Irene Forbes-Mosse
Ferne Häuser
Irene Forbes-Mosse

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Die Libelle

Liebt denn das Eisen den Magneten, der es an sich zieht? Und der Mond, wie er uns gestern fahl ins Antlitz sah, schauderte er vor dem Planeten, von dem er sich losriß, der Unselige, und doch nie mehr ganz lösen wird? Nie mehr, nie mehr . . . Und ich selbst? Muß ich alles weiterschleppen, werd' ich nie wieder mein eigen sein?

        Walter De la Mare: The Green Room

I

Solch grauer Nachmittag, der sich sanft in den Abend hineinregnet. Das konnte früher ganz hübsch sein, dachte Madlena. Man saß am Fenster und verdarb sich die Augen an der »Familie Schönkind«, einem Buch aus Mamas Jugendschrank, wo es den braven Kindern am Schluß so gut ging, und das war ja nur gerecht, nachdem sie allen Lockungen widerstanden, an vollbesetzten Pfirsichspalieren, ja an offnen Gläsern mit Erdbeerkonfitüre vorbeigesehen hatten, ohne zu wanken; erhebend, wenn auch unnatürlich.

Wurde es dann noch dunkler, so saß man still und wartete, bis oll' Mieneken die Lampe brachte, denn es ging im Gutshaus altmodisch zu, und Mama sagte begütigend, elektrisches Licht sei lieblos, und das ewige An- und Ausknipsen mache die Menschen nervös; ja, und später, beim Pächter, gab es erst recht keines. Im Zimmer nebenan übte Vater Violoncell, dazu brauchte er keine Noten, also auch kein Licht, arpeggieren nannte er's, und es klang ein bißchen katermäßig. 134 Aber zum Schluß kam die Kavatine von Raff, und das war himmlisch; wie ein heißes Bad mit sehr viel Rosenseife.

Vorbei . . . vorbei. Draußen nieselte der Regen, es war ein Frühlingsregen, aber es hätte ebensogut November sein können; »noch nicht« sieht oft ganz ähnlich aus wie »nicht mehr«.

Der Umzug stand bevor, es ging nicht weit, wo sollte sie auch hin, sie würde in diesem Stadtteil bleiben, wo sie jeden Baum, jeden Laden, jeden Hund kannte, und mit dem sie doch eigentlich nichts verband.

Schränke und Kommoden waren geleert, der Gemüsehändler und der kleine engbrüstige Kellner vom Café Abendrot gegenüber hatten Herrn Courtens' Anzüge bekommen; die glatte, platte, goldne Uhr, die sich unangenehm lauwarm anfühlte, wenn sie Herr Courtens abends aus der Westentasche nahm – er trug sie ohne Kette – und ihr zum Aufziehen gab, hatte der Neffe, der auch Courtens hieß und aus Köln gekommen war, gleich mitgenommen, sie war ihm vermacht. Das Zylinderbüro übernahm der Hauswirt, er zog es zum Taxierpreis vom letzten Quartal ab, und Herrn Courtens' Liegestuhl kam in ein Altersheim, das wollte die Nachtschwester besorgen.

Nachtschwester! Ein wunderlich grusliges Wort. Man dachte an etwas Dunkles dabei, mit Flügeln, das kam und ging. Vielleicht Nachtfalter, so pelzige, mit grauen, fedrigen Beinchen, die sich am Tag Gott weiß wo versteckt halten, aber am Abend kommen sie heraus. Da gab es welche mit einem Totenkopf, oben, zwischen den Augen; ob es Nachtschwestern gab, die einen Totenkopf unter der Haube trugen, ganz oben, wo es niemand sah? Wenn ein Kranker so eine erwischte, mußte er sterben.

Die Nachtschwester kam um acht Uhr, sie brachte eine schwarze Tasche mit, die aussah wie Leder, aber es war Wachstuch. Im Vorraum entledigte sie sich ihres 135 Kapotthütchens und ihres Regenmantels und setzte die Haube auf, die den ganzen Tag auf einer Flasche im Wandschrank gethront hatte. »Guten Abend, Haube« – sagte die Nachtschwester. »Guten Abend, Nachtschwester« – sagte die Haube. Die beiden sahen einander nur bei Lampenlicht, denn wenn die Schwester in der Frühe fortging, brannten immer noch die Laternen, es war dunkel und still, und sie machte klipp klapp auf dem Trottoir, als sie die Straße hinunterging, der Haltestelle zu.

Heute nun war der endgültige Abschied von ihr gewesen, sie hatten zusammen Kaffee getrunken, denn Madlena war in den Begriffen ländlicher Gastlichkeit groß geworden, und so mußte Mathilde Giesebrecht nach einem glacierten Kranz gehen, denn sie selbst hatte seit der Bestattung – einer Feuerbestattung noch dazu – nichts mehr gebacken. Es erwecke die traurigsten Vorstellungen in ihr, und überhaupt, sagte Mathilde, in einem Trauerhaus gehöre sich das nicht, wenn's da schon auf der Treppe so festlich rieche, nach gebranntem Zucker und Angebackenem.

Die Nachtschwester trank und stippte ausgiebig, eine aufglimmende Lebenslust ließ sich nicht verbergen. Mein Gott, es war nun einmal nicht zu ändern, und es war ja bestimmt nichts versäumt worden, zuletzt auch noch Sauerstoff, und sie hatte an Herrn Courtens ihre ganze, nicht immer leichte Pflicht getan. Aber Gott hielt es nun einmal für richtig, Herrn Courtens abzuberufen (sie wollte nicht sagen »mit ihm ein Ende zu machen«), und Gott hatte immer seine guten Gründe, was er auch tat, daran zu zweifeln, war sündhaft, und es half auch zu nichts, warum also sollte sie nicht den guten, zichorienfreien Kaffee genießen und dem schönen Kranzkuchen zusprechen?

Sie hatte aber auch der Witwe zugesprochen, die so freundlich und gewichtlos neben ihr saß. Während der Pflege hatte sie ihr nicht viel Beachtung geschenkt, aber nun war sie 136 doch die Hauptperson im Hause geworden, und eigentlich hätte sie ihr lieber gratuliert, denn mit vierundzwanzig Jahren fängt das Leben doch erst an. Was sich alles in einer leicht betränten Jovialität kundtat und Madlena in ihrem Urteil »ordinär aber nicht ungut« bestärkte.

Die eine Stelle im Parkett knarrte immer beim Eintreten. »Wer ist da?« sagte Madlena, ohne den Kopf zu wenden, sie wußte ja, es war Mathilde Giesebrecht, die ihr vom ersten Tag feindlich Gesinnte, die sie nun – o wie gut – in kurzer Zeit verlassen würde. Rechtsanwalt Dr. Gregory hatte ihre nahegelegt, die präpotente Person gleich nach der Bestattung abzuschieben. »Ein kleines Geldopfer, meine Gnädige, und die Chose ist gemacht.« Aber Madlena brachte eine solche plötzliche Hinrichtung nicht fertig.

»Ein Herr vom Spediteur hat den Voranschlag gebracht«, sagte Mathilde mit eingekniffenen Mundwinkeln. Neuerdings sagte man »Herr«, wo man früher »Mann« gesagt hätte, Madlena vergaß es immer wieder, und es wurde ihr nicht übelgenommen, Mathilde dagegen vergaß es nie, sprach es aber betont, wie zwischen Gänsefüßchen aus, und war deshalb – und es geschah ihr recht, dachte Madlena – bei allen Lieferanten verhaßt.

»Bitte, Fräulein, machen Sie Licht«, sagte Madlena, die den Brief genommen hatte. Mathilde knipste kurz und hart, als wollte sie sagen: Also gut, mein Hühnchen, vier Wochen hast du noch zu kommandieren, nachher stehen wir gleich und gleich, und so gehört sich's auch. Sie hatte ein Legat von Herrn Courtens erhalten, ein ganz unverhältnismäßig großes, fand Dr. Gregory und machte sich seine, übrigens ganz unbegründeten Gedanken; die Erfahrungen seines Berufs hatten ihn aller Illusionen beraubt, und er vermutete, bildlich ausgedrückt, unter jedem Stein eine Kröte.

Madlena aber fand das Legat gerecht. Mathilde hatte ihre Arbeit jahrelang ohne zu wanken getan, und daß sie ein 137 Sauertopf war, dafür konnte sie ja nichts. Sie selbst würde sowieso ein bescheidenes Leben führen müssen, »ärmlich aber reinlich«, wie's in den Büchern ihrer Kindheit hieß, und wenn »die Masse« – wie sich Dr. Gregory ausdrückte – nun um ein paar Tausend kleiner wurde, so machte das ja keinen großen Unterschied an ihrem Einkommen. Denn Herr Courtens hatte alles festgelegt, sie erhielt nur die Zinsen, und wenn sie einmal starb – ach, das würde noch ewig dauern, sie war ja noch so jung – ging alles an den Neffen mit der goldnen Uhr, den Herr Courtens eigentlich nicht leiden mochte. Aber wie so viele ehrenwerte Menschen, denen es an Phantasie gebricht, war er der Ansicht, daß was aus einem bestimmten Topf kommt, in denselben Topf zurück muß, früher oder später. In diesem Fall hieß der Topf »Familie Courtens«.

Dies alles war für Madlena keine Überraschung gewesen, und so ging die Vorlesung der letztwilligen Bestimmungen durch Rechtsanwalt Dr. Gregory wie ein fern rieselndes Bächlein an ihren Ohren vorüber; auch der Passus, welcher festlegte, daß sie im Fall einer Wiederverheiratung den größeren Teil der Zinsen verlieren sollte. Sie sah auf ihre Hände nieder, die wie Fremde, wie Verlassene im Schoß ihres schwarzen Kleides lagen, und lächelte ein wenig überlegen. Ach, Freiheit! Die Klausel hätte Herr Courtens ungeschrieben lassen können.

Nachdem die Nachtschwester gegangen war, machte der Rechtsanwalt Dr. Gregory seine Aufwartung. In seinem Fall kein Schlußpunkt, sondern ein Semikolon; denn es gab immer wieder etwas abzuwickeln, und er würde noch öfters mit der Witwe zu verhandeln haben, deren Ahnungslosigkeit in Geschäftssachen er durch einen kleinen Seufzer und Emporziehen der linken Augenbraue markierte.

Mathilde Giesebrecht, innerlich empört, daß sie an ein und demselben Nachmittag zweimal Kaffee machen mußte – und 138 dabei ging es schon auf sechs – servierte mit unwilliger Emphase, was aber seinen Eindruck verfehlte, denn Dr. Gregory hatte sich bereits mit der ganzen Unbeirrbarkeit des deutschen Mannes eine Zigarre angesteckt – ein Produkt, das er »Importe« nannte, eine Bezeichnung, die zu nichts verpflichtet, denn was wird nicht alles importiert – und behandelte Mathilde als Luft. Nach einigen, der Erinnerung an den Verstorbenen geltenden Worten paffte er zunächst trübsinnig vor sich hin, ging aber dann mit einem inneren Ruck auf die Auflösung des Hausstandes über, der Schwierigkeiten gedenkend, welche die Umstellung aus größeren in kleinere Verhältnisse stets mit sich bringt; wobei er ein lateinisches Zitat gebrauchte, das mit »Sic« begann und von Madlena nicht verstanden wurde. Dann verabschiedete er sich mit plötzlicher, fast militärischer Präzision, und sie war wieder allein in dem wohlbekannten und doch fremd gebliebenen Raum. Er war mit schweren, wertvollen Möbeln ausgestattet, Familienerbgut, das sie zugleich mit Herrn Courtens übernommen hatte, oder vielmehr, wenn sie die Gewichtigkeit dieser Schränke und Truhen bedachte, von denen sie übernommen worden war. Da stand nun alles um sie her und glotzte. War da nicht eine Geschichte von Andersen, von einem alten geschnitzten Schrank, der immer so knackt und die garstigsten Gesichter schneidet, weil er sich ärgert, daß zwei Porzellanfigürchen gegenüber sich zulächeln, weil sie einander lieben . . .?

Nachdem sie noch eine kleine Weile vor sich hingestarrt hatte, zog sie ihre alte Pelzjacke an, die über einer Stuhllehne hing und unter der linken Brust etwas durchgescheuert war, wo sie immer die Pakete an sich gedrückt hatte, die sie nach Hause trug: eine besondere Sorte Brot, die Herrn Courtens verordnet war, und alle die Dinge, die ihr die Nachtschwester jeweils aufschrieb, ehe sie frühmorgens ins Grau entschwand. 139

Der feine Nieselregen hatte aufgehört, nasse Stellen auf dem Fahrdamm blieben zurück, in denen das Laternenlicht zitterte. Nun würde sie bald in einem andern Hause wohnen, einen neuen Ausblick haben, dort gab's dann einen andern Bäckerjungen, einen andern Milchmann. Ja, aber vielleicht doch nicht gleich. Sie hatte zum erstenmal gerechnet, ernsthaft gerechnet, mit drei- und vierstelligen Zahlen, und das war eine Anstrengung, denn bisher hatte das alles Herr Courtens besorgt, der noch ganz anderer Schwierigkeiten Herr wurde, denn er war »Sachverständiger« und revidierte »Bücher«, wenn irgendeine »Diskrepanz« entdeckt wurde. Er war sozusagen Kammerjäger auf Bankrotte und ähnliche Ungehörigkeiten. Aber nun war er nicht mehr da, armer Herr Courtens, sie würde nie wieder hören, wie er seinen Drücker in die Entréetüre steckte und sich nervös räusperte, nie mehr fühlen, wenn er hinter ihr stand, fein und gerade und immer ein bißchen spöttisch . . . und eben deshalb mußte sie jetzt so schrecklich viel rechnen.

Sie hatte alles zusammengezählt. Die großen, schweren Möbel durfte sie leider nicht verkaufen, die hätten sonst viel eingebracht, aber es war »alter gediegener Hausrat«, und Herr Courtens hatte große Stücke darauf gehalten. Vielleicht ließ sich der Neffe herbei und nahm sie jetzt schon mit nach Köln, wo sie herstammten. Sonst müßten die Ungetüme lagern, und das kostete viel, fast so viel wie die Wohnungsmiete einer Waschfrau. Dr. Gregory, kampfbereit, und das war ja seine Mission auf Erden, hatte aufs bestimmteste erklärt, sie müßte diese Klausel anfechten, denn sie stelle eine Servitut dar, die zu der Größe ihres Erbteils in keinerlei Verhältnis stehe. Ja, hatte er zu Madlenas Verwunderung gesagt, diese Klausel verstoße gegen die guten Sitten, worunter sie sich bisher etwas ganz anderes vorgestellt hatte, wie zum Beispiel im bloßen Hemd auf der Hauptstraße spazieren zu gehen. 140

Nun, er mußte es ja wissen, aber wenn sie seinem Rate folgte, würde es zu einem Prozeß kommen, und dann mußte sie mit erhobener Hand einen Eid leisten, und düstre Männer in Talaren – wie Pastoren, aber noch schlimmer – würden sie ermahnen, die ganze Wahrheit, nichts als die Wahrheit zu bekennen. Nein, dem war sie nicht gewachsen.

Also – sie rechnete schon wieder in Gedanken – wenn das Lagern dreihundert, oder vielleicht auch vierhundert kosten sollte – aber ihr Freund, der Dienstmann wollte ihr's viel billiger besorgen als der pompöse Spediteur – dann blieben ihr noch für dieses Jahr . . . sie rechnete. Dritter Klasse natürlich, vierter gab es leider nur in Lokalzügen, Bauernfrauen mit Tragkörben, Jäger mit netten, langohrigen Hunden fuhren darin, freundliche Leute zumeist, aber man kam nicht weit damit – also dritter Klasse. Sie wollte in das große Reisebüro in der Hauptstraße gehen, ganz mutig, die jungen Herren dort würden ihr schon helfen, auch wenn sie bat, alles aufs billigste auszurechnen: wenn man so ganz schwarz kam und mit dem Trauerhut, waren die Menschen gleich viel freundlicher. Im Schaufenster lagen große Landkarten, oder waren's Seekarten, wie oft hatte sie davor gestanden. Winzige Dampfschiffchen fuhren auf blauen Meeren, jeden Tag wurden sie ein bißchen weiter gerückt. Wenn man nun jemanden sehr lieben würde, der dort fuhr, war man doch nicht ganz geschieden. Jeden Tag könnte man feststellen, wo er gerade sei, ob er sehnsüchtig an einer Insel vorbei mußte, wo Palmen wedelten und es nach Gewürzen duftete und am Strande große Muscheln lagen mit offnen, rosenroten Mäulern, die man auflesen konnte, niemand verwehrte es . . . oder ob er in einem Hafen gelandet war, wo der Abend trübe nebelte und es nach Schlick und Teer roch, Fässer verladen wurden, Männer fluchten, ganz unverständlich, und ins Wasser spuckten. Oder ob er immer noch weiterfuhr und in die Weite sah, in den großen, fremden Sternenhimmel . . . 141

Das mußte schön sein, dachte sie, einen Seemann lieben und auf ihn warten . . . vielleicht noch schöner, als wenn er dann da war. Die junge Pächtersfrau hatte auch immer mit weißem, verklärtem Gesicht vor der Haustür gesessen und auf das Trapptrapp des Pächters gehorcht, wenn er spät abends über die Holzbrücke geritten kam. Und manchmal hatte sie Menschen auf Bahnhöfen gesehen, sie standen versonnen und warteten auf das ferne Puffen der Lokomotive, wie es immer stärker wurde. Sie hatte sie beneidet. Aber wenn der Zug dann einfuhr, war's, wie wenn im Ohr eine zarte Blase zerplatzt, es gab Freude und Küsse und Geschrei, aber vorher . . . war's da nicht schöner gewesen?

Auf sie wartete niemand, auf keinem Bahnhof stand einer, der auf die Lokomotive horchte . . . wer hätte es auch sein können! Aber einmal wegfahren wollte sie, in sonnige Länder, wo alles ganz anders war, silberne Hügel, hallende Kirchen und Gärten mit vermoosten Wasserkünsten . . . und dabei tief im Herzen das Bild einer rauchigen Stadt, wo Kinder am Hafen mit Lichtern in Papiertüten gehen und im Nebel Schiffsmasten schaukeln . . . o Heimat, wo eigentlich bist du, wo wartest du auf mich?

So war sie fast träumend durch die Straßen gegangen und stand nun vor einem Spielzeuggeschäft still, wo sie früher manchmal für ein armes Bübchen derlei kleine Sachen gekauft hatte, und sah sich nun selber schmal und fremd im Spiegelglas stehen, Puppen und Pelztiere, kleine Autos und Kochherde um sich her, und zwinkerte ihrem Bilde zu: du dort, dein Reich ist auch das meine. Denn nicht wahr, wenn ich es nun wollte, könnte ich ja hineingehen und kaufen, ohne irgend jemand zu fragen, ohne das kleinste bißchen lügen zu müssen. Aber es war ihr alles noch ungewohnt, und so lag das Geld unberührt in Herrn Courtens' Schreibtisch. Doch den Schlüssel dazu hatte sie und durfte davon nehmen, so viel sie wollte, so lange etwas da war. 142

In Herrn Courtens' eigenstem Zimmer sah es sehr ordentlich aus, wenn auch nicht wohnlich, denn niemand wohnte mehr darin. Nur Mathilde Giesebrecht ging täglich hinein und sah nach dem Rechten: »So lange ich noch da bin, soll sich hier kein Staub ansammeln«, sagte sie. Aber wohnlich – der Heizkörper war immer ungenügend gewesen – nein, wohnlich war es nicht.

