Irene Forbes-Mosse
Ferne Häuser
Irene Forbes-Mosse

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Freesia in Florenz

Lissy und Freesia – welche aber ganz anders hieß – lernten einander in Florenz kennen, wo Lissy wohnte und Freesia sich zur Abwechslung und Erholung nach langer Krankenpflege aufhielt, den Besuch von Kirchen und Museen aber viel zu ernst nahm, als daß von Ausruhen die Rede sein konnte.

Mit ihrem kritischen, durch plötzliche Sympathie noch geschärften Blick hatte Lissy Torneskjöld in Freesia eines jener geliebten und geschätzten, aber bis zum Äußersten ausgenützten Familienmitglieder erkannt, rosenbekränzte Opfertiere, deren liebenswürdige Opferbereitschaft förmlich dazu auffordert, ihren Schultern immer neue Lasten aufzubürden, wobei jeder meint, sein Beitrag sei ja nur ein Strohhalm und könne nichts ausmachen.

Lissy erriet dies um so eher, als sie selbst Ähnliches erlebt hatte; denn auch sie war praktisch und hilfsbereit, wenn auch aus härterem Holz geschnitzt, so daß, wenn es ihr zuviel wurde, sie es verstand, übertriebenen Zumutungen auszuweichen, allerdings auf so liebenswürdige Weise, daß es ihr niemand übel nahm.

Dank ihrem fröhlichen resoluten Wesen, das aber überraschend weiche, ja einschmeichelnde Momente hatte, wurde es ihr leicht, die scheue Freesia an sich zu ziehen. Ohne sich ihrer Absicht eigentlich bewußt zu sein. Sie war es ja gewohnt, daß Mädchen und Frauen sich ihr mit schwärmerischer 93 Knappentreue anschlossen, bisweilen sogar etwas klettenhaft, was sie aber dann abzuwehren verstand, ohne die Betroffenen zu verletzen. Alles Dramatische war ihr verhaßt, und sie war virtuos in der Kunst, Knoten zu lösen, ohne sie zu zerschneiden. Auch ließ sie nie ein freundschaftliches Verhältnis gänzlich erkalten; ihr Interesse blieb lebendig. »Plus constante que fidèle«, sagte sie mit erstaunlicher Selbsterkenntnis und lächelte ein bißchen schief dazu.

Wie in so manchen Familien der Vorkriegszeit, hatte in Freesias Heim ein patriarchalischer Ritus geherrscht, der Fernerstehenden reizvoll und lobenswert erschien, bei näherer Sicht aber Mängel zeigte: ähnlich alten malerischen Häusern, deren moosgrüne Dächer und geschnitzte Pfosten den Mangel an innerer Bequemlichkeit übersehen lassen.

Ein gewitterhafter Vater, der bei Tisch die Zeitung las, während die Mutter in beschwörenden Flüstertönen das Gekicher der Kinder unterdrückte, eine ehrenwerte, aber etwas spartanische Lebensauffassung, was die kleinen, nicht gerade notwendigen Zutaten betrifft, die das tägliche Dasein schmücken und erleichtern, hätten Freesias Jugendjahre hemmen und einengen können, wenn nicht zwei Pensionsjahre und später die Heiraten ihrer Schwestern für geistigen Luftwechsel gesorgt hätten.

In Freesias Familie wurde man früh weiß, und wenn sie auch erst am Anfang der Dreißig stand, so war ihr Haar doch schon schneegepudert. Lissy fand, daß sie einem Bild der Madame de Charrière – Belle de Thuylle, wie sie, tulpenhaft, in ihrer holländischen Heimat hieß – ähnlich sei. Ihre schmale, schön modellierte Stirn mit den zart eingesunkenen Schläfen, über der sich das silbrige Haar luftig aufbäumte, ihre reizend geformten Ohren waren ungewöhnlich. Dazu die mageren, etwas männlichen Hände, denen man's ansah, daß sie ebensogut mit Hammer und Säge umzugehn wußten wie mit Nadel und Zwirn – grade dies war ein pikanter 94 Gegensatz zu dem Belle-de-Thuylle-Köpfchen. Nennen wir noch lang ausschreitende Beine – ja beinah heuschreckenmäßig lang gegliedert waren sie – und eine verschleierte, manchmal knabenhaft rauhe Stimme, so waren Freesias Vorzüge aufgezählt. Merkwürdig war, daß ihre negativen Eigentümlichkeiten dem keinen Eintrag taten, wie zum Beispiel, daß die Lider ihrer hellen blaugrünen Augen oft gerötet waren, als hätte sie geweint, ihre Oberlippe aber zu weit vorstand, was ihr den rührenden Ausdruck eines gescholtenen Kindes gab, das sich keiner Schuld bewußt ist und eben losweinen will.

Ihre mathematische Begabung und ein erstaunliches Geschick für Handfertigkeiten aller Art hätte sie heutzutage den Architektenberuf ergreifen lassen, oder aber sie wäre Kunstschreinerin geworden; damals für ein Mädchen eine ganz undenkbare Entwicklung. So wurden diese seltenen Fähigkeiten für den Hausgebrauch ausgenützt. Wo immer ein überdrehtes Schloß zu reparieren war, wo es an der elektrischen Leitung oder am Heizapparat haperte, fiel es niemand ein, den betreffenden Fachmann zu rufen: Freesia kam, zuversichtlich lächelnd, mit ihrem Werkzeugkasten, ihren zielbewußten Händen und brachte die Sache in Ordnung. Dem jüngeren Bruder erklärte sie die mathematischen Probleme, an denen er verzweifelte, und oft mußte sie für den Vater statistische Tabellen und verzwickte Berechnungen nachprüfen. Wenn sie aber in der Weihnachtszeit die Gaben, welche die schenkfreudige Mutter für nahe und ferne Freunde und Verwandte bestimmte, in fachmäßig verschnürte Pakete verwandelte, war es ein geradezu ästhetisches Vergnügen, ihr dabei zuzusehn.

Gewiß, dachte Lissy Torneskjöld, vor der sich nach und nach die Umgebung entrollte, in welcher sich Freesias Leben abgespielt: ist ja alles schön und gut. Aber das gepriesene Familienleben erinnert doch sehr an so einen heiligen, indischen Krokodilteich: wie viele Mädchenleben hat es verschlungen! 95

Dies alles spielte sich in einer nun schon nebelhaften Zeit ab, wo einem Fräulein unter fünfzig Jahren nur mit Vorbehalt der Hausschlüssel anvertraut wurde, und eine Ehefrau ganz undeutliche Vorstellungen von dem eignen, mitgebrachten Vermögen hatte, geschweige denn über den geringsten Teil desselben selbständig verfügen konnte.

*

Als Freesia – aber sie hieß ja gar nicht Freesia – zum erstenmal durch das wellige, silbergraue Olivenland wandelte, wo auf halber Höhe Villa Nespoli thronte, überkam sie einmal wieder der Zauber Toskanas wie eine himmlische Offenbarung.

Es gibt ein Seligkeitsgefühl – es kann menschlich-leidenschaftlichen, oder auch rein ästhetischen Ursprungs sein – so durchdringend, so überwältigend, daß die Augen davon brennen, die Gelenke schwach werden. So ging sie, wie betäubt und immer wieder stillestehend, zwischen Schwertlilien, Monatsrosen und wildem Mohn, welche die Artischocken- und Bohnenfelder einfaßten, unter sanft wedelnden Ölbäumen hügelan.

Die Familie Torneskjöld hatte bisher nie genügende Überschüsse gehabt – ach, sie hatte überhaupt keine – um, wie es reichere Leute getan hätten, diese entzückende Vereinigung biblisch-primitiver Agrikultur und lieblich verwahrloster Würde zu zerstören. Hoch oben, auf der geschweiften Fassade des Hauses war ein großes Zifferblatt gemalt, eine Sonnenuhr. Aber der eiserne Zeiger war verrostet und abgefallen, und nur die Ziffern, verblaßt und verwaschen, waren geblieben. Rosen, spanischer Jasmin und die nach Zitronen duftenden, hoch aufgeschossenen Ranken der Verbene wuchsen an den Fenstern empor. Davor lag die Terrasse, wo im Frühling Veilchen, Goldlack und Narzissen an allen Mauern, unter allen Büschen und Hecken durcheinanderblühten. Die Wege waren vermoost, und auch die flachen, grauen Stufen, die zu 96 einer Glastür führten, waren gelb gefleckt von zart gekräuselten Flechten.

Nun tat sich diese Glastür auf, und Frau von Torneskjöld stand auf der Schwelle, breitschultrig, aber mit schlanken Hüften, das braune Haar in einem schweren Knoten aufgesteckt. Ihre Augen waren graublau wie Dachschiefern, und ihr Lächeln kam und ging, in einem Grübchen neben dem Auge und einem andern in der Wange spielend.

Sie hat etwas von einer Erntegöttin, dachte Freesia. Gütig – gebefroh; sie sollte eine Garbe auf dem Arm tragen, oder ein neugeborenes Zicklein . . . das heißt, wenn man sich eine Erntegöttin in weißem Sergerock und Hemdbluse mit Herrenkrawatte vorstellen könnte . . .

Eintretend befand sie sich sogleich, ohne Übergang, im allgemeinen Wohnraum; lang, vielfenstrig, in blassem Rot getüncht. Es waren mehrere Menschen um einen Tisch gruppiert, auf dem ein großer kupferner Samowar stand und einen leisen Holzkohlendunst ausströmte, der sich für alle Zeit mit Lissy und Florenz in ihrer Erinnerung verbinden sollte. Wundervoll duftender, russischer Tee und dünne Zitronenscheiben wurden herumgereicht, und der Zigarettenrauch machte die Luft bläulich. Wäre nicht der Blick durch die Fenster auf Lorbeer und Oliven gewesen, man hätte sich in eine Turgeniewsche Novelle versetzt geglaubt, wozu auch eine gesprächige Dame beitrug, die mit »Anna Pawlowna« angeredet wurde. Erst später merkte Freesia, daß es eine Neckerei war, weil diese, einen urdeutschen Namen tragende Baltin, ein weißer Rabe unter ihresgleichen, aus ihren russischen Sympathien kein Hehl machte.

Zu dem Turgeniewschen Milieu gehörte auch eine kleine, alte, schwerhörige Dame – Tante Annettchen – die mit einer Straminstickerei beschäftigt war, wie sie Freesia nur aus großmütterlichen Beständen kannte, die daheim mit ähnlichen Sammelresten in einer Kiste ruhten, welche die 97 Bezeichnung »Evangelisches Depot« trug, da ihr Inhalt um die Weihnachtszeit der Heilsarmee und ähnlichen Instituten überwiesen wurde.

Eine schwarzäugige Französin, die mit ungeheurer Redseligkeit den Samowar bediente, paßte sich ebenso dem Lokalkolorit an, noch mehr ein russischer Hauslehrer, dessen Echtheit sich in einer seitlich geschlossenen Gürtelbluse kundtat, der aber von der erwähnten Baltin, trotz ihrer Verehrung für das Haus Romanow, wie Luft behandelt wurde. Einmal kamen auch Lissys junge Söhne, André, Fred und Pitti, hereingelaufen, barfuß und gebräunt, küßten den Damen pflichtschuldig die Hand, verlangten mit Vehemenz Butterbrot und Kuchen und hinterließen den Eindruck junger Waldmenschen, die froh sind, unbequemen Anforderungen so bald als möglich zu entrinnen.

