werden geknufft und gepufft und leben in viel ärgerer Engigkeit. Jetzt ist's überstanden, und deinem Vater tut gewiß alles sehr leid. Schlag dir's aus dem Sinn, hier hast du's doch so wunderschön, reiten und schwimmen und all das liebe Viehzeug . . .«

»Ja«, sagte Olaf, »die Pferde. Und dann . . . Großmama. Sie ist ja wohl ein bißchen Lütütü – aber sie hat etwas Unerwartetes – und das ist eine Wohltat – denn sonst . . . Papa so als Zeus – streng aber gerecht ist die Formel – und der Hausstand . . . am Schnürchen trainiert von Fräulein Eisenhauer, nie ein Fehlschlag, geht wie eine Turmuhr. Ach, die ›gute Eisenhauer‹, dabei ist sie gar nicht gut –; so 'ne selbstgerechte Ameise. Sieh mal, so ganz Heruntergekommene, wo die Sohlen klaffen, auf der Landstraße – oder dann ganz Reiche, ich meine so wie Vanderbilt – da hat das Leben Überraschungen. Aber unser Milieu, alles rechtwinklig und ›wie es sich gehört‹ und die Gedankengänge nicht viel anders wie bei Posthalters oder Steuerkontrolleurs – nur ein paar Etagen höher. Es riecht nicht nach Spülwasser bei uns, und wir sagen nicht ›Mahlzeit‹, aber da ist anderes, das ist ebenso muffig.«

»So rede doch mal ganz offen mit deinem Vater. Stell dir vor, er sei ein Pferd, dann verlierst du ja die Angst. Vielleicht läßt er dich eine weite Reise machen, ganz weit weg, nach Bali, denk mal, da soll es noch ganz ursprünglich sein, schöne braune Menschen mit Girlanden, nur ein paar dicke Mynheers dazwischen, aber sie verderben nichts. Oder dann 264 nach Lappland, zu den Renntieren – entweder oder, weißt du.«

»Ich sehe, Cousinchen, du bist auch nicht für Mittelgebirge.«

»Und doch lebe ich dort und hab es auch lieb. Weil es meine Heimat ist . . . das hessische Land.«

»Ach Heimat, Heimweh, Kuhreigen und Dudelsack . . . das ist etwas Stilles, über das man gar nicht reden sollte. Was ist aber das andere? Pauken und Trompeten und daß man meint, man sei etwas Besseres als sein Nachbar; Hornhaut der Herzen, Mangel an Witterung . . . Hier und überall. Aber hier am meisten . . .«

»Olaf, wenn du so redest und so böse Augen machst, weiß ich nicht, was ich hier soll. Nun reise ich bald weg, und da könnten wir doch noch ein bissel vergnügt zusammen sein . . .«

»Nun, lachen kann man ja immer . . .«

»Aber nicht so ein krummes Lachen. Sieh mal, es könnte doch so lustig sein. Dein Vater ist ja im Grunde gut zu haben – Ihr tut nur alle immer so scheu mit ihm. Als wär' er eine Brennessel. Wenn ich nur an die Pfirsichspaliere denke, und daß ich da pflücken darf. Wo gibt es noch so was?«

»Ja, da sind Sorten! Mit ganz unpassenden französischen Namen. Cuisse de Déesse . . .«

»Schon gut, Olaf. Und man darf dastehen und hineinbeißen, und wenn einem der himmlische Saft so über die Finger läuft, dann denk' ich mir: so war's im Paradies. Und Eva war eine Gans.«

»Wie materiell, Cousinchen!«

»Ja, dein Vater Zeus hat mir die Pfirsiche besonders ans Herz gelegt und einen sauf-conduit gegeben für euren knurrigen Gärtner.«

»Nun ja, Papa hat viele Facetten. Du gefällst ihm eben, und dann ist ihm alles recht. Macht dir ja förmlich den Hof. 265 Vu et approuvé! Wie ehemals die Minister unter die Eingaben schrieben.«

Nesta stieg das Blut zu Kopf.

»Gewiß, lieber Olaf. Tante Äbtissin hat es an Andeutungen nicht fehlen lassen, daß ich hier zur Besichtigung bin. Aber ist euch wohl der Gedanke gekommen, daß auch ich besichtige und mir manches nicht gefallen könnte? Dann führe ich eben zurück in mein Mittelgebirge, wo an den Chausseen Kirschbäume stehen und im Herbst die Leute Apfelwein trinken – aber gegorenen, von dem man sich einen gehörigen Rausch antrinken kann, und stehn am Abend mit ihren Krügen vor den Wirtshäusern und singen und machen Hallo. Denn respektvoll wie hierzuland sind sie nicht. Und das hat auch sein Gutes.«

»La joie de vivre«, sagte Olaf.

»Nun ja, als Kontrast, irgendwo muß ein jeder sein fröhliches Eckchen haben. Denn es ist auch viel Elend dort. Heimarbeit, weißt du. Hört sich ganz gemütlich an, aber für so siebenjährige Kinder ist es kein Spaß, wenn sie eben aus der Schule kommen und möchten ein bißchen spielen oder faulenzen, noch stundenlang Ostereier anzumalen oder Christbaumschmuck zu kleben, daß sie schließlich einschlafen, den Kopf auf dem Tisch und die Haare voll Goldflittern . . .«

»Gott, Nesta, du redest so vorwurfsvoll. Meine Schuld ist es nicht, ich will doch gar keine Ostereier.«

»Ja, wer dran schuld ist, weiß ich auch nicht, dazu bin ich viel zu dumm. Aber da ist doch was, das nicht klappt. Und auf der Universität solltest du's gelernt haben. Jedenfalls mein' ich, wer es gut hat wie du, soll sich einen Ruck geben und irgendwie dankbar sein.«

»Cousinchen«, sagte Olaf, »ich bin gern dankbar; dankbar sein ist sehr nett, es wird einem warm in der Herzgrube, und man kriegt einen Glucks in der Kehle, den man mannhaft 266 unterdrückt. Ja, und ich höre dir ausnehmend gern zu, wenn du so kollerst. Weißt du, wir könnten doch am Ende Vater Zeus den Wunsch erfüllen. Wenn ich auch ahne, daß ich mich zum Ehemann – gräßliches Wort – durchaus nicht eigne. Du müßtest natürlich die Zügel übernehmen, scheinst mir eine ganz resolute kleine Person, ich glaube, wir führen gut dabei. Und du würdest so schön nach Riede passen mit deinen grünen Augen, mitten im Wald, wir wären allein und frei, ohne Zeus, ohne Fräulein Eisenhauer mit dem hannöverschen S, das mir immer wie ein Stich ins Trommelfell geht. Dann würde ich dir das Reiten beibringen, nicht nur so dilettantisch, dein englischer Trab läßt zu wünschen übrig, und abends säße man dann schön müde vor dem alten Jagdhaus, mit Holzsäulen und einem Vordach, und gegenüber tritt dann das Wild heraus, wir würden uns nicht rühren, und es riecht so schön nach Gras und Erde und Tau.«

Das war ja nun ein sonderbarer Antrag, von Liebe eigentlich kein Wort, aber Nesta vermißte nichts; Landschaft und Tiere, Düfte und Geräusche hatten ihr bisher viel mehr gesagt, als Menschen es vermochten, wenn sie auch ein mitleidiges Herz hatte für alle. Aber das eigentliche, das Innerste ihrer Gefühle war ihr noch unklar, es tastete und langte nur nach etwas, das sie anrief, warum, woher? Das sie manchmal ganz nahe wähnte und dann wieder weit weg.