An der Mittelwand stand das lange Sofa, mit dunklem Leder bespannt, von dem lawinenartig alles in die Tiefe glitt, Zeitungen, Bücher, sogar Menschen, die dort einschliefen wie Bergsteiger am Rande eines Abgrunds. Eine von Mathilde gehäkelte, moosgrüne Diwandecke schloß sich dem Erdrutsch an. Gegenüber, zwischen den Fenstern, türmte sich noch immer das Zylinderbüro, an dem Herr Courtens, wenn man die Stunden addieren würde, Jahre seines Lebens verbracht hatte. Ein Gewehrschrank – vor seinem Unfall war er ein eifriger Jäger gewesen –, ein paar Bücherregale, ein Rauchtisch und eine orientalische Truhe waren das ganze Ameublement. Herr Courtens liebte in allen Zimmern einen freien Platz in der Mitte; zum Auf- und Abgehen.

Auf dem Gewehrschrank saßen zwei ausgestopfte Vögel, dickbäuchig, mit gelben Glasaugen ins Leere starrend: Pinguin und Eidergans. Gewiß hätte Andersen etwas Entzückendes über sie zu sagen gewußt. Von der Decke aber schwebte, ampelartig, ein großer Raubvogel herab, den einen Flügel ausgestreckt, den andern geknickt, etwas niederhängend, was Herr Courtens mit bitterer Genugtuung vermerkte. Manchmal kraulte er den Vogel, den er onkelhaft per »Jaköbchen« anredete, mit dem Zeigefinger am Hals, der von Motten heimgesucht gewesen; dann lösten sich ein paar Flöckchen von ihm los.

Über dem Sofa, rechts und links vom Regulator, den Mathilde an jedem Sonntagmorgen aufzog, herrschten dagegen die Tropen. Eine Reihe von Aquarellen, in schmalste schwarze 143 Leisten gerahmt; beinahe die ganze Wand war bedeckt. Landschaften aus Bali und Java, in denen Sümpfe und Sonnenuntergänge vorherrschten, auch fremdartige Tempel darstellend, geheimnisvoll und irgendwie böse. Herr Courtens war der Anfertiger dieser talentvollen, wenn auch den Dilettanten verratenden Malereien.

Unter den Bildern, dicht über dem Sofa, waren zwei lange, schmale Glaskästen angebracht, die von ihm in fernen Erdteilen gesammelten Schmetterlinge enthaltend, blau und grün schillernde herrschten vor, und ach, welch seliges Leben hatten sie gehabt, wetteifernd mit den winzigen Kolibris, wer schöner leuchtete, wer leichter flog von Blüte zu Blüte, den kleinen Honigbeutel erspähend, in den sie ihre Zungen tauchten, sekundenlang.

Zwischen den Schmetterlingskästen, unter einem runden, gewölbten Glas, spannte eine zarte, bläuliche Libelle ihre Flügel aus, mit einer Nadel, die ihren schmalen Leib durchbohrte, an eine Korkscheibe befestigt. Sie auch hatte Glückseligkeit empfunden, aber nicht in farbigen Märchenländern: über heimatlichen Bächen, kleinen Waldteichen, auf denen Blätter schwammen, war sie hin und her gezuckt, nachdem sie an einem Sonntagmorgen mitten in Schilf und Hechtkraut, wo ihre Hülse, ihr kleines, glasiges Gefängnis hing, mühsam und zögernd, Füßchen um Füßchen, mit noch verklebten Flügeln emporgekrochen war aus dem engen Futteral. Ganz wehrlos hatte sie am Binsenstengel gehangen, unscheinbar, halbtot; bis ein Sonnenstrahl wie ein Flötenton sie weckte, und wieder einer . . . der war schon eine Fanfare. Ihre Flügel begannen zu leben, die Sonne sog ihre Feuchtigkeit auf, sie rieben sich aneinander, suchten sich zu teilen, und mit den Vorderfüßchen, den kaum befreiten, begann sie die großen, halbblinden Augen zu polieren. Zum ersten Male spiegelten sie nun das Wasser, die flimmernde Luft, und auch die Hinterbeinchen klammerten sich nicht mehr ängstlich 144 fest, sie wurden weich, ließen los, wollten den drängenden Flügeln kein Hindernis mehr sein: empor in die Bläue, einen Tag, zwei Tage, wie lange währt das Leben einer Libelle? Aber Glück ist immer endlos, denn es weiß nichts von Zeit. Bis dann Herr Courtens kam. Erst das Netz. Dann die Nadel. Hätte Madlena nachgedacht, aber das tat sie nicht, es sei denn über kleine, unwichtige Dinge, die sie aber wichtig nahm – dann würde sie sich gesagt haben, daß die Libelle unter ihrem Glasdeckel in ihrem Leben etwas bedeutet hatte oder bedeuten würde.

 

II

Als Madlena Herrn Courtens zum erstenmal begegnete, war es Sommer gewesen, ein Sommerabend, und die Begegnung fand in einem Garten statt; das was in der heißen, ausgedörrten Stadt, außer dem Stadtpark, als Garten galt. Gerade, breite Wege liefen dahin, und schmalere Pfade schlängelten sich durch die Rasenflächen, alle waren grau asphaltiert, die dünnsten Sohlen konnten darauf wandeln, wie auf Parkett. Es gab einen Springbrunnen und Teppichbeete in verschiedenster Form, Sterne, Halbmonde, eiserne Kreuze. Die Pflänzchen mußten oft erneuert werden, Staub und elektrisches Licht setzten ihnen zu. Dann kamen Gärtnerburschen mit Karren und brachten Hunderte von Blumentöpfchen, lauter neue Pflänzchen, eben aus dem Treibhaus geholt, wo es still und warm und feucht war wie im Mutterleib. Aber auch sie würden nicht lange bestehen. Die Rasenplätze waren mit hartem dunklen Gras bewachsen, kein Schaf, keine Ziege hätte es nagen mögen, aber dafür war es ausdauernd, sogar die glimmenden Zigarrenstummel schadeten ihm nichts. Solch Gras ist wie ein Schwein, sagte der Gärtnerbursche. Woran ein andres krepiert, davon wird es fett. 145

Am Rande der Wege waren wie Glühwürmchen viele winzige, farbige Lämpchen aufgereiht; ein Knips, da leuchteten sie auf, eine sich windende, glimmende Schlange; wieder ein Knips, da waren sie tot.

Madlena lebte nun bei Tante Lonny. Es war da eine dumme Geschichte gewesen, darum hatte sie fort müssen von daheim . . . ach, nicht daran rühren, eine Kinderei, und sie sollte vergessen, ja es sollte gar nicht gewesen sein. Dekorationswechsel, andere Gestalten treten auf, und sie selber wollte ja auch vergessen, wenn es nun wirklich etwas so Beschämendes war. Vater hatte den Violoncellbogen sinken lassen, zum offnen Fenster strömte Heuduft herein, und sein wildes, graues Haar und die hochgezogenen Brauen gaben ihm einen ratlosen Ausdruck: »Ich sehe ein, ich bin nicht geeignet, ein Kind wie dich zu behüten«, hatte er mit einem Seufzer gesagt. An jenem Abend hörte sie die Kavatine von Raff zum letztenmal und weinte dabei in ihren kleinen Strohkoffer hinein, den sie eben packte.

Tante Lonny war Mamas Stiefschwester, aber keine von den bösen, wie sie in Märchen vorkommen, nein, sie hatte die so viel Jüngere mütterlich geliebt, die schöne, zarte Felicia, die so schrecklich gern im Bett frühstückte, und wer hätte ihr auch zumuten können, um acht Uhr fertig zu sein, so ein Engel . . . »Du hast manchmal Momente . . .«, sagte Tante Lonny und ließ den Zwieback in der Tasse versumpfen, während sie Madlena anstarrte, »aber da fehlt doch viel; auch ihr Grübchen hast du nicht, links oben, unter dem Auge . . . ach, unvergeßlich.«

Als Mama sich in den verkrachten Offizier und Gutsbesitzer verliebte – das war Vater, aber er hatte immer am liebsten mit Künstlern und Schauspielern verkehrt, und konnte nicht Roggen von Gerste unterscheiden, und nun wohnte er bei seinem eigenen Pächter zur Miete, denn vom Gutshaus gehörte ihm kein Stein mehr und kein Ziegel vom Dach – ja, 146 also damals hatte Tante Lonny zu Mama gehalten, durch dick und dünn, denn sie hatte eine romantische Seele, und sagte: »Wo das Herz spricht, schweigt der Verstand, wer kommt dagegen an?« Aber, sagten die Leute, solch alte Jungfern reden in den Tag hinein, wirklich, ganz unverantwortlich.

Tante Lonny hatte ein kleines, exklusives Geschäft gegründet, kunstgewerblich, in einer stillen, exklusiven Straße, wo sonst keine Geschäfte waren, wo sie junge Mädchen in allen möglichen Handarbeiten unterwies. Sie machten Perlstickereien wie zur Biedermeierzeit, sie schnitzten norwegische Holztruhen, woben Teppiche nach rumänischen Mustern, punzten Leder und Metall auf marokkanische Art – »denn die Kunst frägt nicht nach dem Reisepaß«, sagte Tante Lonny, »sie verbindet die Nationen.«

Im Hintergrund des Verkaufsraumes war eine durch chinesische Wandschirme abgetrennte, intimere Ecke, unsere Sakristei, sagte Tante Lonny, dort gab es Tee und Zigaretten für die Bevorzugten. Die jungen Damen kleideten sich, der Umgebung entsprechend, etwas absonderlich; in glitzernde Blusen, altertümliche Ketten um den Hals, gelbe oder rote Babuschen an den Füßen, Dinge, die, mit irgendeinem Geburtsfehler behaftet, unverkauft geblieben waren. Auch Madlena trug an jenem schicksalsvollen Abend ein etwas verblichenes und daher im Preise herabgesetztes tunesisches Seidentuch, eng um Schultern und Hüften gewunden, aus dem sie hervorsah wie aus einem Kokon, furchtsam und neugierig.

Denn Tante Lonny war von ihrer Migräne befallen worden, einer Institution, die ihr viel Qual bereitete, die sie aber mit einem gewissen Respekt erwähnte, etwa wie in alten Adelsfamilien von einem Schloßgespenst gesprochen wird. Diese Migräne wurde für Madlena bedeutungsvoll; ohnedem wäre sie wohl kaum der nicht mehr jungen aber immer noch vergnügungssüchtigen Frau von Stettner anvertraut worden, die an einem Schönheitsinstitut tätig war und sich seit einiger 147 Zeit in der Sakristei blicken ließ. Migränen machen auch die Besten widerstandslos und trüben ihren Blick; so gab Tante Lonny mit einer schwachen Handbewegung ihre Einwilligung. Nichts hören, nichts sehen war ihr einziger Wunsch, wie er derjenige von Michelangelos Nacht gewesen. Mit welcher sich Tante Lonny in keinem andern Punkt vergleichen ließ.

*

Als sich Herr Courtens den Damen nahte, standen sie gerade vor der Volière im Pagodenstil, die sich, von kümmerlichen Blutbuchen und Silberahorn flankiert, links vom Hauptweg erhob. Herr Courtens, schlank und distinguiert in einem englischen Abendmantel, der seinen leeren Rockärmel verbarg, lüftete den Hut und begrüßte Frau von Stettner, die ganz überrascht tat. Doch schienen die beiden einander zu kennen. Madlena mit dem kleinen Barett aus Eisvogelfedern auf dem schmalen Köpfchen, und eingewickelt in das bunt gewirkte Seidentuch, schien den exotischen Vögelchen in der Volière näher verwandt als den Leuten, die hier umhergingen. Übrigens hatte auch Herr Courtens eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Sittich, wenn sich beim Lächeln das untere, etwas zerknitterte Augenlid hob, wie bei einem Vogel, der schlafen will. Und er lächelte oft an diesem Abend; freundlich, nachsichtig.

Die kleinen Inséparables, die nun auch in zartem Meisenblau gezüchtet wurden, saßen eng zusammengerückt auf ihren schwankenden Stangen, preisgegeben dem harten Licht, aufgeschreckt durch Leute, die am Gitter rüttelten. Wie üblich war in der Volière für Schatten und Schlupfwinkel nicht gesorgt, die Vögelchen durften sich ja nicht verstecken, denn Tiere sind bekanntlich für die Unterhaltung der Menschen da. Ebenso übel dran waren in einem Glaskasten eingesperrte Meerschweinchen. Den ganzen Tag hatten sie in der prallen Sonne gesessen, nun verfolgte sie die Blendung der 148 elektrischen Lampen bis in die Nacht. Madlenas Lippen zitterten, ihre Augen füllten sich, sie hörte nicht zu, was der fremde Herr mit Frau von Stettner redete. Aber er hatte sie derweil beobachtet, und als er nun erklärte, am nächsten Tag mit der Direktion reden zu wollen, damit dieser Unfug abgestellt werde, sah sie ihn dankbar an, und die ihr eigne, zögernde Art zu lächeln – lionardesk, dachte Herr Courtens – spannte ihren Mund.

Nun gingen sie langsam der Restauration zu, deren maurische Fassade wie von Brillanten besetzt in der Nachtluft funkelte.

Schöne, geschminkte Geschöpfe kamen an ihnen vorbei, hin und her zogen sie, oft zu zweien, als suchten sie etwas, dann wieder rasteten sie auf den Bänken, die zwischen blühendem Gebüsch an den Wegen standen. Nun trat ein Herr zu ihnen, lüftete den Hut ein wenig, sprach sie an, eine der beiden stand auf, um mit ihm zu gehen, die andere blieb, wartete, nun flog auch sie wieder auf und mischte sich unter die Wandelnden, suchend, spähend, in der kühler werdenden Luft. Wie die Libellen aufglänzen über einem Wasser, wenn die Sonne sie trifft; hin und her, aus dem Licht in den Schatten, wo sie unsichtbar werden, und wieder zurück ins Licht.

Vor der Restauration, etwas erhöht, lag die Terrasse; auch dort wurde serviert, es war luftig und nicht so dicht besetzt. Die Musik aus dem Speisesaal tönte gedämpft und angenehm. Dorthin steuerte Herr Courtens. »Doppelte Preise wie im Restaurant«, raunte Frau von Stettner. Ihre schwarzen Brauen zuckten wie die Antennen eines Käfers, der Süßes wittert.

Herr Courtens bestellte, fast lautlos, nur durch Fingerzeige, und bald erschien ein geheimnisvolles Gericht mit vielen Krebsschwänzen und eisgekühlte Bouillon in Tassen. Dann ein russischer Salat, der den Teppichbeeten draußen ganz ähnlich sah. Dazu gab es etwas Prickelndes aus einem 149 silbernen Eiskübel. Zwei Kellner mit Ketten um den Hals, an denen ein Metallschild baumelte, was ihnen etwas Bürgermeisterliches verlieh, glitten herbei wie auf unhörbaren Rollschuhen und verrichteten ihr Amt, ernsthaft und gedämpft.

Madlena spürte keinen Hunger, nur Durst, sie fand das kalte Getränk, in dem immer wieder winzige Bläschen hochstiegen, himmlisch, nie hatte sie etwas so Wunderbares getrunken, und so war es ihr recht, daß Herr Courtens ohne lang zu fragen, ihr Glas immer wieder vollschenkte. Sie fühlte ihre Wangen glühen und wie ihre Augen glänzten. Ab und zu erwischte sie, ohne groß darauf zu achten, ein paar Worte von Frau von Stettner, die, vom Champagner angeregt, nicht so leise flüsterte wie ihr Gastgeber: »Wo denken Sie hin . . . ausgeschlossen . . . werde Sie einführen, kultivierte alte Jungfer, absolut korrekt . . . Nun ja, ich weiß, Sie sind ein Gentleman, überlasse Ihnen das alles . . .« und dergleichen mehr. Erst viel später begriff sie, um was es sich gehandelt hatte, und daß Frau von Stettner ihre Ware anpries, ohne des eignen Vorteils zu vergessen.

Herr Courtens war in vielen fernen Ländern gewesen. Er war es wohl nicht gewohnt, darüber zu reden, denn er holte seine Eindrücke scheinbar mühsam, wie mit dem Korkenzieher, aus der Tiefe seiner Erinnerung; doch war seine knappe, zögernde Sprechweise mit der leise rheinländischen Betonung ganz sympathisch, und als er merkte, daß ihm Madlena fast andächtig zuhörte, kamen ihm die Worte rascher, gefügiger, und zwischen seinen etwas zusammengezogenen Lidern blickte er sie fast unausgesetzt an, während er die Insel Bali, die Urwälder und allerlei indischen Zauberspuk an ihr vorbeiziehen ließ.

Als er dann, nachdem er ein paarmal in Tante Lonnys Sakristei gewesen, sie beide zum Tee in seine geräumige Wohnung eingeladen hatte, empfing er sie in einer havannabraunen, gestickten Jacke aus indischem Kaschmir, wozu er ein 150 gleichfarbiges gesticktes Käppchen trug – »smoking cap« nannte er's – worin er einer sehr erlesenen Zigarre ähnlich sah.

Er war seinerzeit für große Firmen gereist, hatte Tee und Kaffee aufgekauft, wie auch orientalische Kunstgegenstände. Aus jenen Jahren stammte die Schmetterlingssammlung, stammten die Aquarelle an der Wand, wie auch allerhand Kostbares, Keramik, Silbersachen und Gewebe, die er, in weiche Tücher gehüllt, in einer Truhe verwahrte, bei deren Öffnen sich ein Duft von Moschus und Sandelholz mit dem feiner Zigaretten mischte. Im übrigen war das Zimmer, wo er seine Gäste empfing, ziemlich nüchtern eingerichtet; sein Arbeitsraum. Denn er schien mehr Vergnügen darin zu finden, seine Kostbarkeiten einzeln, bei zugezogenen Vorhängen hervorzuholen und das künstliche Licht auf dem Seidenglanz der Gewebe, dem Farbenspiel der Lasuren spielen zu lassen, um dann mit einem genießerischen Seufzer alles wieder zu verschließen, als die Dinge um sich zu haben, allen sichtbar, zur Bereicherung seines täglichen Lebens.

Jedenfalls mußte er diese Gebiete studiert haben. An Ort und Stelle, aber auch später noch. Denn er sprach ganz fachmännisch über die verschiedenen Kunstepochen Chinas und Japans, besaß kostbare englische Werke – eins besonders, mit Reproduktionen indischer Miniaturen, eine Märchenwelt – und verschmähte es nicht, mit Tante Lonny eingehend darüber zu diskutieren. Dies verständnisvolle Entgegenkommen eines Kenners erwarb ihm die Gunst der alten Dame, die den verbreiteten Glauben teilte, daß die Beschäftigung mit künstlerischen Dingen, dem »Schönen«, wie sie es nannte, den inneren Menschen klären und veredeln müsse. Sie hatte mittlerweile erfahren, daß Herr Courtens in durchaus geordneten, ja behaglichen Verhältnissen lebte, in der von ihr nun schon besichtigten Fünfzimmerwohnung, in einer Straße, wo der ansehnliche Mietzins ein gesichertes Einkommen 151 verbürgte, von einer Hausdame, Fräulein Giesebrecht betreut, die man auf den ersten Blick mit dem kreditierte, was allgemein unter weiblicher Tugend verstanden wird.

Was ihm aber in Tante Lonnys Augen besonderen Anspruch auf ihre Sympathien verlieh – und unter ihrem ganz ungewollten Einfluß begann es auch auf Madlena einzuwirken – Herr Courtens hatte einen verstümmelten Arm.