Der Hausherr erschien erst, als Freesia schon am Teetisch installiert war und sich in ihrem besten Schriftdeutsch mit der ob ihrer Schwerhörigkeit vereinsamten Großtante unterhielt, deren baltische Aussprache, durch ein mümmelndes Gebiß noch fremdartiger klingend, ihr schwer verständlich war. (Übrigens erklärte Tante Annettchen, nachdem sich Freesia verabschiedet hatte, diese junge Person scheine ja recht wohlerzogen und bescheiden, aber den Schweizerdialekt könne sie auf ihre alten Tage nicht mehr erlernen.)

Baron von Torneskjöld stammte aus einem ursprünglich schwedischen Geschlecht, das sich in grauen Vorzeiten – wie es auch so viele Deutschstämmige getan – in Livland und Kurland niedergelassen hatte. Wie weit diese Art der Niederlassung mit dem Gebot »Du sollst deines Nächsten Gut, Ochs, Esel usw. nicht begehren« übereinstimmte, ließ sich nach so langer Zeit nicht mehr feststellen; in solchen Fragen sind ja die Deutungen stets verschieden, je nachdem die Eroberer oder die Eroberten zu Worte kommen. Jedenfalls hatte die Familie einst eine Epoche, wenn nicht des Glanzes, 98 so doch der Gewalt gehabt. »Wir waren niemals Fürsten, aber wir waren Häuptlinge«, sagte der Baron mit melancholischem Tonfall, wenn ihn die Erinnerungen überkamen. Nunmehr warteten er und die Seinen in einem Gemisch von Lebensgenuß und Sorgen – welch letztere sie wie lästige Fliegen immer wieder zu verscheuchen wußten – auf den Tag, da ein viel älterer, gottlob kinderloser Stiefbruder – der daheim, schon ziemlich geistesschwach, in der Obhut seiner Haushälterin dahinvegetierte, die Herr von Torneskjöld unverdientermaßen als »Pariser Cocotte« bezeichnete – das Zeitliche segnen würde; worauf die Übersiedlung des Florentiner Zweigs auf angestammten Grund und Boden stattfinden sollte.

Auch Baron Torneskjöld paßte, trotz seiner ausgesprochenen Russophobie, in eine Turgeniewsche Novelle. Groß und massig, bewegte er sich etwas unbeholfen auf viel zu kleinen Füßen. Seine etwas vortretenden, etwas glasigen Augen waren von schweren Lidern halb bedeckt. Er trug einen Backenbart mit ausrasiertem Kinn, wie es längst nicht mehr Mode war, und schwere Türkisringe an den großen, gutgepflegten Händen. In einen Gehrock eingeknöpft, den er am Nachmittag bevorzugte, obgleich er anfing, ihm zu eng zu werden, begrüßte er Freesia mit liebenswürdiger Bonhomie, der ein Stich ins Patronisierende nicht fehlte.

So muß ein Großfürst aussehen, dachte sie, und nebelhafte Vorstellungen von sausenden Schlitten, knutenschwingenden Kosaken und zitternden Leibeignen zogen ihr durch den Sinn. Hierin aber irrte sie. Herr von Torneskjöld konnte zwar in plötzlichen Wutanfällen explodieren – ach, der Arme, seine Großmutter war eine Grand-Moutier, und das sagte alles, klagte Tante Annettchen, wenn sie trotz ihrer Taubheit die zugeschlagenen Türen knallen hörte – ja, er konnte dann mit erhobenen Fäusten auf den ihm Widersprechenden losgehn, eine eigentliche Grausamkeit aber hatte er nie begangen, und 99 man erzählte sich manchen menschenfreundlichen Zug: wie er viele Nächte bei dem jungen an Dysenterie erkrankten Koch gewacht und ihm alle Dienste geleistet hatte, die sein Leiden erforderte; auch war er gebefroh, wenn er von besonderen Notfällen bei seinen Bauern hörte. Was ihn nicht hinderte, mit seinen drei Buben, die trotz ihrer Jugend schon ausgezeichnete Schützen waren, die Nächte in Obstbäumen versteckt zu verbringen, in der Absicht, seine Bauern bei unerlaubtem Privathandel mit Frühgemüsen zu ertappen und ihnen ein paar zwischen die Beine zu knällern. Wozu es zum Glück bisher nie gekommen war.

Die Leute zuckten die Achseln bei seinen Zornausbrüchen: Poveretto, un po' matto – sagten sie und deuteten auf die Stirn. Sie machten kein großes Wesen daraus. Die Scheu der Italiener vor allem, was »Behörde« heißt, ließ sie schweigen. War es doch üblich, daß bei einer Rauferei in der Straße, sobald der Dreispitz einer Guardia auftauchte, Freund und Feind auseinanderstob, und auch die Neugierigen, die bis dahin voll Interesse zugesehn hatten, sich verflüchtigten, um ja nicht bei einer Vernehmung als Zeugen vortreten zu müssen, woraus sich endlose Streitereien und geschäftliche Verluste ergeben hätten.

Reizend und Freesias Herz im Sturm erobernd, war Lissys Mutter, die fünfundsechzigjährige Frau von Boutenzorg, die etwas später mit der Miene einer sturmgepeitschten Schwalbe eintraf. Sie berichtete, leise keuchend, daß sie die Elektrische, die nur halbstundenweise fuhr, natürlich verfehlt habe, denn oh, sie mußte sich durchaus bei Doney etwas stärken – nur eine Tasse Tee, sonst wäre sie zusammengebrochen – und dort hatte sie natürlich den alten Guerrini getroffen, er verbringt ja halbe Tage bei Doney, und ihr wißt doch, er läßt einen nie wieder los, der Arme ist so dankbar, wenn er jemanden findet, der nicht an den Blödsinn von seinem Malocchio glaubt und seine ewigen Anekdoten von längst 100 verschimmelten alten Sängerinnen anhört – »nun ja, und nachher nochmals zum Domplatz zurück, nein, ich war total fertig, da hab' ich denn in Gottesnamen bei Vieusseux einen legno genommen; ihr wißt doch, wie Doctor Grassi gewarnt hat.«

»Gewiß, Mammina«, sagte Lissy beruhigend, »alles ist besser als Krankwerden, auch ökonomischer.« Das letzte Wort betonte sie mit einem Blick auf den Gatten, dessen Stirnader angeschwollen war. Wirklich, in diesen Zeiten, wo ein Einspänner hier herauf zwölf Lire kostete, denen die Schwiegermutter noch drei Lire Trinkgeld beifügte, denn, sagte sie, dreizehn kann man nicht geben, das Volk ist ja so abergläubisch, und wenn man schon vierzehn gibt, können es auch fünfzehn sein, da braucht der Kutscher nicht herauszugeben, denn das finden sie mesquin. Zumal dieser Luigi immer so freundlich beim Ein- und Aussteigen hilft, und auf sein Pferdchen nimmt er Rücksicht, rupft ihm Gerste am Wege aus und ist abgestiegen bei der Montata, der gute Mensch. Denn wer sein Tier lieb hat, ist immer ein guter Mensch, so schloß sie ihre Rede, ahnungslos, daß es unter abgefeimten Raubmördern die rührendsten Tierfreunde gegeben hat. Darauf ließ sie sich gewichtslos, als wollte sie gleich wieder auffliegen, am Teetisch nieder. Ihre Antipathie gegen den Schwiegersohn war derart, daß sie den von ihm angebotenen Kuchenteller mit einem knappen »Danke« abwies, eine Minute später aber selber danach griff, wobei ihr Spitzenärmel die vollgeschenkte Tasse umwarf.

»Setze dich zu unserer Schweizerfreundin, Minouche«, rief Lissy ihr über den Tisch zu, nachdem das Unglück repariert worden war; »sie wird so gut sein, dich mit allem zu versorgen, und ihr könnt miteinander Eindrücke austauschen, vom Genfer See und der Nouvelle Héloise. Da weiß ich dich geborgen.«

Seit diesem Tage kam Freesia immer wieder den Weg hinauf zu der alten, teerosenfarbenen Villa mit ihrer weiten, 101 geruhsamen Fassade, über dem grauen Gewoge der Ölbäume thronend.

Manchmal traf sie sich auch mit Lissy in einer Kirche, einer Bildergalerie, oder auch einer kleinen, bescheidenen Trattoria, von Künstlern und Arbeitern bevorzugt. Das war dieser das liebste. Denn wenn sie ihre häuslichen Pflichten auch nicht leicht nahm und eine liebende Tochter, eine sorgende Mutter war, so recht ihre Glieder dehnen, so recht gedankenlos das Leben genießen, meinte sie, könne sie doch nur außer dem Bannkreis der Santa Famiglia.

Ihr Lebenslauf, den Freesia nach und nach aus Erinnerungen und zufälligen Bemerkungen kennenlernte, war für diese wie das Durchblättern eines fremdartigen Bilderbuchs, in welchem norddeutsche Gutshäuser, baltische Herrenhöfe und sommerliche »Datschen« miteinander abwechselten, toskanische Villen auftauchten, vornehm und träumerisch, mit einer großen schattenspenden Pinie vor dem Tor, oder ein verwittertes Türmchen in den Maremmen, zwischen verschilften Sümpfen und Kanälen, wo Lissy zur Zeit der Entenjagd irgendeine Principessa besucht hatte, die dort, primitiv aber malerisch, entenmordend einige Wochen verbrachte. Dann wieder gab es ziemlich schäbige, aber reizvolle Quartierini in kleinen rosa getünchten Villini, mitten im silbernen Blätterspiel der Olivenbäume, wo alte, gestrandete Engländerinnen – gewöhnlich zu zweit – eine Pensioncina aufgetan hatten, zu fünf Lire täglich, vino compreso, und langsam dabei verhungerten.

Auch in der Stadt hatte es preiswerte Fremdenheime gegeben, wo es immer ein bißchen nach Moder und Mäusen roch, wo die festgenagelten Teppiche niemals hochgenommen wurden und alte, sympathische Möbel, aus verschiedenen Auktionen stammend, aber auch ausgesprochene Horrörs in den Zimmern herumstanden.

In dem allgemeinen, fast unbenützten Salon herrschte 102 winters wie sommers Dämmerung und eine eisige Luft. Die Büsten berühmter Männer des Risorgimento – mit ihren Backenbärten und Vatermördern sahen sie nach allem andern aus als nach Rebellen – zierten den Kamin, in welchem ein Berg von Pinienäpfeln kunstvoll geschichtet war, den aber niemand je flammen sah. Ach, aber wenn dann nach einigen Monaten die Abschiedsstunde schlug, war es doch jedesmal herzzerreißend, trotz aller Mißstände.