Und ohne daß sie's begriff, fand sie sich gerade darin mit Olaf einig, die Fremdheit zwischen ihnen war gewichen, ein Erdhauch war aufgestiegen, der sie miteinander vermischen würde. Aber noch waren sie ein wenig fremd, ein wenig abwehrend, wie das so ist bei jungen scheuen Menschen.

So sagte sie zu Olafs Rede nicht ja und nicht nein, und Olaf schien daran nichts Verwunderliches zu finden, er lächelte sie versonnen an und trat ein wenig zurück. Dann schnitt er ihr ein paar Rosen ab und blickte sie freundlich an, und die kleinen Fältchen, die ihr immer ein bißchen weh taten, 267 zogen sein Lächeln krumm: und dann machte er sich wieder mit seiner Flitspritze zu schaffen, während sie weiterging.

*

Die Art, wie Nesta an demselben Abend dieses Gespräch – wenn auch nicht wortgetreu – an Tante Äbtissin wiedergab, spiegelte diese Zurückhaltung, diese Undeutlichkeit der Gefühle wider. So daß die alte Dame, trotz ihrer Ignorierung alles dessen, was sie innerlich »das Fleischliche« nannte, die Brauen hochzog:

»Ja, aber Kind, wie steht es nun eigentlich mit dir? Bist du überhaupt in ihn verliebt?«

In Nesta bildete sich sofort eine Abwehr.

»Er hat sehr nette Momente«, sagte sie, »und ich glaube, er hat jemand nötig. Der ihm sekundiert. Es war furchtbar unrecht, ja, und es geschah auf heimtückische Art, daß sein Vater den netten Reitknecht wegschickte, den Olaf so schrecklich gern hatte. Noch dazu in seiner Abwesenheit. Es hat ihn damals ganz umgeworfen. Ich glaube, er wird es niemals ganz verwinden.«

»Ich bitte dich, Kind, red keinen Unsinn, und fang mir nicht von dem Stallmenschen an. Eine ganz unpassende Freundschaft, man könnte sagen, eine Verirrung. Und du tust dem vortrefflichen Randow schweres Unrecht: er hat sich nichts vorzuwerfen, hat dem Burschen sogar die Stellung verschafft als Trainer in dem Gestüt. Daß er dabei verunglückte, war eine Schickung. Randow kann nichts dafür. Der Stallmensch – Müller hieß er ja wohl – hatte den verderblichsten Einfluß auf Olaf. Hatten sie doch geplant, miteinander auszureißen, Mexiko, Cowboys, was weiß ich, und Olaf – dies in tiefstem Vertrauen – sollte dem Inspektor das nötige Reisegeld aus der Gutskasse stehlen. Wirklich unerhört!«

»Aber Tantchen, das ist doch nicht so schlimm, so was denken sich alle Jungen aus . . . wenn man es ihnen wegnimmt, ist's, als fielen sie in ein schwarzes Loch.« 268

»Wenn du gestattest, ich bin anderer Ansicht und kann Herrn von Randow nur beistimmen. Und daß Olaf nachher ganz ziellos herumgeduselt ist, war seine eigne Schuld. Oder vielmehr, ein Erbteil der bedauernswerten Nelly, die auch keinen rechten inneren Halt hatte. Er hätte das schönste Leben haben können, sich Kameraden einladen, einen Rehbock zu schießen, oder nach Berlin zu fahren, Theater, Konzerte; wie ich höre, soll er ja recht musikalisch sein . . .«

»Ja, er pfeift entzückend – wie eine Singdrossel.«

»Nun«, sagte die Äbtissin und reckte ihr von Redlich schon mit nächtlichen Papilloten geschmücktes Haupt, »ich bin in der Sache neutral. Abreden will ich dir nicht, es wäre ja auch sinnlos, wozu hätte ich dich erst hergebracht? Aber zureden tu' ich auch nicht, denn eine Verantwortung übernehme ich auf keinen Fall. Ich meine, du fährst jetzt mit mir zurück und überlegst dir's in aller Ruhe; kennst ja nun das Terrain.«

Es lag etwas Strategisches in dieser Ausdrucksweise, das Nesta mißfiel. Denn es war schon fast ein Bündnis, das sie mit Olaf verband, nicht so sehr ein Bündnis zwischen Liebesleuten, als zwischen Kindern, die, von ihrer Umgebung gelangweilt, sich ein Reich ersonnen haben, in dem sie mit Schmugglergefühlen ein- und ausgehen und Alleinherrscher sind.

Sie faßte den Türgriff:

»Nein, Tante«, sagte sie, plötzlich entschlossen, »laß mich hier! Ich will mich erst mal einleben in all das Fremde. Wenn wir dann nicht zusammenpassen, kann man ja wieder auseinandergehen. In die Kreuzzeitung braucht es doch noch nicht zu kommen.«

Die Äbtissin blickte ihr nach. Staunend über solche Umsicht. Diese neunzehnjährige Nesta mit ihren grünen Nixenaugen war doch selbst wie eine kühlrieselnde Quelle, die allein ihren 269 Weg findet, der nichts und niemand etwas anhaben kann. Sie sah vor sich hin, in die Luft. Diese Jugend von heute, so unentwegt! Und einen Augenblick nur dachte sie an Mr. Stanhope. Und seufzte.

Auf ihr Klingeln erschien Minna Redlich, mehr denn je einer Kohlmeise ähnlich, denn sie trug zu ihrer Hemdbluse eine schwarze Krawatte.

»Redlich«, sagte die Äbtissin, »Sie können einpacken. Für den Mittagszug. Aber nur meine Sachen. Fräulein von Markwaldt bleibt etwas länger.«

 

II

»Wollen Sie einmal den Gutshof besichtigen, Nesta?« frug Herr von Randow. Sie hatten beim Kaffee auf der Terrasse gesessen, mit dem Blick auf die Wiese, wo der Bronzehund geduldig seine Pfote erhob und zum Himmel blickte. Es war ein warmer, goldner Tag. Nun drückte er seine Zigarette aus und stand auf. »Wir haben allerhand Nachwuchs, Fohlen, Ferkelchen, interessiert Sie das?«

Als der Vater aufstand, war auch Olaf aufgesprungen: »Wenn du erlaubst, Papa, ich muß noch nach den Paddocks.« Mit langen, lässigen Schritten war er schon weitergegangen.

»Also gehen wir«, sagte Herr von Randow. Seine Stimme klang etwas verdrossen.

Zuerst schritten sie schweigend nebeneinander her. Sie schlugen einen abkürzenden Weg links vom Park ein und mußten einen sumpfigen Graben überqueren. Er streckte ihr die Hand hin. Nesta hätte auch ohne Hilfe das Gewässer überspringen können, aber die Hand hatte etwas Vertrauenerweckendes, das sie anzog. »Vater Zeus«, dachte sie und lachte ein wenig in den Augenwinkeln; kurios, daß es Menschen gab, die ihn fürchteten. 270

Der Gutshof war zu einer Zeit geplant und ausgeführt, da man auf dem Lande mit Platz und Arbeitskräften nicht zu sparen brauchte. Alles war großzügig, ja weitläufig angelegt. Auch in den Ställen herrschte eine wohltuende Raumverschwendung, und die Tiere hatten Luft und Licht in Fülle. Nesta fand viel zu bewundern.