Allerlei Gestalten der alten und neueren Literatur erstanden vor Tante Lonnys innerem Blick. Der blinde Milton, von seinen Töchtern umhegt, Byrons Klumpfuß, der ihn mit soviel Bitterkeit erfüllte, aber nicht hinderte, die zaubervollsten Frauen glücklich und unglücklich zu machen; Heine, gelähmt auf seinem Schmerzenslager, von der Mouche erbarmend und erregend umsummt, vor allen Dingen aber Mr. Rochester, dem ja auch zuletzt ein Arm fehlt, und der das verlorene Augenlicht, allen ärztlichen Voraussagen zum Trotz, dank Janes Liebe und Aufopferung wiedererhält . . . sie alle tauchten auf in ihrer Erinnerung. Auch des größten unter diesen Heimgesuchten gedachte sie: Beethovens, der gewiß ein viel höheres Alter erreicht und noch viele Symphonien komponiert haben würde, wenn eine liebe, verständnisvolle Frau ihn umsorgt und die ewige Plage mit den schrecklichen Köchinnen von ihm genommen hätte. Nicht, daß sie Herrn Courtens mit Beethoven vergleichen wollte; schon weil er, wie ihr schien, gar kein Verständnis für klassische Musik aufbrachte; aber mit Mr. Rochester hatte er entschieden eine gewisse Ähnlichkeit. Welche Mission, diesen verschlossenen, sarkastischen aber hoch kultivierten Mann einem Leben heiteren Vertrauens und Genießens auf dieser schönen Erde zuzuführen; denn sie hielt ihn ja – der doch auf seine Art ganz ebenso genießerisch war wie irgendwer – für einen vereinsamten, unverstandenen Asketen, der selbst am meisten darunter litt und nur langsam und mit zartestem Taktgefühl aus seiner Vereisung zu erlösen sei. Ja, sie war anfangs selber 152 ein wenig in ihn verliebt, wie das sogar Schwiegermüttern manchmal ergehen soll, wenn auch dieser Zustand in der Regel nicht von Dauer ist.

Der Arm war am Ellbogen entfernt worden, nachdem Herr Courtens – es war wohl zwölf oder noch mehr Jahre her – eine Schrotladung erhalten hatte, die für einen Hasen bestimmt war. Der linke Ärmel der gestickten indischen Jacke hing leer hinab, seine schlanke, nervige Rechte aber war gepflegt und manikürt, ein Verdienst Mathilde Giesebrechts, die ihr eine Art Gottesdienst weihte, sie mit Kölnischem Wasser beträufelte und gewiß auch mit ihrem Haar getrocknet haben würde, wenn sich einerseits Herr Courtens, aber auch Mathildens spärliches Chignon zu solchen Demonstrationen geeignet hätte.

Herrn Courtens' Stimme tönte leise in dem dämmrigen Raum, der von Teeduft und bläulichem Rauch erfüllt war. Madlena, von Tantes Romantik angesteckt und durch Vorstellungen eines edleren Lebenszwecks in leise, bebende Ekstase versetzt, fühlte in ihrer Brust ein fast unerträgliches Brennen, wie es sie sonst nur beim Anhören der Kavatine von Raff oder beim Anblick verlaufener, frierender Hunde befallen hatte.

Dazu kam eine beschämende Erkenntnis eigener Unwürdigkeit bei der Erinnerung – der schon halb verblaßten – an eine gewiß schrecklich unpassende Begebenheit ihres jungen Lebens; hatte sie doch ihren nachsichtigen, ganz unkonventionellen Vater zu den Worten veranlaßt, die ihr eingebrannt waren, schmerzhafter noch, weil er, der Gute, seit Jahresfrist neben Mama unter dem grauen Denkstein lag: »Ich sehe ein, daß ich nicht dazu tauge, dich zu behüten.«

In angstvoll schlaflosen Nächten war der Entschluß in ihr gereift, diese ihre Jugend verdunkelnde Sache Herrn Courtens einzugestehen, wenn er – sie fühlte mit weiblichem Instinkt die Stunde nahen – den sie verwirrenden aber ehrenden 153 Vorschlag machen würde, Freud und Leid und die ihr schon bekannte Fünfzimmerwohnung mit ihm zu teilen. Tante Lonny, die sie jedoch nicht zu Rate zog, würde ihr gewiß beistimmen, dachte sie. Gestand jene doch auch ihren Käufern, wenn in einem Stoff ein Webfehler, an einer Majolika ein kaum sichtbarer Riß in der Lasur war. Bedauernd, aber honorig. Doch mit ihr darüber zu reden, brachte sie nicht fertig.

Wie man aber am besten ohne langes Besinnen ins kalte Wasser springt oder mit festem Griff eine Nessel ausreißt, so sagte Madlena, als der erwartete Augenblick gekommen war, in einem Satz und ohne Atem zu holen: »Ich muß Ihnen aber sagen, Herr Courtens, daß ich einmal bei einem Manne geschlafen habe.«

Während sie diese Patrone abfeuerte, hielt sie schon die Türklinke in der Hand. Dann wandte sie sich sofort und verließ wie gejagt das Zimmer. So wurde sie des halb gerührten, halb amüsierten Lächelns ihres ältlichen Freiers nicht gewahr, das er aber, kaum entstanden, gleich wieder unterdrückte.

 

III

Bald nachdem Madlenas Mutter gestorben war – vierzigjährig, aber doch allzu jung für einen so gar nicht rückgängig zu machenden Schritt – mußte der Witwer mit seinem Töchterchen das Gutshaus verlassen. Kaum war das Begräbnis mit seiner Begleitung schwarzer und schwärzlicher Gestalten vorüber, begann ein neues Abschiednehmen, zwar nicht von einer geliebten Toten, sondern von Dingen und Gewohnheiten, was sich weniger schmerzlich aber viel bequemer anließ.

Allgemein wurde erwartet, daß Vater und Tochter in die nahe Kreisstadt zögen, wo eher Gelegenheit war für standesgemäßes Verdienen – ach, und mit dem Standesgemäßen 154 nahm man's ja nicht mehr so genau – und sich auch Madlenas Ausbildung bequem und billig vollenden ließ.

Aber dann blieb der einstige Gutsherr doch an dem Erdenfleck haften, für den er, nun ihm nichts mehr davon gehörte, eine schuldbewußte Liebe empfand, wie für einen Verstorbenen, dem man etwas abzubitten hat. Er wohnte, fast umsonst, bei seinem früheren Verwalter, wanderte durch Wiesen und Felder, sog den Honigatem der Lupinen- und Kleefelder ein, wie er es auch sonst getan, und spielte – auch wie ehedem – wenn es zu dämmern begann, stundenlang Violoncell. Nur in die Stadt kam er nicht.

Madlena fuhr in aller Frühe mit dem Milchwagen zur Schule und kam mit ebensolcher Gelegenheit wieder heim. Das alte Mieneken – es gab auch ein junges im Dorf – kochte und tat die grobe Arbeit, die feinere ließ man so viel als möglich auf sich beruhen. Die Stuben waren ziemlich groß und luftig, wie man in alten Zeiten baute, als der Raum noch billig war, es standen nur spärliche Möbel darin, dafür aber nichts Stickiges, nichts Häßliches; so lebten sie sparsam, aber nicht ohne Anmut, dahin. Drei Jahre vergingen, manchmal summten die Bienen, Reseda und Wicken dufteten zu den Fenstern herein, manchmal schrien die Krähen, und es roch nach frischem, knisterndem Schnee, dazwischen lagen Herbst und Frühling und ihre fließende, veränderliche Schönheit. Madlenas Geburtstag war gewesen, sie hatte das sechzehnte Lebensjahr begonnen und versprach, nicht eben schön, aber eigenartig und reizvoll zu werden.

Dort, wo die Parkufer allmählich versumpften in Schilf und Röhricht, hatte sie einen wunderschönen Unterschlupf entdeckt, unter dem Gezweig einer großen, halbgestürzten Weide. Da war Schatten, von Sonnenflecken durchzittert, und es roch wunderschön nach Wasser und Moor. Wildenten schwammen vorbei, Salamander krochen herum mit behutsamen Negerpfötchen, und zweimal sah sie Libellen aus ihren 155 dünnen Hülsen schlüpfen, ähnlich den Mohnblumen, wenn ihre Stunde gekommen und sie ihren pelzigen Kelch durchbrechen und ihre verknitterten Knallbonbonröckchen auseinanderfalten, daß Luft und Sonne sie glätte. An diesem Fleck lernte sie ihre Aufgaben, dorthin transportierte sie auch andere Bücher, die aus einem pilzduftenden Wandschrank des Gutshauses stammten. Da waren ein paar Bände Shakespeare, und es wurde ihr schwer, sich in dem Dickicht zurechtzufinden, denn all diese mordenden Könige machten sie wirr; aber plötzlich kamen Lichtungen, süß und feucht und eindringlich, wie wenn nach dem Gewitter eine Amsel singt. Da war auch eine ganz alte illustrierte Ausgabe von Dickens, deren Wert niemand kannte, sonst wäre sie wohl nicht mehr vorhanden gewesen; Andersens Märchen – o, dachte sie, wieviel Wunderbares hätte er von ihrem Weidenwinkel zu erzählen gewußt – und dann noch landwirtschaftliche Schriften, über Hühnerzucht und den Koloradokäfer und allerhand gräßliche Seuchen, und ebensoviel Schriften, die von der »Erweckung« handelten und von Papas Mutter stammten, die schrecklich fromm gewesen war. In diesem Sammelsurium pickte sie herum, fand vieles, das ihr wohl gefiel, ja, sie in einen selig träumerischen Zustand versetzte, vieles auch, das sie langweilte oder das sie nicht verstand. Doch so ein rechter, verlesener Bücherwurm war sie nicht, eine Brut kleiner Wildenten, ein fein gewobenes Vogelnest im Schilf, ein sich sonnender Frosch auf großem, ledernem Seerosenblatt waren ihr interessanter als die größten Heldentaten sagenhafter Menschen. Nur der kleine David Copperfield hatte es ihr angetan, und jedes Jahr las sie wieder die Kapitel, die von seinen Ferientagen am Meer, in der Fischerhütte des guten Mr. Pegotty erzählten; immer war's, als fände sie Freunde wieder; und sie meinte den angespülten Schlick zu wittern und den Geruch alter Schiffsbretter, die in der Sonne faulen, mit ihren schmalen Nüstern aufzufangen. 156

Es war ein einsames Leben. Sie hatten wohl ein paar Gutsnachbarn, aber es ist immer eine peinliche Sache, wenn ein Standesgenosse so unverkennbar vom Pferd auf den Esel kommt, besonders wenn er selbst ganz allein an dem Abstieg schuld ist. Und dabei hatte der Alte, trotz der Misere, die sich nicht verbergen ließ, so eine Art kühler Ablehnung, die die wohlmeinenden Bekannten kopfscheu machte. Madlenas Schulkameradinnen kamen auch seltener mit der Zeit, teils wegen mangelnden Fuhrwerks, aber auch weil ihnen die souveräne Art des ehemaligen Gutsherrn, angesichts der primitiven Einrichtung – wie gräßlich roch es im Vorplatz des Verwalterhauses nach Buttermilch und Äpfeln – unbehaglich war. Nach der Konfirmation gingen die jungen Mädchen noch ein Jahr in Institute am Genfer See oder in eine berühmte Haushaltungsschule an der Bergstraße, lauter für Madlena unerreichbare Kulturgipfel; so saß sie weiter an dem alten Fleck, wo die Sonne durch die Weidenblätter tropfte, und sah mehr, als sie's hörte, das Geglucker der kleinen Wellen zwischen dem Schilf.

Werd' ich in zehn Jahren, in zwanzig Jahren immer noch hier sitzen, dachte sie, werd' ich Krankenpflege lernen wie Fräulein Mohr aus der Mühle und dem Doktor helfen mit seinen Alten und Gelähmten, oder wie Fräulein von Hasberg mit großen Reiterstiefeln in Scheuern und Ställen kommandieren und die Mägde schelten, wenn sie zu spät zum Melken kommen?

Es war so weites, ebenes Land um sie her, am Horizont ein goldener Lupinenstreifen; wie weit hätte man fliegen können, ohne irgendwo anzustoßen. Und doch war sie wie von Felsen umgeben und sah keinen Paß.

*

Der Scherenschleifer Josef Koparnik kam jeden Sommer, den Gott gab, mit seinem Karren, seinem Eselchen, seinem kleinen Spitz. Manchmal war Spitzerl müde, dann thronte es 157 neben dem Handwerkskasten auf dem Karren, meist aber trabte es brav nebenher, und wenn irgendwo ein Hase sich zeigte oder Rebhühner aufflogen, stutzte es nur einen Augenblick, denn es war ja kein Jagdhund, sondern ein Spitzerl.

Der Scherenschleifer stammte aus dem Böhmischen, ein breitschultriger Mann mit weißen Zähnen und einer bräunlichen Sammethaut, und mit kleinen Goldringen in den Ohren, was gut für die Augen sei, sagte er. Von den Arbeitern, die aus der Stadt kamen, wenn etwas auszubessern war in der Brennerei oder an den landwirtschaftlichen Geräten, unterschied er sich durch die Sprache, die viel weicher und freundlicher klang als hierzulande, aber auch seine Art sich zu bewegen, war weicher und höflicher, wenn er sich auch ganz abseits hielt. Aber er sagte »kieß die Hond, Gneddiche«, wenn er zur Pächtersfrau sprach, was sie in die größte Verlegenheit brachte, und zu Madlena sagte er »kleine Gneddiche« und schenkte ihr gelbe Ringelblumen, die er besonders schätzte, oder rief das Spitzerl herbei, daß es ihr ein Pratzerl gäbe. Dies alles mit einer gutmütigen Grazie, ganz ohne Servilität, wenn er sie auch kleine Gneddiche nannte, wie es keinem einheimischen Arbeiter eingefallen wäre.

So war er gekommen und gegangen, öfter wohl, als sich Madlena erinnern konnte, aber sie wußte, daß es um diese Zeit war, daß er durchs Land zog, woher – wohin – wer konnte es sagen. Von weitem schon hörte man ihn, denn dort wo das Dorf begann, holte er seine Mundharmonika hervor und fing an zu blasen, und es war fast wie die Sage vom Rattenfänger: die Kinder kamen gesprungen, sie liefen ihm zu, sobald sie das Quinquilieren hörten. Erst wenn er zwei Tage an seinem gewohnten Platz beim Dorfweiher mit seinem Schleifrad gestanden hatte, verlor er den Reiz des Überraschenden. Die Hausfrauen und Mägde brachten Messer und Scheren und allerhand schartiges Gartengerät, das Rädchen surrte, der braune, breitschultrige Mann steckte sich eine 158 gelbe oder rote Blume hinters Ohr und summte und pfiff dazu, und das Hündchen unter dem Karren zwinkerte in der Sonne und schnappte ab und zu nach einer Fliege. Aber dann war's auch bald zu Ende, sei's am Abend, sei's in der Frühe, verschwanden sie wieder, Mann und Hündchen, Esel und Karren – bis zum nächsten Mal.

Als nun Madlena, über ihr künftiges Leben nachdenkend, am See entlanggegangen und durch die Hopfengärten gekommen war, weiter als sie eigentlich gehen wollte, und plötzlich die Mundharmonika hörte, blieb sie stehen und wartete, um das kleine Gefährt an sich vorbeizulassen. Es kam langsam daher auf dem sandigen Wege, an morschen Holzgittern, von Waldrebe und Winden übersponnen, die ihre schönen Kelche der Sonne entgegenstreckten, entlang.

Madlena trat auf den Mann zu, der aufhörte zu spielen und ihr seine große, schlankgefingerte Hand hinhielt, denn sie begrüßten einander immer aufs freundschaftlichste. »Ach, spielen Sie weiter, ich geh ein bißchen mit, Herr Koparnik«, sagte sie.

Der Mann lachte gutmütig: »No, ein bißerl, warum nit«, sagte er. Sein Hemd stand offen, an einem Schnürchen hing eine kleine silberne Medaille. Er sah, daß Madlena darauf hinstarrte. Hier zu Land gab es keine Katholiken, sie waren den Leuten unheimlich und galten für Götzendiener. Er hob das kleine Marienbild zu den Lippen empor, dann schloß er das Hemd darüber mit einem abweisenden Blick, als wollten seine Augen sagen, dies ist unsere Sache, das geht niemand von euch was an. »Nu, dann komm', die kleine Gneddiche«, sagte er, »Nepomuk, er will vorwärts.«

Sie kamen durch ein paar kleine Weiler, hielten aber nirgends an, denn der Scherenschleifer wollte vor Dunkelwerden in dem nahen Städtchen sein, wo er gute Kundschaft hatte. Einmal ruhten sie am Wegrand, aßen Brot und Speck und tranken Wasser mit Branntwein. Es ging sich schön so 159 dem Abend entgegen, und auch die kleinen Melodien, die der Scherenschleifer blies, Volksweisen von einer fremden Molltraurigkeit, trugen sie, die doch eigentlich sorgenlos war, dahin, daß sie keine Schwere fühlte. Ab und zu sagte der Mann, nun müsse sie zurück, aber sie schüttelte den Kopf, ach nein, noch nicht, sie fühlte sich so wohl, wie konnte man da den schönen Traumfaden abbrechen.

Zweimal begegneten sie bekannten Gesichtern, die sich nach ihnen umsahen, verwundert wohl, aber nicht so sehr, denn sie wußten ja, welch einsames, aber ganz ungehemmtes Dasein sie führte, der alte Herr war ja wohl ein bißchen wunderlich, nun was ging sie's an, ob das kleine Fräulein da mit dem Scherenschleifer wanderte.

Später dann kamen neue Wege, Abkürzungen, die ihr fremd waren, wo sie niemand mehr kannte.

Es war sehr schwül geworden, und eines jener plötzlichen Frühlingsgewitter zog sich zusammen, ein schräger Schein lag auf den Saaten, während der Himmel fahl und drohend darüber hing; Vögel piepten ängstlich im Gebüsch, und Madlena faßte nach der guten, starken Hand des Mannes neben ihr. Es war ein eignes, ruhevolles Gefühl, wie sie nun mit ihm weiter ging, sie mußte plötzlich an ihren Konfirmationsspruch denken: »Er führet mich auf eine grüne Aue, mir wird nichts mangeln« – aber dabei tauchte auch schon das Gesicht des alten Pastors auf, glattrasiert mit vielen freundlichen Fältchen, das weiße Halstuch auf alte Art geknotet, und der locker sitzende Trauring an der blassen segnenden Hand. Ach, und Papa . . . es wurde ihr mit einem Male doch ängstlich, daß sie so losgegangen war, ohne etwas zu sagen. Doch nun war das Gewitter ganz nahe, aber auch das Städtchen war nicht mehr fern, und dort konnte sie ja ein Fuhrwerk bekommen, das sie zurückbrachte; es wird so schlimm nicht werden, dachte sie, denn wenn sie einen dummen Streich beging, fehlte es ihr nie an Gottvertrauen. 160

Ein warnender Wind fuhr über die trocknen Halme. Der Weg ging nun einem kleinen Eichwald zu, der wie eine grüne Insel mitten aus dem sanft gewellten Land ragte. Hier war es dunkler und bedrohlicher noch, und als es anfing zu blitzen, sah man den Erdgrund unter den Bäumen weiß aufleuchten von tausend weißen Anemonen, die ihre Köpfe jedem Windstoß neigten, sich verbeugten, als wär's ein Feentanz, ein Spiel. Nun setzte der Regen ein, ein prasselnder Guß, und es war nicht leicht, den Pfad zu erkennen. Aber der Mann ging ruhig weiter, er kannte sein Ziel, quer durchs Unterholz, einer Hütte zu, die den Waldarbeitern zum Schutz diente, ein offner Schuppen daneben, wo Reisig und dürres Laub angehäuft war. Unter den Dachschindeln steckte der Schlüssel, der Mann griff danach, er wußte Bescheid, öffnete und ließ Madlena eintreten, dann führte er das kleine Gefährt in den Schuppen, machte den Esel los und warf ihm Heu vor.

In dem einzigen Raum der Hütte war eine Feuerstelle, es lag Asche darin, und ein paar angekohlte Holzscheite. Der Scherenschleifer machte Feuer, holte ein dreibeiniges Kesselchen aus einer Ecke und ging Wasser holen. Gleich war er wieder da, kochte Kaffee, holte noch einmal Brot und Speck aus dem Sack. Alles schmeckte nach Rauch, aber der heiße trübe Kaffee tat gut, und gut war's unter Dach zu sein, denn draußen wehte und stöhnte nun ein starker Wind, und Blitz und Donner ließen nicht auf sich warten. Spitzerl legte sich vor's Feuer und stöhnte vor sich hin.