Als kleines Ding hatte Lissy ihren Vater verloren; sie hatte niemals viel von ihm gesehen und konnte sich seiner kaum erinnern. Deutlicher war ihr der Riß geblieben, den sie empfand, als sie sich von dem Landgut trennen mußte, wo sie bis dahin die Sommermonate verbracht hatte. Denn der Onkel, ein für absolut bombensicher gehaltener Junggeselle, mit dessen Tode man in aller Gutmütigkeit für später rechnete, geriet in die Netze einer in der Familie »die hölzerne Sabine« benannten Hofdame aus der nahen Residenzstadt, und somit versank das sommerliche Sorgenfrei.

Lissys Mutter, reizend, verwöhnt und unpraktisch und mit der unglücklichen Neigung begabt, überall Bronchialkatarrhe aufzufangen, beschloß nun, ganz und gar mit Lissy in den Süden überzusiedeln. Mit ihrer Witwenpension und dem eigenen bescheidenen Vermögen meinte sie dort, wo der Lebensbedarf so wohlfeil sei – man bedenke, es gab Jahre, wo einem die Pfirsiche sozusagen nachgeworfen wurden – bedeutend besser auszukommen als in der Heimat. Aber sie hatte bei ihren Berechnungen manches nicht bedacht. Wie zum Beispiel die langen Sommermonate, die sie bisher, von allen Ausgaben befreit, höchst gemächlich auf dem Gute des Schwagers verbrachte. Auch nicht die mannigfachen Extraausgaben an fremden Kurorten. Zunächst war sie mit Lissy, ihrem jüngsten Kinde und von ihrer alten, treuen Lisette begleitet, an die Riviera gereist, um ihre Bronchien auszuheilen; dann, von Bekannten ermuntert, nach Florenz. Dort nun zog sie 103 von Pension zu Pension, je nach der Jahreszeit, bald ländlicher, bald städtischer Art, immer ihrer jeweiligen finanziellen Lage entsprechend. Denn die liebe, reizende Frau von Boutenzorg gehörte zu den Lilien auf dem Felde, und zu rechnen verstand sie nun einmal nicht; so wechselten Zeiten der Dürre mit solchen eines kurzen, berauschenden Überflusses.

Lissy besuchte eine englische Schule, von einer ältlichen Miß mit Hängelocken geführt, wo sie sich mit jungen Mädchen der englischen Kolonie, auch mit einigen italienischen Contessas und Principessas anfreundete, die dort die Sprachkurse mitmachten.

Bei der Mutter hatte sich indessen ein sehr feines und einfühlendes Maltalent entwickelt. So wie sie früher in der Heimat Blumen und Käfer, Spinnen und Eidechsen mit fast japanischer Naturtreue in ihre Skizzenbücher eingetragen hatte, so kopierte sie nun, innig versunken, verblaßte Wandgemälde in Kirchen und Kreuzgängen, wo sie still und ungestört arbeiten konnte, ohne lästiges Fremdengesumm wie in den Sälen des Pitti und der Uffizien. Dorthin brachte ihr die Tochter um die Mittagszeit das aus einem langen, goldgelben Brot, ein paar Hühnerschenkelchen und Salamischeiben bestehende Frühstück. Zum Schluß gab es eine Orange oder die einladenden, aber trügerischen Nespoli, die eigentlich nur aus Kernen bestehen.

Wenn sie damit fertig waren, blieb Lissy noch eine Weile bei der Mutter sitzen, sah zum tiefblauen Himmel auf, den Taubenflügen nach, die ihn plötzlich durchschwirrten, und sog die bittersüßen Düfte von Myrte und Lorbeer ein, die da in der Mittagssonne ihr feinstes Öl destillierten, träumte ein wenig vor sich hin, um, sobald die Glocke schlug, wieder zurückzueilen in die Schule.

Abends saßen Mutter und Tochter bei einem schwelenden Feuerchen aus Olivenknorren in Frau von Boutenzorgs 104 Zimmer, und Lissy las vor, um sich im Englischen zu üben, während die Mutter mit ihren feinen Händen Strümpfe stopfte. Auf und nieder ging die lange Stopfnadel, und Frau von Boutenzorg zog die Unterlippe ein, ganz benommen von der ungewohnten Arbeit. Ach, die gute Lisette hatte heim gemußt, sie war zu einem allzu kostspieligen Luxus geworden.

Ein modriger Wandschrank in der Pensione del Giglio enthielt einen angesammelten Vorrat alter, verfledderter Tauchnitzbände aus den Anfangsjahrgängen jenes nicht genug zu preisenden Verlags. So lernte Lissy John Halifax, The Daisy Chain, The Heir of Redcliffe und ähnliche erbauliche Werke der viktorianischen Ära kennen, aber auch die viel aufregendere Lebensgeschichte der Jane Eyre, sowie einige Romane von Rhoda Broughton, die für »very advanced« und nicht für junge Mädchen geeignet galten, denn kam es darin nicht vor, daß sich eine Siebzehnjährige in einen verheirateten Mann verliebte und, aller Scham vergessen, ihm nahelegte, mit ihr auf und davon zu gehen? . . . »So was kann vorkommen«, sagte Frau von Boutenzorg, sie ließ die Hand in dem defekten Strumpf sinken und starrte vor sich hin in die glimmende Asche: »Findest du das sehr schlimm?« Von einer Mutter vielleicht eine seltsame Frage. »Nein«, antwortete Lissy harmlos. »Ich auch nicht«, sagte die Mutter, »lies weiter.«

War aber die Jahreszeit vorgeschritten, so setzten sie sich abends in die damals langsam dahinzuckelnde Pferdebahn und fuhren in die Vororte, die noch halbländlich und reizvoll waren, oder auch am Arno entlang bis zum Eingang der Cascinen, wo sie ausstiegen und zum Grabmal des indischen Fürsten wandelten, der dort, unter seinem orientalischen Minarett, mit Turban und schweren Perlenketten angetan, schläfrig über den gelben, trägfließenden Fluß in die Ferne starrt.

Es war Juni. Über den Wiesenflächen, zwischen Bäumen und Gebüsch tanzten die Leuchtkäfer, ein funkelndes Gewoge, 105 man hätte dabei lesen können. Frau von Boutenzorgs Erinnerungen gerieten in leise, fiebrige Bewegung. Ein bißchen atemlos – denn es war ihr beschwerlich, beim Gehen zu sprechen, erzählte sie von alten Zeiten, als an Lissy noch gar nicht gedacht wurde, von Bällen und Schlittenfahrten, von Norderney und Segelpartien, und immer waren Anbeter dabei, glühend aber diskret, Männer, wie es sie heutzutage nicht mehr gab. Und sie war ja eine jener Frauen gewesen, denen die Männer verfallen wie einem Zauber, alle Männer, vom Straßenfeger bis zum Prinzen von Geblüt.

Ob sie selber eine Heldin im Widerstand gewesen, hatte Lissy nie erfahren, aber es war anzunehmen, daß Frau von Boutenzorgs weiche, nachgiebige Natur, die es nicht fertigbrachte, nein zu sagen, zugleich aber von hermelinartiger Scheu vor Pfützen war, schmale Mittelwege zwischen Abwehr und Hingabe gefunden hatte, zagend und vielleicht schweren Herzens. Dabei war sie, bei schönen, ehemals vergötterten Frauen eine Seltenheit, gegen solche, die der Versuchung erlagen, die mit beiden Füßen in die Pfütze glitten oder sprangen, durchaus tolerant. Die Hauptsache ist und bleibt, niemandem weh zu tun, sagte sie zu ihrer Tochter. Darum zog sie überhaupt Ausflüchte vor, wenn die einzige Alternative Brutalität gewesen wäre; deshalb fand sie, eine diskret durchgeführte Untreue sei einem ehrlichen Riß mit den begleitenden Deutlichkeiten bei weitem vorzuziehen, und damit befand sie sich im Einklang mit den in der italienischen Gesellschaft allgemein herrschenden Anschauungen.

Diese Geistesrichtung hat sich wohl auf Lissy vererbt, dachte Freesia später, als sie die Freundin näher kennenlernte. Denn es war sonderbar, wie diese Frau, deren physischer Mut auch durchaus furchtlose Männer in Erstaunen setzte, so reich an Ausflüchten war; wie sie es verstand, jeder entscheidenden Stellungnahme auszuweichen, wenn es sich um Begriffe, um Grundsätze handelte, die damals – es war zur 106 Zeit des Burenkrieges – die Gespräche beherrschten. Grundsätze, an denen Freesia festhielt wie an dem Emblem ihres Landes, dem weißen Kreuz auf rotem Grunde.

Lissy nannte diese Denkart, die ihr erlaubte, bei Diskussionen keine eindeutige Haltung einzunehmen, »erasmisch«, und Freesia spürte eine gewisse Selbstzufriedenheit bei dieser Bezeichnung, denn Enthusiasmus, sagte Lissy, sei immer einseitig und Geschwisterkind von fanatischer Blindheit; dabei erwähnte sie Kampfstiere und rote Lappen.

Sie konnte aber auch einen Freesia besonders antipathischen Satz anführen, den sie irgendwo aufgelesen und in ihr geistiges Arsenal aufgenommen hatte: »There ist nothing that succeeds like success«, ein Ausspruch, den der von ihr verehrte Humanist gewiß nicht gutgeheißen hätte. Wie sie auch nicht erkannte, daß sie mit diesem Ausspruch der Konvention eine Verbeugung machte, die sie sonst nur als notwendigen Zügel für die große, unwissende Masse gelten ließ.

Aber dies alles hing wohl mit dem unglücklichen Knick in ihrer Entwicklung zusammen, und, weil sie, wie so viele Frauen, ihr Denken nicht von ihrem Fühlen trennen konnte, mit ihrer fast krankhaften Scheu vor Streitereien, lauten Stimmen und hartnäckig proklamierten Ansichten. Der latente Kriegszustand zwischen Mutter und Gatten, die ewigen Finanzschwierigkeiten, die eine ihr im Innersten zuwidre Geschmeidigkeit bedingten, hatten sie an Kompromisse gewöhnt, die der ganz primitiven Art Freesias, über Recht und Unrecht zu urteilen, entgegengesetzt waren. Auf Lissys Seite Erasmus, oder vielmehr das, was sie sich unter diesem Namen vorstellte, auf Freesias Seite der »Bundesbrief«, und dazu noch ein ganzes Teil der zehn Gebote.

Ja, aber begreiflich war es doch, wie alles schließlich begreiflich ist, wenn man die Geduld hat, den Ursachen nachzugehn. 107

Die Reibereien zwischen Frau von Boutenzorg und ihrem Schwiegersohn begannen schon beim Frühstück, die kleinsten häuslichen Verdrießlichkeiten konnten den Brand auslösen, der immer im stillen schwelte. Aber auch politische Fragen und schon das Knistern der Zeitung, wenn Herr von Torneskjöld sie auseinanderfaltete, hatten etwas Ominöses. Der Baron war Bismarckverehrer, während bei Frau von Boutenzorg noch immer welfische Treue nach Rache dürstete, und sie, schon aus Gegensatz zu dem Schwiegersohn, in der Burenfrage auf Seite Englands stand. Dies alles wurde durch seine Monotonie für Lissy zu einer Tortur wie jene des fallenden Tropfens, und so hatte sie sich angewöhnt, eine Frage niemals unumwunden zu beantworten. Dies eben nannte sie »erasmisch«, und Freesia mußte mit Staunen erleben, wie die Freundin, nachdem sie soeben, in die Ecke gedrängt, ihre Ansicht über etwas Zeitbewegendes geäußert hatte, ihren Gegner außer Fassung brachte, indem sie, mild begütigend, die Aussprache mit den Worten schloß: »Du reste, je suis prête à soutenir le contraire –« was einen Witz bedeutete, jedoch ein Körnchen Wahrheit enthielt.