»Diese Herrschaften sehen so herablassend aus«, sagte sie, als sie bei den Rasseschweinen vorübergingen, »eigentlich sollte man ›Exzellenz‹ zu ihnen sagen.«

Nun waren sie bei den Pferden. Die meisten waren fort beim Pflügen, in den Ställen war es halbdunkel und fast leer. Sie sog mit Genuß den saubern, prickelnden Pferdeduft ein. Die paar Zurückgebliebenen wurden mit Mohrrüben gefüttert.

»Ich sehe, Sie fürchten sich nicht, in eine Box zu gehen«, sagte Herr von Randow.

»O nein, Pferde sind mir das Allerliebste.«

»Ja, und das merken sie.«

Es gab vieles zu sehn, den großen Ententeich, die Tauben, die grün und lila schillernd – wie Pflastersteine, wenn's geregnet hat – um sie her trippelten. Mägde und Knechte kamen und gingen, sie wurden wie hier üblich mit Du angeredet, aber wenn's ihr auch befremdlich war, schien es doch ganz in Ordnung, daß Vater Zeus Du zu einem sagte.

»Sagen Sie mir doch auch Du.« Sie gingen gerade an der Südmauer entlang, wo die Pfirsiche reiften, die den Reiz der verbotenen Frucht mit der Erlaubnis davon zu essen vereinten.

Herr von Randow blieb stehen. »Gern, liebes Kind, gern, wenn du es mir erlaubst«, und er hob ihre Hand und küßte sie. Nesta wurde rot. Es war ein eigenes Glücksgefühl, mit ganz wenig Angst gemischt. Als glitte sie auf schrägem Brett in unbekannte Tiefe. Er legte ihre Hand in seinen Arm. »So, nun wollen wir noch die Melonen besehn, und dann gehen wir nach den Paddocks.« 271

Es war ein bißchen menschenfressermäßig, wie er sich niederbeugte und die großen, grüngoldenen Kugeln befühlte. »Noch zwei, drei Tage«, sagte er, »dann ist's so weit.«

Die Wege an den Gemüsebeeten entlang waren mit Blumenrabatten eingefaßt. Einer mit den herrlichsten Dahlien, ein andrer mit Delphinum, und nun bogen sie ein in den Lavendelgang, der sich in der Mitte zum Halbrund weitete, und darin stand eine weiße Bank – so verlassen.

Herr von Randow sah vor sich hin.

»Hier hat Olafs Mutter oft gesessen. Als sie noch so weit gehen konnte. Sie liebte den Lavendel, die Bienen. Hierher nahm sie ihre Lieblingsbücher mit. Dickens, den las sie immer wieder. Sie konnte darüber weinen, als seien es die Schicksale ihrer nächsten Freunde. Und dann auch Reisebücher. Uralte Baedeker, aus einer Zeit, als es noch wenig Eisenbahnen gab, und dann Beschreibungen fremder Länder, Tempel, Kathedralen, illustriert im allerfeinsten Stahlstich. Die besah sie sich durch eine Lupe, denn sie war kurzsichtig. Und es tat einem weh, denn man wußte ja, daß sie niemals dorthin kommen würde. Ja nun . . . so wie sie es sich vorstellte, wär' es doch nicht gewesen.«

Es klang traurig, aber losgelöst, wie man von längstvergangenen Dingen redet, einer versunkenen Insel, einem Walde, der nicht mehr steht; Nesta konnte nichts sagen, ein hilfloses Mitleid lähmte sie, sie ahnte etwas Schamhaftes, das sich vor jeder Berührung zurückgezogen hatte und endlich eingefroren war.

Ihnen gegenüber, unter dem Gestein, das die überhängenden Lavendelbüsche stützte, bewegte sich's. Etwas Graues, Winziges kam zum Vorschein. Eine Maus. Und sie trug etwas im Maul. Etwas noch Winzigeres. Sie legte es auf den warmen Kies grad vor den Eingang ihrer kleinen Höhle. Nesta wandte ihr Gesicht Herrn von Randow zu. Der lächelte sie an, legte den Finger an den Mund, und so standen sie, 272 wagten kaum zu atmen. Aber die Maus mußte etwas erwittert haben: Gefahr, wie sie seit jeher von den Menschen ausgeht. Sie kam wieder, nahm das Kleine rasch und behutsam auf und trug es in ihr Schlupfloch zurück.

»Ja, das tun sie im Herbst, sie sonnen ihre Jungen. Ganz moderne Kinderpflege. Hätte sie uns nicht gespürt, so hätte sie noch die andern herausgebracht.«

Und nach ein paar Sekunden: »Ist doch was sehr Liebes um so ein Mütterchen.«

Sie gingen weiter, den Wiesen zu. Herr von Randow öffnete das Gatter, das ein großer Hagebuttenstrauch halb verdeckte. Er hing voll roter Früchte.

»Daraus läßt sich wunderbare Konfitüre machen«, sagte Nesta plötzlich.

Herr von Randow lachte. »Sieh mal an, die kleine Hausfrau«, sagte er. »Aber die Amseln sollen doch auch was haben.«

Die Wiesen waren ganz besät von Herbstzeitlosen. Wer hätte sie zählen können!

»Das ist das Ende«, sagte er. Es standen herrliche Eichen umher, einzeln und in Gruppen. Unbeengt, königlich. Er wies auf eine Bank, grau gebleicht von Regen und Sonne. »Das ist mir der liebste Fleck vom ganzen Besitz«, sagte er.

»Ach ja, hier möchte man nie wieder fort.«

Aber schon wie sie's sagte, wurde sie rot. Es war ihr so herausgerutscht. Was würde er denken . . .

Er starrte auf ein Marienkäferchen, das sich ihm auf die Hand gesetzt hatte: »Ja, kleine Nesta, der Wunsch könnte Ihnen erfüllt werden, wenn Sie nur wollten.«

Sie zog sich zusammen wie solch kleine, glatte Raupe, wenn man sie nur berührt.

Er legte die Hand auf die mageren, braungebrannten Hände, die ihr im Schoß lagen, und mußte lächeln, als er sie so dünn und gewichtlos unter seinen starken Fingern fühlte. So ein 273 Tierchen zum Behüten und Liebhaben, dachte er . . . Und wieder fühlte sie einen Zwang, eine Anziehung.

In der Ferne wurde Olaf sichtbar, der durch die Wiesen ging mit seinem langen, wiegenden Reiterschritt.

»So, nun mußt du allein gehen, liebes Kind, ich denk mir, Olaf hat dir allerhand zu sagen.«

Er berührte ihre Schulter, seine grauen Augen blitzten sie an; er lächelte. Es war kein Widerstand möglich.

*

Heute fuhren sie nun nach Riede. In dem kleinen Kabriolett, das eigentlich längst ausrangiert war, für das aber Olaf eine Vorliebe bezeigte; denn er war als kleiner Junge mit seiner alten Nana darin gefahren, und schon damals waren Mottenlöcher in dem blauen Tuch gewesen.