»Kleine Gneddiche muß Schuhe ausziehen«, sagte der Mann, und schon zog er ihr die nassen Schuhe aus, »nun auch noch Strumpferln und Kleiderl – muß alles trocknen . . . Hol ich Mantel . . .«

Er blieb eine Weile weg – Madlena zog ihr Kleid aus, sie wickelte sich in eine Decke, die auf dem Schemel lag. »So ist recht«, sagte der Mann. Er machte sich am Lager an 161 der Wand zu schaffen, es raschelte und knisterte, es war wohl Heu und dürres Laub unter der groben, zerrissenen Decke. »Leg sich dahin, kleine Gneddiche, werd ihr schön zudecken, bleib ich an Feuer sitzen mit Spitzerl.«

Madlena war todmüde, die Angst wegen Papas Zorn war nur noch undeutlich, draußen war's ganz schwarz geworden, und der Regen klatschte gegen die kleinen Scheiben. Sie machte sich ganz klein auf dem Lager, sie fühlte einen kalten Luftzug vom Fenster und schauerte zusammen. Da zog der Mann auch noch seine Jacke aus und stopfte sie behutsam um ihre Schultern. »Schlaf, kleine Gneddiche, wenn Wetter vorbei, werd ich wecken.«

Zwischen zusinkenden Lidern sah sie ihn noch in Hemdsärmeln am Feuer sitzen, und es war ja wohl schrecklich, daß er keine Jacke mehr hatte, aber sie war so furchtbar müde, daß sie keinen Gedanken festhalten konnte und in Schlaf fiel wie in einen Ziehbrunnen.

Wie nun der furchtbare Blitzstrahl unweit der Hütte in die große Eiche einschlug und Madlena mit einem Schrei emporfuhr, war es ein unbeschreiblicher Trost, ach, eine Zuflucht wie in Mutterarme, als sich Josef Koparnik neben sie aufs Lager setzte und den Arm um sie legte. Sie hatte ein paarmal aufgeschluchzt, nun kroch sie ganz in ihn hinein, ihre Wange lag an seinem Hals, an dem groben Hemd, das nach Schweiß und Holzrauch roch.

Das Gewitter hatte wohl seinen ärgsten Zorn ausgetobt, der Wind legte sich allmählich, und der Regen rauschte herab, eintönig, erlösend. Die große, behutsame Hand streichelte Madlenas Haar, es war seit vielen Jahren das erstemal, daß jemand sie streichelte. Sie lächelte ihm zu, schon wieder schläfrig, und sagte: »Armer Herr Koparnik, Sie sind gewiß auch müde . . . und kalt.« Ja, er war müde, die Augen fielen ihm zu, er zog das eine Bein herauf, lehnte sich zurück an die Balkenwand und sah auf sie nieder, die er fester an sich 162 zog. »Hab ich daheim auch kleins Maderl gehabt, hat sich Lieserl geheißen, ist gestorben, Mutter auch gestorben, hab ich nur noch Spitzerl . . . muß auch so gehn . . . aber frieher war schenner . . .« Und dann sagte er noch, ein Gähnen verbeißend: »Muß sich kleine Gneddiche nicht fierchten, hol ich morgen Pferd und Wagerl von Freind in Dorf . . .«

Und so saß er halb, halb lag er, den Arm um Madlena gelegt, die ganz in Frieden versank, Spitzerl ab und zu seufzend am Herdfeuer, und auf dem Tisch brannte eine kleine Blechlampe ohne Schirm und warf ihren Schein auf sie. Es sah hübsch aus im Dämmerlicht, die beiden, ein Maler hätte es malen und ausstellen mögen: »Die Heimatlosen«, oder »Auf der Flucht« oder »Der Zigeuner und sein Kind«, und es wäre reproduziert worden in Stahlstich oder Öldruck, und einwandfreie Leute hätten es einrahmen lassen und über ihr Sofa gehängt.

Aber der Verwalter, von einer landwirtschaftlichen Sitzung heimkehrend und den Lichtschein des kleinen Fensters gewahrend, fand, als er seinen Wagen verlassen und die paar Schritte bis zur Hütte gegangen war, den Anblick durchaus nicht nach seinem Sinn.

Spitzerl hatte geknurrt, dann gebellt, Herr Josef Koparnik, noch schlaftrunken, fuhr auf, und als der Verwalter die Tür aufriß, saß er da, ebenso erschrocken wie Madlena, die Koparniks Jacke fallen gelassen hatte und nun im Unterrock und Leibchen, ohne Strumpf und Schuh, die nackten Arme vor der Brust gekreuzt, sich den erstaunt spähenden Augen des Verwalters darbot. Noch ganz verwirrt, keiner Schuld sich bewußt, und doch überrascht und errötend. Aber – oh, wie gut hatte sie geschlafen.

Der Verwalter bedeutete ihr in einem Gemisch von Ärger und eisiger Höflichkeit, sich sofort anzuziehen, und ging, vom Scherenschleifer gefolgt, in den Schuppen. Madlena hörte sein Wortgepolter, o wie grob er doch war, des andern 163 Stimme schwieg, und auch als er wieder hereinkam, war er schweigsam und finster. Das letzte Freundliche, das er ihr antat, war, daß er ihr den Mantel fest um die Beine stopfte und ihr zuraunte: »Im Herbst bring ich ganz kleins Spitzerl mit für kleine Gneddiche . . . gutes Maderl . . .«

Sie sah dem Mann flehend in die Augen und hielt seine Hand fest, als verließe sie ihr einziger Freund auf Erden. Aber schon zog der kleine Jagdwagen an, die Pferde wollten nicht stehen, und der Verwalter machte ein verdrossenes Gesicht und biß sich auf die Lippen.

Daheim blieb zunächst das Strafgericht aus, das sie erwartet hatte. Papa schwieg, der Verwalter redete nur wenig, nun ja, das kleine Fräulein habe sich verirrt und sei vom Gewitter überrascht worden, und zum Glück kam er grad des Wegs gefahren und hatte sie patschnaß aufgelesen.

Dann aber kam der liebevolle Brief von Tante Lonny, die ihr ein Heim anbot; man hörte förmlich ihre Flügel flattern. Es war doch wohl etwas durchgesickert, denn oll Mieneken, das zwar eine uneheliche Tochter besaß, nun aber streng moralisch war und mit allem, was »die Herrschaft« betraf, Tabubegriffe verband, wie sonst nur auf den Südseeinseln üblich, wandte ihr bisweilen einen betrübt mahnenden Blick zu, und ihr kleiner, zusammengeschnurrter Mund schien über unausgesprochenen Vorwürfen noch mehr zusammenzuschnurren. So daß es für Madlena nicht so überraschend war, als ihr Papa, verlegen vor sich hinsehend, bedeutete, Tante Lonnys Einladung komme ihm gelegen, denn es werde gut für sie sein, unter mütterlicher Aufsicht noch einige Studien zu betreiben. Dann, am Tage ihrer Abreise, nachdem sie etwas schwermütig ihren Koffer gepackt und, den geliebten Tönen der Kavatine nachgehend, zum letzten Male sein graues Haupt geküßt hatte, hörte sie jene Worte, die sie nicht vergessen konnte, die das kleine Erlebnis, das sie wie etwas heimlich Beglückendes verwahrte, in etwas Beschämendes 164 verwandelten, von dem man nicht sprechen, an das man, besser noch, gar nicht mehr denken sollte.

 

IV

Madlenas kurze, aber, wie ihr schien, schicksalsschwere Beichte hätte zu einem ebenso kurzen Abschluß führen, oder Herr Courtens hätte das mild väterliche Register aufziehen können, gemischt mit dunklen Grolltönen an die Adresse des unstandesgemäßen Verführers, wobei sich dann – aber das wußte er ja – herausgestellt hätte, daß sich das gute Kind einer unbegangenen Missetat beschuldigte. Es gibt jedoch Menschen, die lange, nachdem die oft so grausamen Spiele der Kindheit aufgehört haben, noch immer Vergnügen daran finden, ihre Überlegenheit einem Schwächern fühlbar zu machen, wie es früher ihr Vergnügen war, Maikäfer an Fäden flattern zu lassen oder einen viel zu kleinen Hund vor eine viel zu große Kiste zu spannen.

Madlena mußte bald einsehen, daß ihr kleines Abenteuer besser unbesprochen geblieben wäre: eine Erinnerung, die so manches Mal in ihr getönt hatte wie das Rieseln einer verborgenen Brunnenstube.

Herr Courtens sah die ganze Sache mit der ihm üblichen Ironie an, gemischt mit einer leichten Rührung über die Gewissenhaftigkeit seiner kleinen Braut, die ihm von guter Vorbedeutung für die Zukunft schien. Es war angenehm zu verzeihen, wo eigentlich nichts zu verzeihen war, angenehm, ein Fädchen in der Hand zu haben, dem man bei Gelegenheit einen kleinen Ruck geben konnte, damit das Käferchen nie vergesse, daß es von nun ab keine Seitenflüge geben dürfe: Anspielungen auf bedauerliche Indiskretionen, die Folge ungewöhnlicher häuslicher Verhältnisse, ja gewiß, die er, ein liberal denkender Mann, ja nicht so schwer nehme, 165 die aber in den Augen von Durchschnittsphilistern, wie sie nun einmal die Mehrzahl ausmachen, keine Bagatelle seien, denn ein Mädchen, welches das fünfzehnte Lebensjahr vollendet habe, sei eben kein Kind mehr. Nun gut, er sage nichts weiter, am besten, man vergesse die dumme Geschichte – so schloß er seinen Diskurs. Was ihn nicht hinderte, bei der nächsten Gelegenheit wieder auf die »kleine Fatalität« zurückzukommen, ohne zu merken, daß Madlenas Gewissen allmählich vernarbte und seine Nadelstiche kaum noch empfand.

So lebten sie dahin, von Mathilde Giesebrecht umsichtig, wenn auch trübselig betreut, in der stillen, geräumigen Wohnung, allzu geräumig, da der Kindersegen ausblieb. Madlena machte Bekanntschaft mit den Frauen einiger Rechtsanwälte und Finanzleute. Da Herr Courtens, ähnlich einem konsultierenden Facharzt, öfters zugezogen wurde, wenn besonders verwickelte Fälle vorlagen, verkehrte er mit einer Anzahl solcher Herren. Nun lud man einander ein, und dank Mathildes Tüchtigkeit ging alles wie am Schnürchen.

Madlena fand die Damen entgegenkommend und mit gutem Rat bei der Hand. In allen ökonomischen Fragen konnte man sich an sie wenden, wie man ein Lexikon aufschlägt; aber auch über Konzerte und Bilderausstellungen wußten sie manches zu sagen. Wenn dann die Ehemänner aus dem Rauchzimmer kamen und nach einem Blick auf die Uhr zum Aufbruch mahnten, bekamen die Frauen etwas Geducktes im Aussehen und eilten dem Vorraum und ihren Mänteln zu, Hühnern ähnlich, die ein Auto überholt. Wenn sie dann allein waren, machte Herr Courtens, der vorm Schlafengehen noch ein Glas Selterswasser trank, kleine ironische Bemerkungen, eine Art Zusammenfassung des eben Erlebten, was in Madlena, wenn sie auch darüber lachen mußte, ein wunderlich schales Gefühl hinterließ.

Für eine dieser Frauen hatte sie gleich das erstemal eine 166 schüchterne Zuneigung gefaßt; Herrn Courtens' empfindliche Antennen hatten diese Sympathiewelle alsbald aufgefangen, und er erwähnte jene fürderhin als »Deine geliebte Häsin«. Diese Benennung war insofern passend, als die mütterliche aber lebhafte Frau den weich umschatteten, fast klagenden Blick eines Hasen hatte; als würde ihr in Heidekraut und Unterholz versteckt wohler zumute sein als auf dem eigenen seidebezogenen Sofa.

Ein paarmal im Laufe des Winters gab Herr Courtens kleine, gepflegte Herrensoupers. Dann erschienen kunstvoll aufgebaute Platten aus dem ersten Delikateßgeschäft der Stadt, Rehrücken mit mannigfaltigen Beilagen und Hummerpyramiden auf tremolierendem Fundament aus glasklarem Aspik, von Mathilde mit einem abfälligen Grunzlaut an der Hintertüre entgegengenommen; denn der künstliche Firlefanz imponierte ihr nicht.

Wenn dann die Herren, etwas gerötet von all den erlesenen Weinen, ins Wohnzimmer traten, saß Madlena schon da und schenkte türkischen Kaffee in kleine orientalische Tassen. Sie hatte allerhand Fremdartiges angetan, einen Halsschmuck aus grünlichem Jade, eine gestickte persische Jacke, von Herrn Courtens Scheherezade benannt, die in allen Schattierungen welker Rosenblätter schimmerte. Zu solchen festlichen Gelegenheiten holte er seine Schätze aus der Wundertruhe hervor, um sie ihr wieder abzunehmen, wenn die Gäste gegangen waren. Die ganze Nacht wurde sie dann den Duft von Sandelholz und chinesischer Tusche – ja auch eine Ahnung von Mäusen war dabei – nicht mehr los; und dann meinte sie, selbst eine kleine fremdartige Sache aus Lack oder Nephrit geworden zu sein, die Herr Courtens genießerisch im Lampenlicht hin und her wenden und streicheln konnte, um sie dann wieder einzubetten in die Truhe, wo sie schlief.

Es war etwas Künstliches in der Art, wie er sein Leben mit 167 ihr einrichtete, und sie, die ihre Mutter früh verloren und einsam gelebt hatte, konnte sich ja eine andre Art des Zusammenseins nicht recht vorstellen. Worüber sollte sie auch klagen? Es war alles zu undeutlich in ihr, um es auszudrücken. Er ging behutsam mit ihr um, seine Zärtlichkeit war anfangs zurückhaltend, vielleicht aus Rücksicht für sie, vielleicht auch dem lebensklugen Grundsatz folgend, daß man nichts voreilig ausschöpfen soll. Aber gerade dadurch beherrschte er sie, denn es blieb eine Unrast in ihr zurück, war's Glück oder Qual, sie wußte es nicht: war er fort, so verlangte es sie nach ihm, saß er aber bei ihr, so überfiel sie ein Gefühl von Zwang, das sie nicht froh werden ließ.

Unter ihren Bekannten galt ihre Ehe als glücklich, wenn auch ein bißchen undurchsichtig. Schade, daß kein Kindchen kommt, sagten die guten, hilfreichen Damen; sogar der berühmte Ohlsen hatte daran nichts ändern können. Nun, was nicht war, konnte ja noch werden. Nur die freundliche Häsin zwinkerte ein bißchen mit ihren melancholischen Augen. »Es ist nicht immer ein Glück«, sagte sie, und das klang seltsam aus ihrem Munde, denn sie selber besaß fünf, und auch schon Enkelkinder, und behauptete, sich in der Kinderstube immer am glücklichsten gefühlt zu haben. Doch sie litt an Gedankenblitzen eines ganz instinktiven Scharfsinns, vor dem sie oft selber erschrak. Herr Courtens war ihr von jeher unheimlich gewesen, wenn sie es auch nicht aussprach. Er hat etwas von einem verliebten Henker, dachte sie, als sie seinen plötzlich verschleierten Blick überraschte, wie er den Bewegungen Scheherezades sacht spürend nachging.

So ging die Zeit dahin, ein wenig lüftete sich der Nebel, zerriß hier und dort das Gespinst, das Madlena umsponnen hielt, und die Kritik des Herzens, die viel erbarmungsloser ist als die des Verstandes, fing an, ihre Fühler auszustrecken. 168

Im dritten Sommer erst konnten sie eine längere Reise zusammen antreten. Geschäfte aller Art und ein großer Bankprozeß, bei dem Herr Courtens zugezogen wurde, hatten es nicht früher erlaubt. »Also dies ist nun unsere etwas verspätete Hochzeitsreise«, sagte er, »ich denke, wir machen es ganz herkömmlich: zunächst mal Berner Oberland, ein bißchen abgegrast, geb' ich zu, Jungfrau, Mönch und Eiger und auch der vielgepriesene Löwe von Luzern, der eigentlich ein Gesicht hat wie ein alter, verschlafener Posthalter – das alles gehört zum landschaftlichen Abc. Erst im Älterwerden entdeckt man die eigentlichen Finessen der Natur wie der Kunst.« Madlena erblickte nun die Alpenkette, Herr Courtens nannte ihr die Meterzahl, dreitausend, dreitausendachthundert, und die Allerhöchsten waren so weit weg, daß man es ihnen gar nicht glaubte. Sie fuhren in Dampfern auf blauen Seen, sie fuhren in Drahtseilbahnen und überall, auch auf den höchsten Gipfeln, wurde ihnen Lachsmajonnaise serviert, statt Alpenkäse und Gemsenbraten, worauf sie sich gespitzt hatte. In Interlaken, wo es furchtbar heiß war, gab es viele kleine geschnitzte Bären zu kaufen, und am Abend saßen hübsche Appenzellerinnen in ihrer kleidsamen Tracht vor den Ladentüren und stickten bei Licht wunderbar fein. Denn die Geschäfte blieben der Hitze wegen bis Mitternacht offen, erst bei Dunkelwerden lebte alles auf, wurde festlich, mit Jodlern und Gitarrenspielern vor den Restaurants und Terrassen der großen Hotels, alles voller Lichter und Lampions, und elegante Leute promenierten auf und ab, standen vor den erleuchteten Auslagen oder aßen Gefrorenes und hörten der Musik zu.

Herr Courtens hatte drei kostbare Abendgewänder mitgenommen, das eine, welches er Scheherezade nannte, und ein andres, ein helles, silbriges Grün, das war der »Frühlingswald«. Aber das kostbarste, das irgendeiner längst vermoderten Mandarinenfrau gehört hatte, war rauchgrau mit 169 feinen feurigen Spritzern, das hieß die »glimmende Asche«, und er sagte ihr, sie habe doch gewiß das Märchen vom Aschenputtel noch nicht ganz vergessen, das hatte auch drei Wunderkleider, mit denen es tanzen ging. Den Halsschmuck wolle er ihr erlassen, es sei zu heiß dazu und ihr Hälschen auch ohnedem schön genug, aber schwere glatte Armringe aus Jade und Achat streifte er ihr über die schmalen Gelenke, und die Hotelgäste betrachteten das Paar mit Neugier und Teilnahme, wenn sie in der Halle erschienen; er, schon etwas angegraut, fein und drahtig in seinem Abendanzug mit dem leer hängenden Ärmel, sie, meist schweigsam, aber mit dem raschen Augenaufschlag, dem zögernden Lächeln reizend und ein bißchen geheimnisvoll. Nach dem Diner nahm sie ein dünnes Flortuch mit, und dann schlenderten sie, wie die andern auch, in der illuminierten Hauptstraße mit all den lustigen Läden oder tranken Eiskaffee und Sorbet durch Strohhalme und hörten Tessiner Volkslieder singen . . . Ihr Lieblingslokal war ein spanisches Café, dort servierten ausgesucht hübsche junge Leute mit zurückgebürstetem glänzendschwarzem Haar, in kurze weiße Leinenjacken gekleidet. Wenn sie lächelten, sah man ihre tadellosen weißen Zähne. Wie die C-dur-Tonleiter, sagte Herr Courtens. Madlena lächelte zurück, sie hatte einen besonderen Liebling unter ihnen, der sofort herbeistürzte, wenn sie sich näherten. »Ja«, sagte Herr Courtens, »das ist nun freilich schade, daß ich diesem Don José nicht ähnlich sehe. Aber weißt du, solche Leinenjacke und dann ein Kaffeebrett balancieren . . . der eine Arm könnte es am Ende nicht schaffen. Schade, mein Kind.«

Das tat nun wieder Madlena weh, und sie vermied es von nun ab, das spanische Café zu besuchen.