*

Es war Hochsommer geworden. Freesia hätte längst wieder jenseits des Gotthards sein sollen, schon streckten sich hilfesuchende Hände nach ihr, aber jede Woche rückte sie den Reisetag ein wenig ferner hinaus. Denn es wurde ihr schwer, sich von diesem brütenden Zauber loszureißen, dieser stummen, duftenden Glut und dünn gewordenen Luft, nun das Korn geschnitten war und die Felder zu Ziegelstaub verbrannten. Aber das, was sie gar nicht losließ, war doch eigentlich Lissy, mehr Erntegöttin denn je in den gestickten slawischen Gewändern aus weichem, handgewebtem Mull, die ihr eine der vielen Kameradinnen, die einst bei Miß Fortescue in ihren Bann geraten war, aus fernen Ländern geschickt hatte. Lissy, gastfrei, gebefroh, frische Feigen 108 verteilend, mit den Buben ringend, dann wieder ganz versunken dem Sägen der Zikaden lauschend . . . so wie sie kam und ging, zu diesem Land gehörend, diesem Stück Erde, diesem erdnahen, weltfernen Dasein . . .

Auf der Terrasse waren Rosen und Nelken längst verblüht, nur die Gardenien in ihren großen Kübeln waren betäubend, und von den Zitronen, die voller Früchte hingen, fielen immer noch wächserne Blüten ab.

Frau von Boutenzorg sammelte sie zu kleinen Haufen; mit den schon getrockneten Rosenblättern und dem Lavendel, der aus allen Mauerspalten quoll, machte sie Potpourri. Freesia half ihr dabei.

»Schade«, sagte Frau von Boutenzorg, »daß man Ihre Lieblingsblume, die Ihnen ja eigentlich ähnlich sieht, nicht auch verwenden kann, aber sie ist so fragil, verliert den Duft bald, nachdem man sie gepflückt hat, braucht wohl den Erdboden. Hoffentlich ist das nicht bei Ihnen der Fall, obgleich meine Tochter Ihnen den Namen gab und sich was auf diese berühmte Psychologie einbildet, von der jetzt so viel geredet wird.«

Denn ja, Freesia hieß gar nicht Freesia, sondern Sophie, ein Name, der in der Sprache ihrer Heimat natürlich in »Zöffeli« ausartete. Lissy war entsetzt: »Zöffeli, ich bitte Sie, Liebchen, das paßt ja gar nicht zu Ihnen. Zöffeli ist etwas Kleines, Rundliches, mit braunen Zöpfen um den Kopf gelegt und hat Grübchen an den Ellbogen. So ein bißchen Gotthelf, nein, eher noch Auerbach – herzig, nicht wahr? Aber Sie, Kind, und Zöffeli – ausgeschlossen. Aber Freesia – noch dazu Ihr Liebling – blond und weiß und biegsam und mit dem diskreten Parfum, das nur ab und zu kommt – mit Intervallen, damit man jedesmal überrascht ist . . . allerdings fragil, bald dahin . . . aber da vertraue ich doch Ihrer Schweizer Zähigkeit – winterhart nennen das die Gärtner. Also Freesia, so tauf' ich Sie im Namen Pans und seiner schläfrigen Nymphen . . .« 109

Und dabei war es dann geblieben.

Frau von Boutenzorg sah an diesem heißen Nachmittag, wo sogar die Hummeln und Bienen in den Blütenkelchen schwiegen, ganz besonders reizend aus. Sie besaß aus den Tagen ihres Glanzes weiße gestickte Sommerkleider, wie sie kein Mensch mehr trug. Und mit einem großen Gartenhut angetan, konnte man sie von weitem für eine entzückende Verkleidete halten, irgendein Porträt darstellend, wie sie in englischen Schlössern über dem Kamin hängen, Lady Caroline oder Georgina, die sehr engelhaft und zugleich sehr »naughty« gewesen und mit Lord Byron etwas gehabt hatte, was man bedauernd, aber doch mit heimlicher Genugtuung erwähnt . . .

Freilich, in der Nähe gesehn waren da viele Falten und Fältchen, und wenn sie den Hut abnahm, graues Haar, und im Hause steckte sie einen kleinen schwarzen Spitzenschleier darüber und wurde von den Leuten la Signora Nonna genannt.

»Mammina«, sagte Lissy, »wenn du dich so aufs Großmütterliche aufspielst, mußt du auch Märchen erzählen. Freesia kennt dich noch gar nicht von dieser Seite. Das ist nämlich Mamas Spezialität. Wenn wir Kinder krank waren, mußte sie immer neue erfinden . . .«

Und Frau von Boutenzorg hatte sich überreden lassen, und Freesia kannte nun schon mehrere ihrer Geschichten. Aber sie fand sie alle ein bißchen graulich oder traurig und würde als Kind darüber geweint haben.

Da gab es eine Geschichte, die Geschichte von den Pensées – denn Frau von Boutenzorg sagte Pensées und niemals Stiefmütterchen, wie sie auch von Georginen sprach und nicht von Dahlien. Und sie sagte auch »Teint« und »scharmant« – was doch undeutsch war und tadelnswert.

Diese Pensées also standen am Tage brav und geduldig in ihrem Beet und ließen alles über sich ergehen, Sonnenglut 110 und Gießkannen, wie's gerade kam; aber in der Nacht wurden sie zu Katzen und tanzten im Mondschein. Oder sie kletterten auf die große Zypresse und sangen den Mond an. Was sie dann noch trieben, wußte Gott allein. Am andern Morgen standen sie wieder ganz ehrbar im Beet, ein bißchen abgemattet von der bewegten Nacht, aber mit kleinen, heuchlerischen Visagen, als hätten sie kein Wässerchen getrübt.

»Ja, aber deine schönste Geschichte war doch die von Oskar«, sagte Lissy, »und wenn ich Theaterdirektor wäre, würd' ich eine wunderschöne Pantomime daraus machen, mit einer ganz leisen Musik im Hintergrund, irgend so eine kleine Nachtmusik. Mozart oder Boccherini, herzzerreißend, wenn sie auch nur antippt. Raffiniert, weißt du . . .«

Frau von Boutenzorg sah in die Luft . . . ja, diese Geschichte. Sie spielte in Wien, und wenn Frau von Boutenzorg an Wien dachte, ging so ein Flimmern über ihr Gesicht, wie es Eva vielleicht auch hatte, wenn sie vor ihrer Hütte saß und spann und all der süßen Früchte im Garten Eden gedachte, in die sie vor der Abreise nicht mehr hatte beißen können . . .

»Ach nein«, sagte sie, »das ist zu lang und zu kompliziert, und ich merkte es auch den Kindern an, das Ende befriedigte sie nicht . . .«

»Ja«, meinte Lissy, »Hänsel und Gretel ist dem kindlichen Gemüt am Ende doch angemessener; die böse Hexe wird verbrannt, und es ist kein Zweifel, daß sie's verdient hat; Kinder sind immer für vierkantige Gerechtigkeit, je gründlicher, je besser. All das Nuancieren und Abwägen, hier ein Gramm mehr und dort wieder eins weniger, diese Apothekertüfteleien begreifen sie nicht . . .«

»Aber wir wollen doch hoffen, daß unser Herrgott sie begreift«, sagte Frau von Boutenzorg und lächelte liebevoll ironisch zu Lissy hin. Und wie schon manches Mal hatte Freesia die Empfindung, daß zwischen Mutter und Tochter ein Einverstehen war, das sie wohl nie in Worten ausdrücken würden. 111

Als Lissy wieder ins Haus gegangen war, blickte ihr Frau von Boutenzorg mit einem Seufzer nach. »Meine arme Tochter«, sagte sie. »Ach, Sie gutes Kind, was helfen alle Vorwürfe, die man sich macht. In schlaflosen Nächten – aber auch sonst. Man soll nicht über verschüttete Milch jammern, sagen die Engländer. Aber wenn man doch dies Nagen im Herzen nicht abstellen kann . . . wie eine tickende Uhr, die einen am schlafen hindert. Meine Lissy . . . sie ist hier doch eigentlich weggeworfen – und dort, bei den Kalmücken, oder was sie sonst noch sind, erst recht. Nur noch mehr Arbeit, noch mehr Pflichten werden es sein. Sie hat ja eine solche Lebenskraft, kann sich an so vielem freuen – aber dennoch . . . So begabt, so gescheit, faßt alles am rechten Zipfel an. Nun ja, sie hat die drei prächtigen Buben und ist eine liebreiche Mutter. Ach, mein Kind, Mutterliebe . . . es ist etwas Einziges – bei Mensch und bei Tier. Ich hab' einmal eine brütende Amsel gesehen, die ging auf einen großen Kater los. Oh, glauben Sie nicht, daß ich's gering achte. Ich selber . . . meine Kinder . . . sie waren mir viel, eine Zeitlang alles. Aber manchmal . . . ist's nicht doch ein Lückenbüßer?« Ihre blauen Augen waren ganz dunkel geworden.

*

Freesia streichelte die kleine, zarte Hand, an der die Ringe locker saßen. Seltsam dachte sie, diese Frauen, deren Ehen nicht glücklich waren, die sich wohl oft vorgekommen sind wie Waldvögel in einem Käfig – aber ihre Eheringe trugen sie getreulich, legten sie nie ab, und man gab sie ihnen mit ins Grab. Warum eigentlich? War's Heuchelei? War's Indifferenz?

»Ich hatte noch eine ältere Tochter«, fuhr Frau von Boutenzorg fort, »hat es Ihnen Lissy nicht erzählt? Sie war ganz anders als Lissy, rotblond mit ganz kleinen Sommersprößchen unter den Augen – bei ihr war's ein besonderer Charme. Mir sah sie gar nicht ähnlich. Sie hieß Svane. Wir hatten sie 112 Svanhild getauft. Herr von Boutenzorg schwärmte damals für alles Nordische, er ging auch immer nach Bayreuth. In der Schule hatte das Kind wegen des Namens viel auszustehn. Schulmädchen sind so entsetzlich mokant. Ja, aber sie paßte zu ihrem Namen; wenn sie so die Treppen hinauf- oder heruntersauste, war's immer wie Hojotohoh. Ging ihrem Kopf nach, von klein auf. Und sie war noch keine siebzehn, da heiratete sie einen Mann, der ihr Vater, ja beinah ihr Großvater hätte sein können. Ein berühmter Herrenreiter, sehnig und verwittert und braungebrannt wie ein Indianerhäuptling. All sein Denken und Trachten waren Pferde. Hatte wohl bis dahin nicht viel mit Frauen gehabt – nur so das Übliche. Aber wie er Svane bei uns auf dem Lande reiten sah, im Herrensitz, ohne Sattel, war's wie ein Steppenbrand. Übrigens gegenseitig. Die ganze Verwandtschaft rang die Hände, machte mir die ärgsten Vorwürfe, nannte es unmoralisch, diesen Altersunterschied, und was das für eine Art sei, seine Tochter zu versorgen, sie könnte ja in kurzer Zeit Witwe sein – oder geschieden – und was dann? Wenn es wenigstens eine gute Partie wäre. Aber Kais ganzes Geld steckte ja in dem Rennstall, eine ganz unsichere Geschichte . . .