Es war ein schöner, frischer Herbsttag, Olaf kutschierte, Nesta neben sich, und hinter ihnen, unter halbem Verdeck, saß Frau Kraszewski, fast begraben zwischen Körben und Schachteln aller Art, aus denen sie hervorlugte wie eine Haselmaus.

Die alte Frau starrte und witterte in die bläuliche Ferne; es war das erstemal seit langer Zeit, daß sie aus Groß-Randow herauskam, seinem Park, seinem allzu bekannten Walde. Vor ihr saß das junge Menschenpaar, und sie wußte ja, warum sie zusammen Riede besichtigen sollten und kicherte still in sich hinein; Liebesgeschichten, auch wenn sie noch ganz undeutlich waren, gingen ihr ins Blut wie ein Jugendtrank. Und sie hatte Olaf immer zärtlich geliebt, den kleinen, als Kind so kümmerlichen Jungen. Er gehörte zu ihr, ganz anders als die dicken Kinder ihrer Töchter, denen sie zu Weihnachten immer die kostbareren Geschenke zuerteilte, eben weil sie fühlte, daß sie ihr so gar nicht nahestanden. Ja, nun war er ein lieber, langer Schlaks geworden, und die kleine, braune Hexe neben ihm hatte sie auch schon ins Herz geschlossen. »Mit der käm' ich gut aus« – dachte sie. Wenn 274 doch was draus würde, verbrieft und versiegelt war's ja noch nicht. Aber die Pferde trabten so gleichmäßig, die Herbstsonne war so milde . . . sie versank wieder in den Labyrinthen der Erinnerung.

»Nun entführen wir die Großmama«, sagte Olaf zu seiner Cousine; seiner Braut, wie die Gutsleute sie schon heimlich nannten. »Ist es nicht, als ob man einen Waldvogel aus dem Käfig ließe?«

»Arme kleine Seele«, sagte Nesta. »Und muß nachher doch wieder zurück.«

»Weißt du, Nesta, wenn's nach mir ginge, so bliebe sie bei uns. Das heißt . . . wenn du . . . Sie ist nicht glücklich in Randow, es ist so groß und kühl, und die Tanten sind ziemlich ekelhaft, wenn sie auf Besuch kommen. Tun so wohlwollend, wenn sie mit ihr reden, als ob sie überhaupt nicht zurechnungsfähig wäre. So sauersüß, weißt du, wie Himbeersaft, der einen Stich hat . . .«

»Ja, Olaf, aber das hättest du doch verhindern können. Um mit Tante Äbtissin zu reden, das wär' doch deine Mission gewesen. Warum bist du nicht längst übergesiedelt mit deiner Großmutter, nach Riede? Du mußt fort von Groß-Randow, wenn dir die Flügel dort so gebunden sind.«

»Eben deshalb geht es nicht«, sagte Olaf, ohne sie anzusehen, denn er blickte gradaus, zwischen die Ohren der kleinen Jucker – »ich kann nun einmal gegen Papa nicht an. Im Regiment war's lang nicht so. Wenn mich da so ein alter Wüterich anheulte, dacht' ich bloß: Gott helfe Ihnen, alter Herr, wo haben Sie Ihre Manieren her? Oder wenn sie mir mit der gewissen Monokelstimme kamen – man denkt immer, so was gäb' es nur im Simplizissimus – sagte ich mir, was dem alten Fontane zum Trost gereichte: um neun Uhr ist alles aus. Und das war's denn auch. Aber Papa – immer ganz ruhig, und wenn du willst, auch gütig, aber man weiß im voraus, es wird doch alles gehn, wie er sich's einmal in 275 den Kopf gesetzt hat. Nur Oma hat es einmal gewagt. In der Bibel heißt das ›wider den Stachel löken‹. Ganz ausgefallenes Wort – muß mal einen Sprachforscher danach fragen. Also, sie hat gelökt. War ja wohl ein bißchen daneben. Aber immerhin – so vier-fünf Jahre ist sie nach eigener Fasson selig gewesen, ist schon immer was. Sag mal, Nesta, hast du auch mal ›gelökt‹ in deinem Leben? Du hast so was Unentwegtes, man könnte es dir zutrauen.«

»Nein, weißt du, dazu langte es nicht bei uns. Unser armes Gütchen, und drei unversorgte Töchter, so nennt man das ja wohl, und Mama immer so abgehetzt, da hätte man schon gegen das Schicksal löken müssen, und das ist eine aussichtslose Sache.«

»Nun, ich will den Göttern Dank sagen, wenn du nicht lökst. Denn was Papa und Ihre Ehrwürden über uns beschlossen haben, wissen wir ja.«

»Aber du meinst, es wäre viel amüsanter, wenn sie's nicht beschlossen hätten, und wir rissen zusammen aus. Nein, das klingt mir zu sehr nach Waldhorn und Postkutsche, Eichendorff oder so was . . .«

»Du bist wohl ein ganz belesenes Huhn?«

»Lückenhaft. In der Schule habe ich nie geglänzt. Aber zu Hause ist ein Wandschrank, der nach Pilz riecht, es benimmt einem ganz den Atem. Jedes Jahr soll der Fußboden aufgerissen werden – es ist der Schwamm, sagt Papa –, aber es ist niemals Geld dafür übrig.«

»Ja, und dieser Wandschrank . . .«

»Ach, das ist ein Durcheinander, sag' ich dir, Schmöker und Klassisches und auch ganz Frommes, und dann wieder über Krankheiten und Homöopathie – wir lasen die Nächte durch im Bett, das heißt, wenn wir genug Kerzenenden gehamstert hatten, denn Elektrisches gibt es nicht bei uns. Du würdest Augen machen, wie altmodisch es zugeht . . . Geradezu druidenhaft.« 276

»Sehen dir deine Schwestern ähnlich?«

»Ja, die zweite, Sibylle. Aber sie sind viel gescheiter und brauchbarer als ich. Marie-Agnes sieht nach der Küche und dem Garten, und Bille kümmert sich um die Kranken im Dorf und liest Papa vor, stundenlang, Politisches und so Zeug mit Tabellen – furchtbar langweilig – sie muß auch hinterher immer Kaffee trinken – sie sagt, Papa hat Ansichten wie aus der Steinzeit.« »Nun und du?«

»O – ich mache überall ein bißchen mit. Fünftes Rad, weißt du. Am liebsten würde ich den Stall besorgen, wenn auch . . . da ist nicht viel. Keine feinen Reitpferde wie hier, nur Ackergäule, und die alte Flora für den Einspänner, heimlich reiten wir auch darauf, aber Papa hat es streng verboten, weil sie stolpert . . .«

»Die alte Flora . . . möchte sie kennenlernen. Solche apokalyptischen Pferde haben einen besonderen Charme.«

»Ach Olaf, ja, wenn sie hier das Gnadenbrot bekäme, wolltest du das wirklich? Ach die weichen Paddocks für ihre alten Knochen . . .« Nestas Augen strahlten.