Dabei fiel es ihr aber auf, daß Herr Courtens, der daheim jeden Samstag die wöchentlichen Ausgaben genau revidierte, wozu Mathilde Giesebrecht ein ganz unmotiviertes 170 Armsündergesicht machte, sich hier, der Umgebung entsprechend, weltmännisch großzügig gab und ohne Zaudern auch Außergewöhnliches bewilligte. So ging er mit ihr in einen orientalischen Bazar, wo er mit Kennerblick die einzig möglichen Dinge herauspickte, wogegen er ihren Wunsch nach noch mehr kleinen geschnitzten Bären unerfüllt ließ. Dafür aber kaufte er ihr in einem eleganten Geschäft hauchdünne Leibwäsche und seidene Strümpfe, die entzückend knisterten. Es war wohl alles ein bißchen paschamäßig, aber doch einnehmend, und wenn er plötzlich hinter ihr stand und unaufdringlich, wenn auch mit ehemännlicher Selbstverständlichkeit über ihr schmales Haupt strich, fühlte sie eine Blutwelle in ihre Haarwurzeln steigen, und das war seltsam lähmend, wie eine Zauberei. Ach Gott, dachte sie, ich bin doch sehr glücklich? Wie sollte ich auch nicht glücklich sein? Aber so ganz ihrer Sache gewiß war sie nicht.

*

Gegen Ende der Reise kamen sie in südlichere Teile der Schweiz, wo die Menschen dunkeläugig waren und einen weichen, dem Italienischen verwandten Dialekt sprachen. Dort gab es glatthäutige, fast schwarze Maultiere, ihre schmalen Hufe klapperten auf den steilen, gepflasterten Wegen, die Dächer waren mit verwitterten Steinplatten gedeckt, so daß sich die Häuser kaum von den Felswänden unterschieden, aus denen sie hervorwuchsen. Kleine, versonnene Kirchen standen an kleinen, versonnenen Plätzen. An Stelle der Tür hing ein roter oder gelber Vorhang nieder, wenn man ihn zurückbog, kam einem ein Duft von Weihrauch und weißen Rosen entgegen; drinnen war alles kühl und verschwiegen, und bei jedem hallenden Schritt fürchtete man, jemanden zu stören, und doch wäre Madlena gern dageblieben, am liebsten kniend, stundenlang. Wie ein Blumenkelch tat sie sich nun auf, und dankbar ließ sie es Herrn Courtens fühlen durch ein Aufwallen ihrer müde gewordenen 171 Zärtlichkeit. Der zarte blaue Schatten unter ihren Augenlidern, die tiefer gewordene Stimme, die Trägheit, die sie nun oft rätselhaft übermannte . . . ja, sagte er sich, diese Reise war nicht umsonst, jetzt erst ist sie erwacht, erblüht.

Dabei beobachtete er sie mit ironischem Wohlwollen. Wie amüsant, wenn sie angesichts des schönsten Alpenglühens, wofür man eigentlich ein extra Trinkgeld hätte geben müssen, über einen jungen wolligen Esel oder auch ein schwarzäugiges, unbeschreiblich schmutziges Kind in Ekstase geriet und nichts anderes mehr sah und hörte, oder sich derart für die Familienverhältnisse eines Bergführers interessierte, daß sie den Weg darüber vergaß und ebensogut hätte unten bleiben können. Das Genießen des Augenblicks, dies Interesse am Nächstliegenden, ohne Gedanken an Gleichzeitiges oder Zukünftiges, das sehr kindlich oder vielleicht auch sehr weise ist, war ihr besonderes Merkmal, ja darin bestand wohl gerade ihr Reiz, und mit einem kleinen Seufzer bedachte er ihre Jugend, die doch auch einmal ins Alter übergehen würde, wie ein silberner Bach in einen grauen See mündet. Und er empfand beinahe Mitleid, denn er konnte sie sich, scheu ausweichend wie sie war, und doch plötzlich, willenlos, von Leidenschaft durchglüht, in einer solchen späteren Epoche nicht vorstellen.

Eines Tages, als die Post, die einmal täglich im tiefer liegenden Dorf geholt wurde, Zeitungen und Briefschaften in größerer Fülle gebracht hatte, bat er sie, ohne ihn spazieren zu gehen. Aber nicht weit, riet er fürsorglich, denn es fehlte ihr an Ortssinn. Nord und Süd, Ost und West ließen sich zwar auf einer Landkarte feststellen, denn da hieß es oben und unten, links und rechts, man saß davor und konnte es nicht verfehlen, aber wenn sie sich draußen orientieren mußte, so geschah es nach dem System des Däumerlings, hier ein weißer Stein, dort ein Tuff Sauerklee, oder eine seltsame Zeichnung in der Rinde des Baums. Da sich aber 172 diese Merkmale auf dem Rückweg verschoben oder unsichtbar wurden, verirrte sie sich mit Leichtigkeit.

Voll der besten Vorsätze zog sie los, und Herr Courtens versprach, ihr nachzukommen. Der Weg wand sich gleich aufwärts, an ein paar einsamen Bauernhäusern vorbei, denn das Hotel lag schon außerhalb des Dorfes. Alles war wie ausgestorben, nur eine eingesperrte Ziege hörte sie meckern; der Weg wurde schmaler und steiniger, und nun war's nur noch ein Wiesenpfad, der an einem letzten kleinen Haus, grau und verwittert wie sie alle, vorbeiführte. Eine sehr alte Frau saß auf der Türschwelle, eine Schüssel Bohnen im Schoß, ein Kätzchen strich an ihr herum. Ihr krauses, bläulich weißes Haar hob sich drahtig und eigenwillig von ihrer schmalen Stirn, die Augen in den großen Höhlen, die zarten, eingesunkenen Schläfen, die Kopfhaltung – es war alles schön an ihr. Madlena begrüßte sie mit den wenigen italienischen Worten, die ihr geläufig waren, die Alte antwortete höflich freundlich in ihrem unverständlichen Dialekt. Madlena erinnerte sich plötzlich, daß sie Weißbrot und etwas Schokolade mitgenommen hatte. Sie reichte es der Frau, vuole? frug sie. Und damit es nicht wie ein Almosen aussehe, brach sie sich selber ein Stück Brot ab und begann zu essen. Um den zarten, faltigen Mund der Alten zitterte ein langsames, sehr reizendes Lächeln. Sie nahm Madlenas Gabe entgegen, dann erhob sie sich, hager und aufrecht, und machte in wundervoller Haltung eine langsame Verbeugung. Madlena errötete, sie begriff auf einmal, was das Wort »Menschenwürde« bedeutet. Sie nahm die dünn gearbeitete Hand der Frau und legte einen Augenblick ihre junge heiße Wange darauf, etwas Unverständliches, Schönes schien in ihrem Herzen aufbrechen zu wollen, sie war den Tränen nahe. Aber auch wenn sie die Sprache besser gekonnt hätte, wie hätte sie das ausgedrückt? Sie sah der alten Frau noch einmal, schüchtern und doch vertrauensvoll in die 173 Augen, ein langer Blick, als wollte sie ihr Bild mitnehmen. Dann ging sie weiter.

Der Pfad hörte auf, aber ihr Ziel war nicht mehr fern, und es ging sich schön auf dem kurzen Gras, das wie ein Fell die Halde überzog. Große, schattenwerfende Steinblöcke lagen umher, sie lehnte sich an den einen und sah vor sich hin. Es ging ein leiser Wind, und die Wiesenblumen, die in der herben Höhenluft kleiner aber farbiger wuchsen als weiter unten, nickten und zitterten. Da waren feine, dunkelrosa Federnelken, und die Glockenblumen waren tiefblau und knisterten, wenn der Wind sie bewegte, wo aber ein kleines Rinnsal sickerte, standen die weißen Sterne der Parnassia, blaßgrün geädert. Sie rührte nichts an, den Blümchen war wohl hier oben, und sie mißtraute den Menschenhänden, sogar den eigenen, die so leicht verderben, was sie anrühren. Sie stieg weiter. Nun war der Wald ganz nahe, zuerst nur Farne und Arnika und niederes Ebereschengebüsch; dahinter, weiter oben, die Föhren, dunkel, unbewegt. Es war ein kleiner, halbschattiger Fleck, wo sie heiß und müde niedersank. Hoch über allem der ferne, ferne Himmel.

Aber nach dem Aufstieg still sitzend wurde ihr noch heißer, sie fühlte ihre Adern pochen und wie ihr Haar im feuchten Geringel an Stirn und Nacken klebte. Hier sieht mich keiner, dachte sie, und zog ihr Kleid aus. Aber es war immer noch zu viel, so schlüpfte sie auch aus dem Unterzeug, Dann warf sie sich zurück und lag unbewegt. Wie beseligend war die Sommerluft über ihren befreiten Gliedern! Wenn sie blinzelnd vor sich hinsah, ohne den Kopf zu bewegen, blickte sie gerade in die Kelche eines Stengels Waldenzian, so dunkelblau, daß der Himmel daneben blaß erschien.

Kleine stahlblaue Schmetterlinge setzten sich auf ihre Schulter, ihre wohlig atmende Brust. Es war, als fiele alles von ihr ab, so wie ihre Kleider von ihr abgefallen waren, als sei sie ein neues Geschöpf, das von niemand etwas wußte, 174 etwas wollte, nur schweben, fast ohne Flügelschlag, und dann niedersinken auf einen sonnenwarmen Stein und ein wenig mit den Flügeln zittern, auf und nieder, bis der Schlaf kam – oder der Tod. Erde, schlucke mich ein, dachte sie, aber nicht ganz, nein, nicht ganz. Sie streckte ihren schlanken Arm vor sich aus. Ja, das war ihr Arm, ihre Hand, Knochen und Fleisch und leicht gebräunte Haut, ein Teil ihrer selbst, wohlbekannt und doch auf einmal fremd hier oben in der klaren, fremden Luft. Sie rieb ihn an ihrer Stirn, ließ ihn sinken, sah an ihrem feinen, nackten Körper nieder. Ach, hatte sie ihm nichts abzubitten? Ihre Augen weiteten sich, wurden starr, als sähe sie sich plötzlich in einem Spiegel – zum erstenmal. Diese Klarheit der Luft, diese alte Frau vorhin, wie ein Steinbruch so rein, mit all den Falten und Rinnen im schönen, erschütternden Antlitz . . . O war nicht alles Schöne ein Vorwurf? Denn was machten die Menschen aus ihrem Leben! Was hatte auch sie . . . Diese einsame Stunde, frei von allem, was sie umspann, was sie band, was wollte sie ihr bedeuten? . . .

Langsam, wie im Schlaf, stand sie auf, zog ihre Kleider an, strich über Haar und Stirn, dann stieg sie erst zögernd, dann immer schneller und ohne sich umzusehen, quer über die Matten hinunter, dem ebenen Platz zu, wo das Hotel auf sie wartete, und wo Herr Courtens wartete und all das andre.

 

V

Heimgekehrt von dieser verspäteten Hochzeitsreise, begann dasselbe Leben für Madlena, als stickte sie an einem Teppich weiter, den sie unvollendet zurückgelassen hatte. Mit einer Ausnahme: während ihrer Abwesenheit waren zwei Kisten für sie angekommen; der Nachlaß ihrer Mutter. Denn dort auf dem Gutshof war nun alles aufgelöst und verkauft, und 175 ihr persönliches Erbteil wurde ihr zugestellt. Sie verbrachte die ersten Tage viele Stunden mit Auswickeln und wieder Einwickeln vergessener und neu erstehender Dinge, und dabei wurden Bilder in ihr wach, an die sie lange nicht mehr gedacht hatte.

Da war ein kleines Krokodil aus Elfenbein, aber eigentlich war's eine Nadelbüchse, und ein kleiner gestrickter Pudel, den Madlena mit ins Bett nehmen durfte, als sie irgendeine Kinderkrankheit hatte – sie war erst sieben Jahre alt damals. Winzige, in Seide oder Perlmutter gebundene Büchlein kamen zum Vorschein, in denen unleserliche Namen von Tänzern standen, mit denen Mama Walzer und Mazurka und Kotillon getanzt hatte. Auch ein paar Lavendelsäckchen, die nach Staub rochen. Dies alles lag in einer besonderen Schachtel, und die hatte sie in ihr Schlafzimmer getragen, das Herr Courtens am Tage selten betrat, denn er hatte einen eignen Ankleideraum, wo auch eine Couch stand, die er rücksichtsvoll benutzte, wenn er spät und verräuchert von einem Herrenabend kam.

Früher hatte sie einsame Stunden bei den Bücherregalen im Herrenzimmer verbracht, wo viel trockenes, fachmännisches Zeug stand, aber auch eine Reihe von Biographien und Memoiren berühmter Leute, Erinnerungen, von Menschen aufgeschrieben, die einst den Himmel stürmen, Sonne, Mond und Sterne herunterholen wollten, dann aber ihrer Illusionen beraubt und mit allerhand Altersgebresten behaftet, ihre Siege und Erfolge leicht ironisch sich selber und der Nachwelt erzählten, ohne an den Wert derselben mehr zu glauben. Herr Courtens schien diesen Zweig der Literatur zu bevorzugen, denn er war zahlreich vertreten.

Außer den offenen Regalen gab es noch einen kleinen, altmodischen Glasschrank, von Herrn Courtens »Arkana« oder auch »Giftschrank« benannt, und er hatte still vor sich hinlächelnd wahrgenommen, daß sich Madlena, wie Blaubarts 176 Frau, seines Schlüssels bemächtigt hatte und neugierig hier diesen, dort jenen Band herausholte und in ihm blätterte. Zunächst vertiefte sie sich in eine vielbändige Übersetzung von »Tausendundeine Nacht« – das Scheherezademotiv war es wohl, das sie verlockte – und der Urtext war ziemlich genau wiedergegeben. Meinetwegen, dachte er, man mußte ihr doch so manches erklären, wovon heute sogar die Zeitungen ganz offen berichteten, und sie machte dann so erstaunte Augen, daß es ganz peinlich war. Mochte sie also hier ihre Neugierde stillen und die Kuriositäten der Naturgeschichte in Märchenform erfahren.

Allerdings hatte er nicht erwartet, daß in Madlena, vielleicht aus instinktiver Abwehr, der Sinn für das Groteske dieser Offenbarungen erwachen würde. Eines Abends, als sie schmal und wie verloren in ihrem großen, geschnitzten Bett lag, sagte sie zu dem Eintretenden: »Eigentlich solltest du mir ein seidnes Schnupftuch schicken, das deinen Besuch ankündigt, so machen es die Kalifen von Bagdad. Höchst stilvoll. Mathilde, als nubische Sklavin drapiert, könnte es überbringen. Aber dazu müßte man sie schwarz anstreichen.« Herr Courtens runzelte die Stirn. »Rede keinen Unsinn«, sagte er ziemlich schroff. Er haßte solche Witze, sie verdarben ihm die Stimmung, und aus dem Munde eines so jungen Wesens, das noch dazu seine Frau war, fand er sie besonders ungehörig.

Nun aber standen die anstößigen Bände wieder in Reih und Glied, Madlena hatte anderes, Interessanteres zu lesen, etwas, das sich um ihr Herz wand und gar nicht mehr los ließ. Sie erwähnte Herrn Courtens gegenüber nichts davon, wußte selbst nicht, warum sie es nicht tat, denn er konnte ja nichts dagegen haben.

Heute wieder saß sie – es wurde früh dunkel – vor dem kleinen Kachelofen, den sie sich für ihr Zimmer erbeten hatte. Kamine wie daheim im Gutshaus gab es ja nirgends 177 in der Stadt, aber wenn sie die Ofentür aufließ und von Zeit zu Zeit kleine Tannenscheite hineinwarf, war es fast wie Herdfeuer. Um sie her lagen die alten stockfleckigen Bücher, David Copperfield, Andersens Märchen, ja sogar die an Tugend überreiche Familie Schönkind war nach so langem Begrabensein wieder interessant geworden, wie es wohl jeder Auferstandene sein würde, und wäre er zeitlebens noch so langweilig gewesen. Die Bände rochen modrig, nach Wandschrank oder auch nach dem moorigen Ufer am See, wohin sie so oft mitgenommen worden, wo die Sonne durch die Weidenzweige tropfte und die Flottille junger Wildenten vorbei zog, und ab und zu, glitzernd, eine Libelle in der heißen Luft hing, reglos starrend. Ganz aus der Ferne summte dann die Dreschmaschine, und es war ein Geruch in der Luft von Korn und Wasser und allerhand Kräutern . . . Ja, war das nicht ihre Heimat gewesen? Gewesen . . . und nun war es diese Straße, dies Haus, und die Stuben in diesem Haus, denn sie war Herrn Courtens angetraut in christlicher Ehe, und wo der Mann ist, da ist die Heimat der Frau.

Als sie die Bücher ausgepackt hatte, lagen ganz unten noch ein paar schmale Hefte, und sie erkannte ihrer Mutter Handschrift, blaß geworden, und hie und da schwer zu lesen, aber doch mit keiner andern zu verwechseln. Ein paar trockne Kleeblätter fielen heraus; Glücksklee . . . vielleicht.

Von diesen Heften hatte sie nichts gewußt, sie war ja erst zwölf, als Mama starb. Scheu blätterte sie darin; bei jedem Umwenden war's wie Einbrechen in etwas Abgeschiedenes, Wehrloses. Einzelne Sätze, einzelne Verse, aus Büchern abgeschrieben, standen da, aber auch ganze Gedichte; hier und dort waren Worte ausgestrichen und durch andere ersetzt. Waren die wohl von der Mutter selbst gedichtet? Oder übersetzt? Behutsam wie ein Eindringling suchte sie ihren Weg durch die Zeilen. Eine scheue, etwas ironische Traurigkeit sprach aus den ausgewählten Zitaten, wie ein Gehäuse war's 178 aus zusammengetragenen Splittern und Fasern, in dem eine Menschenseele ihr heimliches Leben gelebt hatte. Und doch war Mama glücklich gewesen, dachte Madlena, hatte sie doch Papa gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet, da mußte sie ihn ja heiß geliebt haben, denn es gehört etwas dazu, Vater und Mutter standzuhalten . . . War dann etwas gewesen, das sie enttäuschte? Das würde sie nie mehr erfahren. Denn nun lagen die beiden still nebeneinander, derselbe weiße Rosenbusch sandte seine Wurzeln zu ihnen hinab, dasselbe Bibelwort stand über ihnen auf dem grauen Stein, und war da ein Mißverstehen, ein heimlicher Groll gewesen, nun konnten sie's nicht mehr gut machen aneinander. Oh, wie verlassen mochte es jetzt dort ausschauen, Herbstlaub angehäuft auf den schmalen Wegen zwischen den Grabstätten, die Vögel stumm im Gebüsch . . .

Madlena las:

»Die Höhen, die im letzten Rot vergehn,
Zu schön für uns, drum hat es kein Bestehn,
Ein Hauch der Wiesen, der uns schauernd streift,
Wenn unser Herz sich sehnt und nicht begreift;
Der Berge Licht, der Täler aus und ein,
Das war und ist, wird ohne uns auch sein . . .«

Der Feuerschein tanzte über die Blätter, sie wandte eine Seite um und las wieder:

»Kein Wort von dir,
Und alle Zeit verschwunden,
Als mich dein Arm so ganz umfangen hielt,
Und nur der Lufthauch, der um meine Wunden,
Um meine leergeküßten Wangen spielt.

Zeit ging dahin,
Bald werden Frucht die Blüten, 179
Und immer reifer wird der Tage Sein,
Ach, meine Freuden, die so rasch verglühten,
Sie stehen da im letzten blassen Schein.

Wann wird die Wange neu um dich erröten,
Wann wird mein Blick in deinem Blick vergehn,
Wann wirst du anders als in schmerzlichen Gebeten
Mit mir vor Gottes großen Augen stehn . . .?«

Was wollten diese Worte? Aus welcher Tiefe kamen sie? Es war ihr alles fremd und unbekannt. Sie blätterte weiter:

»Schwerer durchs geliebte Tal
Gehen heute meine Füße,
Schwerer rinnt des Lebens Süße
In den Kelch ein letztes Mal.

Schüchtern reicht die Hand hinaus,
Wo die goldnen Falter kreisen,
Seufzend spricht die Lippe aus,
Worte, die die Erde preisen.