Aber ich ließ sie reden. Ich sagte: und wenn sie auch nur ein Jahr lang das Glück hat, an das sie glaubt, so soll sie's haben.

Ja, das Jahr hat sie gehabt, sogar zwei. Sie starb neunzehnjährig an einer Fehlgeburt, und er, der Alte, lebt heute noch, ganz oben an der dänischen Grenze, wo er sich ein kleines Bauerngut gekauft hat. Dort reitet er in den Dünen herum, auf dem einzigen alten Gaul, der ihm geblieben ist. Stocktaub und rheumatisch; mag jetzt wohl aussehn wie Don Quixote auf seinem Klepper. Aber . . . the perfect gentleman. Alle Neujahr schreibt er mir einen Brief, sehr zeremoniös, wie aus dem Jenseits, er ist älter als ich. Aber ich weiß, er meint es gut, und er macht sich immer noch Vorwürfe. Mein 113 Gott, warum denn? Der arme Kerl. Nun . . . es ist alles sehr schmerzlich. Aber zwei Jahre lang hat meine Tochter wie im Paradies gelebt, das hat sie mir noch in ihrer Sterbestunde gesagt. Und so mein' ich denn, da sei nichts zu bereuen. Und bin ihm dankbar . . . Denken Sie doch: zwei volle Jahre Glück!«

Sie hatte die feinen Hände im Schoß zusammengepreßt, als wollte sie etwas bezwingen, als sei da etwas, das nach seinem . . . Recht begehrte.

»Aber Lissy, aber Ihre Tochter, sie hat doch gewiß auch frei gewählt? Sie haben sie doch sicher nicht überredet«, sagte Freesia, denn Frau von Boutenzorgs Verhalten dem Baron gegenüber – im besten Fall ein Ignorieren – konnte ja niemandem verborgen bleiben.

»Es gibt etwas Charakterloses«, sagte Frau von Boutenzorg, »das ist schlimmer als überreden, und das ist, den Dingen ihren Lauf lassen, weil es einem im Grunde am bequemsten ist. So beiseite stehn, wenn einer im Begriff ist, sich auf einen Morast hinaus zu wagen . . . Kindchen, Sie sehen mich an und denken, bei der alten Frau rappelt es im Kopf. Ach, lassen wir's dabei, es wäre das Schlimmste noch nicht. Oft mein' ich, es müßte schön sein, das Vergangne ganz schief und verworren zu sehn, nicht so furchtbar scharf und deutlich, jeden Schritt, den man falsch gegangen. Aber dort steht Lissy und ruft uns zum Tee. Ja, den Samowar hat sie auch erst durchgesetzt, als Axel erlebte, daß bei der Fürstin Corsini einer gebraucht wird. So groß ist sein Russenhaß. Denn obgleich er Torneskjöld heißt und Axel noch dazu, hält er's ganz mit den deutschen Edelleuten dort, diesen Bismarcksknechten! Freilich, seine Mutter stammte aus Pommern; eine schreckliche Person. Aber väterlicherseits war seine Großmutter eine Grand-Moutier. Und wenn Balten diesen Namen nennen, ist alles gesagt. Sie sollen Bärenblut in den Adern haben. Fragen Sie nur Tante Annettchen . . . die weiß 114 Geschichten! Denken Sie, wie die Grand-Moutier den Hünefeldt heiratete, der ihr erster Mann war und sie kaum sechzehn – da hielten sie auf den Gütern noch so eine Art Hofnarren, irgend so ein kleines, mißgestaltetes Scheusal, und die hatten das Vorrecht, im Zimmer der Herrschaft zu schlafen, in einem Winkel hinter dem Ofen. Wie nun die Grand-Moutier zum erstenmal das Brautgemach betritt, hockt da ein garstiger Zwerg mit dickem Kopf vor dem Feuer und grinst sie an. Sie, nicht faul, zieht einen Schuh aus und gibt ihm rechts und links ein paar tüchtige Hiebe und jagt ihn hinaus, daß er davonrennt wie ein quiekendes Ferkel. Er, der Hünefeldt, hielt sich die Seiten vor Lachen. Nun, von der Ehe ist nicht viel zu sagen, sie dauerte kaum ein Jahr. Hünefeldt verunglückte auf der Jagd, eine düstre Geschichte, es hieß, ein junger Förster habe ihn erschossen, hinterrücks, aus Rache – es war ja keine Frau sicher vor ihm. Mit dem zweiten, Torneskjöld, hatte sie einen Sohn, also Axels Großvater, der hatte ihr hitziges Temperament geerbt, schon als kleines Kind konnte ihn niemand bändigen. Besonders ungebärdig war er, wenn er baden sollte. Um ihm die Prozedur genehm zu machen, gab man ihm lebendige junge Enten mit in die Wanne, denen durfte er die Federn ausrupfen und sie quälen nach Herzenslust. Nette Erziehung, nicht wahr? Oh, wenn ich das alles gewußt hätte! Nun aber, wenigstens konnte Lissychen hier bleiben, wir wurden nicht getrennt. Denn der alte Stiefbruder sitzt immer noch auf dem Gut. Sie rechnen ja mit seinem Tod, das Wasser geht ihm schon bis ans Herz. Ach, ich wünsche ihm, hundert Jahre alt zu werden!«

Am Abend, als Freesia an ihrem Fenster stand und sich noch gar nicht trennen konnte von all dem Schwirren und Zirpen und Tönen südlicher Nächte, dem wäßrigen Trillern der Unken und dem melancholischen Tuhtuh der Erdkrebse – kam Lissy herein, in ein rumänisches Bauernhemd gekleidet, 115 das ihren schönen Hals und herrlichen Brustansatz frei ließ. Ihr starkes, braunes Haar hatte sie schon in einen Zopf geflochten; Mamas Schiffstau nannten es die Buben.

»Nun, was hast du denn so viel mit der Nonna zu reden gehabt?« sagte sie und ließ sich in einem Sessel nieder – »sie hat dir gewiß was vorgeklöhnt über Axel und mich? Mußt es nicht zu wörtlich nehmen, weißt du, Minouche hat so Anwandlungen wie der heilige Bruno, da wälzt sie sich mit Hochgenuß in Dornen der Reue über begangene Sünden. Gänzlich zwecklos. Es ist wohl so eine Art perverser Wonne.«

»Lissy«, sagte Freesia, es war ihr unbehaglich zumut, bei ihr daheim war man nicht so mitteilsam – »deine Mutter tut mir leid, sie quält sich, sie hätte dich schlecht beraten damals, bei deiner Verlobung.«

»Hat sie auch«, sagte Lissy ganz ruhig, und das Lachgrübchen zeigte sich, kam und ging wieder. »Aber siehst du, jedes Ding hat seine Ursachen, wie es auch Konsequenzen hat, die dann wieder zu Ursachen werden, eine Kette, die erst entzwei geht, wenn man stirbt. Darum soll man die Dinge mit Fassung hinnehmen, wenn sie nun einmal so und nicht anders geworden sind. Ich habe ja auch meine Portion Schuld daran, wenn man, bei meinem Fatalismus, von Schuld reden kann. Aber ein X für ein U machen, ist nie meine Sache gewesen.«

»Ich bitte dich«, stammelte Freesia, »laß es ruhen – sag mir gar nichts.«

»Ach, mein gutes Kind, ein Mensch mehr oder weniger, der da weiß, wie's bei uns aussieht – so ein Vesuvgerumpel läßt sich ja nicht vertuschen – das macht mir doch nichts aus. Nur so krasse Entladungen soll man sich verkneifen. Das ist ungentil. Man denkt an Waschfrauen dabei. Aber sonst . . ., daß sich die Leute über uns unterhalten, ist mir total gleichgültig. 116

Nur eins . . . Hat man einmal zur unrichtigen Fahne geschworen, so muß man, wenigstens nach außen hin, Beständigkeit bewahren . . . oder auch heucheln. Beständigkeit – Treue ist ein zu großes Wort. Minouche haßt ja Axel derart, daß sie sich trotz aller tugendhaften Aussprüche wie ein Zaunkönig freuen würde, wenn ich ein halbes Dutzend Liebhaber hätte. Nun . . . auch was das betrifft, will ich keine eisernen Grundsätze proklamieren. Das ist immer vorschnell. Aber die Chinesen – sie müssen weise, bedächtige Leute sein – haben da so eine Redensart: jemandem das Gesicht wahren. Und das ist man schließlich Mann und Kindern schuldig. ›Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heimlich an‹. Das ist ein Lied von Johann Sebastian Bach. Sehr reizend und sehr weise. Eigentlich erstaunlich, solche Lebensklugheit bei diesem zehnfachen Familienvater mit Allongeperücke und frommem Orgelspiel. Aber das achtzehnte Jahrhundert ist voll solcher Gegensätze. Darum ist es auch so amüsant. Nun also, Minouche, meine geliebte Minouche: Sie hat damals, als sie's hätte verhindern können, meine Verlobung geradezu protegiert. Es war ein gewiß ganz unbewußter Egoismus ihrerseits. Und Axel war am Anfang sehr unter ihrem Charme und versprach alles, was sie wollte, gab in allem nach, vor allen Dingen, weiter hier im Süden zu leben, damit wir beisammenbleiben konnten. Und Minouches absolut sichere Witwenrente trägt ja nun die Hauptlast unserer täglichen Ausgaben. Denn leider litt Axel, besonders in den ersten Jahren, an Größenwahn, kaufte Villa und Podere viel zu teuer, steckte eine Menge Geld in diese ihm ganz fremde Landwirtschaft, kaufte Zuchttiere, ließ neumodische Maschinen kommen, pflanzte Obstbäume, die hier nicht fortkamen, und hatte mit dem Eigensinn der Bauern nicht gerechnet, die an einen Ackerbau gewohnt sind wie zu Cäsars Zeiten, und von Anfang an Axels Neuerungen sabotierten, daß ich heimlich oft lachen mußte, wenn's auch eher zum Weinen war. 117 So hat er nach und nach sein eignes Vermögen und mein väterliches Erbteil verkrätscht, und wir leben fast ganz von Mamminas Gnaden. Oh, sie gäbe ja ihr Hemd und ihre Schuhe her für mich und die Kinder: aber sie läßt es ihn fühlen, daß seine Dilettantenkünste es so weit gebracht haben, und ihm ist's natürlich gräßlich, so von ihr abzuhängen. Dabei ist er im Grunde ein guter Kerl, sein Horizont ist eben eng, und dann ist er ganz undiszipliniert – die Urahne Grand-Moutier – das läßt sich nicht mehr ändern. Dabei aber ein gutes Herz, hilfsbereit bis zum letzten, wenn sein Mitleid erweckt wird. Es war eben eine schlechte Mischung – seine Mutter – irgendwo da in Pommern, daher der Bismarckkult – in Ihrer demokratischen Ahnungslosigkeit wird Ihnen dies Gemisch von Hochmut und Morgenandachten unbekannt sein . . .«