»Nesta«, sagte Olaf nach einer kleinen Pause, er sah wieder gradaus vor sich hin – »weißt du wohl, wie alles in Wirklichkeit ist? Ich hab' doch nun den Knacks weg, ist's von Mama her oder von Großmama, ich war wohl immer angebröckelt, na und das Jahr im Korps, da ging ich ganz entzwei. Papa war ja der Ansicht, ich sollte mich austoben, und ich müßte männlicher werden. Zu seiner Zeit war das so Usus: Junge Leute mußten sich austoben. Die ehrwürdigsten alten Damen gebrauchten diese Redensart. Ich hatte gar kein Verlangen danach, nur den einzigen Wunsch, daß man mich in Ruhe ließ. Aber na . . . la main de fer dans le gant de velours . . . nun, so tobte ich denn, trank auf Kommando eine Masse scheußliches Bier, was mir den Magen ruinierte, grölte unanständige Lieder – auch patriotische, die nicht minder 277 gräßlich waren . . . und tat auch sonst noch anderes. Bis mir eines Tages ganz schal zumute wurde, all das öde Gerede und diese gräßliche Forschheit, und bei allem mußte man mitmachen, und nie war man allein. Nun, da konnte ich auf einmal nicht mehr und gab's auf, es war mir immerzu übel und als möchte ich nur weit weg, in die Wüste womöglich. Und dann kam Papa und holte mich, er sprach mit dem ersten Chargierten, der ja viel wichtiger ist als der Rektor und alle Professoren zusammen. Nun, er eiste mich los – es ging so weit ganz glatt, Papa hat ja ein fabelhaftes Renommé in dem Korps. So kam ich halbwegs ohne Schrammen davon. Aber übel ausgelegt haben sie mir's doch. Als hätt' ich gekniffen. Gesagt hat mir keiner was, hatten wohl Order, zu schweigen, aber wenn man eine Haut hat wie ein abgepelltes Ei, spürt man's doch. Da ist denn etwas in mir aus dem Leim gegangen, und ich habe ein ganzes Jahr am Bodensee gesessen, übrigens reizende Gegend, aber viel Genuß hab ich nicht davon gehabt. Es nannte sich Luftkurort, aber es war etwas anderes. Der Arzt, übrigens ein sehr gütiger Mann, er hat mich ausgesöhnt mit mir selber, halbwegs heißt das. So manchmal überkommt es mich noch. Weißt du, was das ist, Angina pectoris? Nun, ins Geistige übersetzt, diese Engigkeit, wie Ersticken . . . nur so kann ich's definieren.«

»Ich weiß«, sagte Nesta leise.

»So, du weißt. Und nun sollst du wie eine neue Rosensorte auf den mürben Stamm okuliert werden? Ja, mein Mädelchen, dazu gehört große Liebe. Oder sagen wir, sehr viel Geduld. Und wer kann wissen, ob sein Vorrat an dieser Eigenschaft ausreichen wird? Eins aber sage ich dir, so feierlich es mir möglich ist: sollte jemals deine Geduld nicht ausreichen, ich wäre der letzte, der dir's verdächte. So, nun bin ich fertig, aber ich wollte nicht, daß du die Katze im Sack kaufst.«

»Vielleicht bin ich auch so eine unbekannte Katze? Die dich einmal recht enttäuschen würde. Ach, Olaf, laß uns doch eine 278 Weile gute Freunde sein, nichts weiter. Wir haben ja Zeit . . . Aber gut bin ich dir, Olaf.«

Sie hatte eine Hand auf seine Hand gelegt, es war ihre erste, schüchterne Liebkosung. Etwas tat ihr weh in der Brust. Ein Staunen. War das die Liebe, von der so viel geschrieben, gedichtet wird? Alle die Lieder . . .

»Kleine Katze«, sagte Olaf, »jetzt eben kann ich die Zügel nicht loslassen, sonst würde ich dich ein bißchen hernehmen und hinter deinen hübschen Öhrchen krauen.«

Er sah sie von der Seite an, einen Augenblick nur, seine Augen lachten, und doch war Erbarmen in seinem Blick. Frau Kraszewski reckte sich hinter ihrem Wall von Körben und Schachteln empor:

»Das Dach, das Dach«, rief sie, »nun sieht man's schon ragen, wie eine Mütze sitzt es auf dem Haus.«

Ja, nun sah man's, und der Weg wurde breiter und nahm eine Wendung. Die Vorfahrt lag auf der Rückseite, das Häuschen des Waldwärters nur wenig davon entfernt.

Nachdem sie eingetreten und den mit roten Ziegeln belegten Gang hinuntergeschritten waren, kamen sie in den länglichen Wohnraum, und gerade davor waren die Holzsäulen, die das Vordach trugen. Dann, ohne Übergang, bis an die Säulen reichend, streckte sich die Lichtung, die große Wiese in der Herbstsonne, und es roch nach dem letzten Grasschnitt zu der geöffneten Glastüre herein.

»O du mein Gott«, sagte die alte Frau Kraszewski. Sie hatte das Tuch vom Kopf gerissen, stand da in ihrem wirren grauen Haar, mit zitternden Nüstern, und trank den reinen Hauch, »o wie gut, wie gut!«

»Sieh mal die Oma an«, sagte Olaf. »Gott behüte sie. Der ist jetzt zumut wie einem Wild, das jahrelang eingehegt war und die Freiheit wittert.«

Die Tochter des Waldwärters kam gelaufen, sie brachte Holz für das niedergebrannte Feuer im Kamin, schönes, silbriges 279 Birkenholz und duftende Tannenzweige. Es stand alles ganz neu um sie her, und doch meinte Nesta, es sei ein Wiederfinden: Jorinde und Joringel, die sieben Raben, Brüderchen und Schwesterchen, die alten Geschichten, und meist war's die treue Liebe einer Schwester, die alles wieder gut macht, den Bann löst: Wo ist mein Kind, wo ist mein Reh? . . .

Alles hatte seine heimliche Sprache: das knisternde Feuer, die Wiese, der kaum bewegte Wald. Und Olaf gehörte dazu, ganz und gar, wie er dort am Fenster stand, groß und fein und biegsam, und Sonne und Feuchtigkeit in sich einsickern ließ, heilend, ohne zu drängen.

 

III

Die alte Frau Kraszewski fühlte sich in Riede gleich daheim, viel mehr, als sie's je in Groß-Randow gewesen. Nun umgab sie wieder die Stille, der Duft, das Rauschen jener Zeit, die so bald dahin war.

»Schlag noch einmal die Bogen
Um mich, du grünes Zelt« –

Das sangen die Stadtleute, wenn sie am Sonntagabend an der kleinen Försterei vorbeizogen, auf dem Heimweg, all die grauen, müden Menschen, und sie hatte dem Liede nachgelauscht, wie's immer leiser wurde, und hatte gedacht, ja, nun müßt ihr wieder zurück in eure Straßen, und morgen fängt der Lärm und der Staub wieder an, aber ich darf hier bleiben, wo mich jeder Atemzug beglückt. Dann, nach ein paar Jahren kam Kraszewskis rascher, bittrer Tod, und gleich nachdem sie von der Beerdigung heimkehrten, hatte das Nagen begonnen, das Schreckliche, Tag und Nacht, so mußte es wohl sein, wenn einer Krebs hatte . . . und es dauerte über ein Jahr. 280

Aber nun war alles stiller geworden in ihr, wie verwischt, und sie empfand eine müde Nachsicht mit allen, Menschen und Dingen – ja auch mit sich selbst, weil doch wohl im Leben das eine das andere bedingt, darum auch der Schuldigste niemals ganz schuldig ist. Aber vielleicht war's auch, weil sie in der Krankheit vieles vergessen hatte.