Menschenherzen wurden kalt,
Ließen mich alleine gehen,
Hält mir Treue doch der Wald,
Hauch der Wiesen, blaue Höhen.«

Darunter war ein Junitag vermerkt und der Name eines Höhenorts im südlichen Schwarzwald. Damals hustete Mama schon so sehr, innerlich aufhorchend meinte sie den Ton zu hören. Es stand nicht mehr viel in dem Heft, viele Blätter waren leer geblieben.

Madlena lehnte den Kopf zurück an die Wand und schlang die Hände um das Knie. Sie dachte an den Waldrand, hoch da oben in dem fremden Lande, das ihr auf einmal so schwesterlich seine Arme aufgetan hatte. Was war es nur, was war es, das sie dort so plötzlich überfiel? Was ihr nun wieder am 180 Herzen zerrte? Hatte das Leben mit der Mutter nicht ehrlich gespielt? War es auch ihr etwas schuldig geblieben?

 

VI

Tante Lonny hatte sich ziemlich bald nach Madlenas Verheiratung in eine kleine Provinzstadt zurückgezogen, wo ihr noch zwei alte Cousinen lebten. Den Postkarten nach, die sie sandte, mußte es dort fast unverändert – wie etwa zu Fontanes Zeiten – geblieben sein. Es gab altmodische Klingelzüge an den Haustüren, zu denen ein paar abgetretene Stufen hinaufführten, und alte Damen saßen am Fenster, vor sich ein Vogelbauer, und strickten für die Mission.

Das Kunstgewerbe hatte nicht mehr gelohnt. »Wenn ich Miete und Steuern beisammen habe, reicht es gerade noch zu Tee«, sagte Tante Lonny. Sie komme sich schon ganz vor wie Raskolnikow, der habe auch immerzu auf dem Diwan gelegen und nur noch Tee getrunken; was dann auch Mordgedanken zeitigte.

Ein in seiner knappen Art geäußertes, durchaus aufrichtig gemeintes Anerbieten von Herrn Courtens wies sie mit einem erschrockenen Blick ihrer blauen Wegwarteaugen zurück; als würde ihr Ungeheuerliches zugemutet. Niemand wußte – denn Lonnys kleiner, zarter Altjungfernmund blieb über Dinge, an denen nichts zu ändern war, stumm – daß sie sich schwere Vorwürfe machte, erstens wegen jener Migräne, aus der sich alles weitere entwickelt hatte, dann über ihren kritiklosen Enthusiasmus, Mister Rochester betreffend. Nicht, daß Herr Courtens es an Ehrerbietung, ja an Freundschaft hätte fehlen lassen, hatte er sie doch eben wieder durch sein Anerbieten bewiesen, nein, es mußte etwas Körperliches sein, diese leise, knappe Art zu sprechen, die schmale, aber ungewöhnlich starke Hand, ja und der helle, 181 leere Blick, in dem plötzlich etwas Dunkles hochstieg: hauchdünne Fäden, die sich zu Madlena hinüberspannen, unzerreißbar; Nebentöne, die ihr hellhöriges Herz schuldbewußt auffing . . .

So, daß sie die Nichte, solange sie noch in derselben Stadt wohnte, mit besonderer Zärtlichkeit aufnahm, wenn sie auf Besuch kam, was aber nicht allzu oft geschah. Madlena durfte ungehindert in Schränken und Truhen stöbern, nahm wohl auch die weichen, seidigen Gewebe heraus, rieb ihre Wange daran, um sie dann mit einem kleinen Seufzer zusammenzufalten, zurückzulegen in die Fächer, als seien es Konfirmationskleider, Unschuldslivreen, die ihr nicht mehr zukamen. Oder sie spielte mit den russischen Puppen, die Tante Lonny für eine verarmte Fürstin Galitzin in Kommission hatte, streichelte und polierte all die zierlichen Dinge aus Holz und Lack und Emaille und stellte sie ein bißchen anders auf. Dann ging man in die Sakristei, trank Tee und knabberte irgend etwas Versteinertes, und Madlena kuschelte sich recht wohlig in Lonnys zarte Schulterhöhlung, ziemlich schweigsam, bis die kleine Stehuhr silbern anschlug und sie rasch, aus Träumen erwachend, Abschied nahm.

Herr Courtens wurde selten von ihr erwähnt, und dann immer auf dieselbe förmliche Art. »Du nennst deinen Mann nie beim Namen«, sagte Tante Lonny, »und ich hab ihn doch auf dem Standesamt damals gehört, irgendwas mit Engel – es klang ganz romantisch.« »Ach ja«, sagte Madlena, »Engelhart, er paßt gar nicht zu ihm, und er selbst kann ihn auch nicht leiden.«

»Ja«, sagte Tante Lonny und blickte wie ein Fernseher in die Luft, »Engelhart, ein deutscher Jüngling bester bürgerlicher Herkunft, stieg an einem schönen Frühlingsmorgen auf die Wartburg. So was stellt man sich vor dabei – blondgelockt und voller Illusionen und mit einem Christusbart. Aber ob das besser wäre?« 182

Dann gab sie der Nichte in fast ritterlicher Art bis zur Haustüre das Geleit und sah ihr nach, wie sie in ihrer leichten, etwas hochmütigen Gangart die Straße hinunter schritt, und der Gedanke ließ sich nicht unterdrücken, daß da etwas Schmerzliches sei, von dem sie nicht gesprochen hatten. Ein kleiner französischer Vers, an den sie lange nicht gedacht, ging ihr durch den Sinn:

La belle aurait pu, loin d'ici,
Manger ses fraises sans souci
Au bord d'une claire fontaine:
Avec un joyeux moissonneur
Qui l'aurait prise sur son cœur
Elle aurait eu bien moins de peine.

Nun aber war Tante Lonny fort, und an dem leeren Fenster ihres Geschäfts stand zu lesen: Laden zu vermieten. Madlena vermied fortan, durch jene Straße zu gehen. Denn Liebe und Freundschaft, die man, als dazu noch Zeit war, nicht voll gewürdigt, nur halb erwidert hat, haben die Eigenschaft, in der Erinnerung sich in Vorwürfe zu verwandeln; es hängt das zusammen mit dem so viele Variationen zulassenden Thema der Unterlassungssünden, das sich immer wieder neu anspinnen läßt, wie deprimierend und durchaus zwecklos dies auch ist.

Herrn Courtens war Tante Lonnys Abreise im Grunde nicht unangenehm. Wenn er seine Frau auch gut bei ihr aufgehoben wußte – Frau von Stettner, an die er ungern zurückdachte, setzte keinen Fuß mehr in die Sakristei – so brachte Madlena doch jedesmal etwas Fremdartiges nach Hause, eine ungewollte Abwehr, die seine Fragen, seine Zärtlichkeit irgendwie zurückwies.

Ein vertrauteres Verhältnis zur Häsin hatte er ohne jede Auseinandersetzung zu verhindern gewußt. Intimität zwischen Frauen artete immer in Indiskretionen aus, meinte er, und 183 seine Bemerkungen über schwer belastete Hausfrauen, die ihre Zeit zu Rat halten müßten, verhinderten Madlena, öfter als üblich die ihr Sympathische aufzusuchen.

Während einiger Monate hatte dann die Liebe zu einem verkrüppelten Jüngelchen, das in einem Gemüsekeller sein kleines, geduldiges Dasein zubrachte, Madlenas Leben fast unverhältnismäßig erfüllt. Obschon fünfjährig, kroch das Albertchen noch auf allen vieren, zwischen Rübenhaufen und Kartoffelsäcken, in dem schlecht erleuchteten Raum, der nach Petroleum roch, herum. Madlena brachte ihm Spielzeug, kaufte ein hübsches Wägelchen und fuhr den Kleinen in den Park, zu den Sandhaufen, wo die andern Kinder spielten; aber er war scheu und kam bald wieder zu ihr gekrochen, sich an ihrem Knie mühsam aufrichtend. So saßen sie meist still beieinander, streuten den Buchfinken Körner auf den Weg, und dann sagte Madlena: »Was meinst du, Albertchen, wollen wir heim?« Dann nickte das Albertchen mit einem kleinen blassen Lächeln, denn nun kam das Schönste, man ging zum Kiosk, und da gab es eiskaltes Himbeerwasser »mit Brause«.

Herr Courtens bezahlte alle Einkäufe seiner Frau, ohne sich darüber zu äußern – Bemerkungen von seiten Mathildes wies er schroff zurück – wenn er sie auch bisweilen ziemlich sinnlos fand. Hingegen war das Taschengeld, das sie jeden Monat erhielt, bescheiden, war ja auch nur für den Notfall gedacht, eine Wagenfahrt bei plötzlichem Regenguß oder ein paar Blumen bei der Frau an der Ecke oder, wenn sie sich unterwegs ein bißchen flau fühlen sollte, Einkehren beim Konditor; große Sprünge ließen sich damit nicht machen. Alles, was sie sonst brauchte, zahlte er direkt, und was zum Haushalt gehörte, war Mathildens Dezernat.

»Warum dich mit dem täglichen Krimskrams plagen«, sagte Herr Courtens. »Du würdest ja doch nie mit dem festgesetzten Etat auskommen und dich und mich nur damit 184 beelenden. Dafür ist mir unser Verhältnis zueinander zu schade.« Er sprach freundlich, ein bißchen lehrhaft, was sie innerlich »Rembrandt als Erzieher« nannte. Sie hatte das einst viel gelesene, nun ganz vergessene Buch auf einem der Regale entdeckt, aber nach einigem Blättern als unbeschreiblich langweilig und unverständlich wieder zurückgelegt. Aber den Titel hatte sie sich gemerkt. Ach, wie so anders, wie so unendlich sympathischer war doch seine Harun-al-Raschid-Phase gewesen, aber die paßte wohl nicht in die graue, mürrische Stadt, wo er, wie Mathilde es ausdrückte, »ein Ansehen« hatte, sie kam nur an so märchenhaften Orten wie Interlaken – Interlaken bei Nachtbeleuchtung – zur Entfaltung.

Der Ankauf des Kinderwagens blieb Herrn Courtens nicht lange verborgen; er machte indessen keinerlei Bemerkung, als er die Rechnung beglich. Aber als Madlena wieder einmal am Eingang des Gemüsekellers erschien, um Albertchen abzuholen, strahlte die Händlerin sie auf halber Treppe an: »Ach nee, aber auch so'n guten Herrn, das gibt es nich wieder.« Albertchen sei nun in der Anstalt, »und der Herr Professor sagt ja, er kriegt en so weit, daß er an de Krücken gehn kann un nich mehr so kriechen wie'n kleenen Hund. Aber achott, jeweint hat er, es is nich zu sagen, er wollt gar nich da bleiben, ich konnt' en gar nich loskriegen von mein Kleid, un die Schwester hat jesaacht, vor'n Vierteljahr soll man'n nich besuchen, sonst jeht's von neuem los mit das Jeheule, es macht'n nur obstenat un er muß sich doch jewöhnen.

Madlena stand da, eiskalt. Sie blickte hinunter auf die Kartoffelsäcke und Sauerkrautfässer und die schwach beleuchtete Theke dahinter. Ach Gott, das war nun Albertchens Heimat gewesen, und bei ihr . . . bei ihr war doch so viel Platz.

»Warum hast du mir nichts gesagt?« frug sie erregt, als Herr Courtens nach Hause kam. Er sah vor sich hin in die Luft, 185 seine Augen waren farblos geworden. »Ich hatte es total vergessen«, sagte er, und Madlena wußte, daß er log. »Übrigens bin ich der Ansicht, daß man helfen soll, wo sich die Gelegenheit bietet, ohne viele Worte darüber zu machen.«

Mathilde, die eben mit der Suppenterrine hereinkam, machte ihr Ich-bin-des-Herrn-Magd-Gesicht, ganz die treue Dienerin, die schweigt, aber ach – so manches sagen könnte.

Zwischen Madlenas Augen stand eine böse kleine Falte. Man kann Wohltaten erweisen, dachte sie, und dadurch einen andern strafen. Ob Grausamkeit am Ende ein besonderer Genuß war? Sie fühlte sich hart werden, es war eine Erstarrung über sie gekommen. Sie fuhr auch nicht in den Vorort, nach der Anstalt, um Albertchen zu besuchen, wie es Herr Courtens erwartete. Es war etwas in ihr abgestorben . . . Dann, wieder nach ein paar Monaten, wurde Lottchen der Gegenstand ihrer unverbrauchten Liebe. Lottchen war eine kleine Hündin unbestimmbarer Rasse, etwas Spitz, etwas Wachtelhund, zur Zeit einem Schreiner gehörend, weshalb sie meist mit einer Schleppe von Hobelspänen herumlief. Lottchen war nicht mehr jung und hatte einen wissenden Blick, als seien ihr alle Illusionen über Welt und Menschen vergangen. Sie war dem Schreiner zugelaufen, und er wollte sie »abtun«, wenn der Tag der Hundesteuer nahte. Durch Aushändigung eines Dreimarkstücks kam sie in Madlenas Besitz, zu beider Entzücken, denn es war Liebe auf den ersten Blick, und die ist wohl meistens gegenseitig.

Herr Courtens zog die Augenbrauen hoch, als er Lottchen auf dem weißen Fell vor dem Bett etabliert sah, wo Madlena aufgestützt Bangs »Am Wege« las, ein oft gelesenes Buch, das ihr jedesmal Tränen entlockte. Und als Lottchen in diesem kritischen Augenblick sich zu kratzen anfing, sprach er abfällig über den Familienzuwachs. Aber diesmal blieb Madlena hartnäckig und erklärte mit bebender Stimme, wenn er 186 Lottchen nicht wollte, so brächte sie sie zu Tante Lonny, aber dann bliebe auch sie gleich dort.

Herr Courtens sprach beruhigende Worte, etwa wie man einem Delirierenden eine kühle Kompresse auf die Stirn legt, und verbrachte die Nacht in seinem Ankleidezimmer, ob als Strafe gedacht oder aus Angst vor weiteren Auftritten, darüber war er sich selbst nicht klar.

Lottchen blieb. Aber Madlena fühlte sich schuldbewußt, wenn Herr Courtens, als großdenkender Mann über Lappalien hinwegsehend, dem Hündchen im Vorbeigehen ein freundliches Wort sagte. Übrigens verhielt sich dasselbe still und wohlerzogen, wie es einer nur geduldeten Kreatur zukommt. Es war niemanden im Wege, und ins Herrenzimmer ging es freiwillig nie, denn es schien sich vor den ausgestopften Vögeln, besonders vor dem schwebenden Adler zu fürchten, und als Herr Courtens es einmal zu diesem emporhob, versuchte es sogar zu beißen.

Hieran knüpfte sich mit ungreifbaren Fäden ein Erlebnis, an das Madlena zurückdachte, als der Steinadler, von der Decke gelöst, dem Dienstmann überlassen wurde, wobei sich herausstellte, daß sein Hals an der obern Seite alle Federn verloren hatte, weshalb ihn der Dienstmann beharrlich einen Lämmergeier nannte.

Damals, als Madlena, dem Albertchen nachtrauernd, bei Lottchen Trost und Ersatz fand, ging sie täglich am Nachmittag mit ihr spazieren. Wer sonst hätte es auch tun sollen? Mathilde, wie immer plus royaliste que le roi, machte kein Hehl aus ihrer Feindschaft gegen das Hündchen, und das junge Zimmermädchen dachte an alles andere, wenn es Ausgang hatte, auch war Lottchen störrisch und wollte nicht mit ihm gehen, es war jedesmal ein Kampf.

Wie nun Madlena heute hinaussah in die langsame Frühlingsdämmerung, kam ihr jener Novembertag in den Sinn, der in ihrer Erinnerung wie ein quälender, nicht ganz 187 deutlicher Traum geblieben war, einer, den man gerne wegwischt, als müsse er der Bote schlimmer Dinge gewesen sein.

Damals war es später Herbst, ja, der Winter würde bald einsetzen; Rüstern und Linden, Pappeln und Birken standen kahl, nur die Eichen hielten noch ihr dürres Laub fest. Im Sommer war's ein schattiger Weg mit Bänken zum Ausruhen, von Liebespaaren gern besucht; jetzt menschenleer, die Wipfel hinüberragend nach dem Tierpark, von wo bisweilen das Krächzen oder dumpfe Brüllen der Eingesperrten tönte. Madlena hatte das Hündchen frei gelassen, was eigentlich verboten war, aber es ließ sich kein Parkwärter blicken, und sie hatte ihren Spaß daran, wie das alte Lottchen kleine asthmatische Freudensprünge in die aufgetürmten Blätterhaufen machte und nach Feldmäusen stöberte. Sie ging langsam genießend hinterher, denn sie liebte diese Jahreszeit mit ihrem Nebelgrau, ihrem von zartem Silberfrost umrandeten Laub. In den Straßen freilich war der November kein Zauberer, da trieb er die Menschen in die Stuben, verabfolgte ihnen Regenschirme und Galoschen, oder auch Schnupfen mit Schnaubgetön.

In Madlena hatte sich ein dumpfes Heimweh angesammelt nach alledem, was sie als Kind achtlos hingenommen hatte wie die Luft, die man atmet, ohne ihr Dank zu sagen, nun suchten ihre Sinne nach der einst gewohnten Nahrung, und all jene guten Gerüche von fallenden Blättern, Pilzen und nassem Moos fand sie in den Gärten wieder, an denen sie witternd vorbeiging, oder in dem großen Park, der im Sommer allzu belaubt und stickig, jetzt aber überraschend war in seiner durchsichtigen Schönheit. Ihre Augen, ihr Gehör hatte sich geschärft, ihr Tastsinn war feiner geworden, vielleicht gerade weil in ihrem Herzen eine tote ungenützte Stelle blieb. O wie geisterhaft war's, wenn ein plötzlicher Sonnenblick die Dinge kostbar machte, auftauchend im Nebel wie aus einer unbekannten Welt. 188

Plötzlich ließ sie ein angstvolles Gekläff stillestehen, und im selben Augenblick fuhr es dunkelrauschend über ihrem Kopf, ihrer kleinen Pelzkappe dahin, und vor sich sah sie den kleinen Hund, rascher laufend, als er es je getan, und dann zitternd und wimmernd ins welke Laub geduckt. Und zugleich hörte sie ein Rauschen, ein Flügelschlagen, ein großer Raubvogel, der niederfuhr und einen Augenblick über Lottchen hing, unbeweglich. Da rannte sie vor, kauerte sich zu dem Hündchen nieder und sah auf: der große Vogel hing über ihr mit gesenktem Schnabel, sie sah in seine bösen, gelben Augen, sie wußte nicht, wie lang, dann fuhr er auf und setzte sich auf einen vorspringenden Ast, mit ausgerecktem Hals. Das Hündchen in den Armen war sie aufgestanden und trat rasch den Heimweg an. Nach einer Minute kam wieder der Flügelschlag des Verfolgers, da fing sie an zu rennen, aber ihre Füße waren schwer, wie in einem bösen Traum, der Vogel immer über ihr. An dem breiten Kanal, der ganz bedeckt war von gelben Blättern, daß man das Wasser darunter kaum sah, hielt sie an, um Atem zu holen. Ein Parkwächter kam ihr entgegen. Sie konnte kaum sprechen, deutete hinauf in eine kahle Baumkrone. »Ein Adler«, stammelte sie, »hinter meinem Hündchen her . . .« Der Mann sah sie groß an. Dann aber entdeckte er den Vogel. »Dem Kunden wollen wir's versalzen«, sagte er und warf einen Stein nach ihm. Der Adler erhob sich, groß und verächtlich, er sah wohl ein, hier war nichts mehr zu machen, und flog langsam, majestätisch über die Baumwipfel in den Nebel zurück. »Muß wohl ausgekommen sein«, sagte der Mann, »so was kann passieren, will's man gleich melden«; dann verschwand auch er im Nebel, dem Tierpark zu.