Freesia ließ die Hände in den Schoß sinken. »Aber um Gottes willen, Lissy, warum hast du ihn denn genommen?«

»Das will ich dir sagen, das kam so: Wie du weißt, verbrachten wir das halbe Jahr oder noch mehr, so Oktober bis etwa Juni, im Süden. Zuerst war's die Riviera, wo aber Minouche nie mit dem Gelde auskam; die Versuchungen waren zu groß. Später dann Florenz, von dessen Billigkeit ein paar alte Engländerinnen ihr Unglaubliches erzählt hatten. Nun, in der Pensione del Giglio und ähnlichen Zufluchtsstätten war es allerdings nicht teuer. Aber es gab die »Spese straordinarie«, weißt du, wenn auch vielleicht nicht so viele wie in Nizza und Mentone. Wieso aber die winterliche Tramontana für Mamas Bronchien gut sein sollte, habe ich nie begriffen. Jedenfalls haben Ärzte und Apotheken schön an uns verdient. Nun, schließlich hat sie durchgehalten und ist zur Zeit in einem ganz erfreulichen Kräftezustand. Doktor Grassi hat es mir zugeschworen. Man darf sie nur nicht danach fragen – sonst fängt sie sofort an zu piepsen.

Ja also, du wolltest wissen, wie's zu meiner Heirat kam? Wie 118 gesagt, Oktober bis Juni Florenz, dann Klein-Föhrde, wohin uns Onkel Albrecht immer noch einlud, freilich nicht mehr so ausgiebig wie sonst, dafür sorgte die sauersüße Sabine. Vier Wochen etwa, dann gab es zarte Winke, und wir entfleuchten. So richtig gemütlich war's ja überhaupt nicht mehr. Dann, wenn es dazu reichte, irgend so ein melancholischer Badeort, Salzuflen oder Pyrmont oder sonst was Langweiliges, wo's nicht zu teuer war. Wieder vier Wochen. Zum Schluß: Tante Äbtissin. Reizendes Milieu, altes Barockhaus in einem Riesengarten mit Sandsteinfiguren und Buchshecken und altmodischen Blumen, ich sage dir, bezaubernd. Und so liebe, alte Damen mit tadellosem Pedigree, fast alle recht arm, sonntags immer in schwarzer Seide. Zum Essen betete Tante Äbtissin, vorher und nachher, aber mehr so obenhin, als spräche sie zum Butler; so das ›Innige‹ wie bei den Pietisten konnte sie nicht leiden. Anfangs ging ich gerne hin, wurde furchtbar verhätschelt von den freundlichen alten Jungfern, eine Witwe war auch darunter, aber das merkte man ihr nicht an. Aber wie ich dann älter wurde, wollte Tante Mechthild mich ›gut‹ verheiraten. Es kamen nun öfters Herren zum Besuch, so Landräte und Gutsbesitzer, alle sehr wohldenkend und konservativ, mit großen Wappenringen und dem Johanniterkreuz, Charaktere wie Felsen, sagte Tante, mit einem Wort: gräßlich.

Und nun das Dilemma wegen Minouche, die das norddeutsche Klima nicht vertrug und davon redete, als höre sie schon den Polarfuchs bellen. Also, wenn ich da in Mecklenburg oder im Hannöverschen hängen blieb bei so einem Landrat oder Gutsbesitzer – einer, es war Tante Mechthilds Favorit, war sogar beides zugleich – wenn ich mich hätte bereden lassen, und ich kann dir sagen, wenn Tante Äbtissin noch am Abend spät zu mir kam in ihrer festonierten Nachtzacke und ihre lieben grauen Härchen in Schnecken über den Ohren festgesteckt – ja, wenn sie dann loslegte von unserm alten 119 Namen und vom lieben Gott – was weiß ich – da war's schwer, nicht nachzugeben; ich denke mir das third degree bei den Amerikanern so ähnlich, oh, ich wurde so müde, ich hätte mich zu sechs Landräten verpflichtet, wenn sie mich nur hätte schlafen lassen. Nun, ich ließ sie reden und gähnte nur laut und eindrucksvoll.

Und Minouche fing an, schwankend zu werden, und machte schon wehmütige Anspielungen – Abschied auf dem Florentiner Bahnhof, und wie sie dann einsam an all den geliebten Stätten sitzen würde, mit dem Blick auf Fiesole – aber Mutterliebe könne verzichten – so dieser gewisse Mischmasch, wenn sich jemand opfern will und dabei doch nach einem Ausweg schielt. Also den Sommer – mein letzter im adligen Stift, aber das wußte ich nicht – hielt ich grad noch stand, und als wir dann glücklich wieder in Pensione del Giglio gelandet waren und auspackten und es so wohlbekannt nach Holzrauch und Mäusen roch und der scheußliche kleine Malteser von Signora Ersilia hereingeschnüffelt kam – er hatte einen Kropf und sonntags trug er ein Halsband aus blauen Perlen – oh, da wurde mir ganz heimatlich zumut. Ich denke mir, so müßte dem verlorenen Sohn zumut gewesen sein, als er seine wohlsituierte Familie wieder los war und zu seinen Schweinen zurückkehrte.

Dann, am nächsten Abend, wir machten uns gerade Tee am Kamin – stand auf einmal Axel da, mit einer Riesenschachtel von Doney – und nach all den Landräten war er doch recht erfrischend. Und dann bat er mich – zum zweiten Male. Das erste Mal hatte ich Mama verschwiegen. Da stellte ich meine Bedingungen: Minouche sollte immer bei uns bleiben, und ich wollte auf dem Lande leben, nicht in so einem kaltmuffigen Palazzo mit roten Damastsesseln wie Papst Julius und immer Frostbeulen von den Marmorfußböden . . .

Erleichternd war auch, daß inzwischen Axels Mutter gestorben war in Dresden, wo sie horstete – eine steifleinene 120 Person nach allem, was man erfuhr; so mit dem Falken auf einer Faust und dem Gesangbuch in der andern. So war auch dieser Stein aus dem Wege geräumt. Gott, wenn Minouche mit ihr zusammengeprallt wäre! Eigentlich wahnsinnig komisch, aber doch entsetzlich, denn man hätte Minouche gewiß aus fünf Wunden blutend aus der Arena schleifen müssen . . . Nun aber, mein Märchen ist aus, die Hochzeit währte sieben Tage, und da sie nicht gestorben sind, leben sie noch heute . . .

Ist dein Wissensdurst gestillt? Aber um eines bitt' ich dich, betrachte mich nicht als Opferlamm. Gewiß, ich bin, wie damals in unsern Kreisen üblich, in vollkommener Unwissenheit in die Ehe geplumpst und kann nicht behaupten, daß die Überraschungen, die mir Herr von Torneskjöld bereitete, mich für diese Institution begeistert hätten. Aber . . . man gewöhnt sich an so manches, und dann kamen die drei Jungchens, der erste zu meinem größten Erstaunen, da ich noch nicht gelernt hatte, Ursachen und Wirkungen miteinander zu verbinden – und es sind ja liebe, warmherzige Kinder, wenn auch das Blut der Grand-Moutiers in ihnen kollert. Ach, Freesia, und das Leben ist ja doch so reich, was hab ich nicht alles entdeckt und an meinem Weg gefunden, das mir über vieles hinweghilft, das weniger schön ist, ja, es ganz vergessen läßt. Da gibt es Stunden – leg' dir's aus, wie du willst – Stunden sag' ich dir, wo ich ins Leben verliebt bin – als ob ich in einen großen Maiblumenstrauß versänke oder in den Gardenienbusch draußen, so rein wie glühender Schnee.«

Lissy war aufgesprungen, sie starrte in die Nacht, ihre Nasenflügel dehnten sich, wie sie dastand, gespannt, hinaushorchend wie eine schöne, hochgezüchtete Stute, die den Hufschlag ihres Kameraden hört.

Freesia schwieg, sie fühlte mit leisem Erkalten, daß da Gebilde durch die Luft zogen, Dinge, Erlebnisse, an denen sie keinen Anteil hatte. Ach, warum auch? Was einmal gewesen, 121 was ging's sie an! Sie hatte Lissy in ihr Herz aufgenommen, mit all ihrem Reiz, ihren Fehlern, die ja auch ein Teil ihrer Eigenart: right or wrong, my heart's darling.

Aber nun gab sich Frau von Torneskjöld einen kleinen, innerlichen Ruck. Als ob ein Schleier von ihr abglitte, der sie sekundenlang mit rätselhaftem Schimmer umgeben hatte:

»Sie werden« (Lissy wechselte oft mit dem Du und dem Sie), »Sie werden, mein Herz, sich wundern, daß ich so kühl – abgeklärt ist wohl das Wort – wenn auch ganz ohne Ressentiment über Axel und Minouche mich äußere. Ja, das macht das Altwerden; man sieht dann eben auch die andere Seite.

Aber sehen Sie, mit meinem achtzehnten Lebensjahr, nein, sagen wir neunzehnten, denn bis zu Andrés Geburt verlief alles noch in Frieden, bin ich – tertium gaudens kann man's kaum nennen – Zuhörer und Zuschauer gewesen bei den Zweikämpfen, auf Minouches Seite mit Nadelspitzen, von Axel mit Keulen seiner nordischen Väter geführt. Und so ekelhaft mir solche Wotanallüren auch sind, ich konnte ihm nicht immer unrecht geben. Minouche hat eine fast teuflische Findigkeit, den Bohrer grad an der empfindlichsten Stelle anzusetzen, nur Zahnärzte sind ihr darin vergleichbar. Manchmal ist's nur ein Blick – aber der sitzt. Und dann jene demütigenden Momente, wenn ich, in seinem Auftrag, um eine Extrabeihilfe bitten muß. Zum Beispiel, wenn das Silber (bedenken Sie, mit dem Wappen der Grand-Moutiers!) mal wieder aus dem Pfandhaus gelöst werden muß. Oh, sie gibt, sie hat mich noch nie im Stich gelassen, sie würde ihr Letztes hergeben, um mir zu helfen – und dann . . . schließlich . . . noblesse oblige! Aber es ist demütigend für einen Mann, der früher aus dem Vollen lebte, und daß gerade er mit seiner Superklugheit die Karre derartig festgefahren hat, macht es nicht angenehmer.