Gott ja, der arme, jähzornige Mensch, er war wohl oft gehänselt worden, im Wirtshaus und auf den großen Domänenjagden, als es sich herumgesprochen hatte, daß seine so viel ältere Frau ehemals seine Gnädige gewesen. Wenn er nun auch ein Leben führte, aller Sorgen ledig, das einem Menschen seiner Herkunft wie ein Märchen erscheinen mußte, gerade darum war es ihm verleidet. Weil es ihn absonderte von seinesgleichen. Die nun ihren Hohn nicht verbargen, so eine üble Mischung von Mißgunst und Geringschätzung. Da kamen denn die finsteren Stunden über ihn. Immer öfter. Und die große Einsamkeit war kein Heilmittel dagegen.

Schlecht war er nie mit ihr gewesen. Und hielt ihr ja wohl auch die Treue. Nur verschlossen war er und manchmal wie mit Absicht rüde, was sie stumm über sich ergehen ließ. Ja, nun war sie rasch verwittert, und ihre Hände wurden rauh, und war doch vor gar nicht langer Zeit die gnädige Frau gewesen, der er das Gewehr nachtrug und im Walde ein Feuerchen anmachte, um den Kaffee zu wärmen. Dann setzte er sich, abgesondert, auf einen Baumstumpf, und seine alte Leda legte ihm den seidigen Kopf aufs Knie, bis ihn die Frau Baronin rief, daß er sich auch einen Becher voll Kaffee nehme. Dann sagte sie: »Rauchen Sie doch, Kraszewski, ich hab den Pfeifengeruch gern«, und steckte sich selber eine große Zigarre an, was ihm von einer Frau ungeheuerlich vorkam. Ja, sie war ihm von Anfang an so kameradschaftlich entgegengekommen, was seine angestammten Begriffe über den Haufen warf und ihn irgendwie beleidigte. Von selber 281 hätte er ja nie die Augen zu der Witwe des seligen Herrn erhoben, es ging weiß Gott von ihr aus, und sogar schon vor dem Tode des Alten. Nein, er hatte sich nichts vergeben, nur treiben lassen hatte er sich, sie war eben die Stärkere gewesen. Und darum hatte er nun das Recht, es sie entgelten zu lassen, wenn das Finstre über ihn kam. Was sie mit einer Art fröhlicher Unterwürfigkeit hinnahm.

Irgendwelche Illusionen hatte sie sich ja nie gemacht. Dazu wußte sie zu gut Bescheid im Leben der Leute. Männer dieser Schicht lernten es eben nicht anders. Von klein auf. Sollten ja ihre Frauen sogar prügeln, wenn sie Ärger gehabt und in den Zorn hinein getrunken hatten. Mit einer Art prickelnder Neugier wartete sie darauf, ungewiß auch über ihr eigenes Verhalten. Würde sie's abschütteln wie einen Regenschauer oder sich zur Wehr setzen, auf ihn losgehen, oder eiskalt werden, verachtungsvoll? Denn trotz ihrer zierlichen Figur war sie stark und ganz furchtlos.

Aber dazu war es nie gekommen; nur – die schwarzen Stunden des Jägers nahmen überhand, die hellen Intervalle wurden immer kürzer. Oft blieb er Tage und Nächte im Wald, in einer kleinen Bretterhütte schlafend, die sich die Holzfäller gezimmert hatten, statt heimzukehren, wo ihn ein hübsch gedeckter Abendtisch erwartete, auf dem ein Krug mit Feldblumen oder herbstlichen Zweigen nie fehlte . . .

Nahe dieser Hütte fanden ihn beerensuchende Frauen, das entladene Gewehr neben sich. Den Hund hatte er an diesem Tag zu Hause angebunden, unter einem Vorwand. Frau Kraszewski kam gerannt, mänadenhaft, ihr graues Haar in Strähnen. Er röchelte noch, er kannte sie nicht mehr.

Herr von Randow wurde benachrichtigt. Der Landrat des Kreises war ein Korpsbruder. Ein sehr bedauerlicher Unfall, hieß es, immer wieder dieser Unfug mit entsicherten Schußwaffen. Man stolpert über eine Wurzel, und das Unglück ist da. 282

Der Dorfarzt war anderer Meinung, aber er war ein alter, weiser Mann und schwieg. Auch haßte er alles Weibergetratsch. Das Wirtshausgetratsch der Männer schien er für ungefährlicher zu halten. So fand die Beerdigung statt, still und korrekt, der Landrat war anwesend, und ein katholischer Geistlicher sprach die schönen, lateinischen Worte, die nur die wenigsten verstanden. Denn Kraszewski war katholisch gewesen. Ein wenig Gemunkel ließ sich nicht ganz unterdrücken, aber besser, man läßt die Leute reden, dann hört so was von selber auf.

Am Tag drauf mußte die Witwe in eine Heilanstalt gebracht werden, was Herr von Randow freundlich und ohne Gewalt bewirkte. Dort blieb sie Jahr und Tag, worauf er sie wieder zu sich nahm. Wo sonst hätte sie auch bleiben sollen!

Das Bild ihres Mannes, die Erinnerung an ihr einsames Leben, dort in der östlichen Provinz, wo man, wenn der Wind von Norden kam, Salz und Seetang zu schmecken meinte, und der Dünensand bis in die windgekrümmten Wälder reicht – es war alles schattenhaft geworden in ihrem Erinnern, ineinander geschmolzen, verwischt durch all die Monate der Krankheit. Aber manchmal, wenn sie den ersten Kuckucksruf vernahm oder im Herbst das Schwelen eines Holzfeuers ihre schmalen Nüstern traf, kam es vor, daß sie plötzlich in die Ferne horchte, die Augen weit aufgerissen, und, einen grauen Sack über die Schulter geworfen, in dem sie Pilze und Tannenzapfen sammelte, auf ihren Wegen stille stand. Die alte Gnädige war eben wunderlich geworden, dachten die Leute, wenn sie ihr begegneten, je nun, in ihrem Alter kommt das vor, und sie drehten sich kaum mehr nach ihr um.

Den Namen Kraszewskis nannte sie nie, kein Bild von ihm, keins der Försterei, wo sie mit ihm gelebt, stand in ihrem Zimmer; nicht einmal ein dürrer Zweig, den sie zum Andenken mitgenommen hätte. 283

Erstaunlich taktvoll von unserer alten Dame, sagte der eine Schwiegersohn zum andern, sie hat doch wohl eingesehen, daß ihre Entgleisung uns alle in die fatalste Lage gebracht hatte, wirklich affrös, und man kann nicht dankbar genug sein, daß diese – man kann wohl sagen gottgesandte Lösung stattfand.

Wenn Herrn von Randow dergleichen zu Ohren kam, verließ er das Zimmer, um nicht loszuplatzen. Er kannte die Gewohnheit seines Schwagers, und sie war ihm unleidlich, widerwärtige und tieftraurige Ereignisse, wenn sie gerade in seinen Kram paßten, als gnädige Schickungen zu preisen, womöglich mit Erwähnung des Fingers Gottes. Eine infame Heuchelei, dachte er, die ihm geradezu Übelkeit erregte.