Als Madlena, noch im Mantel und Käppchen, die Tür zu Herrn Courtens Allerheiligstem aufriß, um ihm ihr Abenteuer zu erzählen, wehte sie ein Duft von Moschus und Sandelholz an, wie immer, wenn die Truhe geöffnet war. Herr 189

Courtens stand mit dem Rücken gegen den Bücherschrank und blickte nach dem schwebenden Adler, die Kette bewegte sich, ein leises Geschaukel. Herr Courtens hatte die braune gestickte Kaschmirjacke angetan, auf seinem Haupt saß das indische Mützchen und in der Hand hielt er einen kleinen roten Stab, wie aus sehr altem Siegellack geschnitzt. »Jaköbchen«, sagte Herr Courtens und kraute den Hals des Adlers mit dem roten Stäbchen; ein paar Federchen flogen auf, »braves Jaköbchen«, und seine Stimme hatte den lobenden Ton, den Madlena kannte, wenn er mit ihr zufrieden war; nun würde er gleich dem Vogel ein Stückchen Zucker anbieten, nein . . . irgendein kleines, blutiges, zuckendes Tier . . .

Seine Augen waren ganz hell, die Pupillen zusammengezogen wie Nadelspitzen, grad auf den Adler gerichtet, und doch wußte Madlena, daß er sie in der Türe stehen sah. »Nun, schönen Spaziergang gemacht mit deinem Schützling?« sagte er, ohne sich zu wenden. »Kuriose Passion, so in der Nässe herumzulaufen. Kann dich nicht daran hindern, aber über die Folgen darfst du dich nicht wundern.«

Lottchen bekam die Angst und das schnelle Laufen schlecht. »Altes ausgeleiertes Herz«, sagte der Tierarzt, »hat ja schon keine Vorderzähne mehr, ich taxiere zehn Jahre alt mindestens.« Er hatte das Hündchen auf einen Tisch gelegt, um es zu untersuchen. »Ein bißchen Blausäure wäre eine Wohltat«, sagte er und steckte das Stethoskop wieder ein.

Madlena ging nicht mehr aus dem Zimmer. Während ihrer Abwesenheit hätte sich Schreckliches begeben können, und sie, die nie mehr betete, bat nun angstvoll, intensiv, als wollte sie den lieben Gott hypnotisieren: O laß Lottchen sterben, aber sanft, ganz sanft.

Der liebe Gott tat ihr den Gefallen. Auch Könige, auch Tyrannen erfüllen manchmal die erste Bitte eines Untertanen. Lottchen trank noch ein wenig Wasser aus ihrer hohlen Hand, alles andre wies sie zurück. Dann sank sie auf die 190 Seite ohne einen Klageton, sie war's gewohnt, die Dinge zu nehmen, wie sie kamen. Die Ohren zurückgeschlagen, das Mäulchen halboffen, immer trockner werdend, bis es zu Ende war.

*

Da nun Madlena an viele Dinge dachte, die nie wiederkehren würden, Gutes und Schlimmes, wie sie so stand und den feuchten Frühlingsatem einzog, der die Knospen löst und die Erde locker macht, fingen ihre Augen an zu brennen. Noch hielt sie die Tränen fest, aber alles verschmolz vor ihr, der Lichterglanz auf dem nassen Fahrdamm und die Umrisse der Gartengitter gegenüber. Da draußen roch es nach Frühling. Und vor diesem Werden wurde ihr das Gestorbensein und das Vergessensein, dieser zweite Tod der Toten, ob Mensch oder Tier, bewußt. Und daß es darum nicht schwer ist, Erlittenes zu verzeihen, zu vergessen. Wer kennt denn das Erdreich, aus dem die Taten der Menschen entspringen, Gutes und Böses, Abwehr und Verlangen, alles, was um sich her Segen verbreitet oder Unsegen, ja, was uns sogar ein wenig vergiften kann! Es wird alles wieder schwinden, zerfließen in neue Formen des Gefühls, dies ahnte sie, ob sie auch nicht Worte dafür fand.

Ach der Arme, war es doch nur Eifersucht gewesen, die Herrn Courtens' wunderliche Art bestimmte? Eifersucht, die echte, die mit gekränktem Selbstgefühl nichts gemein hat? Weil sie sehr viel tiefer geht und gräbt. Viel echter, weil tierhafter ist. Oh, wie war er so unbegreiflich gewesen! Aber nun glaubte sie zu begreifen. Manchmal wohl, nicht immer, selbstsicher, gebefroh, genießend, mit kleinen aufgesetzten Lichtern der Selbstverspottung, ihr wie feine Messer ins Herz stechend, sie zu jedem Opfer verleitend, ja zu jeder Demütigung zwingend, die sie doch, heimlich überrascht, wie leises Fieber genoß: so wie damals in Interlaken, als er ihr die Lippen rötete und mit dem dunklen Stift ihre Brauen nachzeichnete, 191 ihre Lider färbte – ganz stillhalten mußte sie, sich nicht rühren, und saß auch wie gelähmt und hörte ihr Herz klopfen – und wie er dann, als sie schon dastand, ganz fremd und verzaubert im Kleid der toten Mandarinenfrau, plötzlich ein Tuch nahm und alles wieder wegrieb, hastig, heftig, o er hatte ihr weh getan dabei, und sie an sich riß und küßte, wie sie es noch nicht gekannt hatte . . .

Aber er hatte nie Vertrauen zu ihr gehabt, er wußte wohl zu wenig von ihr . . . und sie selber vielleicht noch weniger von ihm. Und wie alles Versäumte war das wohl das Traurigste. Eine Fremdheit, eine tote Stelle blieb zwischen ihnen, wenn er mit ihr sprach, war's so obenhin, leicht wie ein Schlittschuh das Eis ritzt, oder er sprach von früher, als er jung und heil war, redete von seinen Reisen in geheimnisvolle Länder, erzählte von einer kleinen Chinesenfrau – und sie verstand es wohl, damit meinte er sie – die in einem Haus mit grüngoldnem Pagodendach wohnte, mitten in einem Garten voll zauberhafter Weiher, gehegt und gehütet von einer kleinen, alten Amah – mit tausend Fältchen im Gesicht, weißt du, wie so eine ganz kostbare Craqueléevase – und alles in Haus und Garten sollte ihr gehören, über alles durfte sie befehlen, nur eins war verboten: aus der goldnen Gittertür in der Mauer durfte sie nie, nie wieder heraus . . . Ja, solche Märchen erzählte er ihr in den heißen Nächten, wenn er sie auf den Schoß nahm und ihre nackten Füße liebkoste, ihr schmales schauerndes Knie . . .

Aber eine bei leidenschaftlichen Naturen nicht seltene, fast qualvolle Scham hielt ihr die Lippen verschlossen, und doch hätte sie damals, auf der Reise, wenn fremde junge Männer mit ihr tanzten und lachten, ihm sagen mögen: mit deinem grauen Haar, deinem leeren Ärmel, der dich peinigt und scheu macht, gefällst du mir besser als irgendeiner. Und sie war ihm dort stillglühend zu eigen gewesen wie nie zuvor. Wieder brannten die unvergossenen Tränen, die sie zwischen 192 den Wimpern festhielt: Ach Scheherezade, dachte sie, ach, »glimmende Asche« und alle die Nachtmusik und überall Lämpchen im Gras . . . ja, Lämpchen im Gras waren auch in dem dürren, heißen Garten gewesen, wo sie ihn zum erstenmal sah, wo Frau von Stettner flüsterte und die kleinen gefangenen Papageien nebeneinander saßen und so schrecklich gern geschlafen hätten . . .

Daheim dann, nach der Reise, war's wieder kühl und vernünftig und grau wie die Tapeten. Und er – ein wenig lehrhaft, ein bißchen kleinlich . . . Rembrandt . . . Lottchen . . . liebes armes Albertchen . . . du sollst keine Götter haben neben mir . . . o damals hatte sie ihn manches Mal gehaßt . . . aus tiefstem Herzen.

Ja, und nun konnte er ihr nichts mehr antun, nichts mehr verwehren, es war nichts mehr da als ein wenig krümelige Asche. Und auch für ihn war nichts mehr da, der Abendwind, der Duft nach dem Regen, wie er eben jetzt zum Fenster hereinkam, er fühlte nicht mehr, wie gut das war. O wie arm sind die Toten! Und sie, ganz frei nun, ganz allein, und wo sie früher anstieß, keine Wand mehr, nur Luft.

So wie damals auf der Anhöhe, wo die alte Frau vor ihrer Hütte saß, der ein hartes, sauberes Leben das Antlitz so schön, so zum Weinen schön ausgemeißelt hatte. Und höher noch, wo sie auf der Wiese lag, ohne Kleider, ohne Fesseln, und von keinem Menschen mehr wußte, und gar nichts anderes vor sich sah als nur den tiefen, dunkelblauen Kelch, und fern oben ein Stück vom blauen Himmel, und, ohne es in Worte zu fassen, auf einmal verstand, daß das Leben sehr kurz ist und sehr kostbar, und daß wir Menschen daran vorübergehen, blinde Verschwender. 193

 

VII

Draußen hatte der Frühling eingesetzt, der wirkliche Frühling, an dem gar nicht mehr zu zweifeln war, so wie er in Bilderbüchern abgemalt ist, wo Vater und Mutter auf grünen Wiesen spazieren gehn, von fröhlichen Kindern mit Reifen und Luftballons begleitet. In den stilleren Straßen sprangen kleine Mädchen übers Seil, und die Buben ließen Kreisel tanzen, ein sicheres Frühlingszeichen. Es roch nach Faulbaum, nach Goldlack, und gute runde Wölkchen schwammen hoch oben in der blauen Luft; ja, bald würde der Sommer da sein.

Alle Arbeit war getan, Madlenas Gepäck auf der Bahn, nun ging sie zum letztenmal durch die Stuben, als hätte sie etwas darin vergessen. Aber sie, die vor irgendeiner alten Gartenbank die Gespenster verschollener Gespräche aufzuspüren meinte wie ein Jagdhund ein verstecktes Wild, ward sich bewußt, daß nichts sich regte, daß diese kahlen Fenster, diese grauen und grünen Wände, auf denen dunklere Stellen an abgehängte Bilder gemahnten – Java und Bali, Sümpfe und Reiher und geschwungenes Pagodendach – daß sie ihr nichts mehr zu sagen hatten, weder freundlich noch feindlich. Denn, wenn es auch gut ist und beglückend, von treuem Hausrat umgeben zu sein, der uns schon umgab, als wir die Dinge noch unbewußt in uns aufnahmen, wie Licht und Dunkel, Schlaf und Erwachen oder das Anfassen der guten sichern Hand, an der wir uns geborgen fühlten – so ist es auch gut, wenn wir alles von uns getan haben, das uns schwer beweglich machte, abgelegt, durchbrochen, was uns beengte, trotz aller Liebe sogar. Und für Madlena waren diese Tische und Schränke und Truhen eben doch nur Tische und Schränke und Truhen gewesen und gehörten zum Glück nicht zu den Immobilien – ein beklemmendes Wort, das sie zum ersten Male aus Dr. Gregorys Munde 194 gehört hatte – und zu den Immobilien des Herzens erst recht nicht.

Vielleicht war's wie mit Gasthauszimmern? O nein, dort hatte sie manches Mal beim letzten Türeschließen zurückgeschaut mit einem Aufquellen der Dankbarkeit, als müsse sie noch einmal ihre Hand über den freundlichen Korbsessel, den guten tannenen Tisch am Fenster gleiten lassen, den irdnen Krug, den sie so oft mit Wiesenblumen gefüllt hatte. Hier aber war etwas, das sie lieber wegwischen wollte, wie Flecken in einem Spiegel, was ja freilich nicht gelingt, weil sie unter dem Glas sitzen. So dachte sie, laß gut sein, das Leben ist lang, ich werde vergessen. Und wie sie beim Schließen der obern Türe zum letztenmal den knarrenden Laut hörte, der ihr all die Jahre Verdruß gemacht hatte, mußte sie leise auflachen bei dem Gedanken: ob der nächste Bewohner sich auch hilflos darüber ärgern würde, ohne die Energie aufzubieten, es ändern zu lassen.

Nach vielen gründlichen Besprechungen mit dem jungen Mann im Reisebüro, der das S so fremdländisch aussprach – und es stellte sich ja heraus, daß er aus Flensburg war, dicht an der dänischen Grenze – und nachdem er, wie der Mann mit dem fliegenden Koffer, von dem Andersen erzählt, sie mittels Kursbuch und Länderkarte in die fernsten Länder entführt hatte, waren sie eines Tags auf Dänemark zu reden gekommen, und da wußte nun der junge Mann wunderbar Bescheid, denn er hatte oft seine Schulferien an der Westküste, in den silbernen Sandklippen verbracht und kannte Jütland wie seine Tasche. Und dann redeten sie von Jacobsen und von Bang, die beide so früh die Welt verließen, in der sie fremde Blumen waren, und daß es dort noch Stätten gäbe, die von ihnen erzählen, ja das »Weiße Haus« stehe noch heute da, still verzaubert in seinem Garten. Dazwischen aber waren Zahlen, Züge, die abgingen, Züge, die ankamen, Namen von Gasthäusern und Ausflügen, zu 195 Wasser und zu Land, die man nicht versäumen dürfe; Zahlen auch von Preisen aller Art, erste, zweite, und dritte Klasse, auch mosaikartig zusammensetzbar, so daß man die Tagesstunden auf Holz, die Nachtstunden aber auf Plüsch zubringen konnte. Dies alles machte ihr übrigens kein Kopfzerbrechen mehr, und das hatte sie Scheherezade zu verdanken. Oder auch Harun-al-Raschid, dem Gebieter der Gläubigen, der ja schließlich eins war mit Herrn Courtens, welcher gar nichts Besonderes über den Inhalt seiner Zaubertruhe bestimmt hatte, die somit ihr zufiel. Herr Courtens, der nun in reinliche Aschenflocken verwandelt, in einer klassisch geformten Urne verlötet – wie der Djinn in der Flasche, deren Siegel der Fischer voreilig aufbrach – in einer Nische der inneren Friedhofsmauer auf eine Auferstehung wartete, die er weder für wahrscheinlich noch für besonders wünschenswert gehalten hatte.

Mittelsmann zwischen den Schätzen der Truhe und den Zechinen – es waren freilich nur Banknoten – die sie einbrachten, war Herr Lazarus Bär gewesen, ein Antiquar, der das Leben eines asketischen Weisen zwischen Kostbarkeiten – besonders solchen orientalischer Herkunft – führte, die er mit dienender Ehrfurcht instand hielt, während er seine persönlichen Bedürfnisse mit träumerischer Gleichgültigkeit behandelte. Mit seiner hohen, wunderbar ausgemeißelten Stirn, an der sich die Schädelränder wie eine feine Naht abzeichneten, schwermütigen Augen und weichen Mundlinien, die der schüttere Bart nicht verbergen konnte, wäre er ein Modell für Rembrandt gewesen, würdig mit berühmten Schriftgelehrten in braunem Halblicht sitzend über Begriffe zu diskutieren, die wie in der Luft schwebende Sommerfäden dem Menschenwort ausweichen, das immer noch zu plump ist, sie zu erfassen.

Herr Lazarus Bär geriet über einige Dinge aus der Courtensschen Truhe in stille Verzückung und lachte bitter 196 belustigt auf, als er erfuhr, daß der gerichtliche Taxator sie in Bausch und Bogen auf dieselbe Summe angesetzt hatte wie den durchaus mittelmäßigen Perser unter dem Eßtisch. Ein paar Lackdosen, eine blaue, persische Schale und jenes Gewand der Mandarinenfrau, das Madlena so manches Mal in widerwilliger Verzauberung hatte anlegen müssen, tat er mit besonderer Ehrerbietung auf die Seite, aber auch das übrige nannte er gute erlesene Ware, der verewigte Gemahl müsse viel von diesen Dingen verstanden haben, ein Kenner, schade . . . schade . . . Und er versprach, mit einem Geschäftsfreund in Amsterdam darüber zu korrespondieren. Ganz zuletzt, überraschend, kam der dunkelrote, geschnitzte Stab zum Vorschein, den Madlena nur einmal in Herrn Courtens Hand gesehen, damals als sie atemlos aus dem Park heimkam, wo der große Vogel sie verfolgt hatte. Er war in etwas Weiches, Glitzerndes gehüllt, aus dem ihn Herr Bär behutsam hervorwickelte, und Madlena erkannte erstaunt das orientalische Flortuch, das ihr Herr Courtens in Interlaken geschenkt hatte. Dort war es auf einmal verschwunden, trotz allen Suchens konnten sie's nicht wiederfinden. Wie seltsam – und da hatte es die ganze Zeit in der Truhe gelegen . . .

»Ein tibetanischer Zauberstab«, sagte Herr Bär und zog die Brauen hoch. »Lassen Sie mich den gleich mitnehmen. Es tut nicht gut, solche Sachen im Haus zu haben.«

»Glauben Sie an Zauberei?« sagte Madlena mit großen Augen. So was war doch furchtbar interessant.

»Wie man's nimmt«, sagte Herr Bär, »es zaubert wohl fortwährend um uns her, ohne daß wir viel davon merken. Das Glück kann zaubern und das Unglück auch, denn es kann das Herz dem Guten öffnen, öfter wohl dem Bösen.«

Er hatte beim Eintreten ein rundes Käppchen aus schwarzer Seide auf den kahlen Scheitel gesetzt, darunter zu beiden Seiten dunkle, schon ergrauende Locken vorquollen. Groß und dünn in seinem langen Gehrock, dessen Nähte und 197 Knöpfe schäbig glänzten, stand er da, das Stäbchen in der Hand, wie ein alter, etwas defekt gewordener Felix Mendelssohn, der eben den Taktstock erheben will, um den Sommernachtstraum zu dirigieren.

Aber es schien ein Geist des Widerspruchs in Madlena zu erwachen; so ein Zauberstab war doch gar zu interessant. »Nein, lassen Sie's noch da«, sagte sie, »das ist ja alles Aberglauben, aber die Fratzen sind so kurios, die muß ich mir ordentlich ansehen. Komisch, Herr Courtens hat es mir nie gezeigt – aber er tat ja immer so geheimnisvoll mit den Sachen.« Sie legte das Stäbchen beiseite.

Am selben Abend noch ließ der Antiquar die Truhe abholen, die zum letztenmal ihren Rachen aufgesperrt, ihren morgenländischen Duft im altgewohnten Raum verströmt hatte.

Herr Bär war ein gewitzigter Händler, er war auch ein redlicher Mann, die Summe, die er Madlena nach Abzug seiner Spesen überwies, übertraf ihre Erwartungen bei weitem, und ihre Reisepläne durften nun breit und beseligend dahinschwimmen wie goldumsäumte Wolken.

Wenn sie in der langen, nicht endenwollenden Frühlingsdämmerung durch die stillen Straßen ging und den Faulbaumduft einsog, der aus den Gärten flutete, war es wie der Anfang eines Traums, den sie bald in einem andern Lande fortsetzen würde, einem Lande, wo sie die Wege ganz allein finden konnte, denn es lag ja so wunderlich deutlich vor ihr: wo für sie immer noch die süßen, wehrlosen Frauen umhergingen, die Herman Bang gezeichnet hat, wie dahinschwimmend in den weiten Krinolinenkleidern jener Zeit, die sie in große, sanfte Glockenblumen verwandelten. Vielleicht würde sie noch nördlicher fahren, noch tiefer in versunkene Zeiten hinein, zu den wunderlichen Kavalieren, die so liebevoll und doch erbarmungslos sein konnten, bei Gitarrengeklimper und Schellengeläut, bei Punsch und Gewürz und Gesang. Renntierherden ziehen vorüber, mit bereiften 198 Haaren an den langen Oberlippen, weißen Korallen gleich starrt ihr Geweih, und nun irrt ein kleines Mädchen durch die rauchigen Gassen einer Seestadt, wo es nach Fisch und nach Teer riecht, ihre kleinen Holzpantinen klappern auf dem höckrigen Pflaster, sie geht und geht, sie ist ganz blind vor Liebe . . . Aber neben ihr, niemandem sichtbar, geht der Geist ihrer ermordeten Pflegeschwester und hält sie beim Rockzipfel fest, denn Er war ja ihr schöner, grausamer Mörder, dem die Kleine mit Leib und Seele verfallen ist.