Wenn Schwager Eric stürbe, würde sich der finanzielle Rattenkönig wohl entwirren lassen, und die Hoffnung darauf ist 122 ja im Wachsen. Dann könnte man alle Schulden begleichen und hier alles glatt hinterlassen. Wenn auch kaum mit einem Plus. Aber auch dann bleibt die große Sorge um Minouche. Soll ich sie hier allein zurücklassen? Oder sie mitnehmen? In all das Ungewohnte hinein, mit ihrer zarten Lunge . . . diese schneeverwehten Wintertage – alle paar Stunden mal ein Schlittenglöckchen . . . und es wird so früh dunkel . . . Vielleicht für die Sommermonate ließe sich's machen. Aber dann die weite Reise. Sie ist so märchenhaft unpraktisch. Stellen Sie sich vor, daß ich als Dreizehnjährige schon all dergleichen übernahm; Hotelrechnungen, Trinkgelder, Züge im Kursbuch zusammenstellen, wir fuhren Bummelzug und kauften auf den Stationen Salami und Mineralwasser und so vertrockneten Biskuitkuchen, der einem in die falsche Kehle kam . . . aber immer erster Klasse, das vereinigte Sparsamkeit und Würde . . .

Aber süß war sie, meine Minouche, oh, sie wird immer süß sein, auch wenn sie neunzig würde, ja und warum sollte sie nicht? So angeknackste Tassen, die jedermann schont, werden oft unglaublich alt. Gott gebe es, ich kann mir dies Haus, diese Terrasse ohne sie nicht denken. Oh, ich könnte es nicht aushalten. Manchmal, wenn die Bank dort leer steht und ich seh hin, überkommt es mich, und ich koste die ganze Verödung aus, schon im voraus, und das Herz steht mir beinah still . . .«

*

Durch solche Ergüsse – sogar Herr von Torneskjöld hatte nach besonders aufregenden Zusammenstößen, wenn Freesia ihm gerade in den Weg lief, seinem Herzen Luft gemacht, was ihr höchst zuwider war, denn sie war gar nicht »erasmisch« veranlagt und kam sich vor wie ein Verräter, wenn sie Vorwürfe gegen Lissy und ihre Mutter anhören mußte – ja, durch solche Eröffnungen wurde Freesia immer tiefer in die Torneskjöldschen Verhältnisse eingeweiht. Sie segnete 123 nun das Andenken ihres pedantischen Vaters, der sie oft mit komplizierten Verrechnungen gequält hatte, und bat Lissy in einer vertraulichen Stunde, ob sie nicht einmal ihre »Bücher« nachprüfen, oder, vielleicht noch besser, den Baron darum angehn könnte. Zu ihrem maßlosen Erstaunen erfuhr sie, daß es so etwas überhaupt nicht gab, es sei denn ein kleines, schmutziges und unleserliches Heft, das der Bauer alle Vierteljahre präsentieren sollte; außerdem in einer Schublade im Eßzimmer allerhand Rechnungen und Quittungen, über Wein- und Ölverkäufe, dem Haupterträgnis toskanischer Güter. Davon erhielt der Bauer zehn Prozent, von allem übrigen die Hälfte: mezzadria. Ob es bei der Teilung ehrlich zuging, ließ sich schwer feststellen, denn manches verschwand auf ungeklärte Weise. Daher die Nachtwachen in den Kirschbäumen und die Patrouillengänge der Buben, besonders zur Zeit der ersten, teuer bezahlten Artischocken, zwischen deren Stauden sie sich indianerhaft zu schlängeln wußten.

Freesia kaufte ein Kontobuch und eine Mappe zum alphabetischen Ordnen von Rechnungen und Quittungen und machte die schönsten Rubriken für Milch und Obst, Eier und Gemüse, Öl und Wein – sie mußte dabei immer an den barmherzigen Samariter denken – bekamen ein besonderes Buch.

Während einiger Zeit trug Lissy mit dem Eifer einer Neubekehrten alles aufs genaueste ein. Aber es hielt nicht lang an.

Eines Tages, als Freesia bat, einmal wieder Einsicht nehmen zu dürfen, gestand ihr die Freundin in einiger Verlegenheit, seit vierzehn Tagen nichts mehr notiert zu haben, es sei ja doch umsonst, Axel habe wieder, ohne ein Wort verlauten zu lassen, die unglaublichsten Anordnungen gegeben, die Bauern seien rebellisch, und wenn nicht die Söhne wären, würde sie heute noch mit Minouche auf und davon gehen. Nach außen unbekümmert und gastlich sein – was ihrer Natur 124 ja auch besser entspreche als ewiges Rechnen und Knausern – aber dabei die Schublade voller Reklamationen und im Rückstand mit den Löhnen und der Wein schon im voraus verkauft – nein, das sei auf die Länge unerträglich. Und, was in ihren Augen das Schlimmste sei, es basiere alles auf Dummheit, auf Insuffizienz. »Wäre er ein Gangster und hätte ein System, das könnt' ich viel eher verwinden; es wäre immerhin aufregend und interessant, wie jeder Kampf mit dem Schicksal. Auch so ein kaltblütiger Glücksspieler hat einen Plan. Darum kann ich ihn begreifen. Aber dies ewige Danebentappen und die elenden Ausflüchte, wenn es mißlingt, was die Bauern natürlich durchschauen, denn sie haben alle den Macchiavelli im Blut und einen natürlichen Flair, wie kein irischer Setter ihn schärfer hat – das ist's, was mich beelendet.«

Es war ein ziemliches Debakel. Freesia entschloß sich, helfend einzugreifen, denn, da sie ihre gewohnte Lebensregel auch im Ausland befolgte, jeden unnötigen Luxus vermeidend, dann aber, wenn sich die Gelegenheit bot, erstaunlich großzügig war, hatte sie immer eine ganz ansehnliche Summe verfügbar. Lissy hatte sie oft mit ihrem schweizerischen Mangel an »Lebenskunst« geneckt, dieser traditionellen Sparsamkeit, die dann aber plötzlich wie die Aloestaude emporschießt in unerwarteter Großmut. (Von den vielen regelmäßigen Beiträgen Freesias zu den verschiedensten altruistischen Unternehmungen wußte sie allerdings nichts.) Nun war sie gerührt, ja erschüttert über diesen Vorschlag, so einfach vorgebracht, als handle es sich um etwas Selbstverständliches.

»Nein, Kindchen, wo denkst du hin! Das wäre mir einfach gräßlich. Und Axel . . . ja, laß gut sein, heut war er wieder wie ein kollernder Truthahn, aber er ist doch ein Gentleman, und eine junge Dame, einen Gast, in der Fremde anpumpen – nein, niemals.« 125

Sie setzten sich zusammen, sie rechneten. Ach, da waren so viele Summen und Sümmchen, und je kleiner, desto widerwärtiger waren sie. Ja, wenn Minouche noch einmal aushülfe, aus ihrem kleinen, schon recht reduzierten Privatvermögen – die Witwenrente blieb ja gesichert – und man auf alles Entbehrliche verzichtete, Mademoiselle verabschiedete und die sechs Wochen Strand in Massa drangab – vielleicht ließe sich dann die Klippe noch einmal umschiffen. Aber es würde bitter sein, Minouche gerade jetzt angehn zu müssen, wo Axel sie heute wegen des rauchenden Kamins so angebrüllt hatte. Aber Minouche vergaß ja regelmäßig, die Klappe zu öffnen, und überhaupt, was brauchte sie gerade jetzt, bei der infernalischen Hitze, Stöße alter Briefe zu verbrennen! Gott ja, sie war unverbesserlich, aber so ein alter Mensch lernt nicht mehr um, und sie war doch so lieb bei alledem – ach, was sollte sie tun!

Sie wendete sich zum Gehen. Aber die Türe öffnete sich und der Baron stand auf der Schwelle. Er hatte den Gehrock an, der in der Taille einschnitt, er hatte sich den Bart gebürstet, er war wachsbleich, sogar grünlich.

»Elisabeth«, sagte er – noch nie hatte Freesia Lissy so nennen hören – »ich habe mit dir zu sprechen.«

Freesia wollte sich davonmachen, aber Frau von Torneskjöld hielt ihren Arm umklammert:

»Um Gottes willen, Axel, sind die Bauern fort?« Denn ein solcher nächtlicher Exodus hatte schon einmal stattgefunden, gerade in der Erntezeit; eine Katastrophe, hätten die italienischen Freunde nicht mit eigenen Leuten ausgeholfen, bis alles unter Dach und Fach und eine andere Bauernfamilie gefunden war.

»Nein«, sagte Herr von Torneskjöld mit Grabesstimme, »die Bauern sind nunmehr Nebensache.« Er blickte düster, wenn auch gefaßt; kein Direktor eines Bestattungsinstituts hätte größere Feierlichkeit markieren können. »Nein, es ist etwas 126 anderes. Eric . . . mein Bruder . . .« er schluckte und seine Stimme bebte.

Auch das noch, dachte »Freesia, und dabei ist er jetzt eben ganz ehrlich, und hat doch seit Jahren auf diesen Augenblick gewartet . . . und gehofft.

Lissy blieb ganz kühl: »Da wirst du wohl so rasch als möglich reisen müssen. Um halb zwölf geht der Roma-Berlino. Sonst morgen früh 6.30, aber das frühe Aufstehen . . . da hast du dann gleich deine Migräne. Also schon besser mit dem Nachtzug, werde dir gleich das Nötigste zusammenpacken.«

»Selbstverständlich noch heute«, sagte Axel, schon weniger feierlich. »Das Auge des Herrn . . . du kennst das Sprichwort. Und auf Mademoiselle Olga muß ich sobald als möglich ein Auge haben. Sonst räumt sie dort Kisten und Kasten aus. Das erste wird sein, diese Viper an die Luft zu setzen.«

»Ich bitte dich, Axel, bring uns dort nicht gleich ins Geschrei. Sie hat zwanzig Jahre oder noch mehr bei Eric ausgehalten, ihn versorgt und gepflegt. Gewiß, ja, es war in ihrem eigenen Interesse, ihn so lang als möglich am Leben zu erhalten, aber aus welchem andern Grunde hätte sie es auch tun sollen? Jedenfalls hat er seine letzten Jahre, dank ihr, ziemlich erträglich verbracht, und ob es ein Vergnügen für sie war, dies ewige tête-à-tête mit dem alten knurrigen Mann und seinen vielen Gebresten, bezweifle ich. Sie hat auf Belohnung Anspruch, und da dürfen wir nicht mesquin sein, wenn sie was ›mitgehn läßt‹, wie man in Bayern so hübsch sagt.«

»Ich nehme an, Eric hat ihr eine ganz unverhältnismäßige Rente ausgesetzt. Solche Servituten können mit der Zeit zu einer unerträglichen Last werden. Muß das erst nachprüfen; denn zuletzt war er bestimmt nicht mehr ganz auf der Höhe.«

»Gott, wer ist denn immer ganz auf der Höhe?« sagte Lissy. »Also ich pack dir jetzt deinen Handkoffer. Zu Mammina 127 sag ich's erst morgen, wenn sie gefrühstückt hat. Für sie hat es ja seine Vorteile, hört nun auf, die Milchkuh der Familie zu sein. Aber sonst« – sie seufzte – »wird es Komplikationen geben . .  und auch Herzeleid.«

*

Nun aber konnte Freesia die Familie Tomeskjöld nicht verlassen. Briefe und Telegramme flogen in die Heimat. Sie blieb. Denn ihre Tatkraft und Hilfsbereitschaft waren unentbehrlich. Die geliebte Villa wurde zum Verkauf angemeldet. »Da vendere« stand nun am Eingang des Wegs, der zu ihr hinaufführte.