*

Heute nun begleitete seine Mutter die jungen Leute nach Riede, und dort würden sie, so hoffte er, zu einem Entschluß kommen, so oder so, denn er haßte alles Unklare. Er glaubte ja bestimmt, daß sich die beiden nähergekommen seien, aber einstweilen doch mehr wie Kameraden, die jeden Tag einen andern lustigen Streich vorhaben. Wenn er sich an Olafs Stelle versetzte, da würde freilich ein anderes Tempo in die Sache gekommen sein. Nun, Riede hatte so was Besonderes an sich, er konnte sich die beiden dort vorstellen, zusammen in den dämmrigen Buchengängen oder in den Lichtungen, wo die hohen Farnbüschel goldbraun standen und hier und dort noch eine Arnika, eine letzte Fingerhutglocke, von schläfrigen Hummeln umsummt. Riede, das einst – lang war das her – ein Jagdpavillon gewesen, mehr dem Amor als der keuschen Diana gewidmet, dann zur Försterei degradiert, nun aber unbewohnt und versonnen in der Wildnis stand und wartete. Es wird der kleinen, grünäugigen Hexe gefallen, und was einst ein Liebesnest war, sollte einem Brautpaar recht sein, dachte er, der seine Wünsche sich kristallisieren sah.

Er hatte der erhofften Schwiegertochter bei gemeinsamen 284 Gängen und Fahrten die Freude an allem Lebendigen, an Pflanzen und Tieren angemerkt, und es war ihm ein gutes Omen. Menschen, die so an der Erde hängen, immer wieder zurückverlangen nach ihr, sind einer stillen, hartnäckigen Treue fähig, die sie in dem Boden verwurzelt, mit dem sie einmal dies Einssein erlebt. Und er erkannte an dem jungen Geschöpf dies Aufmerken, dies Verweilen, wo es um Dinge der Erde ging, und schätzte es kostbar für eine künftige Landfrau. Und für Olaf? Nun für den erst recht, der Glückspilz. Ja, beinahe hätte er sich auf jener Redensart des Schwagers ertappt.

Zuerst hieß es, die Wirtschafterin, Fräulein Eisenhauer, solle vorausfahren, um das Leibliche vorzubereiten und auch um nach Großmama zu sehen. Aber dem hatte sich Olaf mit einer Festigkeit widersetzt, die den Vater überraschte und eigentlich erfreute: Ja gewiß, Papa, sie ist so »eminent tüchtig« – aber gerade das ist fürchterlich. Die arme Oma wird uns ja ganz vergrämt. Und dann – ihre Pünktlichkeit! Wenn man zehn Minuten zu spät zum Essen kommt, ein Gesicht wie Klytämnestra. Nein, wollen wir lieber nicht so gut essen, aber unsere Freiheit haben!«

Und nun war alles gekommen, wie Jorinde und Joringel es sich nicht schöner hätten wünschen können.

*

Ein Regentag hatte die Hitze weggespült – dann kam die Sonne, aber es war nun wirkliche Herbstsonne. Die Blätter rieselten immer dichter in die Gräben am Waldrand und auf all die kleinen freien Stellen zwischen den Bäumen nieder, herab zu den vielen des Vorjahrs und all der früheren Jahre, die in Schichten lagen und moderten, bis sie wieder zu Erde wurden. Darunter schliefen die Windröschen, die kleinen weißen Anemonen, von denen es hieß, sie wanderten, jedes Frühjahr kämen sie an einem andern Fleck zu Tage, nickend und tanzend: da sind wir wieder! 285

Jetzt aber rüstete sich alles zu Schlaf und Schweigen, ab und zu fiel ein trockener Zweig zur Erde, wenn sich ein Raubvogel schwer und weich über die Baumkronen erhob. Das Laub war feucht und glitzerte. Wenn dann die Kälte kam, würden all die braunen Blätter einen Silberrand haben, zart bewimpert vom Frost; die an der Erde lagen und die noch an den Ästen hingen.

Sie saßen im Saal zu ebener Erde, dem einzigen Raum, der einen offenen Kamin hatte und der einst ein zierlicher Gartensaal gewesen, mit getünchten Wänden von einem zarten Apfelgrün, das nun verrußt und verwittert war, so daß man kaum die gemalten Jägersleute erkannte, die mit Hunden und Hirschen und allerhand kleinerem Getier zwischen Bäumen und Sträuchern hervorsahen. Denn es war an dem Kamin gekocht und gebraten worden; was einst einer schönen Dame verschwiegenes Glück umschloß, wurde als Küche gebraucht, wo sich's die Jäger nach der Jagd wohlsein ließen, wo sie aßen und tranken und ihre Pfeifen rauchten.

Nun kochte die Tochter des Waldwarts im Nebenhaus für die Gäste, aber am Abend brieten sie sich selber Kartoffeln und Kastanien in der Glut, und das war lustig und wie im Märchen, und paßte gut zu Frau Kraszewskis Turban und feinen verrunzelten Händen, die da am Feuer kauerte und Glühwein kochte.

»Ach«, sagte sie, »ihr Jungen, ihr wißt ja gar nicht, wie gut das tut, für einander zu schaffen, so richtig werken mit den Händen, daß einem am Abend das Kreuz weh tut. Und das Allerschönste: vor der Haustür sitzen und auf den Mann warten, wenn's dunkel wird. Wenn dann der Hund so einen kleinen Blaff gibt, und nun knackt ein Zweig auf dem Weg . . . o das! Jetzt habt ihr's noch zu bequem, ach, ich hatte es auch zu bequem, und hatte doch nie Zeit, mich zu besinnen. Erst später dann ging mir's auf! Aber das haben wohl nur wenige gekannt, und doch reden sie alle von Glück. Vor 286 deinem Vater, mein kleiner Olaf, schweige ich, ich weiß ja, er hat sich meinetwegen geschämt, und ich weiß auch nicht mehr alles und verwechsle die Zeiten, und die Leute lachen über mich – aber was tut's: was ich hatte, hab' ich gehabt, und niemand kann mir's nehmen.«

Dann stocherte sie wieder in der Glut, und ihr Schatten bewegte sich an der Wand, der Fransenturban, die Nase, die ganze, kleine, geschäftige Frau, »la mère d'Aladdin«, wie sie in einer verfledderten französischen Übersetzung abgebildet war, Liebestränke bereitend, die Wunderlampe neben sich . . . ja, der sah sie ähnlich.

Morgens in der Frühe ging Olaf weg, er nahm die Büchse und den Hund des Waldwarts mit, aber wäre der Waldwart nicht gewesen, so hätten sie wohl die ganze Zeit kein Stück Wild in die Küche bekommen. Später gab er Nesta Reitunterricht, denn sie sitze zwar an sich wie eine Eichkatze auf dem Pferderücken, meinte er, müsse aber auch lernen, wie eine englische Lady in Rotten Row – kühl bis ans Herz hinan, weißt du – die Hindernisse zu nehmen.

Abends war man dann so himmlisch müde, und er hatte gar keine Zeit mehr, in Grübelei zu versinken, man hörte ihn oft vor sich hinpfeifen, süß und leise wie eine chinesische Wasserpfeife. Und sie gingen freundlich und leise miteinander um, in träumerischer Zufriedenheit, über die ein bißchen Neckerei winzige Wellen trieb; nur manchmal, ungerufen, war ein wenig Angst dabei, ganz undeutlich, und ging auch schnell vorüber.