Nein, fort von dem Grausigen, zurück in das freundliche Dänemark, das sie seit ihren Kindertagen liebte. Und sie sah die niedrigen Häuser mit dem Storchennest auf dem Dach, die rosenumwachsenen Altane, wie sie im Märchenbuch abgebildet waren. Dort halten sich Kay und Gerda umschlungen und haben alles Schlimme vergessen, sie singen ein uraltes Weihnachtslied; der kleine Tuck liegt im Bett, er läßt sich vom Studenten Geschichten erzählen, und in der Küche sitzt Fliedermütterchen und hält das häßliche Entlein auf dem Schoß. Draußen aber rauschte die Brandung, und in der Tiefe schwamm die kleine Seejungfrau mit ihren Schwestern und sehnte sich nach Erdenluft und glaubte es nicht, daß sie's dort unten viel besser hatte.

*

Nun war Madlena die Treppe herabgekommen, und die schwere Haustüre fiel langsam wie mit einem Seufzer hinter ihr zu. Unerbittlich. Denn den Schlüssel hatte sie schon vorher abgegeben, und auch wenn sie's gewollt hätte, zurück konnte sie nicht mehr. Aber warum hätte sie auch zurückgewollt? Dort oben war nichts mehr von ihr, und alles, was sie nötig hatte, war in ihrer kleinen, leichten Ledertasche. Sie brauchte nichts zu tragen, nichts auf der Seele, nichts in der Hand; nur die kleine, weiche Tasche. Und die ganze schöne Erde lag vor ihr.

Von ihren wenigen Bekannten hatte sie sich verabschiedet, 199 sie im Glauben lassend, daß sie einige Zeit bei Tante Lonny bleiben würde, ehe sie sich zu einer neuen Wohnung entschloß.

»Oh, schade«, sagte die eine, eine Juristengattin, »daß Sie nicht in der alten bleiben können. Ihr lieber Gatte, unser unvergeßlicher Freund, hatte sie so geschmackvoll eingerichtet mit dem herrlichen alten Hausrat. Ein Kenner, wie man ihn selten findet, sagte mein Mann erst heute wieder.«

Die Häsin war seit ein paar Wochen verreist, Madlena hatte auf der Straße von ihr Abschied genommen. Sie war liebevoll gewesen, aber doch präokkupiert. Ach ja, Hildegard brauchte sie mal wieder. »Kindchen, der Storch ist ein Gewohnheitstier«, sagte sie und lachte, ein wenig schief, denn sie hatte sich einen Vorderzahn ausgebissen, und nun reichte die Zeit nicht mehr, um es in Ordnung zu bringen.

Es war Madlena recht, daß der Abschied so abgekürzt vor sich ging, denn mit ihren guten, traurigen Hasenaugen sah die alte Frau ungewöhnlich tief in die Dinge hinein, eine Gabe wohl, wie Fernsehen oder magnetische Heilkraft, ganz ungewollt. Sie aber wollte ihre Freiheit, die wie ein eben ausgeschlüpfter Vogel noch federlos und ohne Kraft im Nest lag, und dieses neue, unschuldige Glück nicht begucken und betasten lassen, nicht einmal von der Häsin.

Die Kastanienbäume an beiden Straßenseiten fingen eben an, ihre kleinen, grünen Handschuhe auszustrecken, in den Vorgärten blühten Narzissen und Goldlack, die Bienen taumelten von einem Kelch zum andern, das war nicht mehr Fleiß, das war Betrunkenheit, und an den Fliederbüschen hingen Knospentrauben, die der nächste laue Regen lösen würde. Wie schön war solcher Frühlingsabend, er wollte gar kein Ende nehmen, trennte sich allzu schwer von sich selbst, gleich jener scharmanten Dame des achtzehnten Jahrhunderts, die, als es zum Sterben ging, das wunderliche Wort sprach: je me regrette. 200

Madlena war weitergegangen, nun kam sie zum offnen Tor des Stadtgartens, sie warf einen Blick hinein, er lag verödet im schrägen Abendlicht: kein Menschengewirr, keine Musik, keine Lämpchen im Gras, dazu war's noch zu früh. Hier war's gewesen, hier war ihr Herr Courtens zum erstenmal begegnet, hier hatte es angefangen. Aber er hatte sie nie wieder hierhergeführt. Auch jetzt wollte sie vorübergehn, aber . . . es war ja doch das letztemal, daß sie durch diese Straße mußte, und irgend etwas hielt sie fest, schien sie vorwärtszuschieben.

Nach ein paar Schritten blieb sie stehen, es kam ihr alles fremd und schal vor. Zu hell vielleicht. Eine öde Helligkeit wie im aufgeräumten Zimmer eines Toten, in dem zum erstenmal wieder die Läden geöffnet, die Vorhänge zurückgezogen werden. Oder war in ihr selber etwas tot und aufgeräumt? Es soll am Körper Stellen geben, die gefühllos sind, man kann mit Nadeln hineinstechen und merkt es nicht. Was wollte sie nur hier, was trieb sie herein? Das war doch nun alles vorbei . . . Aber dennoch ging sie weiter.

Zwei Frauen saßen am Weg und strickten; die eine bewegte langsam mit dem Fuß einen Kinderwagen. Hin und her. Dabei hörte sie nicht auf, der andern etwas Schreckliches zu erzählen; die nickte dazu und ließ bisweilen das Strickzeug genießerisch im Schoße ruhen. Hinter ihnen, im Gebüsch, zwitscherten schläfrig die Spatzen. Eine große Mattigkeit überkam Madlena, sie setzte sich auf die nächste Bank, von wo aus man das goldene Pagodendach herüberschimmern sah, wo die kleinen Papageien wohnten und die Köpfchen aneinanderlehnten. Ja, hier waren sie damals gegangen in der blauen Nachtluft, Herr Courtens und Frau von Stettner leise tuschelnd, und sie ging so verloren nebenher und wußte nicht, was sich da alles für sie entschied . . . Schöne, fremde Mädchen waren hin und her gezogen – an ihr vorbei – wie Libellen durch die Abendluft. Und nun war's 201 wieder da, wieder strich eine Hand an ihrem Arm entlang, etwas, dem nicht zu widerstreben war in seiner Beharrlichkeit. Sie fühlte, wie sie blaß wurde, und öffnete die Handtasche, um nach ihrem Reiseflakon zu suchen, dabei ergriff sie etwas Schmales, Längliches: o da war ja der kleine Zauberstab aus Tibet, den sie ganz zuletzt noch wiedergefunden hatte, als sie durch die leeren Stuben ging. Auf einem Fenstersims hatte er gelegen. Gott weiß, wie er dahin kam. Sie hatte ihn so gesucht, hatte ihn Herrn Bär schicken wollen, zum Dank für seine Mühe. Ja, nun war's zu spät, sie würde es von Hamburg aus tun, wo sie ein paar Stunden bleiben mußte. So legte sie das Stäbchen in die Tasche zurück, sah wieder vor sich hin in die langsam dunkelnde Luft.

Der Abendwind rührte sie an mit kühlen Händen, die Büsche gegenüber wehten, wehten. Wenn Herr Courtens im Abendmantel ging, wehte er auch so dunkel. Wie ein Nachtfalter. Die Nachtschwester war auch ein Nachtfalter gewesen; am Tag irgendwo versteckt, eine Mauerspalte vielleicht – erst am Abend kam sie heraus, und unter der Haube trug sie das Todeszeichen. Darum auch Herr Courtens sterben mußte, der Arme, und hätte wohl noch gern gelebt. Es war wie Durst gewesen zuletzt, und er hatte auch sonst so viel Durst gehabt. Das ist die Krankheit, sagte die Nachtschwester; ein Symptom. Aber es war nicht so sehr nach Wasser, es war das Leben, nach dem er durstig war. »Engelhart, ein Mann bester, bürgerlicher Herkunft«, hatte Tante Lonny gesagt. Aber sie selbst hatte ihn nie so genannt. Armer Herr Courtens, nun war er fort, nur die Asche lag dort in der Urne, wie er es selber bestimmt hatte. Und war doch ein lebendiger Mensch gewesen, noch gar nicht lange her, nach außen kühl und gemessen, und die Frauen meinten gewiß, er sei ein rechter Eiszapf. Aber sie wußte es anders. O wie hatte er sie gequält mit seiner Leidenschaft, die ganz ohne Vertrauen war. Immer wieder stellte er sie auf die Probe, immer 202 grenzenloser sollte sie ihm angehören, nicht wie die Erde einem Künstler angehört, der froh, ohne sie zu verwunden, ihr schönes Geheimnis entdeckt; nein, wie ein Erdgeist seinen Schatz aus der Tiefe reißt und wieder vergräbt in angstvolle Lust, so hatte er sie besessen. So hatte sie ihm angehört; wie ein Versinken – unentrinnbar . . .

Sie stand auf, denn sitzend meinte sie zu ersticken. Und wieder glitt es an ihrem Arm entlang, bedrängend, oh, wohl auch bezwingend. Ihr Kopf war auf einmal ganz leer, so wie er früher oft leer wurde, wenn er sie lange ansah oder sie schmückte mit den fremden, seltsamen Dingen, die nach Sandelholz und Moschus rochen. Und sie fühlte, wie ihre Absichten und Pläne sich davonschlichen wie gescholtene Kinder, um Platz zu machen etwas anderem, etwas Bekanntem, das sie wieder füllen und führen wollte, wie es sie all die Jahre gefüllt und geführt . . . Platz einem fremden und doch vertrauten Willen.

So stand sie nun wieder, ein wenig unsicher, auf den Füßen, sah nur immer vor sich hin, schritt zum offnen Gittertor wie eine aufgezogene Puppe und hinaus auf die Straße, wo sich unterdessen viele Lichter entzündet hatten. War ein Regenschauer gefallen, oder hatte ein Sprengwagen den heißen Fahrdamm überrieselt, er glänzte wie nasse Schiefern. Und gegenüber die Fensterscheiben glänzten erst recht, war's die Abendsonne, rot und blendend und zornig, wie auch der Fahrdamm naß und rot und zornig war? . . .

Wie sie hinüber wollte auf die andere Seite – denn es war ja nun höchste Zeit, und sie mußte ein Auto nehmen, um zurechtzukommen – glitt ihr die kleine Tasche aus der Hand; war wohl nicht ordentlich geschlossen gewesen, und ihr Fahrschein, ein dünnes gelbes Heft, fiel heraus. Sie bückte sich, um ihn aufzuheben, o wie stach das Licht auf dem nassen Asphalt, ja, sie hatte ihn schon erfaßt, da glitt auch der kleine rote Stab heraus. Er lag vor ihr auf dem Boden, die 203 eingeschnittenen Fratzen blickten sie böse aus schrägen Augen an – wenn sie als Kind Fieber hatte, sah sie ähnliche Fratzen an der Tapete auf und nieder gleiten – aber sie konnte das Stäbchen doch nicht liegen lassen, das sollte ja Herr Bär haben, nein, Felix Mendelssohn . . . in der Ouverture zum Sommernachtstraum ist da ein Augenblick, wo mitten im Gesäusel der Insekten in den Baumwipfeln ein großer tönender Hornschröter dazwischen stößt – oder ist's ein Waldhorn? Tuht . . . tuht . . . Sie bückte sich wieder, griff nach dem Stäbchen, hielt es in der Hand, o da war wieder der Druck auf ihre Schulter, ganz sanft, aber er lastete, sie kannte das, da war kein Entrinnen. Da wandte sie ein wenig den Kopf zurück, ja, war er denn wieder da, im wehenden Mantel, war es alles ein Traum, daß er gestorben sei, daß sie nun zur Bahn wollte, zum Autostand, weil es die höchste, die allerhöchste Zeit war? Was lähmte ihr die Füße? Stand sie denn auf Pech? War es wie solch ein Lied, das immer weiter geht, weil das Ende immer wieder der Anfang ist? Wie heißen diese Lieder? Ach ja, Kanon . . . Kanone, eine dröhnende, dröhnende Kanone. Was waren das für große glühende Augen, die auf sie zukamen? Können Augen uns lähmen, uns einschlucken ganz und gar? »Mit dir vor Gottes großen Augen stehen« . . . Oh, unentrinnbar sind wohl Gottesaugen, und es ist Getöse um sie her, Donnerwolken und Posaunen . . . Das rauscht und tost in den Ohren, wie damals, in der Klinik, als man sie chloroformierte . . . Herr Courtens wollte doch so schrecklich gern ein Kind von ihr haben . . . nur eins, sagte er, mehr würde deiner Schönheit schaden . . . aber es ist zu wenig Chloroform, o sie fühlt alles, mehr, mehr, schreit sie, o dieser grausige, entsetzliche Schmerz, irgendwo, überall, und nun . . . Nacht.

*

Als Madlena erwachte nach langem künstlichem Schlaf, der ihr Gehirn umwölkt hatte, ohne es zu erfrischen, war es 204 zuerst nur ein staunendes Schauen. Gerade vor ihr lag eine große Schneewehe, Erhöhungen und Abhänge, die zu fühlen und zu messen ihre Finger zu schwach waren. Zuerst meinte sie auf der Reise zu sein, ihrer verspäteten Hochzeitsreise, denn früher war es ja nicht möglich gewesen. Wie rein der Schnee an den Hängen, kein Menschenfuß, nur Gemsenfüßchen lassen darin ihre feine Spur . . . Herr Courtens wußte die Namen aller Gipfel, er las die Meterzahl aus einem roten Buch, zweitausend, dreitausend, das war gar nichts, Kinderspiel – es gibt viel höhere, aber die sind so weit weg, daß man ihnen nicht glaubt, und das Papier ist geduldig, sagt Ol' Mieneken, wenn man ihr aus der Zeitung erzählt, von Flugmaschinen und dergleichen.

Wie nun ihre Augen klar wurden, der Nebeldunst des Schlafmittels verging, erkannte sie, daß es eine leichte Daunendecke war, in einem weißen Überzug, auf der ihre Gedanken herumspazierten. War sie denn wieder in einer Klinik, wie damals bei Professor Ohlsen? Ja, das war es wohl, denn nun kam eine Schwester, jung und schlank mit hübschen, leichten Händen. Sie gab ihr etwas mit einem Löffel und schraubte an ihrem Kopfkissen, so daß sie auf einmal höher lag. Ein großer Schneemann war auch im Zimmer, er redete freundlich, aber sie verstand ihn nicht. Und auf einmal mußte sie an den Scherenschleifer denken, wie freundlich war auch er gewesen, mit seinen guten, behutsamen Händen hatte er ihr ein Lager zurechtgemacht und ihr den Kopf gestreichelt. Wie gut hatte sie geschlafen, in seinen Arm gelehnt, der nach Holzrauch roch. Sie hatte so großes Vertrauen zu ihm gehabt, Papa hätte es doch nicht so schwer nehmen sollen, es war doch gar nichts Böses. Aber auch dem Schneemann hier vertraute sie, er hatte auch gute, behutsame Hände und freundliche Augen und eine angenehme Brummelstimme.

Mit Herrn Courtens aber war's immer ein bißchen graulich 205 gewesen – warum nur hatte sie sich vor ihm gefürchtet – aber wirklich, es war wie über ein Torfmoor zu wandern, und das war ja auch wieder ganz spannend und interessant, und überhaupt, gelangweilt hatte sie sich niemals mit Herrn Courtens, aber es machte müde. Erde verschlucke mich! Damals auf dem Berg, im Gras – aber nur ein bißchen, ich will noch in den blauen Enzian sehen, gerade vor mir, ich brauche den Kopf nicht zu heben, die Augen nicht zu wenden, ich kann's ja auch nicht – nur immer grad aus . . .

Der Schneemann hielt ihr Handgelenk mit seiner guten großen Tatze. Ein sehr reinlicher Schneemann, möchte er so bleiben. Schneemänner nehmen meist ein trauriges Ende, dachte sie, wie auch alte Ballettänzerinnen, und wollte lachen, aber da war etwas Enges über der Brust, das tat weh, so ließ sie's sein.

Sie mußte wohl geschlafen haben, denn als sie aufsah, hing da eine Lampe, blau verhangen, es war wie Mondschein. Die junge Schwester, die ein helles Kleid trug und ein winziges Häubchen, war nicht mehr da, eine andre war an ihrer Stelle, schwarz und weiß und ging wohl auf Filzschuhen, man hörte sie gar nicht. Vielleicht eine Nonne, es war kein bißchen Haar zu sehen. Sie brachte den Kranken Schlaf in kleinen Spritzen, sie schüttelte Wolken von Mohnkörnern aus ihren faltenreichen Röcken.

»Es gibt Nachtschwestern«, sagte Madlena, aber sie wußte ja nicht, ob sie sprach oder nur dachte – »die haben oben ein Zeichen, grad unter der Haube. Einen Totenkopf. Und darum mußte Herr Courtens sterben. Der arme Herr Courtens, er hat mich so sehr geliebt.«

Die Nachtschwester war an wunderliche Aussprüche gewöhnt: des Hasses und der Liebe; manchmal auch gemischt. Sie wunderte sich über nichts mehr, und sie sah ja, wie die Dinge hier standen. Ach, aber das Leben ist doch nur eine Tür zu einem andren Leben, dachte sie. Damit tröstete sie sich. Sie 206 kniete neben Madlenas Bett nieder und streichelte ihre Hand.

»Haben Sie viele Menschen geliebt, Schwester?« sagte Madlena. Sie wollte ihr den Kopf zuwenden, wie es sich gehört, wenn man jemanden anspricht und nach etwas fragt. Aber der Hals war ihr so steif, es ging nicht. So sah sie wieder grade aus. »Ich habe nur ein paar geliebt, Papa und die Kavatine von Raff und den Scherenschleifer und einen kleinen Jungen, ich weiß nichts mehr von ihm. Und das traurigste war ein kleiner Hund, er wurde verfolgt, das konnte er nicht ertragen, denn er war schon ganz alt, da ist er dann gestorben. Herr Courtens mochte ihn nicht leiden. Sonst aber war er sehr gut zu mir, er schenkte mir die kostbarsten Dinge. Nur, er war ein bißchen graulich und wußte so merkwürdige Sachen. Und ich will auch gar nicht darüber sprechen. Er war lang im Orient gewesen und hatte so ein paar schreckliche Bücher, aus Java und Indien. Mit Bildern. Sie lagen in der Truhe, ich habe sie verbrannt, Herr Bär sollte nichts Häßliches denken von Herrn Courtens. Und die Toten können sich nicht wehren. Aber es waren auch schöne Sachen dabei, mit denen er mich schmückte. In Interlaken. Da bin ich sehr glücklich gewesen.«

Sie wurde schläfrig, die kleine Spritze fing an zu wirken. Wie eine schmale Mumie lag sie, denn sie konnte auch die Beine nicht bewegen.

»Aber das Allerschönste, Schwester«, sagte sie, und ihre Augen wurden wieder ganz groß, »war eine sehr alte Frau, hoch in den Bergen, wo die Leute italienisch reden . . . oder so ähnlich. O hätte ich bei ihr bleiben dürfen, ich hätte ihr gedient . . . wie eine Magd.«

So sprach sie noch eine Weile vor sich hin, immer undeutlicher. Und die Nachtschwester gab sich auch keine Mühe, sie zu verstehen, tat nur alles, was sie tun durfte, um es ihr leicht zu machen; in der kurzen Zeit hatte sie das junge 207 Wesen liebgewonnen, und das Herz schnürte sich ihr zusammen, denn es konnte ja noch schlimmer kommen.

Aber Madlena wanderte auf Traumwegen, die immer verworrener wurden, ohne doch schrecklich zu sein, der Türe zu, die sich ihr auftat und alsbald wieder schloß. Was dann noch um sie geschah, wußte sie nicht mehr. 208

 


 


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