Lissys Stimme zitterte, als sie eines Tags verkündete, daß Käufer gefunden seien: schwerreiche Amerikaner, die das alles historisch instand setzen wollten, all die Holdseligkeit zerstören, welche die Zeit zusammengetragen hatte, wie grobe Finger den Farbenstaub auf Schmetterlingsflügeln verwischen: »Ach, ich sehe schon die Truhen und Renaissancesessel im Salon, und im Treppenhaus Hellebarden, rostige natürlich, das Blut der Borgia klebt noch dran. Und überall roter Kirchendamast an den Wänden. Sie lassen sich von einem Kunsthistoriker beraten und von dem alten Paggi, dem Antiquar, der wird sich schön ins Fäustchen lachen! Oh, mein armes geliebtes Haus, so reizend in seiner Dürftigkeit, seiner Grazie, die so ganz ohne Absicht war. Weißt du, das Entzückende, das, was einem den Herzglucks gibt, ist immer ohne Absicht. Jetzt werden sie hier Zypressenalleen pflanzen, weil sich das so gehört, weil es »signorile« ist, und der Gemüsegarten, die Artischocken, die alten verknorrten Ölbäume – Finis, fort damit. Ich glaube, so muß einer Mutter zumut sein, die ihre Tochter einem reichen, ekligen Parvenu ausliefert. Aber was kann ich machen? Axel braucht Kapital, es ist dort alles verloddert und verwüstet, schreibt er, der alte, gelähmte Mann ließ eben alles laufen, und Fräulein Olga hat wohl gerafft, was zu raffen war . . . Und nichts 128 wurde repariert. Da wird es Arbeit geben. Weißt du, es ist komisch, wir haben immer in so halben Ruinen gelebt . . . nun, mir ist's recht, aufbauen. Ordnung machen ist mein Fall – einen Garten neu anlegen, darauf freu ich mich. Und Axel paßt auch besser dorthin. Die Letten nehmen solche Zornausbrüche nicht schwer, sie sind ja viel phlegmatischer als die Leute hier . . .

Ach, aber jetzt hier fortgehn, gerade jetzt, aus dieser süßen, verträumten Stille! Das Haus, die Oliven, alles sieht mich an und sagt: Warum? Kennst du das Stückchen von Schumann, das »Warum« heißt – es ist so herzzerreißend . . .«

Sie pfiff ganz leise die ersten Takte, ihre Augen waren wie nasse Schiefer.

»Ja, und nun Mama! Sie geht herum wie Niobe. Sie kann ja jetzt, wo dort noch Chaos ist und der Winter so früh kommt, nicht mit. Vor nächstem Frühjahr unmöglich. Die hölzerne Sabine? Ausgeschlossen. Die sagt ihr lauter unangenehme Dinge über Axel und mich, Piken im Busch, weißt du, darin ist sie virtuos, und dann geht Minouche hoch, wie eine wütende Henne. Freesia, du mußt mir helfen. Ich habe an den Genfer See gedacht, dort lebt unsre alte Mademoiselle, Eliza de Félice, sie war Svanes Erzieherin, sehr kalvinistisch, weißt du, mit einem Netzchen über dem Haar und immer ein gestärkter Stehkragen, ich glaub' sogar im Bett . . . aber ein liebes, feines Wesen. Man müßte Minouche irgendwo in ihrer Nähe unterbringen. Seinerzeit vertrugen sie sich nicht sonderlich, überhaupt, die Gouvernanten waren bei uns immer so meteorenhaft – aber als Durchgangsstadium läßt sich ja vieles ertragen. Es ist eben mal wieder ein Lebenstunnel, man hält aus, weil man am Ende einen hellen Punkt sieht. Ja, de Félice ist so ein Lichtblick. Gott, sie meinte es ja so gut, jahrelang schickte sie Neujahrskarten mit einem Bibelspruch und dem Dent du Midi im Hintergrund – und das war edel von ihr. Überhaupt – sie hatte so was vom Admiral 129 Coligny. Sie wird auf Minouche aufpassen und mir telegrafieren, wenn sie krank würde. Denn Mama beklagt sich ja nie beizeiten, erst wenn's ganz arg geworden ist, gibt sie's zu und sieht einen vorwurfsvoll an, wie ein Hund, der einem seine schlimme Pfote hinstreckt. Eigentlich zum Prügeln – aber sie ist nun mal so.«

Freesia gehörte zu der Menschenklasse der Helfer. Sie war den in ihrem Vaterlande gezüchteten Bernhardinerhunden verwandt. Mit einem Tönnchen Branntwein und einem Päckchen Verbandzeug um den Hals gehängt, wäre auch sie über vereiste Pässe gewandert, um die Verschneiten aufzuspüren. Wie sollte sie Lissys zuckendem Munde, ihrer bittenden Stimme widerstehen?

Nach kurzem, sehr kurzem Überlegen erklärte sie sich bereit, Minouche, la Nonna, unter ihre zarten, aber ausdauernden Flügel zu nehmen, sie zu begleiten an den schönen, vielbesungenen See, der sich damals, mit noch unverbauten Ufern, wohlig dehnte und streckte, mit uralten Pappeln am Rande und kleinen, bescheidenen Siedlungen zwischen den ansteigenden Weinbergen, die im Frühling voll kleiner, süß duftender Traubenhyazinthen standen; über ihnen, fern ragend, die Höhen, weltfremd und doch menschenfreundlich leuchtend.

*

Der alte Florentiner Bahnhof war der Stadt der Medici und Strozzi nicht recht würdig. Aber man war dort so oft angekommen und abgefahren, daß seine Unbequemlichkeit und sanft-südliche Schlamperei, ja sogar sein Geruch von Öl, schlechten Kohlen und knoblauchkauenden Facchini dem Abreisenden jenen schmerzlich-süßen Stich versetzte – wie ihn der Kuhreigen dem Schweizer, das Dröhnen des Dudelsacks dem Schotten versetzen soll.

Als Freesia an jenem goldnen Herbsttag mit Frau von Boutenzorg in den wartenden Zug einstieg, hatte die alte Dame 130 schon so viele Tränen vergossen, daß sie nun, blaß und ausgeweint, fast automatisch die letzten herzzerreißenden Riten vollzog und ertrug, die zum Abschied von einem geliebten Erdenfleck gehören, der ja oft einen Abschied für immer bedeutet.

»Das Gesicht wahren.« Sowohl Mutter wie Tochter hatten die Kunst schon früh erlernt. Sie gehörte zum Glaubensbekenntnis, von dem man nicht sprach, weil es selbstverständlich war. Außer einem leisen Beben der Lippen während jener letzten Minuten war beiden nichts anzusehen, nur daß Lissy viel leiser, viel knapper sprach, als es sonst ihre Art war, und die Mutter überhaupt nicht. Auch die letzte Umarmung war kurz und hart, und eigentlich staunte Freesia über diese fast unmenschliche Reserve der beiden, die doch sonst so offen, ja beinah hemmungslos in ihren Aussprachen waren.

Als sich dann der Zug in Bewegung setzte und Lissy mit den Buben auf dem Bahnsteig zurückblieb, waren es auch nur diese, die ihre Taschentücher schwenkten – die Mutter wandte sich kurz ab, und die Großmutter blickte auch nur noch eine Sekunde hinaus und sagte dann ganz ruhig: »Sie haben doch die Schlüssel, nicht wahr, liebes Kind?«

Dann lehnte sie sich zurück, müde, aber doch mit tenue, wie es sich für eine Dame gehört, auch wenn sie zu ihrer Hinrichtung führe . . . Nach ein paar Minuten raffte sie sich dann mit einem Seufzer auf, setzte sich etwas weiter vor und sah mit ihren schönen, blauen, schwarzumränderten Augen in den sonnigen Abend hinaus.

Was sie da sah, zum letzten Male sah, hatte ihr oft, wenn sie aus Deutschland zurückkehrte, Tränen herausgelockt. Und es waren Tränen des Glücks, der Rührung gewesen. Und es war immer zu dieser selben Zeit, Ende September, Anfang Oktober, wenn die Sonne so mütterlich streichelt, wenn die Abende schon früh beginnen und der Holzrauch weht in den 131 Straßen, und Schritte hallen . . . O Schönheit, die sie dann wieder fand, die wieder ein halbes Jahr lang auf sie gewartet hatte! Sanft gewellte, silbrige Hügel, hier und dort ein weißes, langgestrecktes Haus, ohne allen Zierat, einsam, verträumt! Wo eine Pinie am Hoftor stand, die schwarzen Wipfel gegen den Himmel gebreitet! Heute blieben ihre Augen trocken. Wenn dann der Zug anhielt – auch diesmal fuhr man bis Bologna Bummelzug – waren ihr die kleinen, staubigen Bahnhöfe so freundlich bekannt, diese Statiönchen, wo es nur Chianti und Salami zu kaufen gab, und die schwammigen Biskuits aus einem Glasschränkchen, das auf dem Büfett stand. Aber heute brauchte sie nichts. Lissy hatte ihnen einen höchst zivilisierten Eßkorb mitgegeben mit allem möglichen – auch Gläser und Servietten waren dabei.

Oben aus den Fenstern des kleinen Stationsgebäudes hing Kinderwäsche, Hemdchen, Windeln, und dunkle, schmale Frauenköpfe sahen heraus oder riefen Fragen hinunter mit ihren rauhen toskanischen Stimmen . . . Und dazu der wohlbekannte Geruch der schlechten, qualmenden Kohlen, die hier gebrannt wurden – ach Gott, wird nicht alles zum Anklammern, wenn's zum letzten Male geschieht . . .?

Nun fuhren sie wieder ab, nun würden gleich die Tunnels beginnen, und man mußte die Fenster schließen, um nicht zu ersticken in dem Qualm. Sie starrte hinaus, dort, dort, die leise, blaue Gebirgskette, wie hingehaucht, unirdisch, und dort – der weiße Fleck, das Bauernhaus, nicht ohne Würde in seiner Schlichtheit. Der weiße, wollige Hund, die Bauern sitzend bei einem großen Haufen Welschkorn, sie reißen die dürren Hülsen ab, damit stopfen sie ihre Matratzen. Lebt wohl, ihr Guten, ihr Genügsamen und Fleißigen, die ihr immer noch ein Lachen übrig habt, einen Scherz, auch in der größten Armut; dies leise Zucken der Schultern . . . und wenn auch . . . una bella giornata, ist hier nicht gut leben? 132

Freesia blickte auf: War da ein kleines, hartes Aufschluchzen gewesen? Aber sie fragte nicht . . . Solch zarte, alte Dame – Mammina – Minouche – la Nonna – sie mußte das allein ausfechten, ohne Zuspruch, ohne Liebkosung . . . Es gibt Mauern . . . 133

 


 


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