*

Hatten sie zu lang ins Feuer gestarrt an jenem Abend, um dann mit halb geblendeten Augen die Wand zu betrachten, wo die Jäger, die Hunde, Hirsch und Fuchs und Otter durch Schilf und Strauchwerk schlichen, hatte sich's mit allerhand Bildern aus Märchenbüchern ihrer Kindheit vermischt – in dieser Nacht, der letzten, die sie in Riede verbringen sollten, 287 ward Nesta ein Traum, oder ein Gesicht, nun, sagen wir, ein Erlebnis.

Zuerst war's ein Hornruf gewesen, der sie weckte, o leise nur, aber klar und ohne zu schwanken. Ja, ein Ruf. Das Fenster stand offen, aber die Läden waren aneinander gelehnt, auf besonderes Gebot der Großmama, die vor Fledermäusen warnte. Nesta lag und lauschte, und da kam es wieder, wie die Klage eines Wildes, das der Einsamkeit angehört, und alles, was Menschenhand auf Erden verändert, verwundet und verwüstet hat, trostheischend empfindet.

Da stand sie auf, schlug die Ladenflügel zurück und beugte sich vor.

Hold und preisgegeben lag die Wiese und trank das silberne Licht. Der Mond aber, aus dem es strömte, war von hier aus nicht zu sehen.

In den Bäumen, zu beiden Seiten, rührte sich nichts – ihre Schatten blieben unbewegt. Träumten sie, träumte die Wiese, warteten sie auf etwas?

Ganz sacht kamen kleine Knäuel geflogen, Dunstknäuel, rund und weich wie die Daunen abgeblühter Distelköpfe, und ihnen entgegen hob sich ein Nebel von der Wiesenfläche, als wollte er sie an sich ziehen, sich mit ihnen vermischen. Und wieder tönte der Ruf. Dringender, klagender. Wildtauben können auch klagen, vorwurfsvoll; aber man weiß, es sind Tauben, die dem Täuberich rufen, ihre Einsamkeit beweinen, und ihr Ruf wird ihn herbeiholen, sie werden verstummen im Frieden seines Flügelpaars.

Dies war ein andrer Ton; feierlich, der sich den Wald, die Quellen, die Sterne zu Zeugen nahm einer großen Verlassenheit, eines Fremdseins, das sich über alles breiten würde – bald.

Nesta lehnte sich tief in die Einbuchtung des Fensters, sie bog den Kopf zurück, bis er die kalte Mauer berührte.

Die kleinen Knäuel waren dichter geworden, sie teilten sich, und nun meinte sie, Gestalten sich daraus lösen zu sehen, die 288 ihr nicht fremd waren, so sehr glichen sie denen auf der apfelgrünen Wand. Aber war's die Entfernung, sie schienen viel kleiner geworden, zu Kindesgröße zusammengeschmolzen zu sein, dieselben Jäger in grünen Wämsern und Barettchen, Hirschfänger im Gürtel. O wie sie tanzten, mit kleinen, grüngekleideten Jägerinnen, war's ein Abschiedstanz, ein allerletzter?

Dann ein paar größere Gestalten, fahle Kränze im Haar, schleierumwallt, waren es Geister, die verschwiegen in einem Baumstamm leben, eins mit ihm wie sein eigener Saft? Sie gingen allein oder zu zweit, sie berührten einander kaum mit den Händen, gingen ihren eignen, leisen Weg . . . wie Gedanken gehn. Aber die kleinen Jägersleute schauten nicht nach ihnen, hielten einander fest, keine Macht sollte sie auseinanderzerren, mit silbernen Stiefelchen stampften sie auf den Wiesengrund, wehrten sich vor einer Übermacht. Und der Hornruf kam näher, tönte lauter, nun kam Raserei über die kleinen Leute. Mußten sie von hinnen? War dies das Zeichen? Wie sie sich wehrten! Wie sich Blätter wehren, anklammern, ehe der Sturm die Flatternden mit sich reißt? O Erde, du Geliebte! . . .

Aber nun, ganz am Ende der Wiese, dort wo ihr Silberrand zu Nebel wurde und das ferne Gebüsch nur zu ahnen war, kam da nicht ein Pferd, mit gesenktem, knöchernem Haupt, auftauchend aus dem grauen Gewoge? Langsam schreitend, die langen Beine, die rissigen Hufe bedächtig setzend? Und auf dem Pferde der Reiter, locker im Sitz, müde, wie nach langem, langem Ritt, vorgebeugt mit hängenden Zügeln? Fast war er bis zur Mitte der Wiese gelangt, da hob er den Kopf. Ins volle, klare Licht empor. Das Antlitz ganz hell, eine helle, flache Scheibe, die Augen geschlossen; nur die Zähne glänzten im blassen Zahnfleisch. Solch hungriges Lächeln war's, wie von Toten, die zu früh starben, die schöne Frucht nicht mehr essen durften, die sie eben zum Munde 289 führten . . . Dann ritt er weiter über die Wiese, undeutlich werdend.

Nesta griff in den Vorhang, der neben ihr niederhing, und seine Ringe klirrten. Das war ein andrer, ein irdischer Ton. Aber was war irdisch, was unirdisch, hier und da draußen?

Sie richtete sich auf, ihr Blick, der schwankend geworden, festigte sich, stellte sich ein . . . Aber im selben Augenblick schwand alles dahin, der Hornruf war ohne Nachhall geblieben, als sei er nie gewesen.

Irgendwo knarrte ein Baumstamm. Da schlug sie die Hände vors Gesicht: Gute Dunkelheit, nimm mich auf!

Dann, als sie wieder um sich blickte, war's, wie wenn eine kleine Luftblase im Ohr zerspringt, und alles wird auf einmal deutlich, wo es vorher leise dröhnte. Die Kerze brannte neben ihrem Bett, ohne zu flackern, als habe sie auf sie gewartet.

*

Beim Erwachen war es schon heller Tag, die Morgenluft drang herb zu ihr herein. Hatte sie geträumt? Nur . . . der Laden stand weit offen und war doch am Abend geschlossen. Aber sie scheute sich, dem Erlebnis nachzuspüren, denn es war ihr kostbar, und sie fürchtete, es möchte hinschwinden wie Frostgebilde, wenn man sie anhaucht.

Als am selben Tage Herr von Randow Wagen und Pferde schickte, legte sie still ihre Sachen zusammen und bat um keinen Aufschub, der ihr doch gern gewährt worden wäre. Zwischen Olaf und ihr zitterte ein silberner Faden, ob er es wußte, sie fragte nicht. Sie wußte nur, sie würde tun, was man von ihr erhoffte, sie würde wiederkommen und hier mit Olaf leben, einig und gut. Und sie wollte das neue Leben ohne Angst leben, nein, vertrauend auf Güte, die sie spürte. Und – wenn er wieder kam – auch den Hornruf nicht scheuen. Denn ja, der geisterhafte Reiter hatte ein Handpferd geführt – war's Golden Dream? – es leuchtete, es war gesattelt, es harrte seines Reiters mit sanft glühendem Blick.

 


 


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